Antisemitismus - Achim Bühl - E-Book

Antisemitismus E-Book

Achim Bühl

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Beschreibung

Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts setzte die unheilvolle Verbindung von Antisemitismus, Sozialdarwinismus und modernen Rassenlehren ein. Der Berliner Soziologe Achim Bühl bereitet die Strukturen des Antisemitismus und seiner verhängnisvollen Verflechtungen bis in die Gegenwart auf. Er betrachtet den Antisemitismus als eine vielgestaltige, internationale Erscheinung, deren Wurzeln weit in die Vergangenheit reichen. Die Geschichte des modernen Antisemitismus mitsamt seinen schrecklichen Auswirkungen untersucht Bühl systematisch und detailliert und kann so den Blick schärfen für die heutigen Phrasen und Mythen, mit denen der Antisemitismus wieder Anhänger gewinnt.

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Achim Bühl

Antisemitismus

Geschichte und Strukturenvon 1848 bis heute

INHALT

EINLEITUNG

1DER ANTISEMITISMUS MITTE DES 19. JH.S BIS 1918

1.1Von der Reichsgründung 1871 bis zur konservativen Wende

1.2Von der konservativen Wende bis zum Ersten Weltkrieg

1.3Der Berliner Antisemitismusstreit

1.4Die „Rassenlehre“ und der Manichäismus

1.5Die Dreyfus-Affäre in Frankreich

1.6„Die Linke“ und „die Juden“

1.7Pangermanismus in Österreich

1.8Pogrome im zaristischen Russland

1.9Die Protokolle der „Weisen von Zion“

1.10Alltägliche Ausgrenzungen und Diskriminierungen

1.11„Der Jude“ in der „Karikatur“

1.12„Der Jude“ in der Literatur des Wilhelminismus

1.13Der Erste Weltkrieg als Katalysator der Radikalisierung

1.14Zusammenfassung

2DER ANTISEMITISMUS IN DER ZWISCHENKRIEGSZEIT

2.1Die Friedensschlüsse von Paris

2.2Weimarer Republik: latenter bis militanter Judenhass

2.3„Der internationale Jude“ von Henry Ford

2.4Literarische und cineastische „Blutmetaphorik“

2.5Die Situation in Polen und Ungarn

2.6Die Sowjetunion in den 1920er- und 1930er-Jahren

2.7„Der Jude“ als „Judäo-Bolschewist“

2.8Judenfeindliche Entwicklungen in weiteren Ländern

2.9Zusammenfassung

3DER VERNICHTUNGSANTISEMITISMUS DES DT. NATIONALSOZIALISMUS

3.1Terror, „Judenboykott“ und erste Verordnungen

3.2Die „Nürnberger Rassengesetze“

3.3Die Novemberpogrome von 1938

3.4Umfassende Diskriminierung und soziale Ausgrenzung

3.5Systematische Beraubung, Zwangs- und Sklavenarbeit

3.6Verschwörungstheoretischer Erlösungsantisemitismus

3.7Täter-Kino: Die Rothschilds, Jud Süß, Der ewige Jude

3.8Die alltägliche Propaganda der „Elimination“

3.9Patientenmord und Holocaust

3.10Die Ermordung der deutschen und österreichischen Juden

3.11Die Ermordung der europäischen Juden

3.12Zusammenfassung

4DER POST-SHOAH-ANTISEMITISMUS NACH 1945

4.1Die „bleierne Zeit“ nach 1945

4.2Die 1960er-Jahre bis zur Wiedervereinigung

4.3Die Auswirkungen des Jahres 1989

4.4Aktuelle Trends und Ereignisse

4.5Zusammenfassung

RESÜMEE

LITERATURVERZEICHNIS

EINLEITUNG

Jom Kippur ist der höchste jüdische Feiertag. Der jüdische Kalender, der ein Lunisolarkalender ist, d. h. 12 Mond-Monate umfasst und zur Angleichung an das Sonnen-Jahr alle drei Jahre einen dreizehnten Mond-Monat einfügt, legt das Datum des Versöhnungsfestes auf den 10. Tag des Monats Tischri fest. Im Jahr 2019 war dies der 9. Oktober. Der als strenger Ruhe- und Fastentag begangene Jom Kippur bildet Höhepunkt wie Abschluss der sogenannten „zehn Tage der Reue und Umkehr“. Gebete, Fasten, Wohltätigkeit oder Selbstreflexion füllen den Tag aus, der auch von nicht-religiösen Juden begangen wird.

Am 9. Oktober 2019 befinden sich gegen Mittag 51 Personen in der Synagoge in Halle, als der 1992 in Eisleben geborene Stephan Balliet, welcher der Tat bezichtigt wird, diese mit der Absicht erreicht, sich mit Waffengewalt Zugang zur Synagoge zu verschaffen und einen Massenmord an den dort versammelten Juden zu begehen. Die antisemitischen Motive für seine Tat hatte er eine Woche zuvor in einem in Englisch verfassten Bekennerschreiben im Internet bekannt gegeben. Dort heißt es: »Geh rein und töte alles … Improvisiere, wenn etwas schief geht. Fahr weg. Töte noch mehr. Wiederhole, bis alle Juden tot sind …«

Das Pamphlet von Balliet steht in der Tradition der „Fourteen Words“, eines vor allem in den USA weitverbreiteten Bekenntnisses von Neonazis sowie von weißen Rassisten. Die vierzehn Wörter lauten auf Englisch: »We must secure the existence of our people and a future for White children.« Als Erfinder der „14 Wörter“, die der rechten Szene auch als Zahlencode dienen, gilt der US-amerikanische Rechtsextremist David Eden Lane (1938–2007), der an der Ermordung des jüdischen Radiomoderators Alan Berg (1934–1984) im Juni 1984 beteiligt war. Der liberal gesinnte Berg, den die rechtsextreme Szene hasste, wurde von der neonazistischen Terrorgruppe „The Order“ vor seinem Haus erschossen. Die Terrororganisation „The Order“, der Lane angehörte, teilte die Ideologie der White Supremacy-Bewegung, raubte Banken sowie Geldtransporter aus und verübte einen Bombenanschlag auf eine Synagoge. „The Order“ erstellte Todeslisten, auf denen auch Berg stand. Gründungsmitglieder von „The Order“ wie Lane, der im Alter von 68 Jahren in einem US-amerikanischen Staatsgefängnis im Jahr 2007 starb, werden bis heute von der White-Power-Bewegung als Helden verehrt. Lane, der 1981 der „Aryan Nations“ beitrat, machte 1983 das politische Schlagwort von den USA als „Zionist Occupied Government“ (ZOG) in rechtsextremen Kreisen populär. ZOG-Graffitis sind bis heute an US-amerikanischen Garagen- wie Häuserwänden zu erblicken. Die Erzählstruktur der zugrundeliegenden antisemitischen Pamphlete ist dabei stets die gleiche geblieben. In verschwörungstheoretischer Manier wird die Behauptung von einer angeblich von Juden kontrollierten US-amerikanischen Regierung aufgestellt, ist von einer jüdischen Weltverschwörung die Rede, welche die Absicht verfolge, ein Waffenverbot in den USA durchzusetzen, um „Weiße“ wehrlos zu machen und um so den „Tod der weißen Rasse“ zu bewirken. Terrorismus erscheint auf diese Weise als adäquates Gegenmittel, als legitimer Akt der Notwehr, um die USA von ihrer „jüdischen Regierung“ zu befreien und den Sieg der „arischen Rasse“ einzuleiten, die in den „14 Words“ als »our people« bezeichnet wird. Zwar sei die „weiße Rasse“ allen anderen überlegen, befände sich indes in einem Überlebenskampf gegen die „Rasse“ der Juden, welche die „Rasse“ der Schwarzen und der Latinos instrumentalisiere, um die Weißen von ihrem angestammten Platz („White Supremacy“) zu vertreiben und zu vernichten.

Offensichtliches Vorbild für den Attentäter auf die Synagoge von Halle war der Terroranschlag auf zwei Moscheen in Christchurch (15. März 2019) gut ein halbes Jahr zuvor. Der Australier Brenton Tarrant, welcher der Tat bezichtigt wird, veröffentlichte gleichfalls ein Manifest im Internet und versah sein Pamphlet mit dem Titel The Great Replacement. Tarrant und Balliet wie auch der norwegische Attentäter Anders Behring Breivik teilen den Verschwörungsmythos vom „Großen Austausch“, der ein zentrales Schlüsseltheorem der neuen Rechten darstellt und sich in ausgeprägter Weise ebenso in Reden des ungarischen Ministerpräsidenten Victor Orbán (vgl. Kap. 4.4) findet. Der verschwörungstheoretische Mythos vom „Bevölkerungsaustausch“ unterstellt die Existenz eines geheimen Plans, um in den USA sowie in Europa die weiße Mehrheitsbevölkerung gegen nichtweiße, migrantische Einwanderer auszutauschen. Das rassifizierende Konstrukt vom vermeintlich „mächtigen Juden“ sowie die Langlebigkeit der gefälschten Protokolle der Weisen von Zion (vgl. Kap. 1.9) machen sich in diesem Kontext dahingehend bemerkbar, dass zumeist „die Juden“ für den bevölkerungspolitischen Geheimplan des „Großen Austausches“ als Urheber ausfindig gemacht werden. Bei Victor Orbán ist dies der in Ungarn geborene US-amerikanische Philanthrop George Soros. „Die Juden“, welche angeblich „die Globalisierung“ und „die Wirtschaft“ steuerten sowie den Gedanken des Multikulturalismus propagierten, verfolgten mittels ihres Einflusses auf Parteien, die Europäische Union sowie die Vereinten Nationen unerbittlich das Konzept des „großen Genozids“, welches den Untergang von „White America“, „White Europe“ sowie der „White People“ intendiere. Ideologische Bezüge zum dt. Nationalsozialismus sowie zu „rassentheoretischen“ Werken eines Madison Grant (1865–1937) und dessen Hauptwerk The Passing of the Great Race (1916) – von Adolf Hitler als »seine Bibel« bezeichnet – sowie zu Lothrop Stoddard (1883–1950) und dessen Standardwerk The Rising Tide of Color Against White World-Supremacy (1920) sind unübersehbar und offenbaren die lange Tradition rechtsextremistischen Gedankenguts. Nicht zuletzt das Attentat von Halle verdeutlicht den Sachverhalt, dass der „klassische Antisemitismus“ nach 1945 nie verschwunden war und diesbezügliche Annahmen sich nunmehr als reine Illusion erweisen.

Wie stark der Attentäter von Halle judenfeindliches US-amerikanisches Gedankengut adaptierte, wird auch daran ersichtlich, dass er sich englischsprachiger Termini bediente, die hierzulande eher unbekannt sind, indes auf neonazistischen Seiten im Internet Verwendung finden. So benutzte er in seinem Hasspamphlet an mehreren Stellen für Juden den Terminus „Kikes“, ein Wort, das in den USA zu Beginn des 20. Jh.s als diffamierender Begriff für Juden aufkam und vermutlich auf der Insel Ellis Island entstand, die als Sitz der Einreisebehörde sowie als zentrale Sammelstelle für Einwanderer in die USA diente. Jüdische Einwanderer, die Analphabeten oder der lateinischen Buchstaben nicht mächtig waren, sollen sich dort geweigert haben, Formulare mit dem üblichen „X“ zu zeichnen, weil sie dies für ein christliches Kreuz hielten, und stattdessen mit einem Kreis signiert haben, sodass das jiddische Wort „kikel“ für Kreis in diskriminierender Absicht für Juden benutzt wurde. Vermutlich handelt es sich bei dieser Erklärung indes eher um eine antisemitische Legende im Kontext christlicher Judenfeindschaft als um eine ernsthafte Klärung der Herkunft des Wortes. Etymologisch wahrscheinlicher dürfte es sein, dass der Terminus benutzt wurde, um im Sinne eines rassistischen Rankings deutsche Juden von osteuropäischen Juden zu unterscheiden und letztere mit dem Terminus als „das Allerletzte“ zu kennzeichnen, wobei man hierfür an die bei osteuropäischen Namen geläufige Endung -ki bzw. -ky anknüpfte. Unabhängig von der ungesicherten etymologischen Herkunft des Wortes, benutzt der Attentäter von Halle den Terminus, um deutlich zu machen, dass Juden für ihn Nicht-Deutsche sind, Einwanderer, die hier nicht hingehören, ungebildete Menschen, um sich so seiner „eigenen Höherwertigkeit“ als „weißer Mann“ im Kontext der Verarbeitung eigener Minderwertigkeitskomplexe zu vergewissern.

Seine Tat streamte der Attentäter von Halle; der Massenmord sollte in Echtzeit im Internet zu sehen sein. »Hello my name is anon [gemeint ist anonymous, d. Verf.], and I think the holocaust never happened.« Antisemitische Verschwörungstheorien mischen sich so mit Holocaustleugnung, antimigrantischem Rassismus sowie dem seit Friedrich Hollaenders Couplet »An Allem sind die Juden schuld« bekannten Wahn, im Juden den Schuldigen an einfach allem zu erblicken, an gesellschaftlichen Umbrüchen, prekären sozialen Lagen ebenso wie an rein privaten Problemen. Nur durch ein Wunder gelang es dem Angreifer nicht, die Tür der Synagoge aufzuschießen bzw. aufzusprengen. Wie ernst es ihm bei seinen Mordabsichten indes war, wird nicht zuletzt daran ersichtlich, wie kaltblütig er zwei unbeteiligte Personen aus purer Wut, da er nicht in die Synagoge gelangte, erschoss, um seinen Blutrausch ersatzweise zu befriedigen.

Unverzüglich nach der Tat wird vom »Täter aus dem Nichts« gesprochen, von »nichtvorhersehbar«, es sei schwer für die Polizei, einen solchen »Einzelgänger«, der sich einzig und allein im Netz radikalisiert habe, auf dem Schirm zu haben. Die Tat wird deklariert als eine, die von ungefähr gekommen sei. In Maybrit Illners Talkshow Anschlag in Halle – tödlicher Judenhass in Deutschland vom 10. Oktober 2019 bemühte sich Rainer Erich Haseloff, Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt, nach Kräften darum, das Attentat von Halle zu externalisieren. Als Ursachen machte er die Gamer-Szene aus sowie das Darknet, mit dem der „gute Bürger“ nicht in Verbindung zu bringen sei. Die Tat kommt auf diese Weise nicht mehr aus der Mitte der Gesellschaft – in der Antisemitismus sowie weitere Varianten des Rassismus beängstigend angestiegen sind, was Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamtes, noch unmittelbar vor Halle bestätigte –, sondern aus dem „Dunklen Netz“, dem „Ort des Bösen“. Statt sich dem gesellschaftlichen Problem Antisemitismus zu stellen, wird nach Halle eine Nach-Außen-Verlagerung, eine Abwälzung auf das Internet betrieben, so als wenn dieses nicht Teil unserer Gesellschaft wäre. Die Tat kommt indes alles andere als von ungefähr.

Zu klären ist nicht zuletzt, warum das Anwachsen des Antisemitismus in den letzten Jahren derart unterschätzt wurde. Zu konstatieren ist, dass das Geschwafel vom „vergessen sie den guten, alten Antisemitismus“, da dieser angeblich tot und unbedeutend geworden sei, eine höchstgefährliche, naive Einschätzung war, die davon abgelenkt hat, dass die Polizeistatistik eine eindeutige Sprache spricht und die Täter antisemitischer Taten in Deutschland noch immer überwiegend der rechtsextremen Szene zuzuordnen sind. Zu debattieren ist darüber, dass die aus der Mitte der dt. Gesellschaft entsprungene deutsche Beschneidungsdebatte (vgl. Kap. 4.4) viel mit der nationalsozialistischen Vergangenheit im Sinne des sekundären Antisemitismus (vgl. Kap. 4) zu tun hatte wie mit dem „guten, alten Antisemitismus“, insofern ein Verbot der Beschneidung ein religiöses Ritual kriminalisiert hätte, welches auf eine lange Tradition als Zielscheibe der Judenfeindschaft zurückblicken kann.

Der Rechtsextremist, der einen antisemitischen Terroranschlag durchführt, stellt dergestalt betrachtet nur die Spitze des gesellschaftlichen Problems dar und dies reicht von unbelehrbaren Altlinken und ihrem israelbezogenen Antisemitismus, der sogenannten Schlussstrich-Debatte, des sich Verweigerns eines Großteils der dt. Historiker angesichts der Goldhagen-Debatte, der nach wie vor existenten Bereitschaft in großen Teilen der dt. Bevölkerung sich die NS-Zeit „schön zu reden“ und die Zahl der Mörder niedrig zu schätzen, über die mit antisemitischen Untertönen randvoll bestückte Beschneidungsdebatte, den zu geringen Aktivitäten von Islamverbänden angesichts des Antisemitismus von Muslimen, dem Weghören von Lehrkräften bei judenfeindlichen antisemitischen Sprüchen ihrer Schüler (»Ex oder Jude«), dem Wegsehen gar beim Mobbing gegen jüdische Kinder bis hin zur AfD sowie der derzeit hohen Willigkeit, einer Partei seine Stimme zu geben, die tagtäglich Hass schürt und in entscheidendem Maß mit dazu beiträgt, unmittelbar gewaltbereite rechtsextremistische Täter zur Tat anzustacheln.

Der Täter von Halle war nicht allein, er war kein „einsamer Wolf“, er hat u. a. virtuelle Kontakte gehabt, er hat mit konkreten Personen und nicht mit Sprachrobotern im Internet kommuniziert, die ihn durch ihre Ansichten weiter radikalisiert haben, er hat sich durch das Attentat in Neuseeland inspirieren lassen, dessen Täter zuvor in Österreich den Kontakt zur dortigen identitären Bewegung suchte und vermutlich auch fand. Ein Attentäter nimmt vor seiner Mordtat auf vielfältige Weise Signale der Gesellschaft auf, welche diese ihm vermittelt. In einer Gesellschaft, in der dt. Politiker noch immer weitgehend ungeächtet sagen dürfen „Mutter aller Probleme ist die Migration“, sieht sich ein Attentäter auf dem Weg seiner weiteren Radikalisierung bestätigt. Am Ende eines längeren Prozesses lesen wir schließlich in seinem Bekennerschreiben: »Zum Sterben auserwählt. Töte einen Juden«, »Anudda Shoa. Töte 6 Juden«, »Gleichstellung der Geschlechter. Töte eine Jüdin«, »Warum nicht beides? Töte einen Moslem und einen Juden«, »Das Feuer erhebt sich. Brenne eine Synagoge nieder«, »Krustiger Kebab. Brenne eine Moschee nieder«, »Kulturelle Aneignung. Stich Sie in einen Moslem ab«, »Mitternachts-Völkermord. Töte 3 Nigger zwischen 23 und 1 Uhr«, »Blau-gescreent. Töte einen ZOG-Bot.« Es ist an der Zeit für eine neue Antisemitismusdebatte, die das Maß der Bedrohung für Juden und Jüdinnen zur Kenntnis nimmt, für die Entwicklung effektiver, gesamtgesellschaftlicher Konzeptionen gegen den Antisemitismus wie gegen jegliche Spielart des Rassismus. Es ist Zeit, entschieden Widerstand zu leisten.

Das erste Kapitel des Buchs widmet sich dem Antisemitismus von der Mitte des 19. Jh.s bis 1918. Es ist die Hochzeit der „modernen Rassenlehren“, die wie der Philosoph Eugen Dühring zumeist „die Juden“ als „Gegenrasse“ zur „germanischen oder arischen Rasse“ konstruierten sowie in der „Rassenvermischung“ einen „Rassezerfall“ der „qualitativ höherwertigeren Rasse“ sahen. Zwar sind „Rassen“ nichts als die Erfindung des Rassisten und konnten sich diverse Rassetheoretiker noch nicht einmal auf die Anzahl der vermeintlichen „Hauptrassen“ verständigen, gleichwohl veränderte die Judenfeindschaft dadurch ihre Gestalt. Der Antisemitismus biologisierte sich indes nicht nur, er politisierte sich auch, insofern sich im Wilhelminischen Kaiserreich diverse Parteien im Kampf um Wählerstimmen des Antisemitismus bedienten. Das Jahr 1903 kann als das Ursprungsjahr moderner Verschwörungstheorien gelten, denen sich in ideologischer Hinsicht auch der Täter von Halle bediente, insofern im Russischen Kaiserreich erstmals eine Version der gefälschten Protokolle der Weisen von Zion erschien, die „das Weltjudentum“ bezichtigte, in geheimen Treffen einen Plan für die Eroberung der Weltherrschaft erarbeitet zu haben, um ein kommendes „jüdisches Weltreich“ zu errichten. In seiner Wirkung bezüglich des Antisemitismus nicht zu unterschätzen ist ebenso der Erste Weltkrieg, der sich als eine Art Katalysator eines sich radikalisierenden Antisemitismus bezeichnen lässt. Die durch den Ersten Weltkrieg in Gang gesetzte Brutalisierung des Antisemitismus verdeutlichen nicht zuletzt die Morde an Rosa Luxemburg, Kurt Eisner und Walther Rathenau.

Das zweite Kapitel des Buchs behandelt die Zwischenkriegszeit zwischen den beiden Weltkriegen. Die Protokolle der Weisen von Zion erlangten in den 1920-er-Jahren internationale Verbreitung und dienten der politischen Reaktion dazu, „die Juden“ zu bezichtigen, Revolutionen wie die Oktoberrevolution in Russland entfacht zu haben, um die „jüdische Weltbeherrschung“ zu verwirklichen. Die Legende vom Weltherrschaftsstreben der Juden in Gestalt der „Protokolle“ verbreiteten in den USA der Autobauer Henry Ford (1863–1947) und in Deutschland der NSDAP-Ideologe Alfred Ernst Rosenberg (1892–1946), der mit seinen Propagandabroschüren auch das antisemitische Ideologem vom angeblich jüdischen Bolschewismus („Judäo-Bolschewismus“) populär machte. Als Auslöser für einen militanter werdenden Antisemitismus dienten in der Zwischenkriegszeit neben der revolutionären Nachkriegskrise ebenso das Trauma der Kriegsniederlage, der erstarkende Nationalismus sowie die Weltwirtschaftskrise.

Das dritte Kapitel befasst sich mit dem Vernichtungsantisemitismus des dt. Nationalsozialismus, dessen Judenfeindschaft von Anfang an auf die Eliminatorik der dt. Juden zielte. Zwar war der Weg nach Auschwitz im Jahr der Machtübernahme der Nazis nicht vorprogrammiert, gleichwohl als potentielle Option immanent. Bereits mit dem Einmarsch der dt. Wehrmacht in Polen begannen die Massenmorde an den polnischen Juden. Im Jahr der Befreiung vom dt. Nationalsozialismus werden sechs Millionen Jüdinnen und Juden die deutsche Terrorherrschaft mit ihrem Leben bezahlt haben. Die Singularität der Shoah resultiert dabei nicht zuletzt aus der Vielzahl der involvierten Länder, der jüdischen Opfer aus nahezu ganz Europa sowie aus dem Sachverhalt, dass zwar Deutsche die Hauptschuld am Holocaust tragen, das Ausmaß des Genozids des deutschen Haupttäters indes nur durch ein Heer von Mittätern möglich war, durch Kollaboration, Schließen der eigenen Grenzen, Verweigerung der Aufnahme jüdischer Flüchtlinge, Schweigen der Kirchen sowie internationaler Organisationen und durch aktive Beteiligung an Deportationen mittels Verhaftungen und Bereitstellung von Zügen, die in Richtung der deutschen Vernichtungslager fuhren.

Das vierte Kapitel bespricht die historische Entwicklung des Post-Shoah-Antisemitismus nach 1945 und widmet sich den aktuellen Entwicklungstendenzen der Judenfeindschaft. Der Antisemitismus nach 1945 ist nicht zuletzt im Sinne Sigmund Freuds als Schuldabwehr zu interpretieren, die sich in zahlreichen dt. Debatten in Gestalt der Täter-Opfer-Umkehr, der Solidarisierung mit den Tätern des Völkermords oder gar dem unverhüllten Leugnen der Shoah offenbart. Neuartige Erscheinungen des sogenannten sekundären Antisemitismus mischen sich dabei mit traditionellen Varianten zumal der rechtsextremistische Antisemitismus bis auf die heutigen Tage alles andere als verschwunden ist. Zu den Erscheinungsformen des sekundären Antisemitismus zählt auch der sogenannte „umgelenkte Antisemitismus“, bei dem der antisemitische Akteur dasjenige, was er „dem Juden“ gerne sagen würde, im Kontext abstrakter Sachverhalte äußert oder gegenüber einer dritten Person artikuliert. Hierzu zählen „Wall-Street-Fantasien“, verkürzte Kapitalismuskritiken, Personifizierungen des Kapitalismus, die dt. Beschneidungsdebatte ebenso wie die sogenannte „Israelkritik“, die in jüngster Zeit einen deutlich wachsenden Stellenwert eingenommen hat. Zu den aktuellen Entwicklungstendenzen des Antisemitismus gehören gleichfalls höchst bedenkliche Tendenzen in den osteuropäischen, postkommunistischen Nationalstaaten, allen voran in Ungarn und Polen, der Antisemitismus von Migranten in Frankreich, die Judenfeindschaft von Muslimen und alles andere als zuletzt der Antisemitismus der sich in Deutschland etabliert habenden AfD, die mit dazu beiträgt, unmittelbar gewaltbereite Rechtsextremisten wie in Halle zu ihren mörderischen Taten zu motivieren.

1DER ANTISEMITISMUS MITTE DES 19. JH.S BIS 1918

Ab der Mitte des 19. Jh.s setzte die unheilvolle Verbindung von Antisemitismus, Sozialdarwinismus und modernen Rassenlehren ein. Das zwischen 1853 und 1855 erschienene Werk Essai sur l’inégalité des races humaines des frz. Schriftstellers Arthur Comte de Gobineau (1816–1882) postulierte die Existenz einer »nordischen Urrasse«. Diese »germanische oder arische Rasse« sei der »gelben« sowie der »schwarzen Rasse« überlegen. Gobineau behauptete ebenso die Schädlichkeit der »Rassenmischung«, die zur »Herabzüchtung« der qualitativ »höheren Rassen« führe. Gobineaus Postulat von der Überlegenheit der »arischen Rasse« stieß insbesondere in Deutschland auf fruchtbaren Boden und verband sich hier mit „Rassenlehren“, die Juden als »vorderasiatisches Rassengemisch« diffamierten, deren Ziel es sei, den »Arier« nach Kräften zu übervorteilen und auszubeuten. Spätere Rassenlehren rückten das Konstrukt vom welthistorischen Gegensatz zwischen „Arier“ und „semitischer Rasse“ in den Vordergrund, imaginierten wie der Philosoph Eugen Dühring „den Juden“ als wirtschaftlichen Ausbeuter und diffamierten ihn als »Schmarotzer«, als »Sozialparasit im Völkerleben« sowie als »Gegenrasse«.

Der Antisemitismus biologisierte sich indes nicht nur ab Mitte des 19. Jh.s, er politisierte sich auch, insofern relevante Kräfte des Wilhelminischen Kaiserreichs die seit der Reichsgründung in Deutschland existente rechtliche Gleichstellung der Juden ablehnten und die Parteipolitik sich verstärkt des Antisemitismus bediente, um Wählerstimmen zu gewinnen. Immer stärker zeigte sich, dass der Weg von der rechtlichen Gleichstellung zur gesellschaftlichen Akzeptanz weit und das Erringen der Bürgerrechte nicht identisch mit dem Schutz vor alltäglicher Ausgrenzung und Diskriminierung war. Außer in der Parteipolitik drang der Antisemitismus auch in Presse, Publizistik und Literatur vor und modernisierte sich, ohne dass seine christlich-antisemitischen Motive verschwanden. Für die betroffenen Juden nahm der Antisemitismus immer stärker alltäglichen Charakter an und reichte von einem Blick in die Tageszeitung, dem Lesen eines angesagten Buchs, dem Ausschluss aus Vereinen, der Beschränkung der beruflichen Karriere bis hin zu Pogromwellen in Russland.

Während zu Beginn des Jahres 1914 das „Augusterlebnis“ bei den Juden die Hoffnung auf gesellschaftliche Akzeptanz beflügelte, zeigte sich rasch, dass der Erste Weltkrieg in Wahrheit die Rolle eines Katalysators des radikaler werdenden Antisemitismus spielte. Juden wurden als »Spione« der Gegenseite bezichtigt, als »Kriegsgewinnler«, als »Drückeberger« sowie als »Schieber«, deren Interesse darin bestehe, den Krieg auf Kosten des Volkes zu verlängern. Nicht zuletzt trug auch die Gewaltförmigkeit des Krieges dazu bei, dass der Antisemitismus sich brutalisierte.

Die rechte Agitation machte Juden nicht nur für den Ersten Weltkrieg und seinen Verlauf verantwortlich, sondern ebenso für die „Russische Revolution“, in deren Kontext antisemitische Verschwörungstheorien wie die Protokolle der Weisen von Zion an Gewicht gewannen. „Der Jude“ wurde als Bolschewist imaginiert, dessen Ziel es sei, revolutionäre Unruhen mit der Absicht zu schüren, dem „internationalen Judentum“ zur Macht zu verhelfen und die „jüdische Weltherrschaft“ zu errichten. Ein Jahr darauf wurden die Juden ebenso für die Novemberrevolution in Deutschland verantwortlich gemacht und von der politischen Rechten als „jüdische Novemberverbrecher“ verleumdet. Die durch den Ersten Weltkrieg initiierte Brutalisierung des Antisemitismus belegen der Mord an Rosa Luxemburg am 15. Januar 1919, welche zuvor als »Judenhure« verunglimpft und misshandelt wurde, die Ermordung des bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner (USPD) am 21. Februar 1919, sowie die Ermordung des jüdischen Reichsaußenministers Walther Rathenau in Berlin am 24. Juni 1922.

1.1Von der Reichsgründung 1871 bis zur konservativen Wende

In den 1860er-Jahren wurde den Juden in den ersten dt. Staaten die uneingeschränkte Gleichberechtigung gewährt. Das Großherzogtum Baden, welches von 1806 bis 1871 ein souveräner Staat war, erließ am 4. Oktober 1862 ein Gesetz zur bürgerlichen Gleichstellung der Israeliten. Der Erlass verwirklichte erstmals die volle Emanzipation auf allen Ebenen. Den Juden wurden die volle Niederlassungsfreiheit sowie die volle Berufswahl einschließlich des Rechts gewährt, Beamte und Lehrer zu werden. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen der im Jahr 1867 erfolgten Umwandlung des Kaisertums Österreich in die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn sahen gleichfalls die rechtliche Gleichstellung der Juden vor. Der unter der Führung Preußens stehende Norddeutsche Bund, der von 1866 bis 1871 alle dt. Staaten nördlich der Mainlinie umfasste, stellte im Jahr 1869 das Judentum weitgehend mit allen anderen Konfessionen gleich. Mit der Reichsgründung des Jahres 1871 erhielt das Gesetz, betreffend die Gleichberechtigung der Konfessionen in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung gesamtdeutsche Gültigkeit. Zwar schloss die Reichsverfassung von 1871 den rechtlichen Prozess der Gleichstellung ab, gleichwohl verschärfte sich der Antisemitismus. Die Antisemiten gedachten nicht nur die Umsetzung des Verfassungsrechts in Verfassungswirklichkeit zu behindern, sondern ebenso die gesellschaftliche Akzeptanz der 512 000 Juden im Deutschen Reich zu obstruieren. Nach der Reichsgründung beschwor der antisemitische Diskurs die Gefahr einer „jüdischen Allmacht“ und lamentierte über die vermeintliche Dominanz der Juden in allen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen wie kulturellen Sektoren, obwohl diese nur 1,25 % der Gesamtbevölkerung ausmachten.

Bedingt durch eine Spekulationsblase, hervorgerufen durch den wirtschaftlichen Optimismus der Gründerzeit, löste der Wiener Börsencrash 1873 eine wahre Kettenreaktion aus. Der 9. Mai 1873 erwies sich als „Schwarzer Freitag“ der Wiener Börse, die gegen Mittag schließen musste. Insolvenzen in großer Zahl ließen sich nicht mehr verhindern, die sich ausweitende Wirtschaftskrise nahm ihren Lauf und stürzte zahllose Menschen ins Elend. Die Losung »Die sociale Frage ist die Judenfrage«, die Gleichsetzung von Wucher, Ausbeutung und Judentum, von moderner kapitalistischer Wirtschaft und „jüdischen Börsenspekulanten“, die sich auf Kosten des schaffenden, arbeitenden Menschen selbstsüchtig bereicherten, machte der Journalist Otto Glagau (1834–1892) im Kontext des Gründerkrachs populär. In der zu seiner Zeit viel gelesenen Illustrierten Die Gartenlaube veröffentlichte Glagau Ende 1874 eine Artikelserie, die zwei Jahre darauf in erweiterter Fassung unter dem Titel Der Börsen- und Gründerschwindel in Berlin in Buchform erschien. Der Berliner Journalist bediente sich der Methode rassistischer Markierung. Immer dann, wenn es sich bei einem der Beteiligten am Börsencrash um einen Juden handelte, wurde dieser als »jüdischer Spekulant« bezeichnet, während bei einem „christlichen Spekulanten“ die Markierung selbstredend unterblieb, sodass systematisch der Eindruck erweckt wurde, die Börse sei eine „jüdische Erfindung“, die „das Judentum“ ausgeheckt habe, um sich die Werte der „schaffenden Bevölkerung“ anzueignen. Glagau führte so die vom dt. Nationalsozialismus propagierte Unterscheidung zwischen dem „schaffenden“ und dem „raffenden Kapital“ ein und kreierte die Figur des „Börsenjuden“, der aus materialistischer Gier nur am eigenen Wohlstand interessiert sei, von Profitsucht getrieben Wirtschaft wie Gesellschaft ruiniere sowie durch Spekulationen zahllose Familien ins Elend stürze. Glagau schwadronierte von den miteinander verschworenen Juden, die einen Börsenkrach billigend in Kauf nehmen, da „der Jude“ am Elend verdiene, während „der schaffende Mensch“ leide.

Die eigentlichen wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Verhältnisse gerieten so völlig aus dem Blickfeld, für ein komplexes Wirtschaftsgeschehen, welches der Einzelne nicht mehr zu durchschauen vermochte und dem er sich hilflos ausgeliefert fühlte, bot Glagau einfache Erklärungen an und nannte zugleich den vermeintlich Schuldigen. Der „Börsenjude“ war schlicht der „Börsenschwindler“ und dieser trug die Hauptschuld an der Krise des Jahres 1873, so die Botschaft Glagaus in einer turbulenten Zeit, die nach einfachen Antworten nur so verlangte. In für jedermann verständlichen Worten hetzte Glagau:

»Das Judenthum ist das angewandte, bis zum Extrem durchgeführte Manchesterthum. Es kennt nur noch den Handel, und davon auch nur den Schacher und Wucher. Es arbeitet nicht selber, sondern lässt Andere für sich arbeiten, es handelt und speculirt mit den Arbeits- und Geistesproducten Anderer. Sein Centrum ist die Börse […]. Das Judenthum gedeiht am besten bei Krieg, Misswachs, Seuchen und anderen Calamitäten, sowie in armen Ländern. Es hält, selbst noch bei gesegneten Ernten, die Preise hoch, es vertheuert durch Speculation und Zwischenhandel alle Waren und Lebensmittel. Das Judenthum treibt beständig, in den verschiedensten Formen, Gründerei und Jobberei. Als ein fremder Stamm steht es dem Deutschen Volke gegenüber und saugt ihm das Mark aus. Die sociale Frage ist wesentlich Judenfrage, alles Uebrige ist Schwindel!« (Glagau 1878: 71)

Das Narrativ vom „mächtigen Juden“ bildete bei Glagau in Verbindung mit dem Schüren von Sozialneid ein zentrales Motiv. Die Juden, so heißt es, vermehrten sich in Berlin heftig und seien durchgehend wohlhabende und reiche Leute, ihnen gehörten die schönsten Häuser und Villen in Berlin. Die Weltgeschichte kenne kein zweites Beispiel, »dass ein heimatloses Volk, eine physisch entschieden degenerirte Race, blos durch List und Schlauheit, durch Wucher und Schacher, über den Erdkreis gebietet.« Die Methode rassifizierender Kollektivierung („der Jude“), in Verbindung mit der Zuschreibung negativer Eigenschaften, findet sich bei Glagau bereits in dessen Skizzen Littauen und die Littauer aus dem Jahr 1869. Von einer Schiffsreise berichtet Glagau, das judenfeindliche Narrativ des „Ostjuden“ bedienend, wie folgt:

»Die Passagiere bestanden größtentheils aus polnischen Juden […]. Das Hauptkleidungsstück der Juden war eine Art von Kaftan, und was sie darunter verbargen, sollte mir bald klar werden, als einer von ihnen ein Stück Zeug hervorholte und davon mitten auf dem Verdeck sich eine Hose zu schneidern begann. Er hatte sein Werk binnen kaum einer Stunde vollendet, aber es war auch das einfachste Beinkleid, das ich je gesehen. […] Weit mehr [als andere Passagiere, d. Verf.] machten die Juden den Capitän zu schaffen. Er schwur, daß Gott sie nur zu seiner Qual habe geboren werden lassen und daß sie ihn noch zu Tode ärgern würden. […] Jetzt begann er das Passagiergeld zu kassiren. Ein Jude nach dem andern suchte sich darum zu drücken, indem sie unter das Deck oder zwischen die Frachtgüter krochen oder doch beständig ihren Platz wechselten. Der Capitän, der ihre Manöver merkte und ihre Kniffe aus Erfahrung kannte, rannte hinter ihnen her; da ihm etliche aber wie Schlangen immer wieder zu entschlüpfen wußten, ward er wüthend und bot die Schiffsmannschaft zu seiner Hilfe auf. Eine allgemeine Treibjagd ging in Scene, die widerwilligen Juden wurden aus allen Winkeln hervorgeholt und gleich einer Heerde Schafe in eine Ecke zusammengetrieben, wo sie dann wohl oder übel den Beutel ziehen mußten.« (Glagau 1869: 45–47)

Vergleicht man die beiden Textpassagen Glagaus, so wird deutlich, dass der Antisemit den reichen Juden hasst, weil er reich ist und den armen Juden, weil er arm ist. Glagaus Hetze gegen den „assimilierten Westjuden“ wie gegen den „Ostjuden“ illustriert, dass der Antisemit den Juden hasst, „weil er Jude ist“, einzig und allein deshalb, weil er existiert, unabhängig von den Eigenschaften und dem Agieren der konkreten Person, in welcher er „den Juden“ sieht.

Das Motiv des „raffgierigen Juden“ avancierte zu einem weitverbreiteten Topos und stützte sich auf das bereits bei Luther auftauchende Pejorativum vom „Wucherjuden“ sowie auf Konstrukte des „betrügerischen Juden“, der als Sujet im literarischen Antisemitismus kursierte. In der Erzählung De Stadtreis von Fritz Reuter (1810–1874) überlistet „der Jude“ einen Bauern zu einer Wette, bei der ihm ein Geldstück zum ergaunerten Sieg verhelfen soll: »Smitts Du den Kopp, heww ick gewunnen, / Smittst Du de Schrift, hast du verluren.«

Das Bild vom „Wucherjuden“ sowie das Narrativ vom einzig und allein am eigenen Vorteil und Gewinn orientierten Juden waren längst vor Glagau verbreitet, der Konnex zwischen dem Kapitalismus als aufstrebender Wirtschaftsordnung und dem Judentum stellt jedoch einen neuartigen Aspekt dar, dessen Verankerung in den nachfolgenden Jahrzehnten dafür sorgte, dass sämtliche modernen Erscheinungen des Kapitalismus wie die Börse, die Deregulierung der Märkte, Unternehmensverbindungen in Gestalt großer Konzerne, Warenhausketten etc. mit „dem Juden“ in Verbindung gebracht wurden, um so von den wahren Ursachen und Triebkräften des Wirtschaftsgeschehens in Zeiten des Hochkapitalismus abzulenken. Existenzängste des Kleinbürgertums wie des Mittelstandes ließen sich so in gezielter Weise antisemitisch kanalisieren.

1.2Von der konservativen Wende bis zum Ersten Weltkrieg

Die wirtschaftliche Depression sowie die konservative Wende Bismarcks in den Jahren 1878/79 veränderten die Konstellationen des Antisemitismus in entscheidendem Maß. Reichskanzler Otto von Bismarck (1815–1898) kündigte das Bündnis mit den Nationalliberalen, suchte den Schulterschluss mit den Konservativen sowie der katholischen Zentrumspartei und setzte auf protektionistische Schutzzollpolitik wie auf innerstaatliche Repression in Gestalt des Sozialistengesetzes. Diese sogenannte „innere Reichsgründung“ stärkte autoritäre Kräfte, die Macht Preußens innerhalb des dt. Staatsgebildes sowie die Rolle der Schwerindustrie und des ostelbischen Agrarkapitals. Da der Antisemitismus u. a. als ideologische Waffe gegen den Liberalismus wie den Freihandel diente, stärkte die konservativ-reaktionäre Wende Bismarcks zugleich auch die antisemitischen Kräfte. Es ist folglich kein Zufall, dass der dt. Journalist Wilhelm Marr (1819–1904) den Terminus „Antisemitismus“ erst um 1879 populär machte. Marrs Schrift Sieg des Judenthums über das Germanenthum – Vom nichtconfessionellen Standpunkt aus betrachtet kam im Erscheinungsjahr 1879 bereits auf zwölf Auflagen. Wie ihr Untertitel verdeutlicht, leistete die Propagandaschrift einen entscheidenden Beitrag zur Transformation des christlichen Antisemitismus in den „Rassenantisemitismus“. Marr steht für einen Paradigmenwechsel in der antisemitischen Ideologie, da er als einer der ersten Schriftsteller gelten kann, der die bislang üblichen Differenzkriterien „Religion“ und „Volk“ durch den Rassebegriff ersetzte. In der Propagandaschrift heißt es:

»Gerade darin besteht ja die ›Gloire‹ des Judenthums, dass es 1800 Jahre lang der abendländischen Welt den siegreichsten Widerstand leistete. Alle übrigen Einwanderungen in Deutschland sind spurlos im Germanenthum aufgegangen. Wenden und Slaven sind im germanischen Element verschwunden. Die semitische Race, stärker und zäher, hat sie Alle überlebt.« (Marr 1879a: 25)

Israel sei eine Weltmacht allerersten Ranges geworden und habe, so Marrs Kernthese, einen endgültigen und unumkehrbaren Sieg über das Germanentum davongetragen. Der deutsche Staat und seine Institutionen seien hoffnungslos „verjudet“, kritische Stimmen seien durch die Allmacht des Judentums in der Presse verstummt. Nach einem jahrhundertelangen Kampf hätten die Juden in Deutschland unumstößlich die Macht übernommen, das Ende Germaniens sei das Unvermeidliche, in das sich die Deutschen schicken müssten. Während dem Germanentum die Vergangenheit und das Sterben blieben, gehöre dem Judentum die Zukunft und das Leben. Den schicksalhaften Erfolg der »zersetzenden Mission« des Judentums führt Marr auf die Effekte der Judenemanzipation zurück sowie auf den »ersten großen Sieg des Judentums« in Gestalt der 1848er Revolution. „Die Judenfrage“ sei zur sozialen Kernfrage der Zeit geworden, da sich das Judentum zum sozialpolitischen Diktator über Deutschland aufgeschwungen habe. Immer wieder betont Marr, die Juden seien für ihren welthistorischen Triumph nicht verantwortlich zu machen. Die diesbezüglichen Ausführungen des Journalisten sollten indes keineswegs die Juden in Schutz nehmen, sondern umso stärker die Existenz ihrer „rassischen Wesenszüge“ untermauern. „Der Jude“ agiert bei Marr so, wie es seinem vermeintlichen Wesen entspricht. Die Aussage, dass kein Volk etwas für seine Spezialitäten könne, diente ebenso dazu, „das Germanentum“ zu attackieren, das laut Marr wenig »geistige Widerstandskraft« gegen die »Verjudung« an den Tag gelegt habe. Das Bild des »deutschen Michel« bemühend beabsichtigte Marr, die nichtjüdische Bevölkerung gegen die Juden aufzustacheln. Der „Semitismus“ habe leichtes Spiel gehabt, so dass der »jüdische Geist in alle Poren« der Gesellschaft eingedrungen sei. Millionen Juden würden denken: »Dem Semiten gehört die Weltherrschaft«.

Marr betont dabei, dass seine dystopische Sichtweise alles andere als ironisch gemeint sei, vielmehr vertrete er ernsthaft die Überzeugung, dass der »Sieg des Judentums« eine vollendete Tatsache darstelle. Folglich sei Resignation die einzig mögliche Haltung, da diese den irreversiblen Sieg der Juden in ihrem dauerhaften Kampf gegen alle Nichtjuden akzeptiere. Eine Interpretation der Schrift, welche die pessimistische Grundhaltung des Textes für die Sichtweise des Autors hält, leitet indes in die Irre. Der resignative Tenor diente Marr lediglich als literarisches Stilmittel, um den aufwallenden Hass seiner Leser noch zu steigern und diese zum Krieg für die „Germanenemanzipation“ aufzurufen. Der vorgetäuschte Pessimismus zielte darauf ab, die Wirkung des indirekten Appells zu erhöhen, das Szenario des Pamphlets nie und nimmer Wirklichkeit werden zu lassen. Anders ließe es sich auch nicht erklären, warum Marr noch im selben Jahr die Antisemitenliga gründete. Die Interpretation der Schrift als agitatorischer Appell, der sich eines dystopisch-resignativen Szenarios bedient, wird durch die noch im selben Jahr erschienene Pendantschrift Der Weg zum Siege des Germanenthums über das Judenthum gestützt, in der Marr unmissverständlich zum »Kampf« aufruft:

»So muss der Kampf gegen die Verjudung der Gesellschaft […] weiter geführt werden. Möge uns Gott und das Christenthum dann helfen, die Verjudung der Gesellschaft weiter zu bekämpfen.« (Marr 1880b: 48)

Ein konkretes politisches Programm entwickelte Marr indes auch in dieser Schrift nicht. Entsprechend der zeitgleich erfolgten Gründung der Antisemitenpartei lautet die Losung seiner zweiten Schrift:

»Also muthig in den offenen socialpolitischen Parteikampf hinein, in den ›frischen, fröhlichen Krieg‹ einer wahrhaft deutschen Überzeugung mit der Losung: Wählen wir keinen Juden, weder in unsere Vereins- noch Communal-, Land- und Reichstagsvertretungen.« (Marr 1880b: 6)

Zwar war Marr mit der Gründung der „Antisemitenliga“ kein Erfolg beschieden, insofern sich diese kaum gegründet bereits Ende 1880 wieder auflöste, doch seine Propagandaschriften waren von nachhaltiger Wirkung. Der dt. Nationalsozialismus übernahm Marrs dehumanisierende Sprache, die Bezeichnung der Juden als »Ratten«, wie etwa in dessen Schrift Goldene Ratten und rothe Mäuse aus dem Jahr 1880, in der Marr die Juden gleichfalls als »Vampyre« bezeichnete und die Juden bezichtigte, die »schwerwiegendste Mehrzahl der Vampyre der dt. Gesellschaft« zu stellen. Schule machte gleichfalls die benutzte Wortwahl von der »roten« und der »goldenen Internationale«. Mit »roter Internationale« meinte Marr die »Socialdemocratie«, mit »goldener Internationale« bezeichnete er die »Alliance israélite«, die nichts anderes im Sinn habe, als durch »fürchterlichen Wucher« ein »neues Jerusalem« zu errichten und alle Nichtjuden zu unterdrücken. Der politische Journalist benutzte bereits die vom dt. Nationalsozialismus in dessen Propaganda bemühte Gleichsetzung von Judentum und Kapitalismus sowie von Judentum und Sozialdemokratie bzw. Kommunismus.

Im Jahr 1878 gründete der Hofprediger Adolf Stöcker (1835–1909) in Berlin die Christlich-soziale Arbeiterpartei, die sich in der Arbeiterschaft indes nicht verankerte, ihre Wähler vielmehr aus der verunsicherten Mittelschicht sowie dem Kleinbürgertum gewann. Ein Jahr darauf hielt Stöcker die programmatische Rede Unsere Forderungen an das moderne Judenthum. Stöckers Rede illustriert, wie hochgradig der Rassebegriff Ende der 1870er-Jahre bereits den antisemitischen Diskurs bestimmte. So betonte Stöcker immer wieder, dass es sich bei den Juden »doch gewiss um eine fremde Race« handele und unterstrich, dass dieser Aspekt bei der „Judenfrage“ keinesfalls übersehen werden dürfe. Israel sei ein fremdes Volk, welches »nie mit uns eins werden kann, außer wenn es sich zum Christenthum bekehrt«. Man dürfe nicht verkennen, dass Israel den Deutschen über den Kopf wachse. Es stehe »Race gegen Race«, es sei ein »Racestreit« entbrannt, der aufgrund der Positionen der Juden in der Wirtschaft eine große Gefahr darstelle. Stöcker knüpft in seiner Rede an Marr und Glagau an, insofern er gleich zu Beginn bekräftigt: »Die sociale Frage ist die Judenfrage.«

Die Schärfe der Rede Stöckers offenbart die Verwendung der antijüdischen Pathologisierung. Der protestantische Prediger spricht von »Krankheitssymptomen«, die den gesamten »Volkskörper in allen Gliedern« erfasst hätten sowie von einem »Krebsschaden«, der sich immer weiter fresse und »unsere Zukunft bedroht«. »Ehe diese Giftquellen nicht gereinigt sind«, so Stöcker, »ist an eine Besserung unserer Zustände nicht zu denken.« Der Hofprediger macht dabei unmissverständlich klar, dass er mit »Krebsschaden« das moderne Judentum meint. Verantwortlich für die drohende Gefährdung sei der »jüdische Mammonsgeist«, der das Volk verderbe sowie die Intoleranz der »Judenpresse«, welche gegen das Christentum hetze und die relevante Existenz der „Judenfrage“ mit aller ihr zur Verfügung stehenden Macht verschweige. Die Anzahl von 45 000 Juden in Berlin sei schlicht und einfach zu viel, das Judentum stelle »eine große Gefahr für das deutsche Volksleben« dar:

»Wenn sie wirklich mit uns verbunden wären, hätte die Zahl nichts Bedenkliches. Aber da jenes halbe Hunderttausend eine in sich geschlossene Gemeinschaft bildet, in guten Verhältnissen, in steigender Macht, mit einer sehr profitablen Verstandeskraft ausgerüstet, ohne Theilnahme für unsere christlich-germanischen Interessen, so liegt darin eine wirkliche Gefahr […] In ihrem Besitz sind die Geldadern, Bank und Handel; in ihren Händen ist die Presse und unverhältnismäßig drängen sie sich zu den höheren Bildungsanstalten.« (Stöcker 1880: 17)

Wie Marr, so entwirft auch Stöcker, um Sozialneid wie soziale Verdrängungsängste zu schüren, das Bild vom „allmächtigen Juden“, der die Wirtschaft beherrscht und die Arbeit des »schaffenden Arbeiters« ausbeute, betont indes im Unterschied zu Marrs erster Schrift stets, dass Deutschland noch nicht verloren, das Ende noch nicht gekommen sei. Im Unterschied zu Marr skizziert Stöcker ein Programm, das sich unmittelbar an den Gesetzgeber richtet, der dafür Sorge zu tragen habe, dass dem »jüdischen Capital« der »nötige Zaum angelegt« werde. Stöcker fordert diesbezüglich die Beseitigung des Hypothekenwesens im Grundbesitz sowie:

»Eine Aenderung des Creditsystems, welche den Geschäftsmann von der Willkür des großen Capitals befreit; Aenderung des Börsen- und Aktienwesens; Wiedereinführung der confessionellen Statistik, damit das Mißverhältnis zwischen jüdischem Vermögen und christlicher Arbeit festgestellt werden kann; Einschränkung der Anstellung jüdischer Richter auf die Verhältniszahl der Bevölkerung; Entfernung der jüdischen Lehrer aus unseren Volksschulen, zu dem Allen Kräftigung des christlich-germanischen Geistes.« (Stöcker 1880: 20)

Dies alles, so Stöcker, seien durchaus geeignete Mittel, »um dem Überwuchern des Judentums im germanischen Leben, diesem schlimmsten Wucher, entgegenzutreten.« Wie Marr, so setzte auch Stöcker den »zügellosen Capitalismus« mit dem »modernen Judenthum« gleich, wodurch das reale Wesen der Verhältnisse verschleiert und „der Jude“ zum Sündenbock eines Kapitalismus erklärt wird, dessen Auswüchse in der Epoche des Hochimperialismus zu existentiellen Verunsicherungen führten. Den Anteil der Juden an der Berliner Bevölkerung bezeichnete Stöcker als den »übelsten Faktor des hauptstädtischen Treibens«. Die krude Mischung aus nationalistischen, antikapitalistischen, antifortschrittlichen, antiliberalen wie antisozialistischen Positionen verschaffte der von Stöcker gegründeten „Berliner Bewegung“ in den 1880er-Jahren eine nennenswerte kleinbürgerliche Massenbasis. Die antisemitische Sammlungsbewegung imaginierte den Juden dabei zumeist als mächtige, das ökonomische wie das politische Geschehen steuernde Instanz. Der »gute Berlin Bär« tanze, so heißt es beispielsweise bei Stöcker »bereitwillig nach der Pfeife seiner drei Herren, des Fortschritts, der Sozialdemokratie und des eigentlichen Bärenführers, des Judentums.«

Der politische Einschnitt des Jahres 1879 spiegelte sich im Sachverhalt, dass der preußische Historiker Heinrich von Treitschke (1834–1896) im November in den Preußischen Jahrbüchern einen Aufsatz mit dem Titel Unsere Aussichten veröffentlichte, der den Berliner Antisemitismusstreit eröffnete. Das zeitliche Zusammentreffen der konservativen Wende Bismarcks und des Aufsatzes von Treitschke war keineswegs zufälliger Natur. Vielmehr beabsichtigte Treitschke mit seinen antisemitischen Attacken offensiv für den Kurswechsel des Kanzlers Partei zu beziehen. Bismarck sollte dazu ermutigt werden, am Projekt der „inneren Reichsgründung“ festzuhalten. Treitschke, der gemeinsam mit Eduard Lasker (1829–1884) und Ludwig Bamberger (1823–1899) zu den führenden Politikern des frühen Nationalliberalismus gehörte, vollzog im Unterschied zu seinen Parteikollegen die konservativreaktionäre Wende Bismarcks mit. Der Riss ging folglich durch die Nationalliberalen, sodass Treitschke ab 1878 als Abgeordneter ohne Parteizugehörigkeit im Reichstag saß. Treitschkes Aufsatz in den Preußischen Jahrbüchern ist folglich auch als Rachefeldzug gegen die jüdischen Abgeordneten Bamberger und Lasker zu werten, die sich der Angriffe Bismarcks auf die Prinzipien des politischen Liberalismus widersetzten. Treitschke verfolgte gewissermaßen die Absicht, den verlorenen politischen Streit bezüglich der Ausrichtung des Nationalliberalismus posthum auf publizistischem Sektor zu gewinnen.

Im Laufe der 1880er-Jahre gelang es dem Antisemitismus, sich in der Parteienlandschaft zu etablieren. Im Jahr 1882 blieb zwar der „Internationale antijüdische Kongress“ in Dresden ohne Ergebnisse wie ebenso der im Jahr darauf folgende Kongress in Chemnitz, doch zog erstmals im Jahr 1887 der Marburger Bibliothekar Otto Böckel (1859–1923) in den Reichstag als Abgeordneter der antisemitischen „Deutschen Reformpartei“ ein, zu der sich die „Deutsche Antisemitische Vereinigung“ des Publizisten und Verlegers Theodor Fritsch (1852–1933) gesellte, dessen 1887 erschienener Antisemiten-Katechismus größere publikatorische Erfolge erzielen konnte (ab 1907 Handbuch der Judenfrage). Während der Hofprediger Stöcker und Max Liebermann von Sonnenberg (1848–1911) im Jahr 1889 die „Deutschsoziale Partei“ gründeten, der sich auch Fritsch anschloss, bildeten Gruppierungen um Otto Böckel ein Jahr darauf die „Antisemitische Volkspartei“. Zusammengenommen gelang es in den 1890er-Jahren den antisemitischen Parteien, 18 Reichstagsmandate zu erobern. Im Jahr 1894 schlossen sich die „Deutsche Reformpartei“ und die „Deutschsoziale Partei“ zur „Deutschsozialen Reformpartei“ zusammen. Zwar war der Anteil der Reichstagsmandate der Antisemitenparteien, der über mehrere Wahlperioden betrachtet die 5 Prozent-Marke nie deutlich überstieg, nicht gerade hoch, doch täuscht dies darüber hinweg, dass es ihnen gelang, eine Art Agenda-Setting zu betreiben, d. h. andere Parteien dazu zu bewegen, ihrerseits antisemitische Programmpunkte aufzunehmen. Übersehen werden darf ebenso nicht, wie hochgradig der Antisemitismus in den 1890er-Jahren in der Vereins- und Verbändestruktur des Wilhelminischen Kaiserreichs etabliert war.

1.3Der Berliner Antisemitismusstreit