Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen - Arnold Gehlen - E-Book

Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen E-Book

Arnold Gehlen

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Beschreibung

Der vorliegende Band enthält siebzehn Untersuchungen zur Anthropologie und Sozialpsychologie. Arnold Gehlens Studien zur Selbstbegegnung und Selbstentdeckung des Menschen mit seinen Problemen in der industriellen Gesellschaft gehören zu den Wegbereitern eines komplexen Wissenschaftsverständnisses, in das philosophische, anthropologische und soziologische Erkenntnisse eingegangen sind.

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Seitenzahl: 515

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Arnold Gehlen

Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen

Ihr Verlagsname

Mit einem Nachwort von Herbert Schnädelbach

Über dieses Buch

Der vorliegende Band enthält siebzehn Untersuchungen zur Anthropologie und Sozialpsychologie. Arnold Gehlens Studien zur Selbstbegegnung und Selbstentdeckung des Menschen mit seinen Problemen in der industriellen Gesellschaft gehören zu den Wegbereitern eines komplexen Wissenschaftsverständnisses, in das philosophische, anthropologische und soziologische Erkenntnisse eingegangen sind.

Über Arnold Gehlen

Arnold Gehlen wurde am 29.1.1904 in Leipzig als Sohn eines Verlegers geboren. Nach dem Studium der Philosophie in Leipzig und Köln promovierte er 1927 zum Dr. phil. 1930 Habilitation als Privatdozent der Philosophie in Leipzig als Schüler des Philosophen Hans Driesch. 1933 war er Assistent Hans Freyers am Soziologischen Institut der Universität Leipzig, 1934 erfolgte die Berufung als Nachfolger Drieschs zum ord. Professor der Philosophie. Im Jahre 1938 folgte er einer Berufung nach Königsberg, 1940 einer weiteren nach Wien, wo er die Nachfolge Robert Reiningers antrat. An beiden Universitäten leitete er auch einige Semester lang die Psychologischen Institute. Mit Gründung der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer 1947 wurde er als ord. Professor der Soziologie berufen, im Jahre 1962 folgte er einer Berufung auf den neu errichteten Lehrstuhl für Soziologie an der Technischen Hochschule Aachen. Emeritierung 1969. Arnold Gehlen starb am 30.1.1976 in Hamburg.

 

Wichtigste Veröffentlichungen

Wirklicher und unwirklicher Geist (1931) / Theorie der Willensfreiheit (1933, 2. Aufl. 1965) / Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940, 12. Aufl. 1978) / Urmensch und Spätkultur (1956, 4. verb. Aufl. 1977) / Zeit-Bilder (1960, 2. erw. Aufl. 1965) / Die Seele im technischen Zeitalter (1957, 15. Aufl. 1981) / Studien zur Anthropologie und Soziologie (1963, 2. Aufl. 1971) / Moral und Hypermoral (1969, 3. Aufl. 1973) / Mitherausgeber von Gehlen/Schelsky: Soziologie (1955, 7. Aufl. 1968) / Gehlen, A. (Mitarb.): Sinn und Unsinn des Leistungsprinzips. Ein Symposion (1974) / Einblicke (1975).

 

Arnold Gehlen Gesamtausgabe. Frankfurt a.M.: Klostermann 1978.

1. Philosophische Schriften 1 (1925–1933). 1978.

2. Philosophische Schriften 2 (1933–1938). 1980.

3. Der Mensch. Kritische Ausgabe. 1993.

4. Philosophische Anthropologie und Handlungslehre, 1983.

7. Einblicke. 1978.

Inhaltsübersicht

Philosophische Anthropologie. Zur Selbstbegegnung und Selbstentdeckung des MenschenI. Zur Geschichte der AnthropologieII. Vom Wesen der ErfahrungIII. Ein Bild vom MenschenIV. Das Bild des Menschen im Lichte der modernen AnthropologieV. Mensch und InstitutionenVI. Über Kultur, Natur und NatürlichkeitVII. Die Technik in der Sichtweise der AnthropologieVIII. Über instinktives Ansprechen auf WahrnehmungenIX. Die gesellschaftliche Situation in unserer ZeitX. Stichwort ‹Philosophische Anthropologie›LiteraturhinweiseSozialpsychologie. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen GesellschaftI. Der Mensch und die TechnikII. Neuartige kulturelle ErscheinungenIII. Sozialpsychologische BefundeIV. Der neue SubjektivismusV. Der säkulare HorizontVI. Kritische KulturepochenVII. Sozialpsychologie und PsychoanalyseVIII. AutomatismenIX. PersönlichkeitX. Stichwort ‹Sozialpsychologie›LiteraturhinweiseNachwort von Herbert SchnädelbachBibliographische ErgänzungenSchriften über Arnold Gehlen (Auswahl)Ausgewählte Schriften zur Philosophischen AnthropologieAusgewählte Schriften zur SozialpsychologiePersonenregisterSachregister

Philosophische Anthropologie

Zur Selbstbegegnung und Selbstentdeckung des Menschen

I. Zur Geschichte der Anthropologie

1. Der Mensch als wissenschaftliches Zentralthema

Anthropologie ist die Lehre vom Menschen. Hinter der heute recht allgemeinen Verwendung und Ausbreitung des Wortes steht nun eine wichtige Zeittendenz, zu der wir uns zurückfragen müssen. Es ist nämlich kein Zweifel an einer gerade in den letzten Jahrzehnten wachsenden Popularität der Fragestellung, im neuen Brockhaus gibt es sogar schon einen Abschnitt ‹Theologische Anthropologie›. Die Theologie hatte immer eine Lehre vom Menschen, aber sie nannte sie nie Anthropologie. Es ist also kein Zweifel, daß wir es mit einer gewissen Kursgängigkeit des Wortes zu tun haben; dahinter steckt eben doch eine weitverbreitete und tiefe Interessenverschiebung, und auch innerhalb der Theologie, könnte ich mir denken, gewinnt die Frage nach dem Menschen anscheinend ein steigendes Gewicht. Außerhalb der Religionen, in den Wissenschaften überhaupt, auch in der Philosophie, wird der Mensch geradezu zu einem Zentralthema, um das herum sich viel Zusammenhang herstellen läßt, ich werde Ihnen davon berichten. Und diese allgemeine Interessenzuwendung ist nun merkwürdigerweise von HEGEL in den folgenden Worten vorausgesehen worden, die ich Ihnen zitieren will, gleich versichernd, daß das eigentlich die einzigen etwas schwierigen Sätze dieses Vortrages sein werden; HEGEL sagte nämlich einmal: ‹Da der feste Standpunkt, den die allmächtige Zeit und ihre Kultur für die Philosophie fixiert haben, eine mit Sinnlichkeit affizierte Vernunft ist, so ist das, worauf solche Philosophie ausgehen kann, nicht Gott zu erkennen, sondern was man heißt den Menschen.› An diesen merkwürdigen Worten ist zweierlei bemerkenswert: Die Zeitform des Geistes, sagt HEGEL, und wir werden ihm das zugeben, ist die sinnlich durchsetzte Vernünftigkeit, nicht etwa eine weltabgewandte Spiritualität. Diese Konstatierung erscheint als wahr; dann müsse, sagt er, das Problem des Menschen in den Vordergrund treten, weil diese Art der Geistigkeit dem Erkennen Gottes nicht gewachsen ist. Es ist hier die Rede von einer philosophischen Lehre vom Menschen, die aus Gründen der allmächtigen Zeit in den Vordergrund trete, eine sehr kluge Ansicht, die mit meint und mit aussagt, daß eine anthropologische Philosophie keineswegs atheistisch sein muß, aber die Frage nach Gott doch nicht eigens aufwirft. Dies ist auch mein Standpunkt, wie Sie noch hören werden. Mir kam es jetzt darauf an zu wissen, woher diese merkwürdige anthropologische Wendung in fast allen Wissenschaften kommt. Wir leben ja doch wohl in einem Zeitalter der, wie HEGEL sagte, von der Sinnlichkeit affizierten Vernunft; also wird der Mensch sich selbst zum Thema und Problem. Dafür gibt es genug Gründe in der allmächtigen Zeit, auch nicht zum letzten den Grund, daß in der Massenhaftigkeit seines Daseins der Mensch anfängt, sich selbst die Natur zu verstellen.

Nach diesen einleitenden Worten, die ja nur eigentlich den Sinn hatten, Ihnen zu sagen oder eine Vermutung aufzuwerfen, weshalb heutzutage das Thema Anthropologie so lebhaft sich entwickelt, wende ich mich der Charakterisierung der eigentlichen wissenschaftlichen Interessen zu, die sich so nennen.

Anthropologie als Fachwissenschaft

Erstens, es gibt schon lange eine physische Anthropologie als Ergänzung – müßte man geradezu sagen – der Zoologie. Die physische Anthropologie ist zunächst in der Tat eine Seite der Zoologie, sie studiert den menschlichen Körper. Das ist die Wissenschaft, die die berühmten Schädelmessungen machte, die Ende des vorigen Jahrhunderts als Inbegriff anthropologischer Gelehrsamkeit galten. Diese Wissenschaft wurde aber gleich von Anfang an auch als Rassenkunde betrieben, da es nun einmal schwarze, rote, gelbe usw. Rassen gibt, und in dieser mehr ins einzelne, mehr in das Spezifischere gehenden, immer noch physischen Fragestellung sah man sich nun doch genötigt, auch diesen Rassen nachzureisen, d.h. auch Ethnologie, auch Völkerkunde zu treiben, sofort bei ihrem Auftreten verschwistert mit dem Kuriositäteninteresse an fremden und fernen Völkern. Sie sehen das, wovon ich jetzt spreche, etwa in einer späten Schrift KANTs vor sich, die in der Tat ‹Anthropologie in pragmatischer Hinsicht› heißt, wo er von den verschiedensten Rassen und Völkern, von Mulatten und was weiß ich spricht und überall dazu die Sitten und Gebräuche dieser Leute erklärt, ein Konglomerat physischer und ethnologischer Forschung. Dieses ethnologische Interesse gibt es schon lange, man kann sagen, es ist so alt wie die westliche Kultur, seit HERODOTs Reiseberichten und seit der ‹Germania› des TACITUS – damals waren wir die fremden und kuriosen Völker, die sich die Gebildeten ansahen, über die sie Bücher schrieben. Wir haben also von vornherein eine völkerkundliche Seite mit Zoologie und Anatomie verknüpft als einen doppelten Aspekt des Themas, und ein Daseinsbeweis dieser so entstandenen rein erfahrungsmäßigen Wissenschaft vom Menschen besteht darin, daß im Jahre 1869 die ‹Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte› gegründet wurde. Da sehen Sie gleich alle Interessen, die damals noch sozusagen im Rahmen einer Gesellschaft und einer Wissenschaft betrieben wurden, zusammen, einer der führenden Köpfe dieser Gesellschaft war damals der Mediziner RUDOLF VIRCHOW. Aber, wie der Titel sagt: Ethnologie und Urgeschichte nahm man gleich mit in diese Forschungen hinein. Ich mache Sie ausdrücklich auf diesen doppelten Aspekt ein und derselben Wissenschaft aufmerksam. Kennzeichnend für diese Zeit ist die Zusammenarbeit von Anatomen, von Völkerkundlern, Urgeschichtsforschern, Mediziner, Statistikern usw., eine enge Zusammenarbeit, die in den Vereinigten Staaten noch einigermaßen erhalten geblieben ist; doch enthält auch die Zeitschrift ‹Mitteilungen der anthropologischen Gesellschaft Wien›, die im Jahre 1870 gegründet wurde, noch viel ethnologisches, prähistorisches und fossilkundliches Material, dort ist also von dieser alten Zusammenarbeit noch etwas zu spüren. Es trat dann aber doch mit der Zeit auch hier, wie überall, eine Trennung und Aufspaltung ein, die Spezialisierung drang vor, und vor allem gliederte sich nun auch die alte physische Anthropologie in verschiedene Wissenschaften auf. So entstand seit Beginn des Jahrhunderts eine selbständige Genetik oder Erblichkeitsforschung, die der Sache nach von der Botanik bis in die Anthropologie reicht und neuerdings wegen des Problems der Strahlengefährdung der menschlichen Erbsubstanz wieder Aufmerksamkeit auf sich zieht. Als ein anderer selbständiger Zweig hat sich die Abstammungslehre entwickelt, die vorwiegend an Hand von Fossilfunden ihre Erörterungen anstellt. Die eigentlich beschreibende Rassenkunde wiederum stützt sich auf Messungen, sie fordert aber darüber hinaus einen besonderen, fast künstlerischen Blick für Gestaltqualitäten und Formtypen. Ihrer wissenschaftlichen Herkunft nach kommen die meisten Anthropologen von der Zoologie, Medizin oder Botanik her (Genetiker), die Zuteilung der Fächer zu den naturwissenschaftlichen oder medizinischen Fakultäten wechselt, und was damals im Rahmen von VIRCHOWs Gesellschaft noch zusammenhing, ist in Deutschland jetzt in der Regel auf mehrere Einzelwissenschaften und zwei Fakultäten verteilt, und deswegen ist das Wort ‹Anthropologie› nicht so ganz streng bestimmt. Diese verschiedenen Meinungen, in denen das Wort gebraucht werden kann, glaubte ich hier auseinandersetzen zu müssen, ehe ich auf die philosophische Anthropologie komme.

Nachdem so eine gewisse Übersicht hergestellt ist, muß ich aber noch hinzufügen, daß es auch eine Disziplin gibt, die sich Sozialanthropologie nennt, deren Sinn und Nutzen man sofort einsieht, wenn man überlegt, daß es z.B. zwischen der gesellschaftlichen Schichtung, der Erblichkeit und der Begabung gewisse Zusammenhänge geben könnte. Es ist ein legitimes Problem, sich folgende Frage zu stellen: Wenn durch den Prozeß der gesellschaftlichen Auslese, des gesellschaftlichen Aufstieges die Träger etwa vorhandener erblicher Begabungen aus den Unterschichten allmählich aufsteigen, was schon seit Jahrhunderten vor sich gehen dürfte, und wenn sie jetzt oben, in den gouvernementalen oder akademischen Schichten angelangt, der ja nachweislich dort vorhandenen geringeren Fruchtbarkeit unterliegen, muß da nicht auf die Dauer der Begabungsstamm eines Volkes sich verbrauchen? Das ist ein übrigens populäres Problem, wie es die Sozialanthropologie sich stellt. Oder eine andere Frage: Gibt es Zusammenhänge von Erbkrankheiten, etwa Schwachsinn, mit Kriminalität? Das sind Beispiele, die Ihnen zeigen sollen, daß es einen Sinn hat, so etwas wie Sozialanthropologie auszugliedern. Die berühmte Managerkrankheit z.B. stellt ein sozialanthropologisches Problem: Gibt es vielleicht innerhalb der modernen bürokratischen, industriellen Gesellschaft ein erhöhtes Ausgesetztsein der führenden Persönlichkeiten an alle möglichen Belastungen, die das Nervensystem nicht verträgt? Das wäre eine mögliche Fragestellung.

Ich will alle diese Fragen hier nicht beantworten, ich will Ihnen nur zeigen, was sinnvollerweise in einer Wissenschaft gefragt wird, die man der Soziologie angliedern kann, vorausgesetzt, daß die betreffenden Soziologen etwas von Medizin verstehen. Oder man kann sie der Medizin anhängen, vorausgesetzt, daß die Mediziner etwas von Soziologie verstehen, und das erwarten wir ja z.B. von den Hygienikern. In der Regel finden Sie, daß die schönsten sozialanthropologischen Studien von Hygienikern, also innerhalb der medizinischen Fakultät, gemacht werden. Da handelt es sich also um eine Kombination biologischer und soziologischer Fragen, die mit einigem Recht als selbständige Wissenschaft auftritt. Ich hoffe, Ihnen jetzt einen gewissen Überblick über das gegeben zu haben, was sich innerhalb der Erfahrungswissenschaften Anthropologie nennt.

Nun sagte ich schon, daß in den Vereinigten Staaten die alte Verbindung von Völkerkunde, von Kulturforschung, Statistik, Brauchtumskunde und auch Soziologie erhalten blieb, allerdings unter Ausklammerung der anatomischen Seite; letztere ist dort, genauso wie bei uns, jetzt den medizinischen Fakultäten zugefallen. Aus diesem alten Konglomerat, das sich also nicht wie bei uns auf verschiedene Wissenschaften und Lehrstühle aufteilt, sondern das man gern in einem Griff behalten möchte, hat sich daher etwas entwickelt, wovon Sie heute in der Zeitung öfter lesen können und das sich ‹cultural anthropology› nennt, ‹Kulturanthropologie›. Das ist eine sehr interessante Forschungsrichtung, und sie wird praktisch vorwiegend an kleinen und übersehbaren Gesellschaften, also primitiven, aus sogenannten Naturvölkern bestehenden betrieben; teils in Amerika selbst, wo man unter den Indianern solche im Lande sitzen hat, teils sehr gern auch im Pazifischen Ozean, und man hat für diese Forschungen vorzügliche Spezialisten und riesige Mittel. Diese Völkchen bilden meist eigene Kulturen, sie werden von ganzen Stäben von Gelehrten besucht und in oft jahrelanger Arbeit erforscht. In Ozeanien, auf einzelnen kleinen Inseln, gibt es in sich komplette Kulturen, die man nach allen Dimensionen untersucht, nach Kopfzahl und Gesundheitsbefund, nach Brauchtum und Sitte, nach ihrer Sprache, die die betreffenden Forscher oft vorher in mühseligen Jahren erst erlernen, nach ihrem Verhalten, ihren Affekten und Leidenschaften, ihrer Moral, ihrer Kriminalität, ihrer Religion und Mythologie, ihrer Wirtschaftsweise und Arbeitsteilung. Sämtliche Dimensionen des sozialkulturellen Lebens werden vermessen, und daraus gewinnt man dann ganz außerordentlich interessante Monographien. Ein glänzendes Beispiel davon ist das weltberühmte Buch von RUTH BENEDICT‹Patterns of Culture›, ein kleines Büchlein, das uns drei sogenannte Naturvölker, die Dobu bei Neu-Guinea, einen Indianerstamm in Nordwest-Amerika und die Pueblos in Neu-Mexiko in der eben beschriebenen Weise schildert und einen erstaunlichen Reichtum von eindrucksvollen Beispielen menschlicher Intelligenz, Phantasie und Gestaltungskraft bei solchen Naturmenschen vor uns entstehen läßt. Die Arbeit erschien zuerst 1934 und liegt jetzt als Band 7 der rde unter dem Titel ‹Urformen der Kultur› in deutscher Übersetzung vor. Das nenne ich Ihnen als ein ausgezeichnetes und mit Recht weltberühmt gewordenes Beispiel dieser kulturanthropologischen Forschungsrichtung, von der Sie jetzt also wissen, daß in ihr die ursprüngliche Einheit aller Fragen nach dem Menschen (unter Ausklammerung der anatomischen und stammesgeschichtlichen Probleme) erhalten und konserviert, ja weiterentwickelt worden ist. Bei uns in Deutschland bekümmert man sich neuerdings auch um diese Seite der Forschung. Solche sehr ergiebigen Methoden haben in der Tat zu einem Innenverständnis fremdartiger Kulturen geführt, und man hat sich in den Vereinigten Staaten die kühne und großzügige Frage vorgelegt, ob man nicht dieselben Methoden, die man so wirkungsvoll an übersehbaren kleinen, unter einfachen Verhältnissen lebenden Völkern ausprobiert hat, auch auf eine moderne Riesengesellschaft anwenden kann, z.B. auf die hochzivilisierte nordamerikanische selber. Und das hat man getan. Rätselhafte Züge des amerikanischen Lebens, die wir nicht so leicht verstehen, wie z.B. die große politische Rolle, die dort die Frauenvereine spielen, oder die Erfolgseinstellung der Amerikaner oder ihr pädagogischer Eifer werden da in einem inneren Zusammenhang sehr klar in einer Arbeit übersehbar, die ich jetzt gleich anschließend nenne, das ist Band 9 der rde, ein Buch von G. GORER: ‹Die Amerikaner›, es bietet ein gutes Beispiel dieser kulturanthropologischen Forschungsrichtung in ihrer Anwendung auf ein großes, modernes, hochzivilisiertes Volk.

Sie werden sich hoffentlich in der Fülle der Absichten und Fragestellungen, die sich alle Anthropologie nennen, nicht verlaufen haben. Wir brauchen auch nur ganz wenige Hauptgedanken nochmals herauszustellen, nämlich daß es eine mehr anatomisch-biologische Seite der Sache gibt und eine kulturkundlich-völkerkundlich-soziologische Seite; daß diese Themen ihren früheren Zusammenhang, in dem sie noch bei KANT standen, gelöst haben, indem sie sich in mehrere Fächer trennten; aber die kulturkundlich-völkerkundliche Betrachtung, verbunden mit gesellschaftswissenschaftlichen Fragestellungen, ist die Methode einer sehr leistungsfähigen und sehr komplexen Forschungsrichtung, der Kulturanthropologie geblieben, wie sie die Amerikaner betreiben. Ich bin nicht ethnologischer Fachmann, aber ich habe den Eindruck, daß diese Forschungsrichtung bei uns auf die isoliert gebliebene Völkerkunde einen wichtigen und befruchtenden Einfluß haben wird.

Zur Geschichte der philosophischen Anthropologie

Was ich Ihnen bisher darstellte und klarzumachen suchte, ist eigentlich nichts anderes als eine von vornherein in einer Wissenschaft, die sich um den Menschen kümmert, auch zu vermutende Doppelseitigkeit der Fragestellung. Es gibt evidenterweise da eine biologische und eine kulturwissenschaftliche Thematik. Diese alte Verbindung, in der man die beiden Seiten der Sache zunächst sah und in der KANT sie noch sah, ist ja wohl nicht zufällig, sie hat sicher ihr gutes Recht. Der Mensch ist ein kompliziertes Wesen, bei dem diese beiden Aspekte offenbar von gleicher Bedeutung sind. Es entstand daher die Frage, ob man nicht eine Vorstellung, ein Bild des Menschen entwickeln kann, wenn man diese beiden Hauptaspekte wieder zusammenführt, indem man etwa die kulturschöpferische Aktivität eines biologisch gerade so verfaßten Wesens und seine biologische Struktur sich gegenseitig erklären läßt. Ich lasse diese Frage jetzt im Moment liegen, nehme sie nachher wieder auf und führe sie hier ein, um zu sagen: ganz wohl war philosophischen Köpfen bei dem Auseinanderfallen unserer Wissenschaft eben doch nicht. Ich wende mich nun zuerst einer kurzen Darstellung der Entwicklung zu, die in der philosophischen Anthropologie im engeren Sinne vor sich gegangen ist. Bisher nämlich habe ich nur von Forschungsinteressen berichtet, die sich Anthropologie nennen, die aber allesamt fachwissenschaftlicher Art sind und empirische Fragestellungen und Untersuchungen anstellen, indem sie jeweils gewisse Seiten des Gesamtthemas ‹Mensch› herausstellen. Nun gibt es aber auch eine philosophische Anthropologie. Sie liegt eigentlich allein in meinem Thema, ich mußte aber doch auf die anderen Dinge eingehen, gerade um Ihnen die neueren Fragestellungen dieser philosophischen Anthropologie nahezubringen.

Beginnen wir nunmehr mit einer kurzen Entwicklungsgeschichte. Eine Theorie oder eine Idee vom Menschen hatte die europäische Philosophie selbstverständlich und im Sinne der Geschichte unserer Kultur zwangsläufig mit der Theologie sehr lange gemeinsam, ja so lange, als beide Disziplinen noch zusammengingen und sich die Philosophie von der Theologie noch gar nicht emanzipiert hatte, also bis in das 17. Jahrhundert. Bis dahin gibt es keine philosophische Anthropologie, es gibt aber natürlich innerhalb der Theologie eine Frage nach dem Menschen. Hier handelt es sich also ausdrücklich nicht um Erfahrungswissenschaft. Ich darf Ihnen diese Ansicht kurz ins Gedächtnis zurückrufen: Der Mensch nach theologischer Ansicht und so, wie er in der scholastischen Philosophie von der Theologie her gesehen wurde, ist ein Geschöpf Gottes. Gott hat den Menschen unmittelbar geschaffen, indem er mit einem materiellen Leib eine geistige, individuelle und unsterbliche Seele vereinigt hat. Von den so erschaffenen Stammeltern stammen alle Menschen dem Leibe nach ab, während die Seele jedes einzelnen Menschen auch weiterhin unmittelbar erschaffen wird. Das ist die dogmatische christliche Ansicht.

Sie sehen sofort, daß das nicht irgendwelche Erfahrungssätze sind, die hier ausgesagt werden, und solange die Philosophie eigentlich nur als interpretierender Teil der Theologie Bestand hatte, war sie selbstverständlich an diese Ansicht gebunden. Aber die Philosophie hat sich nun doch im 17. Jahrhundert mit DESCARTES von der theologischen Bindung emanzipiert, ohne atheistisch zu werden, und zwar so, daß dieser das Schöpfungsthema, ohne es zu bestreiten, gar nicht ausdrücklich aufwarf und nicht behandelte, es sozusagen in die Klammer setzte, und indem er im Sinne der neuentdeckten Naturwissenschaften den Leib des Menschen als einen Körper unter anderen Körpern interpretierte. Man kam auf diese Weise zu einem strengen Dualismus: der Mensch ist eine Maschine, von einem Geiste beseelt. Auf die Frage, wie das zustande komme, ging DESCARTES, wie gesagt, gar nicht ausdrücklich ein. Aber diese dualistische cartesische Lehre, die für uns zunächst bedeutsam ist, weil sie die Emanzipation der Philosophie von der Theologie bezeichnet, sie hat noch ein zweites Interesse: das Schema war nämlich ungemein dauerhaft, weil es dualistisch war und deswegen – ich möchte sagen – eine gewisse empfehlenswerte Primitivität hatte. Es ließ sich nämlich ganz von theologischen Gedankengängen, denen DESCARTES noch in mancher Hinsicht gefolgt war, ablösen, und dann gewann man ein wundervoll brauchbares einfaches Modell. Auf der Innenseite konnte man auf die Psychologie und die Geisteswissenschaften hinweisen: jawohl, der Mensch hat eine Seele, damit beschäftigt sich die Psychologie, mit ihren Ausdrucksformen beschäftigen sich Sprachwissenschaften, Logik und andere Geisteswissenschaften. Soweit diese psychologisiert werden konnten, war es möglich, sie auf der einen Seite dieses Dualismus zusammenzufassen, und den Leib überließ man den Medizinern, den Biologen, den Physiologen und Chemikern. Dann konnte man die ganze Universität in diesem Schema unterbringen, mit Ausnahme der theologischen Fakultät, die hatte man ja ausdrücklich schon lange ausgegliedert. Diese Tatsache, daß der Kosmos der Wissenschaften sich auf ein einfaches, dualistisches Schema verteilen ließ, machte dieses Schema außerordentlich langlebig und brauchbar. Man konnte das Ganze auch noch zu einem Vulgärdualismus vereinfachen, der heutzutage weltanschauungsähnlich sehr verbreitet ist, der Ihnen auf Schritt und Tritt entgegenkommt, und wenn Sie versuchen, sich von ihm zu emanzipieren, dann erscheint er in Form eines Einwandes. Durchbrochen wurde diese Entwicklung nur zeitweise und kurzfristig, in Deutschland durch den deutschen Idealismus, jene philosophische Epoche, die sich an die Namen KANT, FICHTE, HEGEL und SCHELLING knüpft. Sie haben nicht dualistisch philosophiert, sondern sie haben den Menschen noch einmal völlig spiritualisiert, und zwar deswegen, weil sie die Philosophie wieder an die Theologie heranführen wollten, was der spätere FICHTE, HEGEL und SCHELLING ausdrücklich als ihr Interesse in Anspruch nahmen; aber schon SCHOPENHAUER, der letzte in der Reihe, wurde wieder Dualist, wenn auch gegen seinen Willen, und so stand die Sache am Anfang dieses Jahrhunderts.

Sie sehen, in einer einigermaßen übersehbaren Entwicklung habe ich Ihnen jetzt eine kurze Geschichte der philosophischen Anthropologie skizziert, die, zunächst noch unselbständiger Teil der Theologie, sich noch gar nicht so nennt. Aber in dem Augenblick, in dem die Philosophie anfängt, sich von der Theologie zu emanzipieren, wird ja die Frage: Was ist der Mensch? in neuen Kategorien aufzuwerfen und zu beantworten sein. Und das tat DESCARTES etwa mit der Formel ‹Der Mensch ist eine Maschine, in der ein unsterblicher Geist wohnt›. Mit diesem Dualismus war wenigstens eine Antwort gegeben, und sie erwies sich jetzt als anwendbar für eine dualistische Organisation aller Wissenschaften, die entweder Geistes- oder Naturwissenschaften sein konnten. Daher auch die außerordentliche Lebensdauer dieses cartesischen Schemas.

Schelers Antwort auf die Frage nach dem Menschen

Damit sind wir am Anfang dieses Jahrhunderts angelangt, und jetzt erschien 1928 ein kleines Werk des Philosophen MAX SCHELER, es hieß ‹Die Stellung des Menschen im Kosmos›. Es erschien im Todesjahr dieses berühmten Philosophen und brachte eine merkwürdige und erstaunliche Wendung, indem es den Menschen nicht in Vergleich oder in Beziehung zu Gott interpretierte, sondern indem es nach dem Wesensunterschied von Mensch und Tier fragte. Das Büchlein von SCHELER ist in dieser Hinsicht sehr interessant und epochemachend, weil es die Frage nach dem Menschen nicht als solche zur Diskussion stellte, sondern einen Vergleich zum Problem machte. Der Mensch in Beziehung auf etwas gesehen – nicht in der Ähnlichkeit zu Gott, sondern in dem Gegensatz zum Tier wurde der Mensch interpretiert. SCHELER fragte also nach dem Wesensunterschied dieser beiden Seinsweisen, und indem er das tat, wurde sofort das biologische Problem wieder in die Frage nach dem Menschen eingeführt, eben dieses biologische Problem, das man gewöhnt war, den Zoologen oder Medizinern als sogenannte ‹physische Anthropologie› zu überlassen. Und SCHELER sagte nun: was den Menschen zum Menschen mache, sei im Vergleich zu den intelligentesten Tieren weder Intelligenz noch Phantasie noch Gedächtnis, denn in Intelligenz, Phantasie, Gedächtnis, Wahlfähigkeit, Werkzeuggebrauch – in all diesen Dingen bestehe nur ein Gradunterschied zwischen den höchsten Tieren und den Menschen, aber kein prinzipieller Unterschied. Das besondere menschliche Prinzip, das den Wesensunterschied setze, sei vielmehr ein dem Leben überhaupt entgegengesetztes, das er Geist nannte. Das Wesen aber des Geistes bestimmte er als seine Ablösbarkeit vom Drucke des Biologischen, seine Ablösbarkeit von der Abhängigkeit vom Leben: ein geisttragendes Wesen ist nicht mehr triebgefesselt, es geht nicht mehr wie ein Tier in seiner Umwelt auf, sondern es vermag die Umwelt zur Gegenständlichkeit zu erheben, sich von ihr zu distanzieren. Diese Sachlichkeit, diese Freiheit von innen her, die Bestimmbarkeit des menschlichen Erkennens und Handelns durch das So-Sein der Dinge selbst, gleichgültig ob sie ein biologisches Interesse haben oder nicht, das sei das spezifisch Menschliche.

Daher sagte SCHELER: Der Mensch hat die ‹Welt›, hat eine offene Sphäre von Sachen um sich, er ist ‹weltoffen›; auch sich selbst kann der Mensch vergegenständlichen, er hat Selbstbewußtsein, und dieses Sichselbst-Vergegenständlichen, Distanz-zu-sich-Nehmen, dieses Sich-Verfremden und Neben-sich-Stellen mache ihn schließlich auch fähig, zu sich selbst und zu den Lebenserscheinungen in ihm nein zu sagen, seine eigenen Antriebe und Strebungen zu hemmen, mache ihn der Möglichkeit nach zu einem moralischen Wesen. Er ist ein ‹Nein-Sager› zum Leben in sich selbst, wenigstens der Möglichkeit nach, und fähig, sich prinzipiell asketisch zu verhalten, die Triebimpulse in sich unterdrückend oder doch regulierend. Erst durch diese Selbstversagung gewinne der Geist seine eigentliche Energie. Darauf kam es SCHELER sehr an, der Geist erschien ihm in seinen letzten Lebensjahren in der Tat als eine Art Widersacher des Lebens. Nicht diese großzügigen Ansichten allein, sondern der Einbau vieler damals aktueller Erkenntnisse, zumal aus den Bereichen der Biologie und der Psychoanalyse, sicherten dem Buch sofort eine durchschlagende Beachtung.

Ich bitte, als neue Resultate SCHELERs im Gedächtnis zu behalten, daß er den Hintergrund, die Folie tierischen Lebens entwarf, ferner die Lehre von der Weltoffenheit des Menschen und auch die Behauptung, daß das Seelische, nämlich Empfindung, Phantasie, Gedächtnis, Gefühl usw. Lebenserscheinungen seien, dem Wesen nach von den eigentlich biologischen nicht unterschieden, während der Geist etwas schlechthin anderes bedeute. Das alles war weitgehend überzeugend und meisterhaft dargestellt. Aber man sieht gleich, daß SCHELER den Dualismus, der ja altbekannt war, im Grunde nur verschob. Er lag jetzt nicht mehr zwischen ‹Leib› und ‹Seele›, sondern er lag jetzt zwischen dem ‹Geist› auf der einen Seite und dem beseelten Leib auf der anderen, und SCHELER verschärfte ihn sogar so weit, daß er den Geist ganz ausdrücklich dem Leben entgegensetzte. Dieses ‹Zentrum› aber, sagte er, von dem aus der Mensch die Erkenntnisakte vollzieht, durch die er die Welt, seinen Leib und seine Seele vergegenständlicht, dieses Zentrum könne nicht selbst ein Teil dieser Welt sein, es könne nur in einem metaphysischen Seinsgrund gelegen sein, über den er nichts weiter aussagte. Der Geist war dann nicht nur etwas anderes als das Leben, er war eigentlich bei SCHELER etwas anderes als die Welt geworden, das bloß noch in einem Jenseits, über das er keine Aussagen machte, mit dem Leib und der Seele des Menschen zusammenhängen konnte.

2. Der Mensch als handelndes Wesen

Der vorhin erwähnte Umstand, daß bei SCHELER doch schließlich ein metaphysischer Dualismus zwischen dem Geist auf der einen Seite und der Leib-Seele auf der anderen herauskam, schien eigentlich alle Gewinne in Frage zu stellen, und es entstand das Problem, das man heute, wenn man zurücksieht, vereinfachend fast als ein Problem der Fragestellung darstellen könnte: ob man nämlich nicht in der Anthropologie weiterkäme, wenn man, genauso wie früher einmal der theologische Aspekt neutralisiert wurde, jetzt darüber hinaus versuchte, jeglichen Dualismus zu vermeiden. Denn offenbar dachte man ja innerhalb eines Dualismus doch immer im Kreise, die möglichen Problemstellungen schienen übersehbar und auch erschöpft zu sein. Über die Frage, wie sich Leib und Seele, oder Leib, Seele und Geist letztlich und metaphysisch zueinander verhielten, war trotz jahrhundertelangen Nachdenkens nichts zu erfahren gewesen, und so konnte man ja versuchen, jede Fragestellung und Begriffsbildung zu suspendieren, die in Richtung eines solchen Dualismus führte. Es ist ja doch eindrucksvoll, wenn ein vielhundertjähriges Nachdenken über die Beziehungen beider Seiten im Menschen zu keinen überzeugenden Resultaten geführt hat; und auch SCHELERs Hypothese erschien kaum als hoffnungsvoller.

Es ist in den empirischen Wissenschaften, und als solche wollte ich die Philosophie ansehen, ein legitimes Verfahren, wenn man die Fragestellung einmal ändert. Ja, aus gewissen Beispielen in der Physik, aber auch in der Psychologie konnte man erwarten, daß sich gerade durch Änderungen der Art, wie man fragte, die verblüffendsten Resultate erreichen ließen. Könnte man nicht, so ließ sich jetzt formulieren, eine Art Schlüsselthema finden, bei dem das Leib-Seele-Problem überhaupt nicht aufgeworfen würde; und das müßte ein erfahrungswissenschaftlich zu behandelndes sein, wenn man den Vorteil wahrnehmen wollte, zugleich mit dem Dualismus überhaupt alle metaphysischen, d.h. unbeantwortbaren Fragen auszugrenzen. Und als einen solchen Ansatz empfahl sich die Handlung, d.h. die Auffassung des Menschen als eines primär handelnden Wesens, wobei ‹Handeln› in erster Annäherung die auf Veränderung der Natur zum Zwecke des Menschen gerichtete Tätigkeit heißen soll. Dies also schlug ich vor, nicht unbeeinflußt von einer Pragmatismus genannten amerikanischen philosophischen Richtung, behielt aber sonst zwei Hauptthesen SCHELERs bei, nämlich den Ausgangspunkt von dem Vergleich zwischen Mensch und Tier und die Lehre von der Weltoffenheit, d.h. von der Beeindruckbarkeit durch beliebig mannigfache Außenweltdaten, auch dann, wenn sie biologisch gleichgültig oder gar schädlich sind. Es ergab sich dann, wenn man in den Konsequenzen dieser veränderten Fragestellung weiterdachte, etwa die folgende Auffassung: zunächst eine scharfe Unterscheidung von Mensch und Tier, denn in aller Regel sind Tiere durch festgelegte, angeborene Instinkte auf je artbesondere, ihnen arteigene Umwelten eingeschränkt. Denken Sie etwa daran, daß die Umwelten der Spinne, der Elster und des Rehs in demselben Walde nichts miteinander zu tun haben: keine dieser Arten bemerkt das, was die andere wahrnimmt, keine verhält sich ähnlich der anderen, jede Art dagegen nimmt mit angeborener Sicherheit und angeborener Engigkeit nur das auf, was ihr lebenswichtig ist, was an Unterschlupf, an Partner, Feind, Beute ihr zugemessen ist. Und innerhalb dieses Kreises, eines ja sehr engen, verhält sich das Tier mit angeborener Richtigkeit, und eben das nennen wir ‹instinktiv›. Und auch seine Lernfähigkeit, soweit sie vorhanden ist, arbeitet innerhalb dieses angeboren festgelegten Rahmens.

Nun kann man auf dieser Folie ganz gut den Menschen sich abheben lassen und seine Sonderstellung in der Natur einsehen, wenn man sich klarmacht, daß der Mensch schon physisch durch seine mangelhafte Ausstattung mit organischen Waffen oder organischen Schutzmitteln, durch die Unsicherheit und den rückgebildeten Zustand seiner Instinkte, durch die bescheidenen Sinnesleistungen so qualifiziert ist, daß ich es für vertretbar hielt, den einmal von HERDER verwendeten Ausdruck ‹Mängelwesen› in dieser Beziehung anzuwenden. Wie es nun einmal das Schicksal solcher überprägnanter Formeln ist, gerade dieser Begriff hat sich inzwischen verselbständigt und führt ein Eigenleben, nicht ganz mit meiner Zustimmung. Das jedenfalls kann man sagen: der Mensch wäre, der rohen Natur wie ein Tier ausgesetzt, mit seiner ihm angeborenen Physis und seiner Instinktmangelhaftigkeit unter allen Umständen lebensunfähig. Kompensiert werden diese Mängel aber durch die Fähigkeit, die der dringendsten Notwendigkeit entspricht: diese rohe Natur, und zwar jederlei beliebige Natur, wie immer sie beschaffen sein möge, so zu verändern, daß sie ihm lebensdienlich wird. Seine aufrechte Haltung, seine Hand, die einzigartige Lernfähigkeit, die Plastizität seiner Bewegungen, seine Intelligenz, seine Sachlichkeit – die SCHELER gemeint hatte –, die ‹Offenheit› seiner zwar wenig leistungsfähigen, aber nicht auf das nur Instinktwichtige eingeengten Sinne, alles das kann als ein System betrachtet werden, als ein Zusammenhang, der den Menschen befähigt, unter allen denkbaren Außenumständen, im Urwald, im Sumpf, in der Wüste oder wo immer, in arktischen Zonen oder unter dem Äquator die jeweils vorhandenen Naturkonstellationen intelligent so zu bearbeiten, daß er sich halten kann.

Zur Verdeutlichung dieses Gedankens ist vielleicht ein Begriff ganz nützlich, der im Umkreis VICTOR V.WEIZSÄCKERS in Heidelberg, also eines Mediziners, zu der Zeit aufkam: der ‹Handlungskreis›. Ich sagte vorhin, daß sich die Handlung als ein Schlüsselthema des Menschen angeboten hätte, und habe eben diesen Gesichtspunkt der Handlung als der eigentlich kulturbegründenden Naturveränderung erläutert, eines biologisch notwendigen Vorgangs, weil ein so problematisch von der Natur ausgestattetes Wesen die veränderte Natur zur Stütze seiner eigenen, fragwürdigen Lebensfähigkeit einsetzen muß.

Ich sehe jetzt die Handlung noch unter einem anderen Gesichtspunkt an; der Handlungskreis ist ganz einfach darzustellen, etwa an folgendem Beispiel: Wenn Sie mit einem Schlüssel an einem Schloß herumprobieren, so gibt es eine Folge von sachlichen Veränderungen, die in der Ebene von Schlüssel und Schloß vor sich gehen, wenn es etwa klemmt, und Sie müssen noch etwas hin- und herprobieren. Dabei gibt es eine Serie von Erfolgen oder Mißerfolgen in der Sachebene, die Sie aber sehen und hören und fühlen, die also zurückgemeldet werden, die Sie wahrnehmen; und nach dieser Wahrnehmung wieder verändern Sie die Zugriffsrichtung Ihres Handelns, verändern Sie Ihre Probierbewegungen, und schließlich kommt dann doch in der Sachebene der Erfolg, und das Schloß schnappt auf. So geht der Vorgang im Kreise, d.h. man kann einen solchen Vorgang als einen einzigen Kreisprozeß beschreiben, der läuft dann aber über psychische Zwischenglieder, die Wahrnehmungen, und über motorische Zwischenglieder, die Eigenbewegungen, in die Sachebene weiter und zurück.

An diesem Beispiel habe ich vielleicht klargemacht, daß man, wenn man von der Handlung spricht, den ganzen Dualismus einfach ausklammert. Eine Zerlegung des Vorganges in Leibliches und Seelisches würde nichts beitragen und bei der Beschreibung nur hindern, genauso, wie jede Reflexion auf diesen Unterschied während des Vollzuges, beim Probieren mit dem Schlüssel, nur stören würde. Das Handeln selber ist – würde ich sagen – eine komplexe Kreisbewegung, die über die Außenweltsachen geschaltet ist, und je nach der Rückmeldung der Erfolge ändert sich das Verhalten. Man kann hier sehr gut zeigen, daß im Vollzuge der Handlung jederlei Reflexion, die nicht in eine Änderung der Zugriffsrichtung zum Zwecke glatteren Verlaufes übergeht, nur Hemmungen setzt. Da aber alle menschliche Arbeit nach diesem eben gebrauchten Modell des Mannes mit dem Schlüssel in Handlungskreisen abläuft, vom Feuerbohren bis zum Häuserbauen, so hatten wir ja nun eine Basis, die uns gestattete, über den Menschen nachzudenken, ohne in solche dualistische Formeln zurückzufallen, wie sie SCHELER ja doch noch mitzog.[*]

Der Mensch als Lernwesen

Ich habe damit ein sehr allgemeines, aber hier genügendes Schema eines Grundgedankens gezeichnet. Ich kann auf eine Fülle von Sekundärerkenntnissen, die sich einfach aus dieser Änderung der Fragestellung ergaben, sehr unerwartet und, wie das immer ist, zur Überraschung des Autors selbst, hier nicht eingehen; es erwies sich das, wie gesagt, als ziemlich fruchtbar. Die Bemühung traf auch auf höchst interessante, gleichzeitige Parallelen von anderer Seite. Der Wiener Zoologe OTTO STORCH hatte gerade ebenfalls, und zwar unter seinen zoologischen Fachinteressen, die starre Erbmotorik der Tiere, also die den Tieren angemessene, wenig variable Skala von Bewegungsmöglichkeiten und ihre beschränkte Lernfähigkeit für Bewegungskombinationen, beschrieben. Man kann dazu etwa erwähnen, daß kein Pferd, das zufällig durch den Zügel tritt, es lernt, den Fuß einfach zurückzusetzen; das ist eine gefürchtete Fehlhandlung bei Pferden. STORCH hatte dem vergleichsweise geringen Umfang tierischer angeborener oder erlernbarer Bewegungen die geradezu unendlich reiche ‹Erwerbmotorik› – wie er sagte – des Menschen gegenübergestellt, also die Tatsache, daß der Mensch die kompliziertesten Bewegungszuordnungen in geradezu unendlicher Mannigfaltigkeit lernen kann, was uns jeder Artist, jeder Sportsmann, jeder Autofahrer und überhaupt jeder professionelle Handgriff beweist. Denn die Zehntausende von Berufen, Arbeiten und Fertigkeiten, mit denen sich die Menschheit beschäftigt, erfordern jeweils andere und besondere Hantierungen, die alle gelernt werden, was nur möglich ist, weil es die enge, angeborene Richtigkeit von Instinktbewegungen nicht gibt. Diese Ansicht von STORCH ließ sich in das vorhin beschriebene Schema gut einordnen, in dem ja Mensch und Tier unterschieden und in scharfen Gegensatz gestellt wurden: dem Tier eine Stimmigkeit, aber Enge seines Verhaltens und seiner Sinnesleistungen zugeschrieben, dem Menschen eine Plastizität und Weite, aber eine sehr riskierte Weite und Formbarkeit, die ihn nötigt, der Natur das abzuringen, was ihm an angeborener Sicherheit der Einpassung in die Wirklichkeit fehlt.

PORTMANN in Basel, auch ein Zoologe, hatte gezeigt, daß die Sonderstellung des Menschen als Lernwesen, die er sehr wohl und gut sah, zusammenhängt mit der Besonderheit des menschlichen ersten Lebensjahres, die man geradezu als eine Anomalität bezeichnen muß, wenn man den Blick auf die sonstigen Verfahrensweisen der Natur richtet, also wiederum den Vergleich mit dem Tier anstellt. In bezug auf die Ausreifung der Organe, der Bewegungsleistungen, der Sinnesleistungen, in bezug auf die Ausbildung der artbesonderen, also menschlichen Kommunikation und Signalgebung, nämlich der Sprache, muß das neugeborene Kind geradezu als eine normalisierte, typisierte Frühgeburt aufgefaßt werden. Es erreicht erst mit einem Jahre eine gewisse Orientierungsfähigkeit und, jetzt zu laufen anfangend, die Fähigkeit, sich zu bewegen, dazu auch die Anfänge der Kommunikation mit anderen Menschen, Leistungen, die höhere Tiere schon kurz nach der Geburt, oft schon nach wenigen Stunden zeigen. Anders gesagt: diese Sonderstellung des menschlichen ersten Lebensjahres, welches PORTMANN geradezu als ein ‹extra-uterines›, außerhalb des Uterus verbrachtes Embryonaljahr beschrieb, besagt nämlich nun unter einem anderen Gesichtspunkt, daß entscheidende Reifungsvorgänge in der Wahrnehmung, in der Bewegung ein ganzes Jahr lang als Lernsituationen vor sich gehen, unter gezieltem Einfluss der Umgebung. Die Lernfähigkeit des Menschen und dieser gezielte Lerneinfluß seiner Umgebung sind sozusagen in die rein biologische Entwicklung eingeplant, indem das Kind typischer- und normalerweise (aber gänzlich anomal im Vergleich zum Tier) aus dem Mutterleibe herausgenommen und diesem Einfluß unterstellt wird. Diese Gelehrigkeit seiner Sinnesleistungen, Bewegungen und Ausdrucksmittel behält der Mensch bis in das höhere Alter bei, und auch von hier aus wäre man bei der Vorstellung angelangt, daß ihn eine merkwürdige Stabilisierung frühkindlicher Merkmale bis in das Erwachsenenstadium, ja teilweise auf Lebenszeit kennzeichnet, eine Vorstellung, die ich in meiner Anthropologie von dem holländischen Anatomen BOLK übernommen und empfohlen hatte. Alle diese Autoren könnten sich also auf die Umrisse einer Konzeption einigen, die ich Ihnen angedeutet habe, so daß die Entstehung einer neuen Richtung der philosophischen Anthropologie als eine Art Teamarbeit, allerdings unverabredeter Teamarbeit erscheint. Jedenfalls schien jetzt der Gedanke nicht mehr utopisch zu sein, sich zu fragen: Kann man nicht von den einmaligen und besonderen, einzigartigen biologischen Bedingungen des Menschen her verstehen, weshalb er ein Kulturwesen ist? Diese beiden Seiten der Sache schienen sich gegenseitig zu beleuchten oder zu illustrieren. Es läßt sich also, allerdings unter Verzicht auf metaphysische Meinungen oder Überzeugungen, die wir ja mit dem Dualismus zugleich ausgegliedert hatten, auf diese Weise ein Bild des Menschen zeichnen, und zwar so, daß Anatomie, Psychologie, Sprachwissenschaft usw. jetzt jeweils als mit Teilaspekten eines ganzen und sehr einmaligen Wesens beschäftigt erscheinen: aber darüber hinaus haben wir auch den Platz für etwas wie eine allgemeine Kulturwissenschaft gewonnen.

Kultur: die vom Menschen handelnd veränderte Natur

Denn unter diesen Vorstellungen ist die ‹Kultursphäre› ja sicher in erster Annäherung der Umkreis der vom Menschen veränderten Natur, das sozusagen vom Menschen in die Welt hineingebaute Nest. Lebensnotwendig deswegen, weil dem Menschen die angeborene Anpassung des Tieres an seine Umwelt fehlt. Die Kultur primitiver Völker besteht daher zunächst in ihren Waffen, in ihren Werkzeugen, in ihren Hütten, in ihren Haustieren, Gärten usw., das alles ist veränderte, durchgearbeitete, veredelte, das alles ist in intelligenter Handlung neu formierte Natur, die überall die Ansatzstellen, die technischen Mittel zu ihrer eigenen Umkonstruktion selbst hergibt. Unter den Begriff der ‹neu formierten Natur› fallen auch Familie und Ehe, die sozialen Ordnungen gehören hierher: sie bestehen ebenfalls aus dem Stoff durchdachter und durchgestalteter Natürlichkeit. Und schließlich ist das nicht ausgenommen, was in Mythologie und Religion dem rätsellösenden Geiste des Menschen doch noch als übersehbar erscheint.

Denn alle menschlichen Gesellschaften, so einfach sie sein mögen, kennen eine Gesamtinterpretation der Welt und ihrer eigenen Rolle in dieser Welt, die letztlich doch noch auf die Handlung bezogen ist. Gerade soweit sich nämlich die Welt dem menschlichen Eingriff entzieht, soweit sie der verändernden und nutzschaffenden Aktion keine Handhabe bietet, also in ihren unveränderlichen Beständen, wird sie auf einen Sinn hin interpretiert, und an diese Interpretationen wenigstens werden Handlungsfolgen geknüpft, nämlich symbolische. Es erscheint also unter dem Gesichtspunkt, den ich hier vortrage, eine Philosophie oder Weltanschauung oder Mythologie als eine Sinninterpretation gerade der nicht zu verändernden Weltbestände, wobei diese Deutungen zu Motiven für ein zunächst kultisches oder rituelles Handeln werden, das sich zu dem Teil der Welt verhält, mit dem man sich abzufinden hat, wie etwa dem Tode. Auch diese Seite der Kultur läßt sich auf den Menschen als handelndes Wesen beziehen, und damit können wir der Idee nach die ganze Fülle der Ethnologie und Kulturwissenschaft, der Vorgeschichte und Volkskunde in unser Schema einbauen. Die oben erwähnte Kulturanthropologie bestätigt unseren Ansatz durchaus, denn das erstaunlichste Resultat dieser in Amerika so erfolgreich betriebenen vieldimensionalen Kulturforschung besteht darin, daß sie uns eine ganz anschauliche Vorstellung von der außerordentlichen menschlichen Plastizität und Formbarkeit gibt. Wenn man an ihrer Hand ein paar Dutzend fremder Kulturen übersieht, dann kommt man auf den einfachen Satz ‹Es gibt nichts, was es nicht gäbe›. Das ist sozusagen der abstrakte Ertrag dieser Kulturforschung, wenn sie in gehöriger Breite des Ansatzes durchgeführt wird, und ist zugleich eine Bestätigung der Überzeugung von der Instinktentbundenheit und Nichtfestgelegtheit des Menschen und von der Energie, dem Reichtum und der Mannigfaltigkeit, ja der Phantastik seines Handelns. Jede der Tausende von primitiven Kulturen stellt eine eigensinnige, eine unverwechselbare eigene Welt dar, und es ist nicht leicht, dann noch Aussagen über angeborene Konstanten zu machen, die über das Allgemeinste hinausgingen. Die Flüssigkeit des Trieblebens, die Regsamkeit der Phantasie des Menschen, die Buntheit der Außenumstände, auf die man jeweils reagiert, alles das ergibt eine so phantastische Vegetation, daß sich mit jedem Schritt neue Welten öffnen. Als zugängliches und naheliegendes Beispiel kann auf das ebenfalls in ‹rowohlts deutscher enzyklopädie› (Bd. 2) erschienene Buch von H. SCHELSKY ‹Soziologie der Sexualität› hingewiesen werden, der Autor argumentiert anthropologisch, er setzt die Mannigfaltigkeit der Institutionen und die verblüffende, widerspruchsvolle Fülle von Sitten auf diesem Gebiet mit der Nichtfestgelegtheit des Menschen in Beziehung, mit der Überschußqualität seines Trieblebens. Es sieht so aus, als ob eine der Hauptleistungen der menschlichen Kultur darin bestünde, unter dem Druck der Notwendigkeit den vorgefundenen, urwüchsigen Naturumständen Zweckmäßigkeiten abzuringen. Darüber hinaus besteht menschliche Kultur wesentlich in einem Ordnungschaffen und Stabilisieren. Selbst um den Preis exzentrischer Besonderheit strebt man danach, einer im Herzen des Menschen offenbar stets bereitliegenden Chaotik etwas von Stabilität und Ordnung abzuringen, man bemüht sich, etwas von Berechenbarkeit und Kontinuität über die Zeiten hinwegzuretten. Daraus ergibt sich offenbar ein zweites großes Thema des Begriffs Kultur, und man sieht doch, wie auch dieses zweite Thema sich in den Ansatz einfügt, von dem ich ausging.

Der Sinn der gesellschaftlichen Institutionen

Mit dem hier Gesagten wird ein ernstes Thema angeschlagen. NIETZSCHE sprach einmal vom Menschen als dem nicht festgestellten Tier – das ist ein drohendes Wort. Es meint nicht nur dasjenige sonderbare Tier, über das es keine endgültigen Feststellungen gibt, sondern es meint auch das in sich nicht festgestellte, zur Chaotik, zur Ausartung bereite Tier. Die alten Mythen, die immer davon reden, daß die Götter dem Chaos eine Weltordnung abgerungen haben, haben sich auf das bezogen, was zuletzt im Menschen an Chaotik bereitliegt. Es ist ein sehr wesentlicher Ertrag der vergleichenden Kulturforschung und Kulturanthropologie, daß sie uns die unglaubliche Erfindungskraft und Genialität des Menschen vor Augen treten lassen, die er seit undenklichen Zeiten aufgewendet hat, um unter den mühsamsten Bedingungen und selbst um den Preis phantastischer Einseitigkeit Einrichtungen und Sitten durchzuhalten, die als Basis eines Schonverständigtseins und als Garantie gegenseitiger Sicherheit und nicht mehr in Frage zu stellender Ordnung dienen können. So kann man die Kompliziertheit, die Einseitigkeit und oft die Bizarrerie menschlicher Einrichtungen ganz gut auf dem Hintergrund einer Auffassung vom Menschen begreifen, die sagt, er sei das instinktverlassene Wesen. Wenn es wahr ist, daß der Mensch weltoffen ist, daß er durch Außenereignisse, durch neue Daten in seinem Verhalten bestimmbar ist, wenn es wahr ist, daß er in seinem Instinktbereich verarmt und verunsichert ist, dann wird ja sozusagen die Verführbarkeit zu einem der Hauptmerkmale. Und nun ist bekanntlich diejenige Instanz, die Direktiven und Stabilisationskerne im Menschen setzt, die mit dem Worte Moral bezeichnete, deren Sinn darin besteht, die Sicherheit und Unstörbarkeit des Verhaltens auf einer gegenseitigen Vertrauensbasis zu garantieren. Dabei hat sich nun aber vor allem gezeigt, daß die Institutionen einer Gesellschaft, ihre Einrichtungen, Gesetze und Verhaltensstile, daß die stehenden Formen ihres Zusammenwirkens, wie sie als wirtschaftliche, politische, soziale, religiöse Ordnungen vorliegen, daß diese Institutionen als Außenstützen, als Halt gebende Verbindungsstücke zwischen den Menschen funktionieren, daß sie erst die Innenseite der Moral zuverlässig machen. Das menschliche Innere ist ein zu undulöses Gebiet, als daß man sich gegenseitig darauf verlassen dürfte. Die Institutionen wirken wie Stützpfeiler und wie Außenhalte, deren Veränderlichkeit zwar die gesamte menschliche Geschichte und Kulturgeschichte zeigt. Aber von größter Wichtigkeit ist da ein Allmählichkeitspostulat. Zerschlägt man die Institutionen eines Volkes, dann wird die ganze elementare Unsicherheit, die Ausartungsbereitschaft und Chaotik im Menschen freigesetzt. Wir alle haben das mehrfach beobachtet, und auch die verdeckte, aber nicht weniger unheimliche Analogie zu den Verfallserscheinungen der Naturvölker, wenn die europäische Zivilisation mit Geld, Schnaps und Schule dort eindrang und die überlieferten Normen zerstörte.

In der Linie des 18. und 19. Jahrhunderts lagen ja eher idealistische Auffassungen vom Menschen, man kann die Gutgläubigkeit dieses Idealismus wohl kaum davon trennen, daß eine jahrhundertelange, im wesentlichen unerschütterte gesellschaftliche Tradition hinter diesen Vorstellungen gestanden und das gute Gewissen zu solchem Optimismus bestätigt hat. Derartige Anschauungen erscheinen uns heute als Verharmlosungen, als Optimismen, die zugleich unrealistisch und antipolitisch sind.

Die Umrisse dieser neuen Anthropologie haben sich weit verbreitet, und das liegt wohl letztlich an folgenden Umständen: Es ist, wie ich zu zeigen suchte, doch gelungen, die biologische Betrachtung mit der kulturgeschichtlichen, überhaupt kulturwissenschaftlichen wieder zusammenzuführen. Ohne daß wir ein dualistisches Schema und damit wieder Metaphysik einführen müßten, scheint die Auffassung des Menschen als eines handelnden Wesens nützlich und ergiebig zu sein, denn die Handlung ist ja einerseits sicherlich die eines Organismus, und zwar eines intelligenten, und auf der anderen Seite richtet sie etwas in der Welt aus, sie schafft da eine Veränderung, eine Zweckmäßigkeit, sie greift ein. So ergibt sich die Brücke, auf der schließlich die biologische Ansicht des Menschen und die kulturwissenschaftliche zueinanderfinden. Und das zustandekommende Bild widerspricht wenigstens nicht eklatant den wenig harmlosen Erfahrungen, die die Menschheit schon immer und besonders seit einigen Jahrzehnten mit sich selbst gemacht hat. Und weiter ist die Anthropologie erfahrungsnahe, sie ist es nicht nur in der jetzt dargestellten empirischen und doch philosophischen Ansicht, sondern auch in den einzelwissenschaftlichen Aspekten, sie ist offen für Neuerkenntnisse, sie ist undogmatisch. Es hat sich eigentlich erst auf dieser Linie ermöglichen lassen, den Vorsprung an kulturwissenschaftlicher Forschung, den die Amerikaner in den letzten Jahrzehnten erreicht hatten, zurückzuimportieren, er war ein wesentlich methodischer und lag in der unbefangenen Zuwendung zu der Vielschichtigkeit des Gegenstandes.

Wir leben heute in einer Zeit, da die Herrschaft des Menschen über die Natur wenig Probleme mehr stellt. Sie hat eine Wirksamkeit erreicht, von der sich frühere Jahrhunderte selbst in ihren Utopien keine zureichenden Vorstellungen bilden konnten, eine Vollkommenheit, die uns unter die ‹Verlegenheit des Reichtums› bringt. Die auf dem Wege der Naturbeherrschung auftauchenden Probleme sind jetzt, wie das Stichwort ‹Atomkraft› zeigt, fast mehr moralischer als technischer Art. Aber gleichzeitig wird die Vervielfachung der Menschheit in den steilen Kurven des sprunghaften Anwachsens der Kopfzahlen zu einem Problem ersten Ranges. Man kann sagen, der Mensch beginnt, die Natur zu verstellen, er wird sich also selbst ins Auge fassen und nach sich abfragen. Das ist wieder ein Beispiel für den immer wieder zu beobachtenden, überraschenden Zusammenklang, daß Entwicklungen in der Außenwelt gleichzeitig Versuche zu ihrer geistigen Bewältigung auf derselben Höhenlage, zu Neufassungen der Fragen, die jetzt fällig werden, nach sich ziehen.

ANMERKUNG. Vortrag, gehalten am 8. Februar 1957 in Bad Nauheim, gedruckt als Band 17 der ‹Hessischen Hochschulwochen für staatswissenschaftliche Fortbildung› Bad Homburg 1957 unter dem Titel ‹Die Entwicklung der Anthropologie von der Philosophie zur Erfahrungswissenschaft›. Hier liegt ein verbesserter Text vor, der möglichst deutlich herausarbeiten will, daß es eine philosophische Sonderdisziplin gibt, in der die Frage nach dem Wesen und der Sonderstellung des Menschen aufgeworfen wird. Abweichend von den ursprünglich mehr metaphysischen Vorstellungen, die mit dieser Frage verknüpft waren, bedient man sich heute vorwiegend erfahrungswissenschaftlicher Methoden und Begriffe, wobei folglich Probleme in den Hintergrund rücken, zu deren Entscheidung nicht genug Daten vorliegen, wie z.B. die Abstammungsfrage. Daß man aber unter Einklammerung metaphysischer Hypothesen philosophieren kann, daß es also eine empirische Philosophie gibt, ist eine in Deutschland ebensowenig verbreitete Überzeugung, wie sie in England oder Amerika selbstverständlich ist. Mit dem Entwurf eines anspruchsvollen Begriffs der Erfahrung beschäftigt sich die folgende Abhandlung.

II. Vom Wesen der Erfahrung

1. Unterschiedliche Wertschätzung der Erfahrung

Wenn wir einen Menschen als ‹erfahrenen› Pädagogen, Politiker, Soldaten oder Seemann bezeichnen, so sagen wir in diesen Hinsichten das Äußerste über ihn aus, und es gibt kaum einen höheren Titel. Ein ‹genialer› Pädagoge oder Soldat wäre schon eine fast übertreffende Rede, denn das Wort ‹genial› meint eine unvergleichbare, sehr vereinzelte und fast zauberische Eigenschaft der Person oder der Leistung, ja es streift die Vorstellungen der Mühelosigkeit und Begnadung, und schließlich scheint der noch anklingende Zusammenhang mit einer gewissen Theorie, in der es aufkam, dieses Wort auf den rein geistigen, fast nur künstlerischen Umkreis zu beschränken, während dagegen die Durcharbeitung, Beherrschung und allseitige Gewalt über inhaltsreiche und vielseitige Lebenskreise mit dem Wort Erfahrung bezeichnet wird.

Diese Tönung trug auch das Wort Empeiria (griech. Erfahrung). Etwas von langjähriger Übung, Geschicklichkeit, Fachkunde, Bewährung und einsichtiger Tüchtigkeit wurde in dem Umkreis der Worte Empeiria, Techne (Kunstfertigkeit) und Episteme (Wissen) gedacht und liegt auch in dem deutschen Wort, das daher eine bedeutsame, über den Bereich des Fachlichen hinausgehende Erweiterung zur Erfahrung überhaupt, zur Lebenserfahrung erträgt. Ein Mensch dieser Art ist den mannigfaltigen Ansprüchen und Forderungen, die das Leben regelmäßig oder auch überraschend uns entgegenwirft, nicht unterworfen, sondern gewachsen, und er begegnet der Breite der Lebenssituationen mit derselben Bestimmtheit, die im Wollen eindeutig und gerade deshalb im Durchführen vielseitig ist, wie es der hervorragende Fachmann auf seinem Gebiete tut. In diesem Sinne Lebenserfahrung zu haben, ist besonders in zivilisierten Zeiten, da die mühelose Befriedigung wesentlicher Bedürfnisse die mühsame, an Widerständen gestärkte Entwicklung elementarer Kräfte überflüssig macht, selten und bedeutend.

Die Philosophie indessen teilt diese hohe Schätzung der Erfahrung weniger, und so, wie sie den Begriff verwendet, redet sie mit einer gewissen Geringschätzung von etwas Genügsamem, fast Bedauerlichem, das der Rechtfertigung bedürfe. Immer war der ‹Empirismus› ein Ärgernis gegenüber den hohen Ansprüchen der Metaphysik, und durch die ganze Geschichte der Philosophie hindurch zieht sich der Streit von zwei Richtungen, deren eine Empirismus genannt wurde und eindeutiger ist als die andere, unter den verschiedenen Namen des Rationalismus, Apriorismus, Dogmatismus usw. begriffene.

Derartige Gegenstellungen sind in dieser Wissenschaft häufig, und es gibt noch andere Beispiele von Standpunkten, die wie zusammengekettete Feinde sich verhalten, die sich den Platz streitig machen, den jeder zu Unrecht allein einnehmen will. Denn immer wird die eine Anschauung gerade nur durch gewisse wesentliche eigene Mängel – die ihr in Gestalt der anderen entgegentreten – zu einem übertriebenen Geltungsanspruch genötigt, so daß die Unfruchtbarkeit des Streites weniger in seiner Unlösbarkeit liegt als in der Notwendigkeit, mit der er sich erhebt. Sieht man in solchen Fällen, zu denen etwa auch der ähnliche Streit von Idealismus und Realismus gehört, allerdings ein, wie hier eine jede Meinung die Gegenmeinung aus sich erzeugt, und um so entschiedener, je mehr sie auf sich selbst besteht, so ergibt sich die Vermutung, daß eine gemeinsame Voraussetzung in beiden steckt, die selber fragwürdig ist und die Unruhe verursacht. Nach meiner Anschauung liegt diese falsche Voraussetzung meistens in der einseitigen Beschränkung der philosophischen Probleme auf Bewußtseinsprobleme, und diese wieder erklärt sich aus der grundsätzlich mangelnden Sicherheit darüber, wie man sich philosophisch zu Tatsachen zu verhalten hat, die nicht in Bewußtseinsprobleme übersetzbar sind. Ohne auf diese sehr wichtigen Dinge hier näher eingehen zu können, glaube ich doch sagen zu dürfen: der ‹Empirismus› und seine Gegenmeinungen sind sich darin einig, daß beide nur nach Bewußtseinsvorgängen fragen, und eben dieser Begriff der Erfahrung als einer Art des Wissens, den die Philosophie fast ausschließlich verwendet, ist unzulässig verengt und vereinseitigt.

Die Philosophie läßt also ganz allgemein und wie selbstverständlich die Erfahrung im Urteil enden, betrachtet sie als eine oder im Empirismus als die einzige Quelle des Wissens, und Erfahrung ist ihr ein Begriff der Erkenntnistheorie. Aus KANT ließen sich zahllose Belege hierfür bringen: Erfahrung ist ‹das Erkenntnis (!) der Gegenstände der Sinne als solcher, d.i. durch empirische Vorstellungen, deren man sich bewußt ist› (Üb.d.Fortschr. d. Met.), oder die Erfahrung ‹ist die reflectirte Erkenntnis, welche aus der Vergleichung mehrerer Apparencen vermittelst des Verstandes entsteht› (Sämmtl. kl. Schrft. 1797, III, 5), und sehr häufig sind Einleitungen zu langen Überlegungen wie etwa die folgende: ‹da also Erfahrung als empirische Synthesis in ihrer Möglichkeit die einzige Erkenntnisart (!) ist … (Kr. d.r.V. 2. Aufl. 197) – kurz, immer ist die Definition der Erfahrung als Erkenntnisart für KANT selbstverständlich, und so dunkel die berühmte Deduktion der Kategorien aus den Urteilsformen ist, sie wäre schon als Versuch sinnlos ohne die Voraussetzung, daß Wahrnehmung gleich Erfahrung und Erfahrung ein potentielles Urteil ist. FICHTE bewegt sich noch entschlossener auf diesem Wege: ‹Das System der von dem Gefühle der Notwendigkeit begleiteten Vorstellungen (!) nennt man auch Erfahrung, innere sowohl als äußere› (1. Einl.). Die Beispiele ließen sich aus allen Epochen bis heute beliebig vermehren.

Nun aber sehen wir ARISTOTELES die volle und unverkürzte Breite des Gegenstandes entwickeln: ‹Bei uns Menschen entsteht Erfahrung aus der Erinnerung, denn die wiederholten Erinnerungen schließen sich in der Verfügbarkeit einer einzigen Erfahrung zusammen, wie denn Erfahrung sowohl der Einsicht wie dem Können ähnlich zu sein scheint› (Met. A 1, 981 a. Ganz entsprechend Analyt. post. II. 19. 100 a).

Dabei wird eine bestimmte begriffliche Grenze zwischen der bloßen Erfahrung und dem Können, in dem sie endet, gemacht, und zwar so, daß bloße Erfahrung die Kenntnis des einzelnen und von Einzelfällen sein soll, das Können aber ein allgemeines ist. Doch trifft diese Unterscheidung mehr auf dem Gebiete der Wissenschaft als auf dem der Handlung zu, wie sie denn mit Beispielen aus der Medizin belegt wird. Dagegen ‹im Gebiete der Handlung scheinen sich Erfahrung und Können nicht zu unterscheiden, sondern hier sehen wir die Erfahrenen besser zum Ziel kommen als die, die ohne Erfahrung bloß allgemeine Vorstellungen haben. Der Grund liegt darin, daß die Erfahrung die Kenntnis des einzelnen ist … und die Handlungen und Geschehensverläufe sich immer am einzelnen abspielen› (Met. a.a.O., ähnlich Eth. Nicom. VI. 8.).

Aus diesen einander gegenübergestellten Stellen aus ARISTOTELES und KANT ergibt sich, daß ersterer den weitaus tieferen und reicheren Begriff von Erfahrung hat, denn er sah vor allem die Geschlossenheit eines Erfahrungsprozesses, der in einem Verfügenkönnen endet, und er wählte in dem Ausdruck ‹Techne› (Können) einen gegenüber der Unterscheidung von ‹physisch› und ‹psychisch› neutralen Ausdruck. Ein erfahrener Mensch ist natürlich in erster Linie nicht einer, der richtige Urteile zur Hand hat, sondern einer, der auf irgendeinem Gebiete, und mag es sich schließlich um bloße körperliche Geschicklichkeit handeln, etwas aufgebaut, verfügbar hat und einfach kann.

2. Der Leistungscharakter der Erfahrung

Erfahrung ist ein Vorgang von unvergleichlicher Eigenart. Oberflächlich sieht es so aus, als ob einfach von einer Reihe durchgeführter Möglichkeiten einige ausgewählt und festgehalten werden: ‹die Erfahrung entsteht aus der Erinnerung› (ARISTOTELES). Aber Erfahrung ist reicher. Sie ist Ausübung, Auswahl und Verwerfung, Schöpfung und Aufbau.

Das Kind ‹lernt› gehen. Von allen den zahllosen Spielarten der Fortbewegung, die es mit einer Bewegungsphantasie durchprobt, die selbst erst in diesen Versuchen entwickelt wird, von allen den beherrschten und unbeherrschten, gelingenden und ausfahrenden, erfolglosen und einleuchtenden Bewegungszuordnungen, die durchzuführen es Monate und Jahre ausfüllt, werden einige festgehalten, und gerade sie werden durch all das, was vorhergeht und fallengelassen wird, erst ermöglicht und aufgebaut. Solche Leistungen sind also ‹Produkte›, sie werden unter großem Aufwand erst herausentwickelt, und weiterhin kann man sogar sagen: dieser Prozeß ist zusammengeschlossen und vollendet, wenn die Leistungen wieder aus der Hand gegeben werden können, wenn man sie erst großgezogen und dann wieder in die bloße Möglichkeit entlassen hat, in die Verfügbarkeit: so wie man reiten oder schwimmen ‹kann›, wenn man es auch jahrelang nicht tat.

Wir lernen eine fremde Sprache rein assoziativ von ihren Elementen her, lernen Vokabeln, stücken Sätze zusammen. Aber in diesem mühseligen Aufwand und an den Fehlern nicht weniger als an den Erfolgen heranwachsend, bildet sich eine ganz neue Fertigkeit, der Sinn für die Sprachmöglichkeiten, für die innere Sprachform heraus. Ist er gebildet, so haben wir das Ganze der Sprache irgendwie in ihm, denn wir können den größten Teil der Elemente wieder vergessen und sind sicher: werden wir die Sprache brauchen, so werden sie sich geschwind wieder einfinden und aus der Wurzel des Gekonnten sich entfalten.

Genauso verhielte es sich mit unseren moralischen Gefühlen und Gewohnheiten, wenn sie nicht schon beim Kinde unmerklich durch das Verhalten der Umgebung und die innere Folgerichtigkeit des Handelns in bestimmten Richtungen gezüchtet würden, sondern wenn wir – man gestatte das Denkexperiment – als moralisch Neutrale erst in die Gesellschaft einträten. Wir würden dann am Widerstand und an den Rückwirkungen unserer Handlungen, an ihrer Übereinstimmung mit sich selbst und mit denen der anderen allmählich eine Ordnung festzuhaltender und zu Gewohnheiten sich verfestigender Impulse herausformen, auf die wir uns erst dann verlassen dürften, wenn sie, unter die Schwelle des Bewußtseins gerückt, uns bloß noch im Konfliktsfalle bewußt würden. So etwas erlebt der Missionar unter Wilden, wenn er ihr Vertrauen erwerben und sich anpassen will – schließlich fühlt er wie sie und bleibt dort.

Erledigung und Verfügbarkeit

Man kann an einer jeden Erfahrung, durch alle Schichten des Menschen hindurch, von der erworbenen neuen Körperfertigkeit bis zur Aussage Nestorischer Weisheit zwei Seiten unterscheiden, nämlich eine der Erledigung und eine der Verfügbarkeit. In der ersten Bedeutung sagt man oft, daß Erfahrungen sich nicht vererben, sondern daß jeder Mensch mit dem, was ihm begegnet, selber ‹fertig zu werden hat›. Die andere Bedeutung berücksichtigt ARISTOTELES, wenn er ‹wiederholte Erinnerungen in der Verfügbarkeit einer einzigen Erfahrung sich zusammenschließen› läßt: Erfahrungen auch wirkend zu halten, sie nicht zu überhören oder leichtsinnig vorbeilaufen zu lassen, sondern ein vergegenwärtigendes, verfügendes Können aufzubauen, das ist die andere Seite, die sie so vom bloßen Gewußthaben unterscheidet.

Diese beiden Entwicklungen des Fertigwerdens und des Verfügens sind nun aber eng aufeinander angewiesen und leben in gegenseitiger Auseinandersetzung. Zunächst ist eine Erfahrung schon an sich selbst eine Verengerung, aber auch Verdichtung des Erwarteten, des ‹Vorurteils› – so daß eine fortdauernde Bewegung der Begrenzung und innerhalb derselben der Bestätigung oder Enttäuschung unserer Vorentwürfe des Möglichen zu bemerken ist. Auch wenn wir ein neues Gebiet körperlichen Könnens anlegen, wird die Plastizität und sozusagen Dressurbereitschaft unseres Leibes nur nach bestimmten Seiten hin ausgebildet. Es ist aber durchaus notwendig, in den Begriff der Erfahrung auch rein physische Aneignungen und Einübungen aufzunehmen, denn nichts ist sicherer, als daß es ein Gedächtnis unseres Leibes gibt, der seine Erfahrungen macht und nichts vergißt, und auch in anderer Hinsicht ist zweifellos, daß der Mensch eine ganze Reihe physischer Leistungen – gerichtetes Wahrnehmen, gesteuertes Handeln, Gebrauch der Sprachorgane – erst im Zusammenhang seines Erfahrungslebens erwirbt.

In dieser ersten Betrachtung erfüllt also eine Erfahrung die Erwartungen nur in deutlicher Begrenzung, denn sie liest aus bereitliegenden Möglichkeiten nur eindeutig bestimmte aus, so daß alle das Wirkliche überfliegenden Interessen am Möglichen schließlich abgebaut werden, wie auch unzählige nicht beanspruchte Leistungsbereitschaften unseres Körpers endgültig verkümmern. Im Leben liegt diese Richtung zur Verhärtung, denn der Bestand solcher verengter, in Grenzen sich bestätigender Vorurteile wird mit der Zeit immer reicher, ihr gegenseitiger Zusammenhang fester. Damit gibt es endlich kein Glück mehr, denn Glück ist eine die Grenzen unserer bewährten Erwartungen sprengende Erfüllung, und man sammelt im Laufe des Lebens einen recht vielseitigen Vorrat von Erfahrungen darüber, was das Leben zu bieten vermag.

In einer ganz anderen, von der eben gezeigten verschiedenen Bedeutung hat man diesen Zusammenhang von Verfügen und Erledigen, wenn in einer verdichteten Erfahrung immer noch das darinliegt, was sie nicht beweist oder enthält. Die Beweiskraft und Tragweite einer solchen spricht sich dem Besonnenen gleich mit ihr selbst aus, ja diese Tragweite eingeschlossen mitzuverstehen, ist selbst wieder eine Sache der Erfahrung. Sie hat nämlich zunächst immer einen ‹Hof› des Mitgemeinten oder Mitgekonnten, aber dieser Hof unbestimmter weiterer Ergiebigkeit ist begrenzt: was nicht darinliegt, ist in einer artikulierten Erfahrung doch deutlich gegeben. So kommt es oft vor, daß wir ein Erlebnis in besonderem Maße ‹belehrend› finden, indem etwa außer dem offensichtlichen Sachverhalt noch eine Reihe von ‹Hinweisen› darin zu stecken scheint, die zu entziffern uns ein Gefühl der Wichtigkeit rät, besonders wenn das Erlebnis den bestimmten, durchaus erfahrungsmäßig uns erst bekannten ‹Stil› unserer Schicksale zu haben scheint. Ebenso hat unser Leib ein hinreichend genaues Gefühl für das noch nicht Geleistete, aber ‹Mitgekonnte›, für das, was er sich im Umkreis seines Könnens noch zutrauen darf. Dennoch ist die Grenze der Erfahrung jeweils deutlich, ihr ‹Tiefgang› überschreitet nicht einen gewissen, sehr sicher zu ahnenden Bereich. Die Entfaltung unseres Könnens in die Breite des Mitgekonnten wird im Zeitalter der Spezialisierung viel zu sehr vernachlässigt.

Bei der Menschenkenntnis spielen diese Vorgänge eine wichtige Rolle. Junge Menschen fühlen sich mit einer gewissen Regelmäßigkeit in ihren Erwartungen getäuscht, d.h. sie ertragen nicht die nur sehr begrenzte Erfüllung ihrer Erwartungen. Die Folge ist, daß sie ungerecht urteilen, d.h. daß sie die Bedeutsamkeit und Aufschlußkraft ihrer menschlichen Erfahrungen überschätzen, weil sie noch nicht gelernt haben, sie entsprechend in ihren Grenzen zu beurteilen. Später wird ein Menschenkenner, im Unterschied zum Charakterologen, sehr vorsichtig in der Beurteilung der Menschen, d.h. er sieht einer menschlichen Äußerung oder Stellungnahme an, in welche Grade sie bedingt oder vieldeutig ist, und hütet sich, sie zu weitgehend auszuwerten. In einer umschriebenen Erfahrung ist immer das Nichtbeherrschte und Ausgeschlossene mitgegeben, und auch in dieser Bedeutung ist sie artikuliert, in sich vollendet und zusammengeschlossen.