Anus Mundi - Wiesław Kielar - E-Book

Anus Mundi E-Book

Wieslaw Kielar

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Beschreibung

Der einzigartige Bericht aus der Hölle von Auschwitz, kraftvoll, eindringlich und zutiefst menschlich »Anus Mundi« ist mehr als die Erinnerung an unvorstellbare Qualen und Leid, mehr als ein Blick in das System der nationalsozialistischen Vernichtungslager. Der Titel dieses Buchs des polnischen Schriftstellers Wieslaw Kielar wurde zum Synonym für den Holocaust und die Erniedrigung des Menschen in einer grauenhaften Welt.

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Seitenzahl: 829

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Wieslaw Kielar

Anus Mundi

Fünf Jahre Auschwitz

 

Aus dem Polnischen von Wera Kapkajew

 

Über dieses Buch

 

 

Der polnische Schriftsteller Wieslaw Kielar hat eine von Menschen erdachte und organisierte Hölle erlebt – das Konzentrationslager Auschwitz, das größte nationalsozialistische Vernichtungslager im Zweiten Weltkrieg. In Auschwitz haben die Folter- und Mordknechte des Dritten Reiches etwas 1–1,5 Millionen Menschen systematisch ermordet. Auschwitz, das ist der äußerste, brutalste Ausdruck deutschen Rassenhochmuts und Größenwahns, das sind Vernichtungsmethoden, wie sie sich nur von Menschenverachtung erfüllte Gehirne ausdenken können; Auschwitz, das ist ein Meer von Schmerzen, Qualen, Demütigungen, Todesängsten; Auschwitz, das ist ein Menschheitstrauma, das nicht wieder ausgelöscht werden kann. Kann, wer an Auschwitz denkt, noch unbefangen daran glauben, daß die Menschheit sich zu immer höherer Humanität entwickelt? Hat Auschwitz wenigstens Kriege, Vernichtungslager, Foltergreuel verhindert?

Wieslaw Kielar hat Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, aus zeitlicher und innerer Distanz, ein Buch über seine Erlebnisse in der Hölle von Auschwitz geschrieben, ein Buch, das alle landläufigen literarischen Kriterien sprengt. Es hat zwar alle Merkmale eines großen Romans: kraftvolle Sprache, packende Schilderung menschlicher Charaktere und – Spannung, so zynisch der Begriff in diesem Zusammenhang auch klingen mag. Doch es ist weit mehr als ein Roman, es ist ein Dokument menschlicher Leidensfähigkeit, ein Dokument menschlicher Größe inmitten menschlicher Niedertracht.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Wieslaw Kielar, 1919 in Przeworsk in Polen geboren, wurde im Mai 1940 von der Gestapo verhaftet und mit dem ersten Transport politischer Häftlinge in das Konzentrationslager Auschwitz eingeliefert. Bei seiner Befreiung rund fünf Jahre später wog er noch 39 Kilogramm. Nach einem Jahr ärztlicher Behandlung in Deutschland kehrte er in seine Heimat zurück. Für sein Buch »Anus Mundi« hat er zwei polnische Literaturpreise erhalten. Wieslaw Kielar starb 1990.

 

Mieczyslaw Kieta (1920–1984), der Verfasser des Vorworts, war von 1941 bis 1945 in Auschwitz. Er lebte zuletzt als Journalist in Krakau.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

[Karten]

Wiesław Kielars Anus Mundi: Das »Unvorstellbare« ist vorstellbar

Lebenslänglich Auschwitz

Keine Helden, nirgends.

Kielars Text

Kielars Zeugenschaft

Wie kam Anus Mundi nach Deutschland?

Kielars Leben vor Auschwitz

Kielar in Auschwitz

Kielars Leben nach Auschwitz

Heimkehr

Kamerastudium in Łódź

Anus Mundi

Vorwort zur Ausgabe von 1979

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

Kapitel XXIII

Kapitel XXIV

Kapitel XXV

Kapitel XXVI

Kapitel XXVII

Kapitel XXVIII

Kapitel XXIX

Kapitel XXX

Kapitel XXXI

Kapitel XXXII

Kapitel XXXIII

Kapitel XXXIV

Kapitel XXXV

Kapitel XXXVI

Kapitel XXXVII

Kapitel XXXVIII

Kapitel XXXIX

Kapitel XL

Kapitel XLI

Kapitel XLII

Kapitel XLIII

Kapitel XLIV

Kapitel XLV

Kapitel XLVI

Kapitel XLVII

Kapitel XLVIII

Kapitel XLIX

Kapitel L

Kapitel LI

Kapitel LII

Kapitel LIII

Kapitel LIV

Kapitel LV

Kapitel LVI

Kapitel LVII

Kapitel LVIII

Kapitel LIX

Kapitel LX

Kapitel LXI

Kapitel LXII

Kapitel LXIII

Kapitel LXIV

Kapitel LXV

Kapitel LXVI

Kapitel LXVII

Kapitel LXVIII

Kapitel LXIX

Kapitel LXX

Kapitel LXXI

Kapitel LXXII

Kapitel LXXIII

Kapitel LXXIV

Kapitel LXXV

Kapitel LXXVI

Kapitel LXXVII

Kapitel LXXVIII

Kapitel LXXIX

Kapitel LXXX

Kapitel LXXXI

Kapitel LXXXII

Kapitel LXXXIII

Kapitel LXXXIV

Kapitel LXXXV

Kapitel LXXXVI

Kapitel LXXXVII

Kapitel LXXXVIII

Kapitel LXXXIX

Kapitel XC

Kapitel XCI

Kapitel XCII

Kapitel XCIII

Kapitel XCIV

Kapitel XCV

Kapitel XCVI

Kapitel XCVII

Kapitel XCVIII

Kapitel XCIX

Kapitel C

Kapitel CI

Kapitel CII

Kapitel CIII

Kapitel CIV

Kapitel CV

Kapitel CVI

Kapitel CVII

Kapitel CVIII

Wiesław Kielars Anus Mundi: Das »Unvorstellbare« ist vorstellbar

Von Siegfried Ressel

»Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen.«

Christa Wolf, Kindheitsmuster[1]

Lebenslänglich Auschwitz

Am 14. Juni 1940 beginnt Wiesław Kielars Gefangenschaft im Konzentrationslager Auschwitz. Bereits am Tag der Ankunft macht die SS dem damals Einundzwanzigjährigen und seinen Mitgefangenen klar, dass sie »zum lebenslänglichen Aufenthalt im Konzentrationslager Auschwitz verurteilt sind«. Kielar erhält die Häftlingsnummer 290, die ihm später auf den Arm tätowiert wird. Auch wenn er das Lager im Herbst 1944 verlässt, als Häftling »auf Transport« geht und im Frühjahr 1945 nach einer für ihn beinahe tödlichen Odyssee durch die Lager Sachsenhausen, Porta Westfalica und Wöbbelin in Mecklenburg endlich von den Amerikanern befreit wird, bedeutet Auschwitz für Wiesław Kielar unentrinnbar lebenslänglich. Auf seinem Grabstein steht eingemeißelt: »Wiesław Kielar 1919–1990 Filmemacher – Literat – Auschwitzhäftling Nr. 290«.

 

»Wir versuchten zusammenzubleiben.« So lautet der erste Satz in Anus Mundi. Und nicht: »Wir sind zusammengeblieben.« Von den 728 Häftlingen des ersten polnischen Transports nach Auschwitz, dem Kielar angehört, überleben lediglich 298. 272 starben. Das Schicksal der weiteren 158 Männer ist nicht bekannt.

Der brutale Terror der SS gegenüber den Häftlingen ist von der ersten Stunde an Lageralltag. Über seinen dritten Tag in Auschwitz schreibt Kielar: »Ich bin unverletzt und lebe. Und ich will leben.« Lakonisch fügt er hinzu: »Gerade heute habe ich zum erstenmal in meinem Leben das Sterben gesehen.«

Die ersten Male: die erste Massenexekution an der »Schwarzen Wand«; der erste Tod durch eine Phenolspritze; der erste Häftling, der »auf der Flucht erschossen« wird; der erste durch Hunger und Entkräftung sterbende »Muselmann«; der erste Fleckfiebertote; die erste Lagerselektion; die ersten Vergasungen; die ersten weiblichen Häftlinge, die nach Auschwitz deportiert werden; das erste Mal Bunkerhaft; das erste Verhör durch die Lagergestapo; der erste Spatenstich zur Lagererweiterung in Birkenau; die ersten ankommenden Transporte, die sofort von der Rampe weg zur Vernichtung in die Gaskammern getrieben werden. Jedes dieser ersten Male ist eine Steigerung des Grausamen und hält augenblicklich Einzug in die alltägliche Lagerrealität. Achselzuckend konstatieren die alteingesessenen Häftlinge: »So oder so – Krematorium.«

Mit Hilfe dieses nüchternen, wenngleich schrecklichen Realitätssinns richten sich die meist noch jungen Häftlinge ihr Leben in Auschwitz ein. Dem einen gelingt das mehr, dem anderen weniger. Kielar bemerkt bereits nach kurzer Zeit die beginnenden moralischen Verwerfungen bei manchen Kameraden. Die sich etablierende sogenannte Lagerselbstverwaltung durch die Häftlinge schafft einflussreiche Positionen und Pöstchen. Die Wolfsgesetze innerhalb der zahlenmäßig schnell anwachsenden, heterogenen Häftlingsgesellschaft als Ergebnis der uneingeschränkten Herrschaft der Funktionshäftlinge, der sogenannten »Kapos«, machen – ganz im Sinne der SS – den Zusammenhalt untereinander, ein gemeinsames Miteinander, unmöglich. Ganz im Gegenteil: Hierarchien bilden sich. Intrigen fordern ihre Opfer. Dennoch gibt es vereinzelte solidarische Handlungen, die das Ziel haben, die SS auszutricksen; Versuche, dem düsteren KZ-Leben und -Sterben ein Schnippchen zu schlagen: Besäufnisse im Leichenkeller. Das heimliche Braten von Kartoffeln. Das Ergattern eines Postens in einem besseren Arbeitskommando durch die Hilfe eines Kameraden. Minimale Verbesserungen der eigenen Haftsituation sind lebensrettend – gehen jedoch oft auf die Kosten der Mitgefangenen. Der Autor Wiesław Kielar scheut sich nicht, diese – auch tödliche – Ambivalenz zu benennen.

Keine Helden, nirgends.

Anus Mundi ist keine Heldengeschichte, sondern die Erzählung des Überlebens von Nummer 290. Konsequent aus deren Perspektive heraus beschreibt der Verfasser im Laufe des Buches das Universum Auschwitz. Szene für Szene entwirft er die Lebens- und Todeswelt eines Ortes, den es niemals hätte geben dürfen. Kielar stellt grauenvolle Begebenheiten grotesken Momenten gegenüber. Alltagszenen aus dem Lagerleben wechseln sich ab mit Episoden unvorstellbarer Absurdität. Es scheint, als habe Kielar alles beschreiben wollen. Das Fürchterliche und das Glück. Den Zufall des Überlebens, wie auch die Allgegenwart der Vernichtung. Das Nebeneinander von Liebe und Tod in Auschwitz.

Überhaupt, die Liebe. Kielar beschreibt sie in allen möglichen Facetten: seine eigenen unschuldigen Begegnungen mit den Frauen in Birkenau; die vielen Zweckgemeinschaften zwischen den männlichen und weiblichen Häftlingen; die Geilheit der SS-Männer, die trotz des strikten Verbots der »Rassenschande« Jagd auf Häftlingsfrauen machen.

Ein wichtiges Anliegen Kielars ist die Beschreibung der Freundschaft zwischen ihm und Edek Galiński. Sie ist eine zentrale Handlung in Anus Mundi: Monatelang planen die beiden eine Flucht aus dem Lager. Am Ende übernimmt Mala Zimetbaum, die Geliebte von Edek Galiński, Kielars Part. Die Flucht des Liebespaars aus dem Lager gelingt zwar, dennoch werden die beiden nach wenigen Tagen gefasst und in Auschwitz vor den Augen der gesamten Lagergemeinschaft hingerichtet. Diese tragische Episode wird ein fester Bestandteil der Mythologie des Lagers; das fürchterliche Nebeneinander von Liebe und Menschenvernichtung.

Überhaupt, der Tod. Kielar arbeitet den einzelnen, den sinnlosen und den allgegenwärtigen Tod literarisch heraus. Den Tod des Individuums vor dem Hintergrund des Massenmords in den Gaskammern. Den arrangierten Tod, um einen Denunzianten loszuwerden. Das Verrecken des zu Tode geschwächten »Muselmanns« in einer Barackenecke. Die unablässig ins Lager einfahrenden Züge voller für den Gastod bestimmter jüdischer Menschen aus ganz Europa.

Jene Transporte, die dem Lager einen unermesslichen Reichtum bescheren: Die von den Vergasten geraubten Schmuckstücke, Devisen, Uhren, Kleider, Medikamente, Dinge des Alltags und kulinarischen Köstlichkeiten werden von den Arbeitshäftlingen der Sortierbaracken namens »Kanada« – zugleich eine Art illegale Warenbörse – hinaus ins Lager geschwemmt, dorthin, wo diese Schätze alle korrumpieren: die Häftlinge und Zivilarbeiter genauso wie die SS. Es geht ums Überleben, um Bereicherung, um Gier, denn in der Welt von Auschwitz ist alles verboten und zugleich alles erlaubt.

Das Todeslager steht für die absolute Zerstörung der zivilen Werteordnung. Diese unerbittliche Tatsache hatten die Häftlinge schnellstens zu adaptieren. Der ungarische Literaturnobelpreisträger Imre Kertész, selbst nach Auschwitz verschleppt und später im Konzentrationslager Buchenwald befreit, beschreibt dies so: »Die Rollenunsicherheit des … gewöhnlichen Überlebenden rührt zu einem nicht geringen Teil daher, daß er all das, was im Nachhinein als unbegreiflich angesehen wird, zu gegebener Zeit sehr wohl begreifen musste, denn eben das war der Preis des Überlebens. … Jeder Augenblick, jeder Tag erforderte eine unerbittlich exakte Logik: der Überlebende musste begreifen, was er überlebte.«[1]

Dieses Zitat kann man auch auf Wiesław Kielars Überleben und vor allem auf seine spätere literarische Mission beziehen. Ihm geht es darum, seine eigene Position, also seine »Rolle«, innerhalb des täglichen Terrors einzuordnen, und zugleich die Tatsache, dass er am Leben geblieben ist – und damit auch Auschwitz –, im Nachhinein begreiflich zu machen. Das Unbegreifliche soll begriffen werden. Von ihm selbst und von den Lesern seines Buches.

Kielars Text

Wie schafft er das? Kielars autobiographischer Text ist chronologisch angelegt. Vom Tag seiner Ankunft in Auschwitz bis zur Befreiung im Mai 1945 in Mecklenburg verfolgen die Leser kontinuierlich den fünf Jahre währenden Überlebenskampf des Auschwitz-Häftlings Nummer 290. Für Kielar, geboren 1919, sind es die Jahre seiner Jugend.

Der Autor strukturiert seine Erzählung szenisch: In recht kurz gehaltenen, journalartigen Abschnitten schildert er in sich geschlossene Begebenheiten, Erlebnisse und Alltagserfahrungen, in deren Mittelpunkt der berichtende Erzähler steht. Dadurch entsteht der Eindruck hoher Authentizität; das Erzählte wirkt filmisch.

Kielar vermeidet jegliches Pathos und schont sich selbst nicht: Er schildert unter anderem, wie durch eine Unachtsamkeit seinerseits ein Mönch aus der Stadt Oświęcim ins Lager inhaftiert wird. (Kielar erfährt nach dem Krieg, dass dieser überlebt hat).

Die Tatsache, dass seine niedrige Häftlingsnummer ihm – bei einer Gesamthäftlingszahl von bald mehreren Zehntausend – naturgemäß recht schnell wichtige Vorteile des Alteingesessenen im Überlebenskampf verschaffen und er deshalb der privilegierten Lagerprominenz zugerechnet wird, gesteht er ein. Hierbei ist es Kielar sehr wichtig klarzumachen: Er ist durch Glück, Zufall und Findigkeit, aber eben auch durch moralische Integrität durchgekommen. Er hat sich nicht korrumpieren lassen und der Versuchung widerstanden, sich auf Grund seiner »Prominenz« von der SS auf einen Posten, der ihn in moralische Dilemmata hätte bringen können, befördern zu lassen. Seine persönliche Unabhängigkeit ist für ihn eine Frage von Identität, die ihm tausendmal wichtiger ist als die Verlockungen eines luxuriösen Lagerlebens inmitten einer korrupten Lageraristokratie.

In der Gesamtheit ist Kielars Text ein Entwicklungsroman im Zeichen des Bösen. Dabei stilisiert sich Kielar nicht als Opfer, er klagt nicht an. Er schildert mit größtmöglicher Genauigkeit, mit nahezu journalistischer Distanz. Andererseits mutet Anus Mundi bisweilen wie ein Abenteuerroman an. Man denke an die Schilderung der langwierigen Vorbereitungen der Flucht von Edek und Mala. Oder an die gespenstische Szene, in der einem zum Tode verurteilten Häftling auf seinem Transport zur Hinrichtung der Karabiner seines Bewachers buchstäblich in den Schoß fällt, oder die apokalyptische Beschreibung der dramatischen Tage im Frühjahr 1945. Auch seine finale Darstellung der Zeit nach der Befreiung, in der unter den überlebenden »polnischen Jungs« so etwas wie Pfadfinderstimmung aufkommt, eine Art »happy ending«, hat etwas Abenteuerhaftes.

Interessant finde ich, dass Imre Kertész, der sich nach seiner Befreiung sein Leben lang auf ganz existenzialistische Weise immer wieder mit der Frage der literarischen Darstellung seines Holocaustüberlebens beschäftigt, für seinen zentralen »Roman eines Schicksallosen« ebenfalls die äußere Form des Abenteuerromans als Erzählgenre wählt, in dem er sein Alter Ego, den fünfzehnjährigen György Köves, die Horrorwelt der Konzentrationslager durchleben lässt. Wenngleich sich weder die beiden Autoren – Kertész und Kielar – noch ihre Texte vergleichen lassen, gibt es doch ein gemeinsames Schreibmotiv, welches Kertész in seinem »Galeerentagebuch« kategorisch formuliert: »Das Konzentrationslager ist ausschließlich in Form von Literatur vorstellbar, als Realität nicht. (Auch nicht – und sogar dann am wenigsten – wenn wir es erleben.)«[1]

Beiden geht es darum, das Erlebte schreibend zu umkreisen, auszuleuchten – mit dem Wissen um die Sinnlosigkeit ihrer Erfahrungen dennoch eine »lesbare« Erzählform zu finden. Ich zitiere dazu gerne den Gedanken von Marisa Siguan: »Die Schreibsituation der Autoren, durch ihr Überleben jeweils des Holocaust und des Lagers, wird bestimmt durch die Gleichzeitigkeit von zwanghaftem Bedürfnis und Unmöglichkeit, Zeugnis zu geben; unvermittelte, vom Normalen abweichende Wege, dennoch Ausdrucksmöglichkeiten zu finden«[2].

Ich selbst las Anus Mundi erstmals in den frühen 1990er Jahren in der Taschenbuchausgabe der sogenannten »Schwarzen Reihe« des S. Fischer Verlags. Wiesław Kielars Überlebenserzählung faszinierte mich. Nicht nur lässt sich das Buch für mich in den Kanon der »Lagerliteratur« einreihen – es ergänzt darüber hinaus jene eindrucksvollen Schilderungen von Überlebenden der NS-Verbrechen in den Dokumentarfilmen beispielsweise von Karl Fruchtmann, Claude Lanzmann und Eberhard Fechner. Ein weiteres Indiz dafür, wie filmisch Anus Mundi ist.

Kielars Zeugenschaft

Aber da ist für mich noch etwas anderes: Wir haben es bei Anus Mundi mit einer einzigartigen literarisierten Verlaufsgeschichte von Auschwitz zu tun. Seine Gefangenschaft verbringt Kielar zunächst im sogenannten Stammlager Auschwitz I, einem ehemaligen Kasernengelände der polnischen Armee nahe der polnischen Stadt Oświęcim. Später wird er in das weitaus größere, ab 1941 errichtete Lager Auschwitz II Birkenau kommandiert. Als Mitglied des Abbruchkommandos, welches die Siedlung Dwory bei Oświęcim/Auschwitz niederreißen muss, wird er Zeuge der ersten Erschließungsarbeiten des riesigen Lager- und Industriekomplexes Auschwitz III Monowitz, in dessen Zentrum später das Buna-Werk der IG Farben entsteht. Zeitweise muss er zudem im unweit von Birkenau befindlichen Außenlager Harmense Sklavenarbeit verrichten. Kielar erlebt als Häftling die kontinuierliche Vermehrung und Erweiterung der Lager zu der größten Ausbeutungs- und Vernichtungsstätte des NS-Staates, welche von der SS »Interessengebiet des KL Auschwitz« genannt wurde.

Den Bau der Gaskammern und Krematorien im Stammlager und später in Birkenau beobachtet er als Augenzeuge genauso wie die Massenerschießungen in den Kiesgruben nahe Auschwitz I und an der sogenannten »Schwarzen Wand« im Hof von Block 11 des Stammlagers, wo er längere Zeit als Leichenträger zu arbeiten hat.

Als Mitglied der Belegschaft mehrerer Häftlingskrankenbauten sieht er die Verwahrlosung und Tötung unzähliger kranker Häftlinge. Gleichzeitig erlebt er dort die gnadenlose SS-Selektion jener Unglücklichen, die wegen Krankheit und Entkräftung für den Tod in den Gaskammern bestimmt werden.

In Birkenau ist Wiesław Kielar Zeuge der Ankunft der zur Vernichtung ausersehenen Judentransporte. Als Pfleger in den Häftlingskrankenbauten des Lagerbereiches BIIf kann er die Leichenverbrennungen in den nicht weit entfernten Gruben nahe der Krematorien IV und V heimlich beobachten.

Er lernt die berüchtigtsten SS-Mörder und -Schinder der Lager kennen: unter anderem die SS-Männer Grabner, Palitzsch, Schillinger, Effinger, Klehr sowie die SS-Ärzte Mengele, Entress, Rohde, von Helmerson und ebenso die mordhungrigen Kapos »Jupp« Windeck, Brodniewicz und Bednarek. Er ist Häftling unter den Terrorregimen der Lagerkommandanten Höß, Liebehenschel, Hartjenstein, Kramer und Baer.

Insofern ist Wiesław Kielar nicht nur Autor von Anus Mundi, sondern ebenso ein forensischer Zeuge des kontinuierlichen Ausbaus des »Interessengebietes des KL Auschwitz« und der dort geschehenen Verbrechen durch die SS. In dieser Funktion – als Zeuge – wurde Kielar insgesamt fünfmal durch die Staatsanwaltschaft der Frankfurter Auschwitzprozesse befragt: am 4. April 1968 und am 20. Mai 1974 in Frankfurt am Main, sowie am 3. Dezember 1969, am 8. Juni 1970 und am 1. März 1974 in Krakau.

Wie kam Anus Mundi nach Deutschland?

Über die Jahre las ich Anus Mundi einige Male, auch, weil ich mich ab den 2010er Jahren filmisch und für Radioarbeiten mehr und mehr mit der Thematik des Überlebens in Konzentrationslagern beschäftigte. Ich fragte mich: Wer war Wiesław Kielar? Wieso kam er überhaupt nach Auschwitz? Wie ging sein Leben nach Auschwitz weiter? Und wie kam Anus Mundi nach Deutschland?

 

Ich recherchierte. Zunächst gibt es, was die Genese von Anus Mundi in Deutschland betrifft, einige Besonderheiten: Das Buch wurde 1972 im Krakauer Verlag Wydawnictwo Literackie veröffentlicht. Die Entstehung der deutschen Übersetzung von Anus Mundi ist bemerkenswert. Sie hat nämlich mit der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main und Vera Kapkajew zu tun, die als Dolmetscherin für die Frankfurter Auschwitz-Prozesse tätig war: Die gebürtige Polin (Geburtsname Mirmann; geboren 1918, gestorben 1984) war Juristin und Übersetzerin vom Polnischen und Russischen ins Deutsche. Sie gerät 1945 nach Frankfurt am Main, wo sie wohnhaft bleibt und später unter anderem als vereidigte Dolmetscherin für die dortige Staatsanwaltschaft arbeitet – so auch ab etwa 1964 bei den Frankfurter Auschwitzprozessen. Sie fällt durch ihre engagierte Arbeit und ihre empathische Art auf. Der Journalist Uwe Jens Petersen schreibt 1965 in einem Porträt über Kapkajew in der Frankfurter Rundschau: »Wera Kapkajew übersetzt nicht nur Wort für Wort, sondern auch die Stimmungen. Bis hinan zum Zorn. Bis hinab zu den Tränen.«

Kapkajew übersetzt folgerichtig mehrere Zeugenaussagen Kielars für die Auschwitzprozesse und dolmetscht ihn anlässlich seiner persönlichen Anwesenheit beim Prozess in Frankfurt 1974. Während dieser Begegnung wird Kapkajew – und durch sie vermutlich auch die Frankfurter Staatsanwaltschaft – von Anus Mundi, das zu diesem Zeitpunkt bereits seit zwei Jahren in Polen auf dem Markt ist, erfahren haben. Infolgedessen erhält Wera Kapkajew von der Staatsanwaltschaft 1977 den Auftrag, Anus Mundi als Dokument für die Auschwitzprozesse aus dem Polnischen ins Deutsche zu übersetzen. Diese Übersetzungsarbeit übernahm der S. Fischer Verlag; sie ist – mit Ausnahme kleiner redaktioneller Veränderungen – identisch mit der Veröffentlichung unter dem Titel Anus Mundi – Fünf Jahre Auschwitz, übersetzt von Wera Kapkajew. Das Originalmanuskript der Übersetzerin befindet sich heute im Fritz Bauer Institut in Frankfurt am Main.

Der Vertrag über Anus Mundi wird im September 1978 zwischen dem S. Fischer Verlag und Wiesław Kielar geschlossen. 1979 erscheint der Text in einer Hardcover-Ausgabe und 1982 als Taschenbuch im Kontext der sogenannten »Schwarzen Reihe« des Verlages. Historisch nicht ganz korrekt entscheidet man sich für den zusätzlichen Untertitel »Fünf Jahre Auschwitz«. Die mediale Beachtung von Anus Mundi war zu dessen Veröffentlichung in der Bundesrepublik bemerkenswert, unter anderem wohl auch, weil im Januar desselben Jahres erstmals die vierteilige amerikanische TV-Serie »Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss« im bundesdeutschen Fernsehen gesendet wurde – eines der wichtigsten mediengeschichtlichen Ereignisse Deutschlands, in dem das Fernsehpublikum mit dem Massenmord an den europäischen Juden am Beispiel von Einzelschicksalen wirkungsvoll konfrontiert wurde. Zwanzig Millionen Zuschauer sahen mindestens eine Folge der Serie.

Der Spiegel bildete das Umschlagmotiv von Anus Mundi – das Lagertor von Auschwitz-Birkenau – mit der Überschrift »Neue Spiegel-Serie/Vernichtungslager Auschwitz/Häftling Nr. 290 berichtet« auf dem Cover der Ausgabe vom 5. Februar 1979 ab. Diese ausführliche Spiegel-Serie umfasste Artikel zum Thema Auschwitz sowie den Vorabdruck einiger Auszüge aus Anus Mundi, der sich bis zum Spiegel-Heft 11 vom 11. März 1979 hinzog. Das waren insgesamt sechs Ausgaben.

Doch vor allem im Laufe der 1990er Jahre ebbte das Interesse in Deutschland ab. Obwohl Anus Mundi an die Seite der Werke von Kertész, Levi, Borowski, Klüger und Langbein gehört, wird der Text weder von Historikern noch von Germanisten und Literaturwissenschaftlern hier verortet. In der umfangreichen Literatur zu und über Auschwitz bleiben Autor und Buch so gut wie unerwähnt. Auch in der deutschsprachigen Wikipedia taucht der Name Wiesław Kielar in der »Liste von [prominenten] Häftlingen des Konzentrationslagers Auschwitz« nicht auf. Gemessen an dem sensationellen Start des Buches in der Bundesrepublik ist sein Verschwinden aus dem Aufmerksamkeitsbereich von Wissenschaft, Buchmarkt und Leserschaft merkwürdig, ja eigentlich unerklärlich.

Kielars Leben vor Auschwitz

Nun vom Werk zum Autor. Wer war Wiesław Kielar? Einige Hinweise zur Person kann man im Internet finden. Wiesław Kielar wurde am 12. August 1919 im polnischen Przeworsk geboren und ist am 1. Juni 1990 in Wrocław verstorben. Weiterhin gibt es viele allgemeine Verweise auf Anus Mundi und die internationale Verbreitung des Textes, ebenso wie auf Kielars Haftorte und darauf, dass er nach dem Krieg Kameramann geworden ist. Einige polnische Filme aus den 1950er Jahren, an denen er mitwirkte, kann man im Internet ansehen. Selbstverständlich findet man seinen Namen auf jenen Websites, die sich mit dem ersten polnischen Häftlingstransport nach Auschwitz, dem sogenannten »Tarnówer Transport«, beschäftigen.

Aber eigentlich sind diese Funde marginal und unbefriedigend. Sie dokumentieren vor allem das, was Kielar nicht war: nämlich einer jener prominenten Überlebenden, die zu Jahrestagen, Befreiungsjubiläen oder offiziellen Ehrungen und dergleichen an vorderster Stelle auf den Ehrenpodien standen. Kein Foto, kein Dokument deutet darauf hin. Auch war Kielar trotz der Publikation von Anus Mundi kein Mitglied in Intellektuellenkreisen und schon gar keine Berühmtheit im Kulturleben der Volksrepublik Polen. Die Strategie der Unscheinbarkeit, die ihm in Auschwitz das Leben rettete, setzte er offensichtlich auch nach Kriegsende fort. Wer also war Wiesław Kielar?

Ein einjähriges Stipendium der Berliner Dependance des polnischen Pilecki-Instituts gab mir letztlich die Möglichkeit, vieles über Wiesław Kielar zu erfahren. Ohne diese Unterstützung sowie die Hilfe meiner polnischen Kollegin Ewa Chmielewska und einiger ehemaliger Freunde und Kollegen Kielars wäre diese Recherche allerdings wenig erfolgreich gewesen.

Die erste Überraschung der Recherche war, dass in Polen zwei weitere autobiographische Texte von Kielar veröffentlicht wurden: Nasze młode lata (Unsere jungen Jahre), erschien1987. 2004 folgte posthum Życie toczy się dalej (Das Leben geht weiter). Zusammen mit Anus Mundi ergeben die drei Titel eine Trilogie, die in Polen aktuell von dem Wrocławer Verlag Oficyna Wydawnicza ATUT herausgegeben wird.

Zwischen 1988 und 2018 wurden drei polnische Dokumentarfilme über Kielar und Anus Mundi produziert: zwei (1988 und 2005) von Kielars ehemaliger Kollegin Aleksandra Mączka im Auftrag von TVP Kraków mit einer Länge von jeweils 25 Minuten und ein 60-minütiger mit dem Titel Anus Mundi von Jacek K. Kruczkowski aus dem Jahre 2018. Die Bücher und Filme sind eine ergiebige Quelle zum Leben Kielars. Außerdem waren Aleksandra Mączka, der Publizist Leszek Mazan, der Kameraassistent Jerzy Jędrzejczyk und der Verleger Witold Podedworny so freundlich, mir geduldig zur Person Wiesław Kielar Auskunft zu geben.

Wiesław wächst als fünftes Kind (eine Schwester, drei Brüder) der Familie Kielar in Jarosław auf. In dieser galizischen Kleinstadt am Ufer des Flusses San im Südosten Polens verbringt er bis zu seiner Verhaftung 1940 seine Kindheit und Jugend. In der Stadt leben Polen, Russen, Ruthenen, Ukrainer und Juden. Die Lebensverhältnisse seiner Kindheit beschreibt Kielar als primitiv. Elektrisches Licht und fließendes Wasser waren kaum vorhanden. Kielars Mutter ist Dorfschullehrerin, der Vater kaufmännischer Angestellter und zeitweise eine Art Manager in einer Firma, die sich mit dem Export von Schweinen beschäftigte. Familie Kielar gehört zum Establishment der Stadt, wenngleich das Einkommen des Vaters konjunkturbedingt schwankt und viel Geld aus dem Familienbudget für die Schulbildung der Kinder ausgegeben wird.

Wiesław Kielar beschreibt Jarosław als eine Kleinstadt voller Hütten, Mietshäuser (in einem davon leben für einige Jahre die Kielars) und Kasernengebäude. Unkrautüberwucherte Brachen liegen neben Villengrundstücken. Karawanen von Bauergespannen und Viehhändlern aus dem Umland strömen zu den Markttagen in die Stadt. Es gibt eine Synagoge, ein jüdisches Badehaus, eine orthodoxe sowie katholische Kirchen. In den Sommerferien fährt die Familie mit dem Zug zu Verwandten in die nahen Karpaten – für die Kinder eine archaisch-bäuerliche Märchenlandschaft.

In den Monaten vor Kriegsbeginn 1939 mehren sich in Jarosław antijüdische Ausschreitungen. Es kommt zu Prügeleien, Fenster werden eingeschlagen, Juden auf dem Weg zum Gebet mit Steinen beworfen. Die Parole »Schlagt den Juden« macht die Runde. Aus dem nicht weit entfernten Lwów hört man ebenfalls von antijüdischen Ausschreitungen und von Kämpfen zwischen polnischen und ukrainischen Studierenden. Die Stimmung in der Region ist aufgeheizt. Im Familienkreis verurteilt Kielars Vater diese Exzesse und hört in jeder freien Minute Radio: Hitlerreden dröhnen. Polnische Aufmärsche und patriotische Kundgebungen folgen auf die deutschen Forderungen zur Einrichtung eines Korridors durch polnisches Gebiet nach Danzig: »Wir werden Danzig nicht hergeben!«

Am 1. September 1939 beginnt der Zweite Weltkrieg mit dem deutschen Überfall auf Polen. Jarosław wird bombardiert. Bereits am 9. September erreicht die deutsche Wehrmacht die Stadt und errichtet sofort ein unmissverständliches Terrorregime. Die jüdische Bevölkerung wird aus der Stadt vertrieben und den sowjetischen Besatzern übergeben, die den ostpolnischen Landesteil – gemäß dem Geheimprotokoll des Deutsch-Russischen Nichtangriffspakts – jenseits des Flusses San besetzt halten. Jarosław selbst wird dem sogenannten Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete zugeschlagen, das auf einen Erlass von Hitler vom 12. Oktober 1939 hin gebildet wird. Die Hauptstadt dieses Besatzungsgebietes unter deutscher Verwaltung ist Krakau. Zum Generalgouverneur wird Hans Frank ernannt. Die polnische Bevölkerung gilt als »rassisch minderwertig« und ist jeglicher Freiheitsrechte beraubt; die Menschen werden zu billigen Arbeitskräften degradiert, die für die Deutschen Sklavenarbeit zu verrichten haben. Sogenannte polnische »Führungselemente«, also Intellektuelle, Politiker, Künstler, Professoren usw., werden ab September 1939 zu Tausenden in Konzentrationslager deportiert, wenn nicht gar sofort getötet. Es kommt zu Massenerschießungen der jüdischen Bevölkerung durch Einsatzgruppen der SS und des Sicherheitsdienstes. Hier, im Generalgouvernement, beginnt die systematische Vernichtung des jüdischen Volkes in Osteuropa.

In Jarosław etabliert sich bald ein Schwarzmarkt, auf dem mit Lebensmitteln und Dingen des täglichen Bedarfs gehandelt wird. Die Schmuggelware kommt vor allem aus dem etwa 200 Kilometer entfernten Krakau. Kielar beteiligt sich bisweilen an den Beschaffungsfahrten dieser Kostbarkeiten und kommt deshalb zu einigem Bargeld. Er kauft sich davon eine Spiegelreflexkamera und einige Gerätschaften zum Aufbau einer Dunkelkammer für die Fotoentwicklung. Die Fotografie ist ein von Kielar ernsthaft betriebenes Hobby. Bald wird er pro forma Labortechniker eines Jarosławer Fotostudios und ist somit einigermaßen vor der Zwangsarbeit für die Deutschen geschützt.

Die Stimmung ist angstvoll. Es gehen Gerüchte in der Stadt um, dass sich eine lokale Geheimorganisation aus polnischen Widerständlern gegründet hat. Zugleich fürchtet man sich vor Spitzeln und Kollaborateuren, die mit der örtlichen Gestapo zusammenarbeiten. Plündernde Banden treiben ihr räuberisches Unwesen in der Umgebung von Jarosław. Eine allgemeine Verunsicherung bestimmt das alltägliche Leben.

Die Hoffnung, dass der Westen im Frühjahr 1940 in die Offensive gegen die Deutschen geht, wird enttäuscht. Vorwiegend junge Leute verlassen illegal die Stadt.

Auch Kielar schmiedet mit Freunden erste vorsichtige Pläne, über die grüne Grenze außer Landes zu fliehen. Die Idee ist, sich im Ausland womöglich Widerstandsgruppen anzuschließen. Kielar knüpft in den Karpaten Kontakte zu einer lokalen Gruppe, die an Pfingsten 1940 bewaffnet nach Ungarn fliehen will. Er und seine Freunde planen, sich ihnen anzuschließen, denn mittlerweile machen die Gestapo und ihre lokalen Agenten in Jarosław Jagd auf junge »untätige« Polen. In eine solche Razzia gerät Kielar tragischerweise kurz vor der geplanten Flucht. Er wird verhaftet und kommt einige Tage später mit einem Sammeltransport in das Gefängnis von Tarnów. Von dort aus wird er am 14. Juni nach Auschwitz deportiert.

Kielar in Auschwitz

Wiesław Kielars Haftstationen innerhalb des »Interessengebietes des KL Auschwitz« können aufgrund seiner protokollierten Aussagen in den Frankfurter Auschwitzprozessen sehr präzise nachvollzogen werden:

14. Juni 1940: Kielar kommt mit dem ersten polnischen Häftlingstransport aus Tarnów nach Auschwitz und wird in dem Gebäude des polnischen Tabakmonopols untergebracht. Er erhält die Häftlingsnummer 290, die ihm im Frühjahr 1943 auf den Arm tätowiert wird, und das rote Dreieck mit dem »P« (Pole) als Kennzeichnung für politische Häftlinge, das auf die Kleidung zu nähen ist.

6. Juli 1940: Kielar zieht in den Block 2 des Stammlagers Auschwitz I. Er wird Mitglied eines kleinen Schreinerkommandos, das die Blockführerstube baut. Das Kommando arbeitet dafür auch in den Werkstätten eines Klosters in der Stadt Oświęcim.

Zweite Julihälfte bis Oktober 1940: Kielar wird wegen angeblichen Geldschmuggels bestraft und in Block 4 von Auschwitz I verlegt.

Herbst 1940 bis Frühjahr 1942: Kielar ist Leichenträger und Reiniger im Block 28 (Häftlingskrankenbau) von Auschwitz I.

Frühjahr 1942 bis August 1942: Kielar arbeitet im Abbruchkommando des Dorfes Dwory.

August 1942: Nach einer großen Lagerselektion aufgrund von Typhuserkrankungen wird Kielar als Patient in den Block 20 Häftlingskrankenbau Auschwitz I eingeliefert. Nach der Genesung arbeitet er einige Wochen lang im Außenlager Harmense.

Oktober 1942: Verlegung nach Auschwitz-Birkenau in Block 12 im Abschnitt BIb. Kielar ist Pfleger im Frauenkrankenbau Abschnitt BIa.

Ab März 1943: Kielar wird für einige Wochen Schreiber in Block 12, Abschnitt BIb Auschwitz-Birkenau.

Ab April/Mai 1943: Verlegung in Block 8, ebenfalls Abschnitt BIb Auschwitz-Birkenau.

Juli 1943: Verlegung in den Abschnitt BIIf Auschwitz-Birkenau.

Bis Herbst 1943: Im Abschnitt BIIf ist Kielar Pfleger und zeitweise Blockältester im Männer-Häftlingskrankenbau Auschwitz-Birkenau.

Herbst 1943: Verlegung nach Block 8, Abschnitt BIId Auschwitz-Birkenau. Dort ist er bis Juni 1944 Schreiber.

Ab Juni 1944: Kielar arbeitet in verschiedenen Kommandos, unter anderem im Kommando »Straßenbau«.

27. Oktober 1944: Zweitägige Quarantäne im Abschnitt BIId im ehemaligen »Zigeunerlager« Auschwitz-Birkenau.

29. Oktober 1944: Knapp drei Monate vor der Befreiung des KZ Auschwitz geht Wiesław Kielar »auf Transport« ins Deutsche Reich. Dort wird das KZ Sachsenhausen für ihn nur eine kurze Zwischenstation. Kielars Haftzeit in Auschwitz betrug insgesamt 4 Jahre und 5 Monate.

Die Sklavenarbeit, die er wenig später im Stollensystem des Jakobsbergs von Porta Westfalica, einem Außenlager des KZ Neuengamme, leisten muss und die katastrophalen Zustände der Unterbringung im »Kaiserhof«, beschreibt er in Anus Mundi eindrücklich, ebenso die Evakuierungsodyssee, die im April 1945 beginnt und am 2. Mai 1945 im mecklenburgischen KZ Wöbbelin mit der Befreiung des Lagers durch die amerikanischen Soldaten der 82. Luftlandedivision endet. Wiesław Kielar hat nur knapp überlebt.

 

Ich besichtige die heutige Gedenkstätte Auschwitz. Die Fahrt von Berlin dorthin führt durch eine nahezu gleichbleibend banale Landschaft: flach und unscheinbar. Feld- und Wiesenstücke wechseln sich mit Mischwäldern ab. Kiefern dominieren. Zwischen Kattowitz und Oświęcim wird es hügliger, die Wälder bleiben. Kleine Ortschaften. Tankstellen, Supermärkte, Autowerkstätten, neue Häuser, alte Häuser, Wohnblocks. Fertighäuser aus dem Katalog. Wie überall in Europa. Schnellstraßen, Gleisanlagen. Ein Solarium namens »Sahara«, seit Jahren, so scheint es, geschlossen. Einheimische, die ihrem Alltag nachgehen, Touristen, die aus Bussen heraus und hinein in die Gedenkstätten von Auschwitz und Birkenau strömen.

Kielar-Orte: Das Nebengleis, auf dem die Waggons des Tarnówer Transports Halt machten, und das mehrstöckige frühere Verwaltungsgebäude des polnischen Tabakmonopols, in dem die Gefangenen die erste Zeit untergebracht waren, liegen außerhalb der KZ-Gedenkstätte des ehemaligen Stammlagers Auschwitz I, inmitten einer Ansammlung nachträglich hinzugekommener Zweckbauten, Lagerhallen, Kiosken und Parkplätzen.

Diese bauliche Unruhe des Viertels erstreckt sich über die gesamte Umgebung der ehemaligen Lager. Die Suche nach der Authentizität der Orte, eine per se unmögliche Erwartungshaltung, wird naturgemäß konterkariert durch das lokale Alltagsgeschehen.

 

Die Direktion der Gedenkstätte gestattet mir, mich im Innern von Block 2 im ehemaligen Stammlager umzuschauen. Der Block war Kielars erste Unterkunft im Stammlager. Er ist im Originalzustand erhalten: Unterschiedlich große Zimmer, möbliert mit schweren Holzschemeln, aus massiven Brettern gezimmerten Stockbetten, ein Treppenhaus mit Gusseisengeländer, Waschkauen. Alles ist braun, holzbraun, rostbraun, kackbraun. Tatsächlich ähnelt dies eher dem Inneren einer Kaserne, die es ja ursprünglich auch gewesen ist, als der allgemeinen Vorstellung von »typischen« KZ-Baracken, wie sie später auch in Birkenau errichtet worden sind. Aber was ist schon »typisch«?

In Block 2 bleibt der Eindruck des nicht nachträglich Geschönten. Des nicht Renovierten. Die Wandanstriche, die sich schuppenartig ablösen, die Trostlosigkeit des groben Mobiliars, die materielle Kargheit der Räume, die Spuren der Abnutzung in den Wasch- und Toilettenräumen, auf den steinernen Stufen der Treppen über die die Häftlinge hoch- und runtergehetzt wurden.

Weitere »Kielar-Orte« sind die Stehzelle im Block 11, in der er zur Strafe mehrere Nächte gepfercht wurde, und das massive Gebäude des Blocks 28, ein sogenannter »HKB«, Häftlingskrankenbau, in dem Kielar unter anderem Hilfspfleger gewesen ist.

Zu sehen ist die leere, grasbewachsene Fläche zwischen den Blöcken 20 und 21, auf der Kielar in knapper Not vor der Selektion in die Gaskammer gerettet wurde.

Auschwitz in seiner Doppelfunktion als Gedenkstätte und als Museum. Als touristischer Hotspot, mit seinen herdenartigen Besuchergruppen, die auf den Lagerstraßen von Anschauungspunkt zu Anschauungspunkt traben. Gruppen, die im Minutentakt Selfies unter dem »Arbeit macht frei«-Tor schießen. Wiesław Kielar ist an diesem Ort unendlich weit weg. Und dennoch war er hier.

Jenseits der Birkenauer Rampe beginnt die Abstraktion des Lagers; schraffiert, scheintot wie eine Landschaft gezeichnet von Anselm Kiefer. Die weiten Felder, auf denen nur noch die Fundamente und Kamine der Baracken stehen. Hier ist endlich Stille. Hier ist Kielar. Hier, im Birkenauer Abschnitt BIIf beispielsweise. Von hier aus, so beschreibt er es in mehreren Zeugenaussagen für den Frankfurter Auschwitzprozess, hat er das Feuer und den Rauch der Gruben bei den Krematorien IV und V gesehen, als die Körper der Vergasten im Freien verbrannt wurden. Die Blickachse geht von BIIf schräg hinüber zu dem Wäldchen, in dem die Verbrennungsgruben ausgehoben waren. Stille. Hier ist Kielar. Hier hat der Schriftsteller Wiesław Kielar, Auschwitz-Häftling Nr. 290, das Lager nie verlassen.

Kielars Leben nach Auschwitz

Wiesław Kielars Kollegin, die Fernsehautorin Aleksandra Mączka, hat zwei Fernsehdokumentationen über ihn produziert. Im Gespräch mit mir erinnert sie sich, wie er zu ihr sagte, dass er sich manchmal nach Auschwitz sehne und zugleich Angst habe, das auszusprechen. Er habe dort seine besten Jahre, seine Jugend verbracht. Auschwitz, so Mączka, ist immer in Kielar gewesen. Er habe versucht davonzulaufen, konnte es aber nicht. Deshalb sei Anus Mundi entstanden.

Mit seinem langjährigen Assistenten und Freund Jerzy Jędrzejczyk drehte Kielar als Kameramann häufig zu offiziellen Anlässen für das Krakauer Fernsehen in Auschwitz. Laut Jędrzejczyk fühlte sich Kielar bei seinen Besuchen in Auschwitz wohl und besuchte dort seinen alten Lagerkameraden Kazimierz Smoleń, der nach dem Krieg lange Zeit Direktor der Gedenkstätte gewesen ist, sowie viele weitere Überlebende. Es war, so Jędrzejczyk, eine sehr spezielle Gruppe von Menschen: In sich gekehrt, bei Feierlichkeiten unauffällig im Hintergrund bleibend. Kielar, meint sein Assistent, mochte den Ort, das ehemalige Lager, weil er es geschafft hatte, hier zu überleben.

Der Publizist Leszek Mazan erzählt mir, dass Kielar 1947 bei der Hinrichtung von Rudolf Höß, dem ehemaligen SS-Kommandanten von Auschwitz, im Stammlager zugegen war. Ein Stück des Stricks, mit dem Höß gehängt wurde, lag später als Glücksbringer im Besteckfach in Kielars Küche in Krakau.

Ich komme mit Kielars Freunden auch auf Anus Mundi zu sprechen. Alle drei sind sich einig, dass das Buch deshalb so besonders ist, weil es aus der Perspektive eines jungen Mannes geschrieben wurde und unpathetisch die »schmutzige« Seite von Auschwitz thematisiert. Das war zur Zeit der Erstveröffentlichung in Polen Anfang der 1970er Jahre schockierend, weil es der damals politisch korrekten Narration vom heldenhaften polnischen Widerstand ganz und gar nicht entsprach. Ein Vorwurf, den auch einige Überlebende Kielar gegenüber äußerten.

Anus Mundi war in Polen zunächst nur ein mäßiger Erfolg. Der Autor bekam einige Preise. Richtig »Karriere« hätte das Buch, so Leszek Mazan, erst durch die Veröffentlichung in der Bundesrepublik und die dortige mediale Aufmerksamkeit gemacht, vor allem durch die Publikation im »Spiegel«.

Leszek Mazan war es auch, der das Vorwort zu Wiesław Kielars 2004 posthum erschienener Autobiographie Życie toczy się dalej (dt. Das Leben geht weiter) über dessen Leben nach 1945 geschrieben hat. Mazan lobt die »brutale Ehrlichkeit« des Buches. Es sei wie ein Foto, eine Momentaufnahme jener polnischen Kriegsgeneration, die zunächst die Faszination der Freiheit unmittelbar nach Kriegsende erfuhr und wenig später bereits die ersten Enttäuschungen erlebte; Menschen, »die verzweifelte Versuche unternahmen, zur Normalität zurückzukehren und den eigenen Platz auf der Erde zu finden«.[1]

Diese Suche nach dem »eigenen Platz«, dem eigenen Selbstverständnis, beginnt für Wiesław Kielar, so schildert er es, bei Kriegsende im Mai 1945 in Mecklenburg. Nachdem er ein paar Tage zusammen mit polnischen Kameraden in Häusern geflohener Bauern kampiert hat und sich endlich satt essen konnte, landet er in einer Kasernenanlage von Ludwigslust, die als ein Lager der UNRRA (Nothilfe und Wiederaufbauverwaltung der Vereinten Nationen) umfunktioniert worden ist.

Befreite Zwangsarbeiter und ehemalige KZ-Häftlinge werden hier registriert, verköstigt und neu eingekleidet. Kielar bekommt amerikanische Bluejeans, damals ein kostbares wie exotisches Kleidungsstück, und ist nun offiziell eine Displaced Person.

Er schließt sich kurze Zeit später einem Transport der Amerikaner Richtung Westen an, weil die Sowjets Ludwigslust als Besatzungsmacht übernehmen. Seine nächste Station ist das DP/UNRA-Lager Wolterdingen bei Soltau in der britischen Besatzungszone. Hier sind vor allem befreite KZ-Häftlinge aus Bergen-Belsen, Neuengamme und Ravensbrück untergebracht. Kielar beschreibt die Stimmung unter den Insassen des Camps in seinen Memoiren so: »Nach dem langen und schrecklichen Krieg versuchte jeder, der noch jung war, so viel wie möglich zu bekommen, und es gab kaum ethische Bremsen. Sonntags hörte man sich in der Kapelle die Predigt an, um nachzudenken und Buße zu tun, und stürzte sich gleich danach wieder in den Alkohol und in Ausschweifungen, um die verlorenen Jahre wiedergutzumachen.«[2] Kielar verliebt sich im Camp, er spielt Fuß- und Volleyball, er steigt in den Boxring. Nach den für ihn qualvollen fünf KZ-Jahren geht es ihm inmitten des zerstörten Deutschlands erstmals wieder richtig gut.

Im September 1945 werden Kielar und seine polnischen Kameraden von den Briten gefragt, ob sie bereit seien, als Zeugen der Anklage im Lüneburger Bergen-Belsen-Prozess gegen SS-Angehörige sowie einige Kapos auszusagen. Sie verneinen. In der Rückschau, so schreibt Kielar, seien sie damals zu glücklich gewesen, um über die grausamen Dinge aus der unmittelbaren Vergangenheit nachdenken zu wollen. Lediglich als Zuschauer nehmen sie an diesem Prozess teil, und sehen ehemalige Peiniger aus Auschwitz auf der Anklagebank sitzen: den SS-Kommandanten von Birkenau, Kramer, und den SS-Arbeitsdienst- und Lagerführer Hössler.

Das Leben in Wolterdingen, mittlerweile von den Camp-Insassen scherzhaft »Woltertrinken« genannt, wird immer zügelloser und anarchischer. Bald bilden sich – so beschreibt es Kielar – regelrechte Banden aus Überlebenden, die in der Umgebung des Camps Überfälle auf ehemalige SS-Angehörige verüben; es kommt zu Mordaktionen und Plünderungen. Es fließt der Alkohol, jeder hat Geld, nächtelang werden Karten gespielt, im kalten Herbst 1945 ist an Sport eh nicht zu denken.

Heimkehr

Was wird aus unserem Leben, fragen sich die Polen im Lager, denn sie hören von den dramatischen Verschiebungen der Grenzen ihres Heimatlandes: Wilno und Lwów sind an die Sowjetunion verloren. Die deutschen Städte Wrocław (Breslau), Szczecin (Stettin) und Gdańsk (Danzig) sind dafür hinzugekommen. Eine weitere Neuigkeit: Ihr Auschwitzer Mithäftling Józef Cyrankiewicz ist Generalsekretär der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS) in Volkspolen geworden.

Nach zehn Monaten im Wolterdinger Camp gelangt Wiesław Kielar per Schiff über Hamburg und Gdynia zurück in die Heimat. Das Land, wie er es bei seiner Ankunft erlebt, ist voller Umsiedler: Es geht von Ost nach West, von West nach Ost. Allein mehrere hunderttausend Polen kommen aus dem ehemaligen Deutschen Reich, wo sie in KZs und Gefangenenlagern inhaftiert waren, Zwangsarbeit leisten mussten oder sich als Flüchtlinge bewegten, zurück in das chaotische Nachkriegspolen.

Kielar schreibt: »Was haben wir eigentlich erwartet? Ein Orchester? Fanfaren? Die Züge waren voll mit Heimkehrern wie uns, die in Wehrmachtsuniformen, russischen, polnischen oder in gestreiften Lageruniformen und in schlecht sitzender Zivilkleidung aus dem Westen zurückkehrten. Wir hatten aber alle eines gemeinsam: Wir wollten wieder in unser Elternhaus und ein normales Leben beginnen.«

Wiesław Kielar findet seine Eltern lebend in Jarosław vor. Auch seine Geschwister haben die deutsche Besatzungszeit heil überstanden. Schon wenige Tage nach seiner Ankunft wird er von der polnischen Geheimpolizei verhört: Heimkehrer, die erst viele Monate nach Kriegsende aus Westeuropa zurückkommen, sind im Polen des Jahres 1946 grundsätzlich verdächtig.

Die südostpolnische Region dies- und jenseits des Flusses San sowie im Bieszczady-Gebirge ist in Aufruhr. Die Gründe dafür sind zum einen die rigiden, staatlich durchgeführten Enteignungen großer landwirtschaftlicher Güter und Gehöfte im Zuge der Bodenreform, und zum anderen gibt es immer wieder regionale Schießereien, die sich unterschiedliche bewaffnete Partisanen und Milizen aufgrund der neuen Grenzziehungen und den damit verbundenen jeweiligen Vertreibungen von Ukrainern und Polen liefern.

 

Kielar selbst liest im Sommer 1946 die Auschwitz-Erzählungen von Tadeusz Borowski, ebenfalls ein ehemaliger Häftling. Kielar kennt den Autor persönlich aus der Zeit im KZ und ist beeindruckt von dessen Texten. Durch sie ermutigt, versucht er erstmals selbst über Auschwitz zu schreiben, gibt aber bald wieder auf, und schämt sich der für ihn unbefriedigenden Resultate.

Er steckt in einem Dilemma: Einerseits will er das Lager vergessen, andererseits wird er immer wieder damit konfrontiert. So hat er Edek Galiński vor der Hinrichtung in Auschwitz versprochen, dessen Vater ein kleines Päckchen mit einigen Haaren von ihm und seiner Geliebten Mala Zimetbaum zu übergeben. Kielar hält Wort, trifft den alten Galiński jedoch unzugänglich und alkoholisiert an. Der Vater weigert sich, das Geschenk seines Sohnes entgegenzunehmen. Es sei alles schon schlimm genug.

Auch Kielars Besuch im Dorf Kozy unweit von Auschwitz verläuft enttäuschend. Kielar will sich nachträglich bei dem Zivilarbeiter Szymlak für dessen selbstlose Hilfe im Lager bedanken, doch der hilfsbereite Fliesenleger ist mittlerweile aufgrund einer Verleumdung als Kollaborateur verhaftet worden.

Anlässlich einer Reise nach Krakau – ebenfalls im Sommer 1946 – trifft Kielar dort einige Lagerkameraden aus Auschwitz in einer Kneipe wieder. Man begießt das glückliche Wiedersehen und tauscht sich aus. Dabei stellt Kielar erschrocken fest: »Fast alle waren mit irgendetwas beschäftigt, wenn nicht mit Arbeit, dann mit Lernen. Einige engagierten sich in der Politik, was sie schon vor Auschwitz getan hatten. (…) Und mir wurde klar, dass ich der Einzige war, der still stand und nichts anstrebte, ich hatte ja noch nicht mal meinen Schulabschluss gemacht.«

Pro forma – der Schuldirektor war auch in KZ-Haft gewesen, also ein brüderlicher Leidensgenosse – legt Kielar daraufhin in Jarosław die Abiturprüfung ab und ist somit berechtigt, als ehemaliger Häftling ohne Aufnahmeprüfung ein Universitätsstudium zu beginnen. Er versucht in Gliwice Chemie zu studieren, lässt die Idee jedoch fallen, als er in der Zeitung liest, dass 1948 in Łódź eine Filmhochschule eröffnet werden soll. Da er sich schon immer fürs Fotografieren begeistert hat und eine eigene Dunkelkammer besitzt, zieht er ein Kamerastudium in Erwägung. Er fährt also nach Łódź und wird tatsächlich zunächst für ein »Basisjahr«, eine Art Vorbereitungskurs für das sich anschließende Studium, an der Filmfakultät der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste angenommen.

Am 14. Juni 1947, dem siebten Jahrestag des ersten Transports nach Auschwitz, wird in Anwesenheit einer polnischen Regierungsdelegation unter der Leitung von Józef Cyrankiewicz die Ausstellung im Museum der Gedenkstätte feierlich eröffnet. Wiesław Kielar erinnert sich:

»An diesem denkwürdigen Tag versammelten sich, glaube ich, alle [polnischen] Überlebenden. Immer wieder fiel ich jemandem in die Arme, bei jedem Schritt umarmte und küsste mich einer. Wir freuten uns grenzenlos wie kleine Kinder, denn es war das erste Wiedersehen nach dem Krieg, eine Gelegenheit, diejenigen zu sehen, von denen wir zuvor nichts mehr gewusst hatten.« Während der Feierlichkeiten treffen sich heimlich Eingeweihte, darunter Kielar, in Block 28 zu einem regelrechten Wiedersehens-Besäufnis. Viel später, in seiner Autobiographie, resümiert Kielar beschämt, dass die makabre Ambivalenz – hier das feierliche Gedenken an die Toten von Auschwitz, dort eine betrunkene Gruppe glücklich Geretteter – für die Angehörigen der Ermordeten sehr schockierend gewesen sein muss.

Kamerastudium in Łódź

Nach seinem »Basisjahr« wird Kielar im Sommer 1948 an der neu gegründeten Filmhochschule Łódź für das Kamerastudium zugelassen. Im Kino sieht er den Film Ostatni Etap (deutscher Verleihtitel: Die letzte Etappe) von Wanda Jakubowska, die selbst Häftlingsfrau in Auschwitz gewesen war. Ostatni Etap ist der erste Spielfilm der Filmgeschichte, der sich mit dem Leben und Sterben im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau auseinandersetzt. Kielar fühlt sich durch die Heroisierung und Politisierung der zentralen Protagonistin, welche deutliche Bezüge zu Mala Zimetbaum aufweist und deshalb mit Kielars eigener Lagerbiographie eng verbunden ist, persönlich angegriffen. Er schreibt der Regisseurin einen langen und kritischen Brief. Später, 1964, wird er interessanterweise jedoch an einem ihrer nächsten Spielfilme, Koniec naszego świata (Das Ende unserer Welt), als Kameraassistent mitwirken.

1951 arbeitet er hinter der Kamera an einem Łódźer Studentenfilm über Auschwitz mit: Muzeum Oświęcimskie (Museum Auschwitz) ist eine Dokfilmübung des Regisseurs Mirosław Bartoszek. Die Idee stammt von Kielar. Der später berühmt gewordene polnische Regisseur Andrzej Wajda, ebenfalls Student in Łódź, ist bei dieser Produktion Regieassistent und erinnert sich viel später in einem Interview noch genau an die Dreharbeiten in Auschwitz und an seine Verwunderung, dass die ehemaligen »Auschwitzer« des Filmteams sowie die des Museums ihre Lagererlebnisse vor allem als witzige Anekdoten miteinander austauschten.

Muzeum Oświęcimskie ist ein der stalinistischen Kulturpolitik Polens geschuldetes ideologisches Machwerk, in dem das deutsche Vernichtungslager mit dem Koreakrieg der US-Amerikaner moralisch gleichgesetzt wird. Weder Kielar noch der Regisseur sowie deren Professoren sind mit dem Film zufrieden.

1953 beendet Wiesław Kielar sein Studium in Łódź, allerdings ohne Abschluss. Die Gründe dafür liegen im Dunkeln, zumal er als Kameramann einen Diplomfilm gedreht hat: W pościgu za bandą unter der Regie von Zbigniew Kiersztejn.

Zu Kielars Łódźer Zeit ist zu sagen, dass er einerseits großes Glück hatte, an dieser berühmten Filmhochschule zu studieren – sein Kommilitone war neben Andrzej Wajda zum Beispiel der Regisseur Andrzej Munk, dessen letzter Spielfilm Passagierin ebenfalls Auschwitz thematisiert. Zu Kielars Professoren gehörten außerdem Jerzy Toeplitz, Stanislaw Wohl und Antoni Bohdziewicz.

Andererseits war seine Haltung offen kritisch gegenüber dem Stalinismus, »dessen Erscheinungsformen«, so schreibt er, »im Leben unserer ›marxistischen‹ Schule besonders stark zu spüren waren«. Er galt deshalb an der Hochschule als »politisch und sozial instabiles Element«; ihm wurde mehrmals mit Exmatrikulation gedroht.

Kielars späterer Kameraassistent beim Krakauer Fernsehen, Jerzy Jędrzejczyk, erzählt mir, dass Kielar ihm sogar abgeraten habe, in Łódź ein Kamerastudium zu beginnen. »Wozu? Du kannst doch alles.«

In einem Wrocławer Café lernt Kielar die junge Dekorateurin Lena (geboren 1926 in Kowel) kennen. Bereits am dritten Tag ihrer Bekanntschaft besucht er mit ihr Auschwitz: »Die Tatsache, dass ich sie mitnahm, zeigt, wie sehr sie mir vom ersten Moment an ans Herz gewachsen ist. Ich spürte, wie wichtig es für sie war, diesen Ort so schnell wie möglich zu sehen, als ob sie mich dadurch gleich besser kennenlernen würde. Der Direktor des Museums stellte uns den Höß-Saal zur Verfügung. Vom Zimmerfenster aus konnten wir den Höß-Galgen sehen. Lena war sehr verängstigt. Am nächsten Tag zeigte ich ihr das ganze Lager. Damals wusste ich noch nicht, dass sie es bald sehr gut kennenlernen würde, fast so wie mich als ihren Lebensbegleiter.« Die Hochzeit der beiden fällt zusammen mit dem Ende von Kielars Studentenzeit in Łódź.

Anus Mundi

Was seine Kameraarbeit angeht, folgen unbefriedigende Jahre für Kielar. Er wirkt lediglich an einem langen Spielfilm, Baza ludzi umarłych (1958), als Hauptkameramann mit. Ansonsten wird er trotz Festanstellungen kaum eingesetzt. Der Grund hierfür, so vermutet er, sind einige negative politische Beurteilungen der Kaderabteilungen des polnischen Filmschaffens über ihn.

Dass er 1964 Kameraassistent für Wanda Jakubowskas Spielfilm Koniec naszego świata (Das Ende unserer Welt) – wieder ein Auschwitz-Film – war, erwähnt er in seiner Autobiographie erstaunlicherweise nicht. Im Gegenteil. Er kritisiert darin den Film und führt die seiner Meinung nach vorkommenden »Unwahrheiten« als Motiv an, endlich selber über Auschwitz zu schreiben.

Ermuntert von seiner Ehefrau Lena nimmt er zunächst an einem Schreibwettbewerb des Internationalen Auschwitz-Komitees teil. Er gewinnt diesen mit einer Geschichte, die von der Liebesbeziehung zwischen Mala Zimetbaum und Edek Galiński handelt.

»Und so entstand [danach] der autobiografische Roman Anus Mundi. Ich habe ihn innerhalb von ein paar Monaten geschrieben und das Manuskript dann an viele Verlage geschickt. Sie gaben mir ausgezeichnete Rückmeldungen, verlangten aber auch Änderungen und Ergänzungen, zum Beispiel was Cyrankiewicz und die Widerstandsbewegung im Lager Auschwitz angeht. Ich wollte aber keine Lügen in das Buch aufnehmen, und so lag das Manuskript 7 Jahre lang in der Schublade.«

So reibungslos, wie Kielar sein Schreiben von Anus Mundi im posthum erschienen dritten Teil seiner Autobiographie Das Leben geht weiter beschreibt, ist es sicherlich nicht verlaufen. Im Gegenteil: Aleksandra Mączka erzählt mir, dass Kielar der Schreibprozess sehr schwerfiel, weil er seine Haftzeit gedanklich erneut durchmachen musste und dabei viele Albträume bekam.

Kielars Credo ist, »brutal ehrlich die Wahrheit« über Auschwitz zu schreiben, und zwar genau so, wie er sie im Lager erlebt hat. Diese Erzählhaltung stößt nicht nur auf Gegenbliebe. Sogar Freundschaften mit Lagerkameraden zerbrechen. Den Vorwurf, dass der Lagerwiderstand im Buch nicht thematisiert werde, entkräftet er zwar mit dem Verweis, er habe diesen Widerstand ja selbst nicht erlebt, also könne er konsequenterweise auch nicht über ihn schreiben. Zufrieden sind seine Kritiker damit jedoch nicht.

Kielar geht es, so sagt er, vor allem um das Faktische. Deshalb, meint er, sei Anus Mundi im Grunde auch kein belletristisches Buch. Dieser Wahrheitsanspruch habe sich im Laufe der Zeit durch seine intensive Beschäftigung mit den Filmen und Büchern über Auschwitz entwickelt. Ähnlich wie er Jakubowskas Filme zum Anlass genommen hat, sich selbst schriftstellerisch mit Auschwitz auseinanderzusetzen, liest er aufmerksam und kritisch die autobiographische Auschwitz-Literatur von Seweryna Szmaglewska, Krystyna Żywulska, Zofia Kossak-Szcucka sowie nochmals die Erzählungen von Tadeusz Borowski, die ihn erneut beeindrucken: »Borowski schildert auf literarische, sensible, einfühlsame und sehr realistische Weise, was während seines Aufenthalts im Lager Auschwitz um ihn herum und in ihm vorging. Zufällig kannte ich ihn aus dem Lagerkrankenhaus in Birkenau, wo er von dem Blockältesten Waldemar Nowakowski betreut wurde.«

1973, als Anus Mundi erstmals in Polen erscheint, ist Wiesław Kielar bereits seit vier Jahren festangestellter Kameramann beim polnischen Fernsehen in Krakau. Es dauert einige Zeit, bis er im Sender akzeptiert wird. Das liegt unter anderem daran, dass er im Gegensatz zu den anderen Kameramännern, die, à la bòheme, abgetragene schwarze Pullover, ein existenzialistisches Markenzeichen, tragen, immer in Anzug mit Krawatte gekleidet ist und so unter den Kollegen den Eindruck eines aus der Zeit gefallenen Gentlemans macht, der im Übrigen niemanden duzte. So beschreibt mir Aleksandra Mączka Kielars Erscheinungsbild bei TVP Krakau. Ihr, seiner Kollegin, vertraut er eines Tages an, dass er über seine berufliche Karriere als Kameramann insgesamt enttäuscht sei. Sein Traum, Spielfilme zu drehen, sei unerfüllt geblieben. In Krakau produziert er hauptsächlich Beiträge für die aktuelle Berichterstattung und ist gesetzter Kameramann, wenn es etwas in der Gedenkstätte Auschwitz zu filmen gibt. Ein spätes berufliches Highlight ist seine Mitarbeit an der im sozialistischen Polen legendären Dokuserie Polska zza siódmej miedzy (etwa: Polen vom Feldrand aus gesehen), die sich unter der Regie von Maciej Szumowski (in Polen ebenfalls eine Legende) ungewöhnlich kritisch gesellschaftlich relevanten Themen widmet.

Dass Wiesław Kielar ein Häftling in Auschwitz gewesen war, weiß nur ein kleiner Kreis seiner Krakauer Kollegen. Deshalb sind sie erstaunt, als Anus Mundi erscheint. Kielar bekommt von seinem polnischen Verlag fünfzig Freiexemplare und überlegt scherzhaft, im Sender einen Kiosk aufzumachen, um dort die Bücher zu verkaufen. Tatsächlich erwerben viele Mitarbeiter Anus Mundi von Kielar und bitten ihn um eine Widmung. In den letzten Jahren seines Krakauer Berufslebens erwirbt sich Kielar den Ruf als eine wichtige kreative Persönlichkeit, an die man sich im Sender noch heute achtungsvoll erinnert.

Wiesław Kielar wird 1977 als Achtundfünfzigjähriger Frühpensionär; den internationalen und vor allem deutschen Erfolg von Anus Mundi erlebt er also bereits als Rentner. Zusammen mit Lena, die in Polen als Malerin erfolgreich ist, kauft er in Wrocław eine Villenhälfte mit großem Garten. Die Honorare aus Anus Mundi ermöglichen beiden ein wohlhabendes Leben in ihren letzten gemeinsamen Jahren.

Die Stadt Jarosław verleiht ihm die Ehrenbürgerschaft und benennt eine Straße nach ihm; ein Kreisverkehr in Wrocław trägt posthum ebenfalls seinen Namen.

Aleksandra Mączka, die Kielar in ihren Filmen ehrte, erinnert sich an ihn als einen gastfreundlichen und herzlichen Menschen, der Gespräche unter Freunden liebte, im Grunde jedoch tief unglücklich gewesen sei.

Wiesław Kielar stirbt am 30. Juni 1990. Er wird im Beisein von Freunden und Journalistenkollegen auf dem Rakowicki-Friedhof in Krakau beigesetzt.

Vorwort zur Ausgabe von 1979

Dieses Buch ist kein Roman, obwohl es wie ein spannender Roman gelesen werden kann. Es ist ein Dokument. Alle darin vorkommenden Personen sind authentisch, genauso authentisch wie die Erlebnisse des Verfassers: die Situationen, in denen er sich befand, und die Vorfälle, an denen er teilnahm. Er war knapp einundzwanzig Jahre alt, als er am 14. Juni 1940 aus dem Gestapo-Gefängnis in Tarnow mit dem ersten Transport der politischen Häftlinge in das KZ-Lager Auschwitz kam. Es waren insgesamt 728 Häftlinge. Hier wurden ihre Namen in Nummern geändert. Von nun an sollten sie nur noch Sachen sein, Eigentum der SS, eingetragen in die Lagerkartei mit den Nummern 31 bis 759.

Wiesław Kielar erhielt die Nummer 290, und so begann ein Lebensabschnitt, der fast fünf Jahre dauern sollte und der mit dem Namen KZ-Lager Auschwitz und mit der Geschichte dieses Lagers untrennbar verbunden war.

Das Datum, an dem diese Gruppe politischer Häftlinge aus Polen eingeliefert wurde, wird von der Geschichte als die Inbetriebnahme, als der Beginn des Lagers Auschwitz bezeichnet. Damit fängt das erste Blatt seiner tragischen Kapitel an. Drei Wochen vorher hatte man bereits 30 deutsche Kriminelle aus dem KZ Sachsenhausen dorthin gebracht, die von dem späteren sogenannten »Henker von Auschwitz«, dem Rapportführer Gerhard Palitzsch persönlich ausgewählt worden waren. Sie erhielten die Nummern 1 bis 30 und bildeten zusammen mit einer damals noch kleinen, kaum mehr als hundert Mann zählenden SS-Besatzung im wesentlichen das System der organisatorischen Struktur des Lagers, seines Terrors und seiner Gewalt. Diese Kriminellen wurden eifrige Helfer der SS-Männer, und zwar in den Funktionen als Blockälteste und Aufseher. Das Leben der 728 Häftlinge aus dem ersten Transport war nicht nur von der SS, sondern auch von den kriminellen Häftlingen abhängig. »Von diesem Augenblick an waren wir zu lebenslänglichem Aufenthalt im KZ Auschwitz verurteilte Nummern geworden«, schreibt der Autor Wiesław Kielar einige Jahre nach dem Kriege, »und was ein Konzentrationslager bedeutete, das sollten wir bald erfahren.«

Als mir der Verlag den Vorschlag machte, das Manuskript der Erinnerungen von Wiesław Kielar zu lesen und das Vorwort zu einer Buchausgabe zu schreiben, dachte ich lange über den Sinn und die Notwendigkeit dieser Verlagsidee nach.

Über das KZ Auschwitz gibt es bereits eine umfangreiche Literatur. Nicht nur streng authentische Erinnerungen und Tagebücher, sondern auch literarische Werke von großem künstlerischem Wert. Es gibt auch historische Werke und Monographien, Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung. Hinzu kommen die Gerichtsakten der Prozesse vor dem Höchsten Nationaltribunal gegen den Kommandanten des KZ Auschwitz Rudolf Höß (Warschau 1946) und gegen 40 Angehörige der SS-Besatzung, die von diesem Tribunal in Krakau (1947) verurteilt wurden, sowie das Material der drei Auschwitz-Prozesse in Frankfurt am Main in den Jahren 1963 bis 1968.

Es ist in Anbetracht dessen nicht verwunderlich, daß ich mir beim Lesen des Manuskripts von Kielar zuerst überlegte, ob denn überhaupt noch ein Interesse an weiterer Literatur über das Lager Auschwitz vorliege. Die sogenannte Kriegsliteratur ist reichhaltig, und hinzu kommt, daß uns immer mehr Jahre von der damaligen Zeit trennen, Jahre, die reich an Erlebnissen sind und den Graben zwischen Vergangenheit und Gegenwart noch mehr verbreitern.

Ich selbst habe ebenfalls das Drama Auschwitz miterlebt, wie der Verfasser. Ich überlegte mir, für wen er dieses Buch wohl geschrieben hat: Für die Generation, für die der Krieg zu einem wichtigen Teil ihrer eigenen Biographie geworden ist oder ganz besonders für die ehemaligen Häftlinge von Auschwitz, die auf den Blättern dieses Buches viele bekannte Namen finden werden von solchen, die heute noch leben oder inzwischen gestorben sind.

Oder ist dieses Buch für die Jungen geschrieben, deren Vorstellungen von Auschwitz vor einer Barriere halten, die nicht zu überwinden ist?

Vielleicht aber war das Schreiben des Manuskripts auch nur eine ganz natürliche menschliche Reaktion, um die Last jener Jahre von sich abzuschütteln. Niemand wird später in der Lage sein, die vollständige Wahrheit über Auschwitz zu sagen, wenn die letzten Zeugen abgetreten sein werden. Diese Wahrheit ist nicht vorstellbar, sie sprengt die Vorstellungskraft jedes Menschen, der dieses nicht selbst erlebt hat.

Für Menschen, die das Glück hatten, erst nach dem Kriege geboren zu werden, und für solche, die später leben werden, wird das Konzentrationslager Auschwitz mit der Zeit immer mehr ein fernes Symbol sein, tragisch, aber ohne menschliche Nähe, tot wie eine Grabplatte, die die erschreckenden, gigantischen Ausmaße dieses Friedhofs zudeckt.

Jene vier Millionen Menschen[1], die dort ermordet wurden, die man in Rauch und Asche verwandelte, sind für die Mehrheit der heute lebenden Menschen nur eine tote Zahl, ein relativ leerer Begriff.

Die Phantasie wird weder dadurch geweckt, daß es sich um vier Millionen Individuen handelte, die zum Teil bereits geformt waren, und um andere, deren Leben sich erst zu formen begann, noch daß diese Zahl vier Millionen menschliche Einzelschicksale enthielt, mit ganz individuellen Freuden und Tragödien, Lebensplänen und Hoffnungen, Gefühlen und Konflikten, die alle der physischen Vernichtung preisgegeben waren.

Und das ist eine der grundlegenden, der grausamsten Wahrheiten über Auschwitz. Das Zeugnis Kielars ruft uns jetzt nach mehr als dreißig Jahren diese Wahrheiten zurück, und es erscheint mir deshalb als ein Ereignis von besonderem Gewicht.

Der Verfasser war unmittelbarer Zeuge des Verbrechens von Auschwitz, und zwar von Anfang an, von dessen erstem Akt an bis zum Schluß – alle Etappen hindurch. Da er diesen autobiographischen Roman in der Breite eines Panoramas anlegt, füllt er die heute leeren Baracken und Straßen der Lager Auschwitz und Birkenau mit jenen Menschen, die in diesen Löchern lebten und wußten, daß sie unausweichlich zum Tode verurteilt waren, den sie früher oder später erleiden mußten. Am häufigsten gab es einen schlimmen Tod, und je schlimmer er war, in desto gemeinerer Form trat er auf. Überall gab es diesen Tod, jeden Tag und jede Nacht, fast zu jeder Stunde. Er wurde so sehr zu einer allgemeinen und gewöhnlichen Erscheinung, daß man sich an ihn gewöhnen konnte.

Bereits am Anfang seines Buches schreibt Kielar: »Zum erstenmal in meinem Leben sah ich das Sterben, ich habe mir niemals vorgestellt, daß man so lange sterben kann.«

Der Tod eines Mithäftlings, den er am dritten Tage seines Aufenthalts im Lager gesehen hatte, der Tod eines mißhandelten und von den Aufsehern – auch Häftlinge – ermordeten Menschen war für den Verfasser eine große Erschütterung. Dieses Sterben blieb fest in seiner Erinnerung haften. Er hat es mit einem ungewöhnlichen Realismus beschrieben. Als der Körper des mißhandelten alten Mannes unbeweglich geworden ist, sagt der Verfasser, der genau wie jener andere gemartert worden war: »Ich bin aber unverletzt und lebe. Und ich will leben.«

Ich glaube, daß diese Erfahrung von Kielar, die bei ihm ein solches Bekenntnis provoziert hat, ihre eigene Sprache spricht. Ich sehe darin eine Art Schlüssel zu seiner Auschwitzer Biographie. Niemals später, auf den weiteren Seiten seiner Erinnerungen, kommt es zu einer solchen Konfrontation mit dem Tode, obwohl es ihn, diesen Tod, mit jedem Monat, mit jedem Jahr, immer wieder und in einem immer größeren Ausmaße gab: bei den anfangs seltenen Exekutionen in der Sandgrube hinter der Küche bis zur Massenabschlachtung auf dem Hof des Blocks 11, über die Phenolspritzen ins Herz bis zu der Gaskammer in Birkenau, die innerhalb eines Tages Tausende von Menschen auslöschte. Außerdem gab es zu jeder Stunde ein langsames Sterben an Hunger, körperlicher Auszehrung oder an fehlender psychischer Widerstandskraft. Kielar aber will überleben, allem, was ihn umgibt und was ihn bedroht zum Trotz. Er beobachtet den sich immer mehr verdichtenden Alptraum aus einer gewissen Entfernung. Das Grauenvolle wird zu einer alltäglichen Wirklichkeit, zu etwas so Einfachem und Allgemeinem, daß alle kleinen Erlebnisse und Begebenheiten des Tages im Vergleich dazu viel wichtiger sind. Also ist der immerwährende Kampf um das bedrohte Leben, um das Essen oder den Schutz vor der Kälte, auch ein Abwenden der Gedanken von der Wirklichkeit. Wie charakteristisch ist diese Szene, die sich im Keller, in der Leichenhalle abspielt, wo die Leichen der Erschossenen und Toten vor dem Abtransport in das Krematorium gelagert waren! Hierher pflegte Kielar zu einem »gemütlichen Plausch« zu kommen, wie er es selbst bezeichnete.

»Gienek Obojski hatte von irgendwo her Rohkartoffeln organisiert. Im Keller stand ein Koksöfchen (ein ›Kokser‹). Auf dem Ofen brieten wir Kartoffelpuffer. Wir saßen damals auf den ›Särgen‹ um das glühende Öfchen herum, die Kartoffelpuffer brutzelten, ihr angenehmer Geruch reizte verlockend die Nase und tötete den widerlichen Gestank des Chlors, mit dem die dort gelagerten Leichen bestreut wurden. Wir waren mit den Leichen bereits so vertraut, daß sie auf uns gar keinen Eindruck machten. Ich spielte oft Mundharmonika, und Ali sang. Es herrschte eine nette Stimmung wie bei einem Pfadfinderfeuer …«

Es ist sicher eine schockierende Szene, dafür aber echt, weil genau so die Wahrheit in Auschwitz war: hart und streng, ohne hochfahrendes Pathos. Am Ende dieses Vorgangs sagte einer der in der Leichenhalle feiernden Totengräber: »Wir ernähren uns wie die Hyänen von Kadaver … Bevor wir aber mit dem Rauch fortgehen, fressen wir uns wenigstens satt …«

Nur in dieser völlig entarteten, schrecklichen Welt waren solche Kontraste möglich. Noch erschütternder sind sie in den Teilen des Kielar-Buches, die das Lager in Birkenau betreffen, wo sich das Leben unter dem von den Feuerflammen aus den Krematorien rot brennenden Himmel und zwischen den Stößen von Menschen, die im Nu zu Asche wurden, abspielte. »Das Leben verlief normal«, sagt Kielar. »Normal, das heißt wie immer: die Mehrheit arbeitete schwer und war ständig den Schikanen, Schlägen, Selektionen, der Vergasung, Erschießung und Vernehmung der Politischen Abteilung ausgeliefert. Ihr Leben hing von einem Teller Suppe aus Steckrüben oder Brennesseln ab und von der guten Laune der SS