Antike Novellen und Legenden - Theodor Birt - E-Book

Antike Novellen und Legenden E-Book

Theodor Birt

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Beschreibung

Novellen und Märchenstoffe »aus verklungenen Zeiten« werden hier vorgeführt, Geschichten, die sich in jenen Zeiten abspielen, als noch den großen Julius Cäsar die Sonne beschien, ja, als es noch Kentauren auf der Balkanhalbinsel gab, als noch göttliche Meerfrauen um die Schiffe im Mittelmeer schwammen und der alte Gott Zeus noch auf seinem Berge saß, um zu donnern, wenn die lieben Menschen nicht taten, was recht ist. Inhalt: Achill - Ein Heldenmärchen Fortuit - Ein römisches Märchen Marpessa - Eine griechische Legende Kamma - Eine vergessene Tragödie Der Besuch bei Cicero - Ein Intermezzo aus der Zeit der römischen Bürgerkriege

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Antike Novellen und Legenden

Theodor Birt

Inhalt:

Theodor Birt – Biographie und Bibliographie

Antike Novellen und Legenden

Zum Geleit

Achill - Ein Heldenmärchen

Fortuit - Ein römisches Märchen

Marpessa - Eine griechische Legende

Kamma - Eine vergessene Tragödie

Der Besuch bei Cicero - Ein Intermezzo aus der Zeit der römischen Bürgerkriege

Antike Novellen und Legenden, T. Birt

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849623005

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Theodor Birt – Biographie und Bibliographie

Birt, Theodor, Philolog, geb. 22. März 1852 in Wandsbek, verstorben am 28. Januar 1933 in Marburg. Studierte seit 1872 in Leipzig und Bonn, habilitierte sich 1878 in Marburg und wurde 1882 außerordentlicher, 1886 ordentlicher Professor daselbst. Seine Hauptwerke sind: »Das antike Buchwesen in seinem Verhältnis zur Literatur« (Berl. 1882); »Zwei politische Satiren des alten Rom« (Marb. 1888); die erste kritische Ausgabe des Claudian (Berl. 1892); »Eine römische Literaturgeschichte in fünf Stunden« (Marb. 1894); »Unterhaltungen in Rom. Fünf Gespräche deutscher Reisender« (Berl. 1895); »Sprach man avrum oder aurum?« (Frankf. a. M. 1897); »Der Hiat bei Plautus und die lateinische Aspiration bis zum 10. Jahrh. n. Chr.« (Marburg 1901); »Griechische Erinnerungen eines Reisenden« (das. 1902). Auch als Dichter hat er sich bekannt gemacht, z. T. unter dem Pseudonym Beatus Rhenanus, mit folgenden Werken: »Philipp der Großmütige«, Prologszene (Marb. 1886); »Attarachus und Valeria«, lyrische Erzählung (das. 1887); »Meister Martin und seine Gesellen« (Reimspiel, das. 1894); »König Agis« (Tragödie, das. 1895); »Das Idyll von Capri« (das. 1898); »Die Silvesternacht« (Reimspiel, das. 1900).

Antike Novellen und Legenden

Zum Geleit

Novellen und Märchenstoffe »aus verklungenen Zeiten« werden hier vorgeführt, Geschichten, die sich in jenen Zeiten abspielen, als noch den großen Julius Cäsar die Sonne beschien, ja, als es noch Kentauren auf der Balkanhalbinsel gab, als noch göttliche Meerfrauen um die Schiffe im Mittelmeer schwammen und der alte Gott Zeus noch auf seinem Berge saß, um zu donnern, wenn die lieben Menschen nicht taten, was recht ist.

Mit Liebe habe ich diese Erzählungen geschrieben, indem ich mir wie aus dem Jenseits die Gestalten herüberholte. Ein Teil von ihnen benutzt in der Tat alte schöne Sagenmotive und versucht sie in freieste moderne Dichtung umzuwandeln. Weltgeschichte, Kulturgeschichte zu schreiben, genügt nicht. Man muß die Vergangenheit dichten: erst dann wird sie wahr. Durch vollblütig pulsierende menschliche Belebung soll hier, wie ich dies auch schon in meinem »Menedem« versucht, das Fremde und Zeitenferne uns nahe kommen, um uns zu erheitern und zu erschüttern. Das Gefühl, daß das alles längst vorbei, daß eine längst untergegangene Menschheit zu uns redet, bleibt dabei bestehen. Das soll so sein; es soll wie ein zauberischer Märchenschleier über dem Ganzen hängen.

Th. Birt.

Achill -Ein Heldenmärchen

Wir saßen am Strand von Phaleron. Salamis, die Insel des Ajax, lag vor uns, dahinter Ägina; vor uns das dunkelblaue Inselmeer. Kleine Boote setzten Segel auf. Der Wind ging stark. Er wehte von Troja her. Alles mahnte an Homer. Wir tranken eine Flasche griechischen Inselwein von märchenhafter Süßigkeit, feurigschwer, als wäre er voll Erinnerungen.

Erinnerungen? sagte die Dame neben mir. Der Wein redet nicht. Himmel und Meer haben für mich keine Sprache. Und doch ist dies Land voll verblichener Sagen, verlöschter Erlebnisse!

Und Sie verlangen, daß ich Ihnen erzähle? Griechisches? griechisches Erinnern? Sie sind – oder Sie waren Mutter, gnädige Frau. Sie haben einen Sohn nach Indien geschickt, daß er sein Glück mache. Sie haben ihn verloren. Er widmete sich als Arzt der Bekämpfung der Pest. Die Bekämpfte hat ihn getötet und mitten in seinen stolzesten Erfolgen dahingerafft. Ich will Ihnen von einer griechischen Mutter erzählen, die hier noch lebt, aber die ihr Schicksal vor vielen tausend Jahren erfuhr. Hören Sie von Thetis, der Göttin, und ihrem Sohn Achill.

Ein Märchen?

Hier werden Sie an das Märchen glauben. Thetis und Achill! Die Sage ist allbekannt, und ich will sie gewiß nicht ganz erzählen. Versuchen wir nur, daß sie unserm Herzen näher tritt.

Glauben Sie an Götter? Wer sollte es nicht, der im Süden lebt? Die Götter sind, ob der Moderne sie denkt oder nicht. Aber sie sind geheimnisvoll und verbergen sich gern. Sie verbergen sich im Licht, nicht im Dunkel. Wer aber das ungeblendete Auge des Griechen hat, wer ins Licht sehen kann und den Glanz ertragen, wem es selbst licht ist im Inneren, der erkennt noch heute den rüstig frohen Helios droben auf seinem Wagen, mit dem Glutblick und Funken im Haar, die tanzenden Stunden wie hüpfende Strahlen um ihn her; der hört noch heute Poseidon im Seesturm brüllen, flatternden Bartes; der sieht noch heute im Frühlingsmorgen Aphrodite aus dem Quell steigen, mit süßem Lachen, daß alle Luft voll ist von Liebeshauch.

Solch eine Göttin ist und war auch Thetis, die schönste der Meerweiber. Sie haben sie sicher schon gesehen, diese Nereïden im Meeresschwall zwischen den Inselküsten. Man sieht sie am besten am heißen Mittag, wo die Sehkraft am schärfsten ist. Da fließen ihre blendenden Leiber im abgrundtiefen Blau unter den wandernden Wogen her, mit spritzenden Fingern und offenem Mund, muschelbehangen, schimmernden Gischt wie Perlen im Haar, und ihre Augen träumen und lachen, und man starrt in diese Augen, als sollte man sich selbst verlieren. Thetis aber, die schönste, lacht nicht. Daran ist sie zu erkennen. Ihr Auge ist Schwermut. Man sagt, das Meeressalz kommt von ihren Tränen. Denn sie hat ihren Sohn verloren; die Göttin ist mit dem Menschenschicksal verwachsen, und das hat sie traurig gemacht in ihrem endlosen Leben.

Götter haben kein Schicksal; denn die Ewigen sind dem Tod und dem Schmerz entzogen; und spielend das Gute zu wirken und das Schöne, spielend zu züchtigen, ist ihr Beruf. Nur wenn ein Götterherz sich an den Sterblichen hängt – wehe dem allzu zärtlichen! – da gewinnt das Schicksal, dessen Spielball der Mensch, Macht über den Gott, und er verewigt die Trauer, da er nicht sterben kann.

Der Liebesgott aber war schuld an allem. In unseren Tagen plant Eros nichts ähnliches mehr, und er führt gut bürgerlich nur Menschen mit Menschen zusammen von Hütte zu Hütte, als wäre er dem Kroniden ganz entfremdet. Damals waren Menschen noch gottähnlicher und ragten in die Unsterblichkeit hinein; und Götter und Menschen konnten sich erkennen und mischen.

König Peleus, der Thessalier, war's. Ihm gab sich Thetis zur Gattin. Eine berühmte Hochzeit. Das All staunte. Alle Olympier kamen neugierig zur Feier. Denn sonst stiegen nur Götter zu sterblichen Weibern herab, und ich begreife, daß sie es taten. Hier dagegen war es ein Mann, der sich eine Göttin erwarb. Das befremdete.

Und sie gebar ihm den Achill. Da hängte gleich Neid und Sorge sich an den Knaben. Thetis eilte zur Schicksalshöhle. Hier drehten die Parzen ihre Spindeln, spannen den jungen Lebensfaden und sangen im Takt dazu den Spruch mit düstergrauer Stimme:

Willst du hohen Erdenruhm, So willst du kurzes Leben. Nur dem Ruhmlosen allein wird lange Frist gegeben. Ob er dies, ob er jenes will, Wähle er selbst. Es wähle Achill.

Da erschrak die Mutter, den bitteren Sinn des Spruches erwägend, nahm ihren Sohn und trug ihn in die Wildnis. Er sollte nicht berühmt werden. Sie wollte ihn retten. Und ihr Kampf mit dem Schicksal begann.

Nur am belebten Strand gedeiht der Ruhm. Die Einsamkeit ist sein Feind. Fern vom Strande aber liegt die einsame Bergwildnis des Pindus. Das ist die Wildnis, in der einst die Kentauren lebten, das vierfüßige Geschlecht mit starken Gliedern und ehrenfestem Sinn. Bei ihnen ward Achill auferzogen. Er beendete eben sein vierzehntes Lebensjahr. Das Herz der Mutter entbrannte, ihn zu sehen.

O Einsamkeit des Pindus! – Sind Sie einmal die thessalische Bahn gefahren? Die Reise ist heute nicht ratsam ohne militärische Bedeckung; denn das Räuberwesen des barbarischen Mittelalters ist dort noch nicht ausgestorben. In den Heldenzeiten aber hausten dort andere Räuber, wilde Bestien, wo das tiefe sonnige Tempetal von schroffen Bergkulissen umstanden wird und der Urwald sich massig auf den Höhen und in die Bergnischen drängt: ein Paradies, eingemauert in Schrecknisse; alles weglos, straßenlos; enge Pässe für den, der wie das Raubtier zu schleichen und in den Ästen zu hängen gelernt hat. Von jenen Wäldern bezieht das kahle Griechenland noch heute sein Brenn- und Bauholz. Aus den Höhen winkt der Pelion und Ossa, zweitausend Meter hoch über dem Meer. Man sieht sie am schönsten vom Hafen von Volo aus. Der Himmel stützt sich auf die Erde. Erhabene Stille, ungeheure Größe! Einsamkeit und Vergessenheit!

Es war Morgen. Da scholl Gesang. Chiron, der alte Kentaur, hatte sich mit seinen Schülern im Sturzbach gekühlt und gebadet. Seine Hufe waren gereinigt, und sein greises scheckiges Fell schimmerte. Jetzt lagerte er munter unter der breiten Esche und gab dem jungen Achill Unterricht, die Leier zu schlagen. Patroklos stand daneben, denn er wurde mit Achill erzogen und wuchs hier zu seinem unzertrennlichen Freunde und Schicksalsgenossen heran. Nun sangen Achill und Patroklos zum Leierspiel ein Morgenlied. Der Lehrmeister führte mit seinem tiefen Baß den Ton und lenkte die hohen Knabenstimmen. Denn des Patroklos Stimme irrte ab; Achill aber fand rasch die Melodie und lachte zu seinem Lehrer auf, indem er sich kindlich an den Bug seines Pferdeleibes schmiegte. Echo aber stand hinter der Felsenkante. Echo hallte es wider, und es lauschten der Abgrund und die Felsenkammern.

»Wir wollen die Echo greifen!« rief Achill und wollte davon. »Seid nicht närrisch, ihr Buben!« herrschte da der Alte. »Geht immerhin nur der Echo nach, die euch foppt. Denn dort am selben Abhang, da findet ihr die Wurzeln und Kräuter in den Felsritzen, die ich euch zu suchen gelehrt habe. Eilt euch und bringt mir die richtigen, die gegen Wunden und Hautriß gut sind und gegen innere Schmerzen. Hurtig!«

Und Chiron scharrte mit dem Hufe im Boden, legte eine Wurzel frei, bückte sich schwerfällig (denn er war alt) und riß sie heraus: »Hier diese mein' ich vor allem; daß ihr mir nicht das Falsche bringt.«

Da sprangen die Knaben und brachten bald, was sie gefunden, und Chiron prüfte alles, braute Säfte davon und begann mit Umständlichkeit seine Lehrstunde vom Gebrauch der Kräuter. Denn er war ein berühmter Arzt.

Achill fragte: »Wozu das alles? und wer soll mich verwunden?«

»Hast du die Narbe an deiner Stirn vergessen?«

»Die kam, weil ich vom Baum stürzte. Aber es gibt Bißwunden, nicht wahr? Die kommen vom Bären. Und Schlagwunden gibt es; die kommen, wenn ein Kentaur mit der Keule schlägt. Aber auch von Herakles hast du mir ein Lied gesungen. Ich weiß es auswendig. Herakles war kein Kentaur; er war ein Held und trug die Keule. Könnt ich es auch!«

Chiron strich ihm das Haar: »Du könntest sie nicht tragen, du junges Blut. Vergiß den Herakles. Für dich sind solche Kämpfe nicht.«

»Aber es gibt noch mehr Wunden. Auch Schnitt- und Stechwunden gibt's; so sagtest du, Alter. Woher kommen die?«

»Das sollst du nicht wissen.«

»Warum lehrst du uns die Heilkräuter, und wir kennen die Waffen nicht, die den Schaden tun? Aber ich weiß, man kann sich in den Arm stechen, daß das Blut hochspritzt.«

»Nun denn, es gibt Menschen da drunten am Meer, die kämpfen mit Pfeilen, mit Speer und Dolch; damit kämpfen die Menschen.«

»Auch mein Vater? Zeige mir sie!«

»Wir Waldleute hier oben haben nicht Pfeile noch Lanzen.«

»Aber Steinwaffen hast du doch, womit du schlachtest?«

»Ja, wir schlachten damit. Aber uns ist Gesetz, solche Waffen wider Menschen nicht zu brauchen. Kommt! helft mir!«

Und Chiron holte ein Hirschkalb aus der Höhle; das hatte er am Vortag erlegt; und die Knaben übten sich voll Eifer und zerlegten es nun unter seiner Leitung. Er schalt und lobte und freute sich an der Jugend. Denn er war siebzig Jahre alt und lebte einsam und ohne Weib seit langem, und in seinem leeren Herzen klang jeder Laut der Kindheit doppelt wieder. Als sie das Eingeweide freigelegt, begann er den Lehrton von neuem (er konnte nicht anders als Kluges reden) und zeigte ihnen, wie man aus dem Gekröse, aus Leber und Milz die Zukunft voraussagt; denn es gibt Glück und Unglück, Gelingen und Mißlingen bei jedem irdischen Werk, und nur der Kundige kann es voraussagen.

»Was aber ist Unglück?« fragte da Achill erstaunt. »Was ist Mißlingen? Ich kenne es nicht. Und was ist, was du Zukunft nennst?«

»Zukunft?« Der Alte suchte seinen Knabenverstand zu bedeuten. Achill aber lachte glockenhell, daß die Vögel rechts und links auflauschten im Laub, und sprach: »Ich mag nicht denken. Ich will keine Zukunft. Aber wachsen will ich, ja, ja! das eine: ich will größer werden. – Es ist so schön heute. Laß mich aufsitzen!«

Und er sprang dem Kentaur auf den Rücken im Reitersitz und stieß mit den Hacken, als gäbe er seinem Lehrer die Sporen. Da lehnte Chiron seinen Menschenleib zurück, faßte ihm in die hellen Locken und küßte ihn, daß das Kindergesicht sich in seinem wilden Bart vergrub. Dann setzte er sich in Galopp hei, hei! hoiho! durch die nächste Schlucht in wilder Jagd. Das war ein Hasten mit Gejauchze und Geschrei. Die Kiesel flogen. Und mitten im Galopp sprang Achill ab und wieder auf und lief nebenher und ließ Patroklus reiten. Keiner aber war so schnellfüßig wie der Sohn der Thetis. Das machte: die Meeresgöttin ist seine Mutter; auch kein Wasser schießt so schnell übers Gestein wie er.

Chiron keuchte und konnte nicht mehr. Er hielt vor seiner Höhle und peitschte sich die Flanken mit dem Schweif. »Jetzt tost nur alleine. Der Wald ist weit. Wollt ihr meine siebzig Jahre zu Tode reiten? Aber zur Mittagstunde, wenn die Sonne beginnt abzusteigen, seid ihr zurück. Habt acht auf die Sonne; sie ist uns zum Zeitmaß gesetzt. Ich erwart' euch hier.«

Da schlüpften die beiden davon, und Patroklus sprach: »Ich weiß etwas, das du nicht weißt. Dort unter den Felssteinen, da liegen Speer und Schwert verborgen. Die gehören deinem Vater Peleus. In früheren Zeiten kam er oft hierher, um mit Chiron zu jagen, und ließ die Waffen hier zurück. Wenn er einmal wiederkommt, will er sie brauchen.«

Das war etwas Neues! Ohne Besinnen hoben sie die Felssteine auf, und Achill sah den Speer seines Vaters, stellte ihn an seine Schulter und maß steil aufgerichtet voll Gier an ihm die eigene Größe: aber, wie sehr er den Hals dehnte, die Speerspitze überragte ihn weit. »Das Schwert faßt sich gut« – damit eilten sie fort und verschwanden, wo das Dickicht am tiefsten ist.

Chiron aber trat keuchend in seine Höhle, hockte am Herd nieder, blies mächtig ins Feuer, drehte den Spieß, an den er die Keulen des Hirschkalbes getan, und begann das Mahl zu bereiten, das sie zu dreien verzehren wollten. Da kam draußen vom fernen finsteren Walde heller Zauberschein. Die Laubkronen flüsterten und neigten die Äste. Eine Duftwelle flog zu ihm herauf aus der Tiefe: Thetis, die Göttin, schritt durch die Natur. Es war nur ein Schweben; ihre Sohle drückte den Boden nicht. Kein Gras, kein Farn ward geknickt, und die Natur betete an vor ihr. Chiron erkannte sie von weitem, galoppierte ihr entgegen, kniete possierlich mit eingeknickten Vorderläufen vor ihr nieder und küßte ihr voll Verehrung die Hand.

Sie lachte: »Beneidenswert mein Sohn. Er kann von dir lernen, wie man die Götter ehrt. Und du bist rüstig geblieben, alter Freund, als wärest du selbst ein Gott: ein Gott auf vier Füßen! Ich werde Zeus bitten, daß der Tod nicht an dich kommt. Er soll dich an den Himmel versetzen. Als Sternbild im Tierkreis der Sonnenbahn sollst du dich in der See spiegeln. Aber wo bleibt er? Wo ist Achill?«

Und Chiron führte sie in die Höhle. Die Höhle ist noch heut vorhanden. Nur ist ein Felsblock von oben vor den Eingang gestürzt, und sie ist wie ein zugeworfener Zauberbrunnen, wie ein geschlossener Kyffhäuser oder Venusberg: eine Grottenhalle, künstlich aufgewölbt, weit, dunkel und kühl und mit engem Lichtschacht. Und während Thetis saß und er das Essen bereitete, erzählte er ihr von ihrem Sohn. Sorglos fröhlich hörte sie alles und zog die Nüstern voll Übermut: »Bei dir gibt's keine Fische. Wie schön riecht dein Braten. Wir wollen uns gütlich tun. Wenn er nur mitspeiste. Wo bleiben die Knaben?«

»Daß ein Donnerwetter!« – Der Alte spähte hinaus und tat einen Lockschrei. Aber die Burschen kamen nicht; sie antworteten nicht. Und er fuhr fort zu erzählen: »Er ist sonst gelehrig und folgsam. Er rennt, er klettert und springt dir wie ein Luchs. Auch singt er und schlägt die Leier voll Verstand. Aber es regt sich in ihm übermenschliches Kraftvermögen.«

»Mag die Kraft sich regen. Aber er weiß vom Ruhme nichts? Was Ruhm ist, hast du ihm nicht gesagt?« warf sie hastig ein. »O, ich hasse das Wort. Wir Unsterblichen brauchen es nicht; nur die Staubgeborenen, die dünken sich Göttern gleich, wenn der Ruhm ihren Namen durch die Welt trägt. Aber so seid ihr nicht. Dein schlichtes Kentaurenvolk ist zwar auch rauflustig, aber es weiß nichts von Ehrgeiz; und du bist friedfertig wie kein zweiter. Darum brachte ich Achill zu dir. Die Welt bleibt ihm hier ein verschlossenes Geheimnis. Mein Plan gelang. Achill kennt bis heut nur dich und deine Sippe, nur Peleus, seinen Vater, nur Patroklus, den Gespielen, und kein Weib, außer seiner Mutter. Ist es nicht so? So soll es bleiben. Er weiß nicht, daß es dort unten Völker rasender Menschen gibt, die morden und sich morden lassen, weil es als herrlich gilt, von ihren vergänglichen Lippen gepriesen zu werden. Denn Menschenlippen blühen wie die Wasserrosen nur einen Tag. Ach! mir graut vor dem Tode . . .«

Chiron sah verlegen zur Seite und sagte zögernd und voll Bedenken: »Soll es wirklich so weitergehn? Ihr Ewigen könnt euch kein Ende denken. Darum soll dieser Knabe, der eine Zier der Menschheit ist, zum Einsiedler werden, vom großen Ringen der Welt nichts erfahren, hier in unsrem Busch eine der dummen Nymphen freien, die mit fangendem Blick schon nach ihm ausschauen, Kinder zeugen, die werden wie er, um endlich tatenlos hinzualtern, bis du, du ewig junge, diesen deinen Sohn als eingeschrumpften Greis auf deine weißen Arme nimmst und auf den Holzstoß legst?«

»Du kränkst mein Mutterherz«, fuhr Thetis auf. »Mein Herz schreit: rette ihn, rette ihn! Der Tod steht auf der Lauer. Er zielt auf die Besten zuerst. Wer müde ist, mag sterben. Jung sterben ist Frevel gegen die Natur. Du wolltest mir helfen ihn zu retten, Freund. Meines Dankes bist du sicher. Also hilf weiter.«

»Ich fürchte . . .«

»Du fürchtest?«

»Du bist Mutter mit Leidenschaft. Aber Leidenschaft und Klugheit ist nicht dasselbe.«

»Ich will, daß du ihn hütest.«

»Auch eine Göttin kann das Unmögliche wollen. Er hofft auf Gefahren. Er wird zum Jüngling. Der Trieb ergreift ihn. Er wandert in die Welt. Ich kann ihn nicht halten.«

»Mach', daß er dich über alles liebt. Enge seine Vorstellungen ein, und er wird nicht darauf verfallen.«

»Wer aber kann es ertragen, in ein kluges, horchendes Knabenauge zu sehen und ihm nicht zu erzählen von den Helden der Vorzeit, von der Größe der Welt, von den Burgen der Könige . . .?«

»Das tatest du?«

»Er hing im Baum und starrte suchend in die leere Ferne, stundenlang, dorthin, wo das Meer liegt. Ein Knabe kann starren, wie die Eidechse starrt, zeitlos, regungslos, gedankenlos: eine große lange Frage ohne Antwort! Ich sah, seine Seele hungerte. Da erzählte ich ihm weniges, von den Argonauten und ihrer Schiffahrt . . .«

»Du hast ihm erzählt, daß es Seefahrt gibt? Wehe mir! Jenseits des Meeres harrt sein Grab auf ihn. Er soll es nicht finden.«

Chiron trat mit ihr an das Grottentor:

»Da siehst du das Meer. Fern, fern taucht es auf wie ein Gespenst. Es läßt sich nicht verheimlichen.«

Und er zeigte ihr den Blick in die Ferne. Da schimmerte die duftblaue Fläche der See, mit den gezackten Küsten ins Unendliche winkend: Euböa, dem waldigen Othrys, Pelion und Ossa.

Und bleich und entschlossen trat Thetis zurück. Da erscholl Geschrei aus der Höhe. Auf einem Felsgrat standen die Kinder; wie Dioskuren, so hoben sie sich von der dunklen Kiefernwand leuchtend ab und winkten und jauchzen, und ihre Stirn strahlte, als stünde ein Stern auf ihrem Scheitel. Achill schwang das bluttriefende Fell einer Löwin, die er erlegt, in den Lüften und trug zwei Löwenkätzchen im Arm und reizte sie, daß sie die Krallen zeigten. Patroklus gönnte ihm neidlos den Triumph. Dann nahm er die Kätzchen, und der Sohn sah die Mutter und stürzte frohlockend in ihre Arme.

Mutter und Sohn! Chiron sah es froh bewegt und bemerkte, daß der Knabe schon so groß wie seine Mutter war und wie er ihr ähnlich sah. Und sie küßte ihn lange und achtete nicht des Schweißes und Staubes, der sein Gesicht entstellte.

»Kommt erst zum Quell!« herrschte da Chiron; denn der Zorn erwachte in ihm. Und sie wuschen sich gehorsam und reinigten auch das Haar. Dann pflag man des Mahles. Die Knaben bedienten, und Achilles sprach mit Sanftmut: »Wir haben gefehlt, Meister. Zürne uns nur nicht, der Mutter zuliebe!«

Mehr sprach er nicht und erzählte nichts (das Schwert des Vaters hatte Patroklus wieder verborgen), und schweigend aßen sie am Tisch: die drei auf dem Lager; nur Chiron hockte nach Hundeart und brauchte keinen Sitz. Es war ein großes Schweigen der Erwartung. Ihr Sohn! Die Mutter versenkte ihren Blick in ihn und schwelgte in seinem Gebilde, und Besorgnis und Wonne kämpften in ihrem Herzen. Er fing ihren Blick auf und lachte sie siegreich an und selbstgewiß.

Stahlblau war sein Auge; es lag groß und drohend in den Höhlen. Weiche Wimpern hingen darüber. Aber die Brauen stiegen mächtig steil an, als wollte er zürnen. Schwer lag ihm die Haarmasse in der niederen Stirn. Das Oval der Wangen war schmal und fest gedrungen, der Mund noch weich wie eines Kindes; aber um die Mundwinkel lag es gespannt wie eiserner Wille.

›Er kam vom Kampfe!‹ dachte Thetis. ›Und die Wunden an seinem Hals? Seh' ich nicht Wunden?‹

»Er ist verwundet!« – rief sie voll Schreck und streifte ihm das Fellkleid vom Nacken.

»So ein Riß heilt von selbst«, lachte Achill. »Es juckt mir. Ich fühle, es heilt schon.«

Patroklus aber fing an zu erzählen: »Wir pirschten durchs Dickicht talab, dorthin, wo die vielen Hirsche gehn, und schlugen mit der Keule an die Baumstämme, daß es hallte. Dann lauschten wir und sahen Scharen von Wildgänsen; die flogen auf mit Geschrei. Auch zwei Adler standen hoch über ihnen; aber wir konnten sie mit keinem Wurf erreichen. Da – wo es am dicksten und ganz finster war, hörten wir ein fauchendes Schnarchen und Gebrüll. Wir stürzten hin, und ein mächtig gelbes Ungetier brach hervor. Die Löwin war's. Wir hatten solch ein Tier noch nie gesehen. Sie glaubte gewiß ihre Jungen bedroht und brüllte furchtbar dumpf, und mit mächtigem Satz faßte sie Achill und schlug ihre Tatzen ihm hier in den Hals. Er aber blieb aufrecht, würgte sie rasch, eh' ihr Gebiß ihn faßte, warf sie flach zur Erde und stieß ihr das Schwert tief ins Gekröse. Dann zogen wir ihr das Fell ab. Hier ist das Fell. Wir haben es. Darauf wollen wir fortan schlafen.«

»Und woher das Schwert?« schrie Thetis. »Chiron, hast du ihnen das Schwert gegeben?«

»Es ist meines Vaters! Wir fanden es unter dem Felsstein!« jubelte Achill. »Es ist mein eigen.«

»Kind des Unheils! Und ist euer Abenteuer hiermit zu Ende? Mit dem Löwenfell eiltet ihr flugs nach Haus?«

»Es ist noch nicht zu Ende. Höre Chiron, weshalb wir uns verspäteten. Ein junger Kentaur – er nennt sich Glaukos, der hütete sein gehörntes Vieh am Berghang des Pelion. Wir hörten schon von fern das Geläut. Die Kentaurin melkte eben die Kühe. Da sprengt Glaukos auf uns her: »Was habt ihr da, ihr Kinder?« so rief er voll Übermut und griff rasch und entriß mir das Löwenfell, als ob es ihm gehörte. Ich forderte: »gib es heraus.« Er lachte nur und höhnte mich, als stünde ein Kind vor ihm. Ich weiß, die Kentauren lieben das Vlies der wilden Katzen um ihre Schultern zu hängen. Wir aber kletterten an ihm empor und erstachen ihn. Sein Weib erhob Wehgeschrei. Morgen werden seine Verwandten hier sein und Rache fordern. Morgen! morgen! Es gibt Krieg, es gibt Krieg! Das ist ein Leben!«

»Sind das die Künste, die Chiron dich lehrte?« schalt Thetis, vor Schrecken außer sich.

»Nein, nein! Chiron hat mich noch andre Künste, er hat mich auch die Musik gelehrt. Willst du ein Lied hören, Mutter? Nach der Mahlzeit ziemt sich wohl Leierklang.«

Und Achill probierte kurz, ob die Saiten unter seinem Griff nicht rissen; und, die Stirn gefaltet, den Kopf gesenkt, wie ein junger Stier, begann er hell, aber eintönig, zu singen, und das hallende Gewölbe verdoppelte den Klang:

Dich, Herakles, Herakles, großer Held, Dich will ich singen und deinen Ruhm, Und wie du die Stadt Öchalia nahmst . . .

»Herakles? Woher der Name?« rief da Thetis, wie von Sinnen. »Und Ruhm? Ruhm? Was soll dir der Ruhm des Herakles?«

Und sie entriß ihm die Leier und gebot: »Höre auf. Du singst nicht die Lieder, die mir wohlgefallen. Du bist mir ein Ärgernis. Ich ertrag' es nicht.«

Da stürzten ihm die Tränen. Er barg sein Haupt in der Mutter Schoß und klagte: »Ich wußte nicht, daß es dir mißfalle. Zeige mir, was ich tun soll, Mutter. Aber ich kann nur tun, was ich liebe. Zeige mir, was ich lieben soll.«

Sie blieb ratlos und sagte nichts, und er schlich von dannen, und Thetis versank in Grübeln, und Chiron trottete um sie her und brummte leise und scharrte mit den Hufen und räusperte sich viel und wagte doch nicht sie zu stören. Und die Stunden vergingen. Draußen wurde der Baumschatten länger. Die Täler verdämmerten. Der Abend nahte. Da gingen die Knaben schlafen – denn schwere Müdigkeit war in ihren Gliedern – und legten sich auf das Fell, um von künftigem Ruhme zu träumen.

Thetis erhob sich, führte Chiron ins Freie, wo in der Tiefe unter ihnen das Meer perlgrau schimmerte, und sie sprach: »Er soll mit mir hinweg. Hier kann er nicht bleiben.«

»Du willst ihn mir nehmen?« Chiron senkte das Haupt.

Thetis fuhr fort: »Wüßt' ich nur, wohin ich ihn rette! Gefahr ist überall in der Welt. Auch hier oben droht ihm das Gefecht: morgen droht ihm die Rache für den Totschlag. Seine Kampfeswut ist entzündet. Großer Erzieher, bekenne, daß du ihn schlecht gehütet hast!«

»Ich habe es versucht, die Kräfte des Zöglings zu ertöten statt sie zu wecken. Aber mein Herz lehnte sich auf. Beschneide auch den Eichenstamm, soviel du willst; er wird doch nie gezähmt; er wird dir niemals Feigen tragen. Den angeborenen Trieb zu steigern und zum Guten zu lenken, das ist, was wir können, nicht mehr. Ich rate dir: tu' ein Wunder, mach' den Knaben zum Mädchen. Dann bist du seiner sicher.«

Mach' ihn zum Mädchen! War das Hohn? Das Gemüt der Göttin war zu bewegt, um Acht zu geben. Sie hörte nur: Tu' ein Wunder! tu' ein Wunder! wär' er ein Mädchen! Und sie nahm den schlafenden Sohn in ihren Arm. Der Schlaf des Halberwachsenen ist tief, und Achill erwachte nicht. So schwebte sie schweigsam mit ihrer teuren Last, die sie leicht dahintrug, durch das Nachtdunkel, von der Höhe des Pindus zum tiefen Tempetal und weiter an die Meeresküste hinab. Chiron folgte ihr in tiefer Trauer.