Apfeltage - Mélissa da Costa - E-Book
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Apfeltage E-Book

Mélissa da Costa

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Beschreibung

Das Glück des Lebens: ein alter Garten auf dem Land, eine frische Apfeltarte, selbstgepflückte Blumen

Ein Unfall hat Amande den über alles geliebten Mann genommen und ihr Leben aus den Angeln gehoben. Kurzentschlossen zieht sie sich in ein abgelegenes Haus in der Auvergne zurück. Doch während die Tage in ihrem Kummer ineinanderfließen, stößt sie zufällig auf die Gartenkalender der ehemaligen Besitzerin des Grundstücks. Die Notizen von Madame Hugues erzählen von einer Frau, die ihr Leben in die Hand nahm, indem sie säte, pflanzte und erntete. Unter Anleitung der handschriftlichen Notizen von Lucie Hugues macht sich Amande daran, den alten, lange verlassenen Garten wieder zum Leben zu erwecken. Im Laufe der Jahreszeiten schöpft sie aus dem Kontakt mit der Erde Kraft, sich mit dem Leben zu versöhnen und in jedem Tag ein Versprechen für ein bisschen Glück zu erkennen.

In diesem Mut machenden und zutiefst bewegenden Roman lädt uns Mélissa da Costa dazu ein, unsere Augen, unsere Sinne und unser Herz weit zu öffnen.

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Seitenzahl: 414

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ZUMBUCH

Die neunundzwanzigjährige Amande hätte nie gedacht, dass sie so viel Schmerz empfinden kann. Ein Unfall hat ihr den über alles geliebten Mann genommen und ihr Leben aus den Angeln gehoben. Deshalb bricht sie alle Brücken ab und zieht sich in ein abgelegenes Haus in der Auvergne zurück, wo sie sich ihrem Kummer stellen will. Dort stößt sie zufällig auf die Gartenkalender der ehemaligen Besitzerin des Grundstücks. Unter Anleitung der handschriftlichen Notizen von Madame Lucie Hugues macht sich Amande daran, den alten, verlassenen Garten wieder zum Leben zu erwecken. Im Laufe der Jahreszeiten schöpft sie aus dem Kontakt mit der Erde die Kraft, ihre Trauer zu überwinden und sich den Mitmenschen wieder zu öffnen. So wird jeder Morgen zu einem Versprechen für die Zukunft.

In diesem Mut machenden und zutiefst bewegenden Roman lädt uns Melissa Da Costa dazu ein, unsere Augen, unsere Sinne und unser Herz weit zu öffnen. Eine wunderbare Hymne an die Natur, die uns mit den Wechselfällen des Lebens versöhnt.

ZURAUTORIN

Melissa Da Costa, geboren 1990, wuchs im Burgund auf und begann schon als Kind zu schreiben. Ihr Tout le bleu du ciel, den sie im Selfpublishing veröffentlichte, wurde in Frankreich ein riesiger Erfolg. Ihr zweiter Roman Apfeltage erschien bei einem renommierten französischen Verlag und eroberte die Herzen von Presse und Publikum im Sturm. Mit über einer Million verkauften Büchern hat sie sich zum Shootingstar auf den französischen Bestsellerlisten entwickelt. Apfeltage erscheint in fünfzehn Ländern.

MELISSA

DA COSTA

APFELTAGE

ROMAN

Aus dem Französischen

von Nathalie Lemmens

Die französische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel LesLendemains bei Éditions Albin Michel, Paris.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © Éditions Albin Michel, Paris, 2020

Copyright © 2022 Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Favoritbuero

Umschlagabbildungen: © Florilegius/Bridgeman Images

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-27395-8V002

www.penguin-verlag.de

Für Florence, Mehdi und ihren heiligen Ölbaum,

der sie für immer miteinander verbindet

1

DASROSTIGESCHLOSSKLEMMT. Dem Mann bleibt nichts anderes übrig, als zu rütteln, den Schlüssel wieder herauszuziehen und es noch einmal zu versuchen. Auch hier ist es schrecklich heiß. Nicht so heiß wie in der Stadt oder unten in der Ebene, aber trotzdem. Fast dreißig Grad. Der Mann schnauft, scheint eine Sekunde nachzudenken, dann versetzt er dem hölzernen Türblatt einen leichten Stoß mit der Schulter und dreht gleichzeitig den Schlüssel. Ein Klicken. Die schwere Tür mit der abblätternden Farbe gibt nach und schwingt nach innen auf, hin zu Dunkelheit und Kühle.

Das Haus muss seit Monaten verschlossen gewesen sein. Ein schwacher ranziger Geruch hängt in der Luft, doch die Kühle macht den unangenehmen Eindruck wieder wett. Ich habe genügend Zeit, die Innentemperatur zu schätzen: zweiundzwanzig Grad, mehr nicht. Perfekt. Ich höre, wie sich der Mann neben mir bewegt, seine kunstlederne Aktentasche auf den Boden stellt. Schlüssel klirren. Er steckt sie in die Hosentasche.

»Ich suche den Lichtschalter«, erklärt er.

Folgsam stehe ich im dunklen Flur und warte. Ich habe nichts Besseres zu tun. Seit dem Abend des 21. Juni ist mir Warten zur zweiten Natur geworden. Zu meiner einzigen Beschäftigung. Er atmet schwer. Die Hitze? Das mühsame Vorwärtstasten? Ich helfe ihm nicht. Es kommt mir gar nicht in den Sinn. Ich warte.

Die Zeit verstreicht zwischen den dicken Mauern des alten Hauses. Mir fällt auf, wie still es ist, es gibt keine direkten Nachbarn. Auch das ist gut.

»So, da haben wir’s. Entschuldigen Sie.«

Unvermittelt geht im Flur das Licht an. Der Makler wischt sich über die Stirn, lächelt mich traurig an. Er zweifelt nicht daran, dass ich schreiend weglaufen werde. Die schummrige Glühbirne, der ranzige Geruch, eine Tür, die sich kaum öffnen lässt – wahrscheinlich hat sich das Holz verzogen … Aber ich laufe nicht schreiend weg. Ich betrachte den Flur, in dem ich stehe. Ein dunkler, fensterloser Flur. Kupferbrauner Fliesenboden. Weiße Wände. Fußleisten aus dunklem Holz. Ein Gemälde mit einer steinernen Kirche.

Ich höre, wie Papier hervorgezogen wird. Er liest seine Notizen durch. Er ist nicht auf dem Laufenden. Wieder trocknet er sich die feuchte Stirn. Ich rühre mich nicht. Stelle keine Fragen. Er wird von sich aus zu sprechen beginnen. Oder auch nicht. Mir ist es gleich.

»Das Haus stammt aus dem Jahr 1940. Die Fassade wurde vor zehn Jahren neu verputzt, das Dach im letzten Winter isoliert.«

Ich meine, ein zufriedenes Funkeln in seinem Blick zu erkennen. Bestimmt ein sensationelles Argument. Ich starre auf das Bild mit der Kirche, ohne es wirklich zu sehen.

»Sechzig Quadratmeter Wohnfläche. Die Tür rechts von Ihnen führt ins Schlafzimmer und die zu Ihrer Linken ins Bad.«

Er streckt eine Hand aus, sieht mich erwartungsvoll an. Es dauert ein paar Sekunden, bis mir klar wird, dass er mich auffordert, ein paar Schritte nach rechts zu gehen und die Tür aufzumachen. Mein Verstand funktioniert nur langsam. Schließlich geht der Mann mit einem weiteren traurigen Lächeln voran.

Diese Tür lässt sich leichter öffnen. Nichts Auffälliges, abgesehen von einem leisen Quietschen. Seine Schritte verklingen, das Geräusch wird verschluckt. Ich schließe auf einen Teppichboden.

»Einen Moment, ich öffne die Fensterläden.«

Ich warte. Höre, wie ein Griff gedreht wird. Ein dumpfes Quietschen. Ein schwacher Lichtstrahl. Ein kräftigerer Stoß, gefolgt von einem lauteren Quietschen. Eine Sekunde später fällt Licht in den Raum. Ein Sonnenstrahl, erfüllt von gemächlich schwebenden Staubkörnchen. Ich erkenne tatsächlich einen Teppichboden, er hat die gleiche kupferbraune Farbe wie die Fliesen im Flur. Und ein Bett. Groß. Das Kopfende aus schwerem, dunklem Massivholz. Ein altmodischer Schrank, unbehandeltes Holz, hoch. Mehr nicht. Das Wichtigste. Mir genügt es. Ich brauche nichts. Stille, Kühle und weniger Sonne.

»Das Fenster geht nach Osten hinaus. Wenn Sie Frühaufsteherin sind, können Sie den Sonnenaufgang über dem Wald beobachten.«

Er weiß nicht, dass ich nicht vorhabe, die Fensterläden zu öffnen. Dass ich im Dunkeln bleiben will.

»Haben Sie irgendwelche Fragen?«

»Nein.«

Überrascht, nicht überrascht? Ich achte nicht weiter auf seine Miene. Warte nur. Auf das Ende der Besichtigung. Die Schlüssel. Darauf, mich einzuschließen.

Wir gehen zurück in den Flur. Jetzt die linke Tür. Dasselbe Spiel. Quietschende Fensterläden. Hereinfallendes Licht. Eine altmodische Badewanne in einem scheußlichen Lachston. Ein Bidet. Wer benutzt denn heutzutage noch so etwas? Ein Becken. Etwas Stauraum.

»Sie müssten das Wasser erst ein wenig laufen lassen … Es war eine ganze Weile abgestellt. Ich könnte mir vorstellen, dass es zu Beginn etwas gelb sein wird.«

Gelbes Wasser. Klares Wasser. Wasser ist Wasser.

Als wir in den Flur zurückkommen, flackert das Licht. Die Glühbirne muss ausgetauscht werden. Er öffnet die letzte Tür, hustet leise. Vermutlich ist das Zimmer staubig. Er drückt auf den Schalter, aber es dauert ein paar Sekunden, bevor ein fahles Licht aufscheint. Das Zimmer ist im gleichen Stil eingerichtet wie die vorherigen: dunkle Fliesen, eine Küchenzeile mit dunklen Holzfronten, lachsfarbene Tapete mit weißem Bambusmotiv. Ein Fenster schwingt auf, die Läden folgen, um frischere Luft hereinzulassen. Es ist so hell, dass ich die Augen zukneifen muss. Diese Sonne ist nicht zu ertragen. Dieser blaue Himmel ist der reinste Hohn. Der Mann redet, und ich wende mich vom Fenster ab. Ich sehne mich zurück nach Kühle und Dunkelheit.

»Wie Sie sehen, hatte die frühere Besitzerin einen Garten. In letzter Zeit hat sich niemand darum gekümmert, aber wenn Sie mögen, können Sie ihn mit ein wenig Aufwand wiederherrichten.«

Er verstummt. Ich glaube, er sieht mich an.

»Sie schauen ja gar nicht hin. Ist alles in Ordnung, Madame? Ist Ihnen das Licht unangenehm?«

»Ich habe Migräne.«

»Verzeihen Sie. Dann mache ich die Läden wieder zu.«

Ich bin ihm dankbar dafür.

»Die ehemalige Besitzerin war eine alte Dame«, fährt er fort, davon überzeugt, all dies sei notwendig, um heute den Mietvertrag unterschreiben zu können. »Sie ist vor drei Jahren verstorben. Seitdem ist das Haus unbewohnt … Nicht, dass es in einem schlechten Zustand wäre, ganz im Gegenteil, ihre Tochter hat es hervorragend instand gehalten. Sie wohnt am anderen Ende des Landes, aber einmal im Jahr kommt sie her und erledigt alles, was anfällt. Wie etwa die Isolierung des Dachs im letzten Jahr.«

Ich höre kaum hin. Er merkt es nicht.

»Nein, das Problem ist, dass die Leute aus dem ländlichen Raum wegziehen. Es ist überall das Gleiche. Von einem Leben in der Auvergne träumt kaum noch jemand.«

»Bleiben die Möbel im Haus?«

Er nickt, kein bisschen verärgert, weil ich ihn unterbrochen habe.

»Selbstverständlich. Alles bleibt so, wie es ist. Die Tochter von Madame Hugues, der früheren Besitzerin, möchte die Einrichtung und den persönlichen Besitz ihrer Mutter behalten. Sie denkt darüber nach, irgendwann selbst hier einzuziehen … Vielleicht, wenn sie in Rente geht. Die persönlichen Sachen befinden sich oben auf dem Speicher. Sie sind alle ordentlich in Kartons verstaut, aber wenn sie Sie stören, könnte ich die Tochter eventuell kontaktieren.«

»Nein, das stört mich nicht.«

Zufrieden reibt er sich die Hände.

»Wollen Sie sich dann noch einmal in Ruhe umsehen?«

»Nein. Schon in Ordnung.«

»Der Garten vielleicht …«

»Ich habe es eilig, wissen Sie.«

»Aha …«

»Könnten wir den Vertrag jetzt gleich unterschreiben?«

Ich sehe ihm an, dass er aus allen Wolken fällt. Mit einem so leichten Sieg hat er nicht gerechnet. Ein Haus, das er seit drei Jahren am Hals hat. Nur eine Besichtigung, und die Sache ist geritzt.

»Sind Sie sicher?«

Sein Gesichtsausdruck verrät mir, dass er selbst überrascht ist von seiner Frage.

»Ja.«

»Wie Sie meinen … Ja, ich habe die Unterlagen im Auto, aber ich brauche von Ihnen noch einige Nachweise.«

Noch bevor er den Satz beendet hat, beginne ich schon, in meiner Handtasche zu kramen. Ich habe alles vorbereitet, sämtliche erforderlichen Dokumente säuberlich in Klarsichthüllen gesteckt. Den Steuerbescheid, meine letzten Gehaltsabrechnungen, die Bescheinigung vom Notar bezüglich des Testaments und der Summe, die ich erben werde, meinen Ausweis.

»Oh … Sie haben alles dabei? Perfekt!«

Wir setzen uns an den Küchentisch, um den Mietvertrag auszufüllen und die notwendigen Formalitäten zu erledigen.

»Sie machen mich neugierig.«

Es dauert ein paar Sekunden, ehe mir auffällt, dass er mit mir redet. Ich sehe, dass er meine Unterlagen wieder zusammengeschoben hat und mich, beide Hände flach auf den Tisch gelegt, aufmerksam mustert.

»Verzeihung?«

»Stammen Sie hier aus der Gegend?«

»Nein. Ich habe im Großraum Lyon gewohnt.«

»Keine Verwandten in der Nähe?«

Ich schüttele den Kopf. Ein Schnalzen gibt seiner Verwunderung Ausdruck.

»Es ist ungewöhnlich, dass eine alleinstehende Frau in eine derart abgeschiedene Gegend zieht.«

Ich antworte nicht, und damit ist unser Gespräch beendet. Ich gebe ihm die beiden unterschriebenen Vertragsexemplare und den blauen Kuli zurück.

»Gut, dann kommen wir jetzt zum Übernahmeprotokoll.«

Ich warte, bis das Auto des Maklers das Ende der Auffahrt erreicht und in dem dichten Wald verschwindet, der die umliegenden Hügel bedeckt. Dann schließe ich die schwere Tür hinter mir. Dunkelheit, Stille, Kühle. Etliche Sekunden lang verharre ich mit dem Rücken an das Holz gelehnt, vergewissere mich, dass er nicht zurückkommt, dass ich endlich allein bin.

Ich habe nicht viel mitgebracht. Ein einzelner Koffer liegt im Kofferraum meines Wagens, und der kann warten. Alles andere, die Fotos vor allem, habe ich zurückgelassen. Ich will nichts hier haben, was mich an mein früheres Leben erinnert. Mein Leben vor dem 21. Juni und der Nacht, die darauf folgte.

Wie schaffen die Leute das? Wie können sie ihr Leben unverändert wiederaufnehmen, nachdem ihr gesamtes Universum zusammengebrochen ist? Nach ein paar Tagen wieder zur Arbeit gehen, in derselben Wohnung, demselben Viertel weiterleben … Das übersteigt meine Kräfte. In einer einzigen Nacht wurden sie beide aus meiner Welt gerissen, und von dem Moment an hat diese Welt, in der ich mich seit neunundzwanzig Jahren bewegte, die Welt, in der ich atmete und aufwachte, aufgehört zu existieren.

Die Schlüssel habe ich bei Anne gelassen. Sie soll damit machen, was sie für das Beste hält. Ich habe die Wohnung nicht ausgeräumt. Dazu hatte ich weder die Zeit noch den Mut. Ich wollte so schnell wie möglich weg. Alles ist so geblieben, wie es war. Bestimmt steht der Tee, von dem ich gerade getrunken hatte, als es an der Gegensprechanlage läutete, noch auf der Anrichte. Bestimmt liegt der Katalog, in dem ich gerade blätterte, noch aufgeschlagen neben der Tasse, und Benjamins Hausschuhe warten im Flur.

Als ich aus dem Krankenhaus kam, wollte ich nur noch fliehen, vor dem Sommer, seinem glühenden Sonnenschein und den fröhlichen Menschen, die sich am Ufer der Rhône versammelten. Es wäre mir lieber gewesen, sie wären im Winter gestorben, an einem Abend mit sintflutartigem Regen, unter einem schwarzgrauen Himmel. Nicht zum Klang von Orchestern, Böllern und Gelächter, nicht an jenem ersten Sommertag.

Nachdem die Sonne verschwunden ist, öffne ich die Tür erneut. Zuvor habe ich mehrmals zwischen den geschlossenen Läden hindurchgespäht, um auch ganz sicher zu sein. Der Tag hat noch eine Zugabe gegeben, und es ist schon spät, wahrscheinlich zehn Uhr. Der letzte rote Schimmer der untergegangenen Sonne erlischt und verschmilzt mit dem Blaugrau der anbrechenden Nacht. Ich hole meine Sachen aus dem Kofferraum. Mit einem dumpfen Laut fällt der Rollkoffer auf den Kies. Meine Schritte erscheinen mir lauter als sonst. Zum ersten Mal höre ich eine derart undurchdringliche, lastende Stille. Es kommt mir vor, als sei ich von dem Wald um mich herum verschluckt worden.

Ich stelle den Koffer vor die Schlafzimmertür und gehe zurück zum Wagen. Dort liegt noch eine große Plastiktüte, viel schwerer als der Koffer. Mein Überlebenspaket. Darin etwa fünfzig Konserven, Reis, Nudeln und alle möglichen Frühstücksflocken. So bald werde ich das Haus nicht mehr verlassen.

Ich würde gern schlafen. Mir scheint, ich sei müde, aber auch das gehört zu den Dingen, die sich nur schwer bestimmen lassen, da die Schlaflosigkeit meine biologische Uhr vollkommen durcheinandergebracht hat. Mir ist ein wenig kalt. Ich erschauere. Ich lege mir eine Decke um die Schultern und nehme mein Handy aus der Handtasche. Zwei SMS von meiner Mutter. Eine E-Mail des Notars bezüglich der Testamentsformalitäten. Ein verpasster Anruf von Anne. Ich kontrolliere, ob ich Empfang habe – gar nicht mal so schlecht –, und beschließe, sie zurückzurufen. Sie ist die Einzige, deren Stimme ich noch ertrage. Denn sie ist seine Mutter. Sie teilt meinen Schmerz mehr als jeder andere.

Ich fürchte, sie könnte nicht rangehen, für sie ist es sicher schon spät, aber sie meldet sich gleich nach dem zweiten Klingeln.

»Amande, ich habe auf deinen Anruf gewartet.«

»Ich habe meine Sachen eingeräumt.«

Ich lüge. Sie ahnt es, aber sie ist mir deswegen nicht böse.

»Bist du heute Nachmittag angekommen?«

»Ja.«

»Wie ist das Haus?«

»Ich werde bleiben. Ich habe den Vertrag unterschrieben.«

Und auch jetzt kein Kommentar zu der irrwitzigen Entscheidung, die ich vor wenigen Tagen erst getroffen habe. Meine eigene Mutter hätte dahingehend keine Hemmungen gehabt.

»Fühlst du dich dort wohl?«, fragt sie lediglich.

Nein, ich fühle mich hier nicht wohl. Ich fühle mich nirgends wohl. Hier ist es vielleicht weniger schlimm als anderswo, also bejahe ich ihre Frage.

»Bist du in der Wohnung gewesen?«, erkundige ich mich anschließend.

»Noch nicht.«

Ich spüre, dass sie sich genauso sehr davor fürchtet, die Räume zu betreten, wie ich. Und ich verstehe sie. Es ist noch so frisch.

»Ich gehe mit Richard zusammen hin.«

»Ja, das ist besser.«

Das Schweigen dehnt sich aus. Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll, und sie auch nicht. Sie fängt sich als Erste wieder.

»Soll ich ein wenig sauber machen und aufräumen, bevor du zurückkommst?«

»Das ist nicht nötig.«

»Wirklich?«

»Ich glaube nicht, dass ich noch einmal dorthin zurückgehe.«

Ich höre sie schlucken.

»Soll ich sie dann untervermieten … Vorerst?«

Sie ist immer noch davon überzeugt, dass ich früher oder später in unser gemeinsames Zuhause zurückkehren werde. Aber ich weiß, dass ich nie wieder dort leben kann.

»Dann verlierst du wenigstens nicht jeden Monat Geld … Jetzt, wo du zusätzlich noch die Miete in der Auvergne zahlst.«

»Ja, du hast recht … So können wir es machen.«

Ich vertraue Anne. Sie bewahrt trotz ihres Schmerzes einen kühlen Kopf und kann noch klar denken.

»Ich kann mich diese Woche darum kümmern.«

»Einverstanden.«

»Richard geht am Mittwoch zum Notar. Dann brauchst du nicht eigens herzukommen.«

»Danke.«

Ich dränge zurück, was in mir aufzuwallen droht. Sie sind so aufmerksam. Ich will jetzt nicht anfangen zu weinen.

»Wenn dir die Zeit zu lang wird … oder du dich einsam fühlst …«

»Ich weiß, Anne.«

»Dann ruf uns an …«

»Das mache ich.«

»Lass dich nicht unterkriegen.«

Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll. Ihre Worte klingen wie eine besorgte Warnung. Ich schlucke und gebe die einzige Antwort, zu der ich fähig bin: »Ich glaube, ich versuche, ein bisschen zu schlafen.«

»Du hast recht, ruh dich aus. Wir telefonieren bald wieder, ja?«

»Ja.«

Ich habe ein paar Stunden geschlafen. Zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens, dann kam wieder diese übersteigerte Wachheit. Mein Gehirn weigert sich loszulassen, sich für ein paar Stunden abzumelden und mir die Ruhe zu gönnen, die ich brauche. So geht das seit achtzehn Tagen.

Ich wandere ziellos durch das Haus. Räume die Konservendosen in die Schränke, das hält mich davon ab, zu viel nachzudenken. An der Wohnzimmerwand entdecke ich einen alten Kalender. Niemand hat ihn seit dem Tod von Madame Hugues heruntergenommen, nicht einmal ihre Tochter. Die einzelnen Tage sind mit Anmerkungen versehen. Ich nehme ihn ab. Hier brauche ich nichts, was mir das Verstreichen der Zeit vor Augen führt. Jetzt nicht mehr. Danach rücke ich einen Stuhl an die gegenüberliegende Wand, wo eine alte Uhr mit einem Rosenstrauß auf dem Zifferblatt halb drei anzeigt. Die Herrin des Hauses ist gestorben, aber die Batterien nicht. Die Zeiger drehen sich langsam weiter, fast provozierend weisen sie mich darauf hin, dass die Zeit noch immer vergeht, dass das Leben nicht zu Ende ist. Aber das stimmt nicht. Das Leben ist zu Ende. Also nehme ich die Uhr von der Wand und werfe sie auf den Boden. Ich wollte sie nicht kaputt machen, nicht übermäßig grob sein, aber das Zifferblatt zerspringt in tausend Stücke, und die Zeiger verbiegen sich. Einer von ihnen landet unter der Anrichte, wo ihn niemand jemals wiederfinden wird. Es gibt keine Uhrzeiten mehr. Es gibt keine Daten mehr. Von nun an gibt es nur noch demnächst oder irgendwann. Keine Tage mehr, auch keine Nächte. Nur mich in diesem stillen Haus und meinen Kummer.

Drei Sonnen sind auf- und wieder untergegangen, seit ich die Haustür hinter meinen beiden einzigen Gepäckstücken geschlossen habe. Ich beobachte sie zwischen den geschlossenen Fensterläden hindurch, diese Sonnen, die das Leben da draußen erhellen. Die beiden hölzernen Flügel sind durch einen schmalen Spalt getrennt, gerade breit genug, dass ich den Sommer belauern kann. Ich habe mich nicht mehr nach draußen getraut, nicht einmal nachts. Ich habe kein Bedürfnis danach. Ich glaube, ich habe ein-, zweimal geschlafen. Ein paar Stunden. Ich hatte keine Albträume, das ist gut. Ich glaube, mein Gehirn ist mittlerweile zu erschöpft, um die grauenvollen Bilder von Benjamins entstelltem Körper heraufzubeschwören.

Als während der vierten Sonne ein Klopfen durch das Haus hallt, ist meine erste Reaktion Angst. Es ist idiotisch. Ich habe mich verbarrikadiert, hier bin ich sicher. Trotzdem habe ich Angst. Angst vor dem Öffnen? Angst davor, dass mir die Sonne direkt ins Gesicht scheint? Angst davor, jemandem gegenüberzustehen? Ich weiß es nicht. Wieder klopft es, und mir bleibt nichts anderes übrig, als mich zu bewegen, langsam, diesen scheinbar endlosen Flur entlang.

»Ja?«

Ich öffne nicht. Ich drücke mich an das hölzerne Türblatt, warte auf eine Antwort.

»Guten Tag, ich komme von der Firma Fibrenet. Man hat uns mitgeteilt, dass das Haus wieder bewohnt ist. Wollen Sie nicht aufmachen?«

Ich weiß es nicht. Plötzlich habe ich einen Kloß im Hals, als setzte sich die ganze Angst dort fest.

»Madame?«, fragt er noch einmal.

Also öffne ich. Ich weiß nicht genau, wieso. Und es trifft mich wie ein Schlag. Ich muss die Augen ein paar Sekunden zukneifen, bis sie sich an die Helligkeit gewöhnt haben.

»Entschuldigen Sie die Störung, ich bin Vertriebstechniker für die Firma Fibrenet. Wir bieten an, die Häuser hier in der Gegend mit einem Zehn-Megabit-Internetanschluss auszustatten. Der Herr vom Maklerbüro im Nachbardorf hat mir gesagt, dass Sie gerade eingezogen sind.«

Die Lichtblitze lösen sich auf, und ich erkenne den Umriss des Mannes. Mein erster Besucher, seit ich mich hier eingeschlossen habe. Ein kleiner, gedrungener Mann.

»Kann ich einen Moment reinkommen, um Ihnen unser Angebot vorzustellen?«

Sein Lieferwagen steht im Hof. Ein weißer Transporter mit dem roten Schriftzug des Unternehmens. Er folgt meinem Blick und fügt mit einem angedeuteten Lächeln hinzu: »Das ist kein Trick, Madame. Sehen Sie, da steht der Wagen unserer Firma. Ich habe bei Ihren Nachbarn achthundert Meter weiter einen Internetanschluss gelegt. Sie können sie fragen. Sie werden Ihnen auch sagen, dass sie zufrieden sind, es funktioniert ziemlich gut … Für diese Gegend, meine ich.«

Beim Sprechen stellt er einen Fuß auf die Stufen vor der Tür. Er glaubt, ich hätte es nicht bemerkt. Seine Hand legt sich an den Türrahmen, er ist kurz davor, in das Haus einzudringen, also schüttele ich den Kopf.

»Nein, ich bin nicht interessiert.«

Er mustert mich einen Moment mit gerunzelter Stirn. Ich weiß nicht, was er sieht. Zweifellos eine junge, zu blasse Frau mit ungewaschenem, fettigem blondem Haar, deren Körper in der zu weit gewordenen Kleidung fast verschwindet. Ich hätte nicht gedacht, dass man innerhalb von zweiundzwanzig Tagen so viel abnehmen kann.

»Vielleicht gehen Sie ja über Ihr Handy ins Internet«, versucht er es erneut. »Wir haben auch Paketlösungen mit mobilem Datenempfang und Hausanschluss im Angebot.«

»Nein, das interessiert mich nicht.«

Er richtet den Blick auf das Dach.

»Sie haben keine Fernsehantenne?«

Er wirkt überrascht.

»Nein.«

»Ohne Internetanschluss werden Sie niemals fernsehen können, Madame.«

Ich beginne, mich über ihn zu ärgern – über ihn und die Sonne, die er in mein Haus lässt.

»Das ist mir egal. Es ist nicht wichtig.«

Er zieht den Fuß zurück, stellt ihn wieder auf den Kiesbelag des Hofs. Er sieht ein, dass er verloren hat.

»Aber Sie müssen sich doch darüber informieren, was in der Welt vor sich geht!«

Ohne zu blinzeln, starre ich ihn an.

»Welche Welt?«

Das bringt ihn aus dem Konzept. Er verabschiedet sich mit einem knappen Nicken, geht zurück zu seinem Lieferwagen und fährt ohne ein weiteres Wort davon.

Als die vierte Sonne schließlich untergeht und die Kälte wie eine langsame Welle ins Haus kriecht, dringt zum zweiten Mal an diesem Tag ein Geräusch an meine Ohren. Diesmal ist es anders, weiter weg, gedämpfter. Ein explodierender Böller. Bald folgen weitere deutlich vernehmbare Explosionen, jeweils im Abstand von einigen Sekunden. Ich fürchte mich vor der Erkenntnis. Wie erstarrt bleibe ich vor der Schale sitzen, in der Instantnudeln schwimmen. Ich könnte ans Fenster gehen, zwischen den Fensterläden hindurchspähen und mit eigenen Augen sehen, was ich bereits ahne. Doch mein Körper rührt sich nicht. Ich ziehe es vor, die Tage zu zählen. Vier Sonnen. Zweiundzwanzig Tage seit dem 21. Juni. Heute ist der 13. Juli. Unten im Dorf, vielleicht auch weiter entfernt, in den Nachbardörfern, feiern die Menschen den Vorabend des Nationalfeiertags. Familien haben sich in den Gärten, am Straßenrand, vor dem Rathaus versammelt. Sie haben den Blick zum Himmel erhoben, bewundern die sprühenden bunten Funken. Heute ist der 13. Juli. Mein dreißigster Geburtstag. Vor Kurzem, sehr Kurzem, war ich noch neunundzwanzig Jahre alt. Ich teilte mein Leben seit vier Jahren mit Benjamin. Wir hatten vor, unsere kleine Wohnung im Großraum Lyon zu verlassen und in ein Haus auf dem Land zu ziehen. Aber vor allem war gerade mein achter Schwangerschaftsmonat angebrochen. Ich bereitete mich darauf vor, Mutter zu werden. Sie hätte Manon heißen sollen.

2

DENENTSCHLUSS, in eine menschenleere Gegend zu ziehen, fasste ich binnen weniger Tage. Ich musste dem Sommer entfliehen. Musste Ruhe finden, um nachzudenken. An sie zu denken. Dort war das unmöglich. Im Krankenhaus ließ man mich keine Minute allein. Sie haben es nie gesagt, aber ich habe es erraten. Sie hatten Angst, ich würde mir die Pulsadern aufschneiden. Es gab da diesen Psychologen, der versuchte, mich zum Reden zu bringen, aber er hat nicht viel erreicht. Ich stand unter Schock, war unfähig zu begreifen, dass mein Universum in Trümmern lag. Buchstäblich. Nach dem Krankenhaus nahm Anne mich mit zu ihnen nach Hause, in ihr Gästezimmer, das einst Benjamins Zimmer gewesen war, als er noch bei ihnen lebte. Ich habe nicht widersprochen, dazu fehlte mir die Kraft. Yann, Benjamins Bruder, blieb regelmäßig über Nacht, manchmal mit Cassandra, manchmal ohne sie. Anne bestand darauf, dass wir die Mahlzeiten gemeinsam einnahmen, auch wenn keinem von uns der Sinn nach Reden stand. Wir müssten uns gegenseitig stützen, sagte sie. Aber so hockten wir zu viert in einem Haus, das mir viel zu eng erschien … Außerdem gab es dort zu viel Licht. Im Nachbargarten schrien Kinder, veranstalteten Wasserschlachten. Manchmal drang Grillgeruch ins Wohnzimmer, gefolgt von Gelächter, Geschirrklappern und dem Klirren aneinanderstoßender Gläser. Anne tat so, als höre und rieche sie nichts. Aber ich konnte es einfach nicht ertragen.

Und dann kam meine Mutter von ihrer Insel. La Réunion. Dort hatte sie sich niedergelassen, sobald ich alt genug war, um allein zu leben und auf eigenen Beinen zu stehen. Anscheinend hatte sie schon immer davon geträumt. Aber nun kam sie zehn Tage nach der Beerdigung zurück nach Frankreich, in das Haus von Anne und Richard.

»Es tut mir so leid. Das war der erste Flug, den ich nehmen konnte.«

Ich habe nicht verstanden, warum Anne sie eingeladen hat, ebenfalls bei ihnen zu wohnen. Bestimmt dachte sie, ich bräuchte in dieser schweren Zeit die Unterstützung meiner Mutter. Sie hat sich getäuscht. Ich habe meiner Mutter ihre ständige Kritik an Benjamin nie verziehen.

»Ein arbeitsscheuer Hippie ist das, mehr nicht.«

Außerdem habe ich ihr nicht verziehen, dass sie während meiner gesamten Schwangerschaft so distanziert geblieben ist. Ich glaube, es gibt vieles, was ich ihr niemals verziehen habe, und ihr Fehlen bei der Beerdigung war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

»Ich werde dir helfen, wieder auf die Beine zu kommen, Liebes.«

Ich weiß nicht, wie ich die ersten beiden Tage überstanden habe. Wahrscheinlich war ich in Gedanken einfach viel zu weit weg. Aber als sie mir am dritten Tag riet, möglichst schnell wieder arbeiten zu gehen, um »mein Leben in den Griff zu bekommen und nicht in Trübsal zu versinken«, forderte ich sie auf, wieder abzureisen. Als meine Mutter empört reagierte, sprang Anne für mich in die Bresche. Ich werde ihr auf ewig dankbar dafür sein, dass sie mir diese zusätzliche Krise erspart hat. Am nächsten Morgen flog meine Mutter zurück auf ihre Insel, und ich studierte die Anzeigen im Internet. Meine Suchanfrage lautete Haus zur Miete auf dem Land. Die Auvergne gehörte zu den ersten Treffern meiner Recherche. Ich habe nicht lange nachgedacht. Ich musste so schnell wie möglich weg. Beim ersten Besichtigungsangebot packte ich einen unpersönlichen Koffer und fuhr los.

Benjamin hatte nichts von dem arbeitsscheuen Hippie, für den meine Mutter ihn hielt. Zugegeben, in seinem braunen Haar waren noch ein paar Spuren der Dreadlocks zu sehen, die er in seiner Jugend getragen hatte. Sie verliehen ihm eine besondere Note, die mir gefiel. Als ich ihn kennenlernte, arbeitete er in einer Maison des jeunes et de la culture, einem Jugend- und Kulturzentrum, in Lyon. Er trug weite Jeans und einen Ohrring und war offen für jeden. Er verhielt sich stets unbefangen, ganz gleich, in welcher Gesellschaft. Er war weder eingebildet noch zu geschwätzig, das hätte mich abgeschreckt. Nein, er war einfach nur ungezwungen, entspannt, fühlte sich wohl in seiner Haut. Und er hatte ein gutes Herz. In der MJC war er als Sozialpädagoge angestellt. Die Jugendlichen nannten ihn Benji. Er war das genaue Gegenteil von mir – und das ist er immer geblieben. Groß und dunkel, ich dagegen zierlich und blond. Freundlich und aufgeschlossen, ich dagegen zurückhaltend und misstrauisch. Ich arbeitete im Bezirksrathaus des achten Arrondissements, und wir planten in Zusammenarbeit mit diversen Organisationen, darunter Anwohnervereinen, Seniorentreffs und den Jugendlichen aus der MJC, einen Abend mit Gratissuppenküche für Bedürftige. Also hatte ich mit dem Leiter der MJC des achten Arrondissements einen Termin vereinbart, um unser Projekt vorzustellen, und Benjamin war mir als Ansprechpartner zugeteilt worden. Ich hatte noch nie zuvor eine MJC betreten, und er hatte an jenem Tag alles getan, damit ich mich wohlfühlte. Er war freundlich gewesen, hatte mir Kaffee angeboten, den ich dreimal ablehnte, und mir vorgeschlagen, nach unserer Besprechung noch bei einer Bandprobe seiner Jugendlichen im Nebenraum zuzusehen. Das war keine spezielle Verführungstaktik von ihm, er versuchte lediglich, der kleinen, nervösen Blondine in ihrem schicken Kostüm die Anspannung zu nehmen. Doch ich blieb in der Defensive, beschränkte mich auf mein Suppenküchenprojekt und verzog jedes Mal verlegen das Gesicht, wenn er mich anlächelte. Mit einem Mann wie Benjamin hatte ich noch nie näher zu tun gehabt. Ich war auf der Hut. Er gehörte ganz einfach nicht in meine Welt.

Er brauchte einen Monat, in dessen Verlauf wir uns immer wieder wegen unseres Projekts getroffen hatten, um das Eis zu brechen und eine gewisse Kameradschaft zwischen uns zu begründen. Am Abend der Suppenküche, als der Duft von gekochtem Gemüse in der Luft hing und Sechzigerjahre-Rock-’n’-Roll aus den Lautsprechern dröhnte, gelang es ihm auf wundersame Weise, mich hinter das Hauptzelt zu führen. Wir hatten ein paar Bier getrunken. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung. Ich wehrte ihn nicht ab, als er mich zu küssen versuchte. An diesem Abend habe ich meine fehlende Hälfte gefunden.

Vor einigen Jahren, das war noch in meinem früheren Leben, habe ich einen Artikel gelesen, dem zufolge es mittlerweile unüblich geworden sei, eine festgelegte Trauerzeit einzuhalten. Das allerdings habe für die Menschen durchaus problematische Folgen. Früher dauerte die offizielle Trauerphase Wochen, wenn nicht gar Monate. Die Frauen trugen als Ausdruck ihres Kummers Schwarz, ein langer Kreppschleier bedeckte ihr Gesicht, und jeglicher Schmuck war verboten, es sei denn, er bestand aus geschwärztem Holz. Männer befestigten ein schwarzes Kreppband um ihren Hut oder trugen eine schwarze Binde am Arm. Sämtliche Aktivitäten kamen zum Erliegen, und die Familien scharten sich zusammen. Man ließ den Menschen Zeit, ihren Schmerz zu pflegen, sich zu erinnern und sich angemessen zu verabschieden. Heute soll der Alltag weitergehen, kaum dass die Beerdigung vorbei ist: Arbeit, Rechnungen … Die Gesellschaft hat für Trauer keine Zeit mehr.

Aber ich kann das nicht. Darum habe ich mich in die Auvergne zurückgezogen. Ich brauche Zeit.

Meine Mutter hat noch ein paarmal versucht, mich zu erreichen. Ich habe die Mailbox rangehen lassen, obwohl ich bereits wusste, dass ich ihre Nachrichten nicht abhören würde. Sie will sicher wissen, wann ich wieder anfange zu arbeiten. Einen anderen Grund, mich anzurufen, hat sie nicht. Im Rathaus hat man mir unbezahlten Urlaub angeboten, noch bevor ich überhaupt Zeit hatte, mir selbst Gedanken darüber zu machen. Wahrscheinlich hatten sie Angst, ich würde mich sonst immer wieder krankschreiben lassen. Offenbar greift das in den öffentlichen Verwaltungen gerade um sich. Ich habe akzeptiert. Vorerst brauche ich kein Geld.

Wegen meiner Schlaflosigkeit kann ich mich kaum auf den Beinen halten und verbringe einen Großteil des Tages im Bett. Ich starre an die Decke. Meine Augen brennen. Ich müsste schlafen. Können diese Albträume mich nicht endlich in Frieden lassen? Ich entdecke einen Fleck an der Zimmerdecke. Wahrscheinlich Feuchtigkeit, die vom Dachboden aus durchsickert. Ich lasse den Fleck wachsen, bis er mein gesamtes Blickfeld ausfüllt und verschwimmt. Ich schlafe ein. Ohne es überhaupt zu bemerken.

Ich erwache mit einem wohligen Gefühl. Ich spüre, dass ich über drei Stunden tief und fest geschlafen habe. Vielleicht sogar vier. Ich habe keine Ahnung, die Uhr ist kaputt, und mein Handy liegt tief in meiner Handtasche vergraben. Ich lasse die Decke, in die ich mich gewickelt hatte, im Bett zurück und gehe durch den Flur in das hintere Zimmer, das Esszimmer. Dort bücke ich mich und spähe durch den schmalen Spalt zwischen den beiden hölzernen Fensterläden. Es ist dunkel. Nacht. Besser noch, ich stelle fest, dass es regnet und der Himmel von dicken Wolken verhangen ist. Nicht ein Stern ist zu sehen. Ich zögere, wie erstarrt stehe ich vor den geschlossenen Läden. Ein verrückter Gedanke … Eine Minute oder zwei. Nicht mehr. Ich gehe hinaus in den Regen, in meinem Schlafanzug, den ich seit mehreren Sonnen nicht mehr ausgezogen habe. Sieben vielleicht. Ich habe jedes Zeitgefühl verloren.

Es ist ein feiner Nieselregen, der meine Haare kaum feucht werden lässt und nicht stark genug ist, um den Baumwollstoff des Schlafanzugs zu durchdringen. Die Luft riecht nach Erde, wie immer, wenn es regnet. Ein intensiver Humusgeruch. Zögerlich treten meine Füße auf das rutschige Gras. Ich kann mir nicht helfen, ich denke an Benjamin darunter, in seinem Sarg aus hellem Holz. Liegt er darin auch geschützt? Anne hat den Sarg ausgesucht. Ich lag im Krankenhaus. Man hatte mir in der Nacht des 21. Juni in aller Eile den Bauch aufgeschnitten, und die Narbe sah nicht gut aus. Die Ärzte fürchteten, sie könnte sich entzünden. Ich durfte nur kurz zur Beerdigung, und sie hatten mir verboten, stehen zu bleiben. Es war ein schöner Sarg. Anne hatte ein elegantes lackiertes cremefarbenes Holz ausgewählt.

Bei ihr hat man mir keine Wahl gelassen. Offenbar war sie noch nicht vollständig ausgebildet. Für mich hatte sie wie ein echtes Baby ausgesehen, ein vollauf lebendiges Baby, das weinen und an meiner Brust hätte trinken können. Aber sie atmete nicht. Ihr Herz hatte zu lange nicht geschlagen. Man hat mir erklärt, dass bei tot geborenen Föten grundsätzlich eine Feuerbestattung durchgeführt wird. Sie wurde noch am selben Tag eingeäschert, aber ihre Asche wurde erst drei Tage später im Garten der Erinnerung beigesetzt, zur gleichen Zeit, als man auch Benjamin in seinen Sarg legte. Bei ihr brauche ich mir wenigstens keine Sorgen wegen des Regens zu machen.

Ich weiß nicht genau, wohin ich gehe, aber ich setze einen Fuß vor den anderen. Bei diesem bedeckten Himmel, in dieser mond- und sternenlosen Nacht kann ich die Umrisse des Hauses nicht erkennen. Alles ist dunkel. Schemenhaft erahne ich die Kiefernwälder ringsum, mehr nicht. Also konzentriere ich mich auf die Gerüche. Die Erde, der Regen, das Harz, die Kiefernnadeln. Mir waren die Gerüche der Natur nie vertraut. Im Gegensatz zu Benjamin. Er ist im Jura aufgewachsen. Seine Eltern sind in den Großraum Lyon gezogen, als er achtzehn war. Und er hat die Liebe zur Natur, zu weiten, offenen Räumen nie verloren. Als er erfuhr, dass ich schwanger war, stand nicht eine Sekunde zur Debatte, in der Stadt zu bleiben. Er wollte, dass wir spätestens ein Jahr nach der Geburt unsere Jobs kündigten und aufs Land zogen. Wohin? Das hatten wir noch nicht entschieden. Er ging die Anzeigen durch, zeigte mir einige Fotos. Ich habe seinen Enthusiasmus nie geteilt, und meine vorgetäuschte Begeisterung war wenig überzeugend, aber er gab die Hoffnung nicht auf. »Du wirst schon sehen, wenn wir erst einmal da sind …« Und ich dachte, dass er womöglich recht hatte. Ich war mitten in Lyon aufgewachsen, der Parc de la Tête d’Or war für mich der reinste Nationalpark, ich musste das alles erst noch kennenlernen.

Meine Mutter war ein eingefleischter Stadtmensch. Zumindest während der ersten fünfzig Jahre ihres Lebens. In der Stadt konnte sie regelmäßig neue Freundinnen finden, abends etwas trinken gehen und außerhalb der Arbeit ein Sozialleben führen, obwohl sie weder einen Mann noch eine richtige Familie hatte. Doch als ich mein Studium begann und von da an den größten Teil meiner Zeit auf dem Campus verbrachte, kam sie zu dem Schluss, dass ich nun alt genug sei, um auf eigenen Beinen zu stehen, und entschied, endlich ihren Lebenstraum zu verwirklichen und auf eine tropische Insel zu ziehen. Ich schaffte es, auf eigenen Beinen zu stehen. Ich hatte nur nicht unbedingt Lust dazu. Jedenfalls noch nicht so schnell.

Ob mit oder ohne Mutter, ich habe das Stadtleben immer gemocht. Dieses ständige Gewusel, das Gefühl, niemals allein zu sein, immer Menschen um mich zu haben, immer in Bewegung zu sein.

Und doch wandere ich heute Abend durch den Regen, in diesem abgelegenen Dorf inmitten der Kiefernwälder der Auvergne. Das ist bestimmt nicht das Haus, das Benjamin für uns ausgesucht hätte, aber die Umgebung hätte er geliebt, da bin ich mir sicher. Und so habe ich, umweht vom Duft nach Harz und frischer Erde, ein wenig das Gefühl, sein Projekt weiterzuverfolgen.

Ich putze Tag und Nacht. Das Haus ist nicht sonderlich schmutzig oder unaufgeräumt, aber ich muss mich beschäftigen. Da ich nicht schlafen kann, vergeht die Zeit unendlich langsam. Ich muss sie ausfüllen, sonst kehren meine Gedanken unablässig zu jenem Abend des 21. Juni zurück, zu Benjamins leblosem Körper, zu dem blutverschmierten Fötus. Ich fürchte mich so sehr vor diesen Bildern, dass ich mich mit Arbeit betäube, bis ich nicht mehr denken kann. Ich schrubbe die Anrichte in der Küche so energisch, dass ich die oberste Schicht des Schwamms abscheuere. Ich sortiere die Konserven in alphabetischer Reihenfolge. Brokkoli. Chili con Carne. Paella. Ratatouille. Rindfleisch in Tomatensoße. Sellerie. Spargel. Spinat. Zucchini-Rahmgemüse. Jeden Tag werden es weniger, aber ich fühle mich noch nicht bereit, der Welt da draußen entgegenzutreten.

Ich stöbere noch das kleinste Staubkorn auf den dunklen Lampenschirmen auf, inspiziere gründlich sämtliche Wandschränke. Hier eine alte Lokalzeitung. Dort ein vergilbtes Telefonbuch, dazu ein Kühlschrankmagnet mit den wichtigsten Notfallnummern. Im Wohnzimmerschrank zwei Bücher von Émile Zola und eine Straßenkarte. Die Tochter von Madame Hugues hat beim Aufräumen ein paar Kleinigkeiten übersehen. Ich stopfe all diese Dinge, die mir nicht gehören, in einen großen Müllbeutel und beschließe, ihn irgendwann, wenn ich mich nicht mehr so schwach fühle, auf den Speicher zu bringen.

Erst im letzten Moment fällt mir der drei Jahre alte Kalender ein, den ich neulich von der Wand genommen habe. Er liegt noch auf dem Tisch. Ich will ihn schon zu den anderen Zeugnissen aus Madame Hugues’ Leben in den Plastikbeutel stecken, als mir die Notizen ins Auge fallen, die die alte Dame darauf hinterlassen hat. Die Bohnen gießen. Die Zucchini abdecken. Den Treppenabsatz fegen. Die Fenster putzen. Die meisten Einträge sind belanglos, andere jedoch origineller: Mehr trinken. Oder dieser hier in Form einer Frage: Lockenwickler?

Der Kalender wandert nicht in den schwarzen Müllbeutel. Er bleibt bei mir in der Küche. Und dafür gibt es keinen anderen Grund, als dass es mir Freude macht, diese runde Handschrift zu entziffern.

Vor meiner Abreise aus Richards und Annes Haus habe ich ihnen versprochen, keine Dummheiten zu machen und regelmäßig anzurufen. Das zweite Versprechen habe ich nicht gehalten. Mir war gar nicht aufgefallen, dass mein Handy seit mehreren Sonnen keinen Laut mehr von sich gegeben hatte. Der Akku war leer.

»Anne, ich bin’s.«

Es ist erstaunlich, wie viele Emotionen in einem Schweigen mitschwingen können, wenn man nur darauf achtet. Annes Schweigen am anderen Ende der Leitung scheint Erleichterung auszudrücken. Riesige Erleichterung.

»Amande, ich habe mir Sorgen gemacht.«

»Mein Handyakku war leer.«

Wieder Schweigen. Ich glaube, Anne sucht nach Worten, weiß nicht, wie sie anfangen soll.

»Wir haben die letzten Unterlagen mit dem Notar durchgesprochen. Sie werden dir zugeschickt. Ich habe ihm deine aktuelle Adresse gegeben. Ich … ich wusste nicht, ob dir das recht ist …«

»Doch. Das war sehr gut. So ist es einfacher.«

»Dann schau nach deiner Post.«

»Mache ich.«

Anne lässt ein paar Sekunden verstreichen. Ich habe den Eindruck, sie wartet darauf, dass ich etwas sage, aber es kommt mir gar nicht in den Sinn, mich nach der Wohnung zu erkundigen. Sie ist diejenige, die das Thema anspricht.

»Richard hat mit Yann die Wohnung ausgeräumt.«

»Ah.«

»Sie sind letztes Wochenende hingefahren. Ich wollte sie begleiten, aber dann …«

Ich schlucke. Sie braucht nicht weiterzureden, ich weiß Bescheid.

»Er hat ein Paar gefunden, das zur Untermiete dort wohnen würde«, fährt sie hastig fort. »Ab September. Ist das für dich in Ordnung?«

»Natürlich.«

»Sie haben die Sachen in unseren Keller gebracht. Ich habe ihnen gesagt, sie sollen alles mit Plastikplanen abdecken. Ich wollte nicht, dass die Feuchtigkeit rankommt. Du kannst sie dann irgendwann abholen.«

Ich antworte nicht. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.

»Amande, ich wollte dich noch fragen, was mit den Sachen aus dem gelben Zimmer passieren soll …«

Diesmal stockt mir der Atem. Ich höre kaum noch Annes Stimme, die aus dem Telefon dringt: »Richard dachte, du möchtest sie vielleicht verkaufen oder loswerden, aber ich wollte lieber vorher mit dir darüber reden. Wir haben genug Platz im Keller … Wir können sie auch erst einmal hier einlagern. Das ist überhaupt kein Problem.«

Ich stehe in der Küche, in meinem alten Schlafanzug, der allmählich muffig zu riechen beginnt, und kann mich nicht entscheiden. Ich öffne den Mund, schließe ihn wieder. Ich weiß es nicht.

»Amande?«

»Ja.«

»Brauchst du noch etwas Zeit, um darüber nachzudenken?«

»Ja.«

Ich starre auf eines der Fenster, ohne es wirklich zu sehen. Ich warte darauf, dass dieses plötzliche Herzrasen, das mir Migräne bereitet, wieder nachlässt.

»Amande?«

»Ja.«

Die »Jas« kommen mir über die Lippen, ohne dass es mir wirklich bewusst ist, wie ein Atmen, ein automatischer Reflex, ich höre gar nicht richtig hin.

»Es ist jetzt drei Wochen her …«

»Drei Wochen?«

»Seit du da eingezogen bist. Bist du sicher, dass …«

Sie zögert. Sie will mich nicht kränken. Sie hat keine Ahnung, wie es mir im Moment geht, wie ich mit der Situation zurechtkomme.

»Möchtest du nicht vielleicht für eine Weile zurückkommen?«

»Noch nicht.«

Der Ton meiner Antwort ist unmissverständlich.

»Na gut. Aber wenn …«

»Ich weiß, Anne. Danke …«

Ich bin erleichtert, dass sie mich nicht gefragt hat, ob ich schlafe oder etwas esse. Ich hätte sie wahrscheinlich anlügen müssen.

Das gelbe Zimmer war meine Idee. Eine Möglichkeit, dem traditionellen Rosa oder Blau zu entgehen. Wir waren nicht sehr originell. Benjamin träumte von einem Mädchen, ich von einem Jungen. Doch als wir erfuhren, welches Geschlecht das Baby hatte, war meine Freude genauso groß wie die seine. Er wollte aus der Stadt wegziehen, um ihr eine idyllische Kindheit zu ermöglichen. Ich wollte, dass wir heirateten, um denselben Namen zu tragen wie die beiden. Um eine richtige Familie zu sein. Wir haben kurz danach geheiratet. Auf dem Standesamt, nur wir beide und Yann und Cassandra, unsere Trauzeugen. Mein Bauch begann sich schon zu runden.

Ich habe das Zimmer gelb gestrichen, und Benjamin hat das Babybett und den Wickeltisch aufgebaut. Es waren hübsche weiße Holzmöbel. Über dem Bett habe ich einen Sticker an die Wand geklebt: ein Küken, das aus seinem Ei schlüpft. Die Bettwäsche war bereits gekauft, genau wie mehrere bunte Sets aus Body und Schlafanzug.

Sie sollte Manon heißen. Manon Luzin. Wir hatten auf blonden Haarflaum und Benjamins haselnussbraune Augen gewettet. Sie hätte am 20. August zur Welt kommen sollen. Stattdessen ist sie am 22. Juni um 5 Uhr 58 gestorben.

Es wird immer jemanden geben, der sich an Benjamin erinnert. Der von seiner Großzügigkeit berichtet, seiner Selbstlosigkeit, davon, wie sehr er seinen Beruf liebte, die Jugendlichen, die MJC, seine Familie. Sein Lächeln wird in Erinnerung bleiben, auch sein verwuscheltes braunes Haar und der Ohrring, über den sich alle lustig machten.

Bei ihr ist das anders. Sie hat für die anderen nie existiert. Sie haben sie nie gesehen, haben sie nie gespürt, berührt. Sie hätte sein sollen, aber sie war nicht. So einfach ist das. Ich bin die Einzige, die weiß, dass das nicht stimmt. Ich bin die Einzige, die weiß, dass sie existiert hat, wirklich existiert, abgesehen von diesen wenigen Sekunden im Krankenhaus, als ihr kleiner toter Körper dem meinen entrissen wurde. Benjamin hätte es auch gewusst. Sie existierte in unseren Köpfen, in unseren Herzen, lange bevor ihr Körper in die Welt kam. Aber Benjamin ist nicht mehr da, und jetzt gibt es nur noch mich, die sich an sie erinnert.

Ich glaube nicht, dass ich die Sachen aus dem gelben Zimmer abgeben möchte. Jetzt noch nicht.

3

ESBLEIBTMIRNICHTSANDERESÜBRIG, als meinen Zufluchtsort zu verlassen. Alle Konserven sind aufgebraucht. Der Inhalt meines letzten Päckchens Reis reicht gerade noch einen halben Tag. Ich esse kaum etwas, aber ein wenig esse ich doch, sonst hätte ich nicht mehr genug Energie, um aus dem Bett aufzustehen. Die Schlaflosigkeit zerstört alles. Ich dachte, früher oder später würde ich vor Erschöpfung einschlafen. Ich habe mich getäuscht. Irgendetwas blockiert in meinem Gehirn, irgendetwas hindert mich daran, lange zu schlafen. Eine extreme Wachsamkeit. Ein Überlebensinstinkt?

Heute Morgen muss ich meine letzten Kräfte mobilisieren, um mich zu waschen, mich anzuziehen und zum Auto zu gehen.

Ich habe alles bis in die letzte Einzelheit geplant. Daher weiß ich, dass der nächste Supermarkt zwölf Kilometer entfernt ist. Ich habe eine detaillierte Einkaufsliste geschrieben, um so wenig Zeit wie möglich unter der grellen Beleuchtung zwischen all diesen Menschen zu verbringen. Auch der Zeitpunkt meines Einkaufs ist nicht zufällig gewählt: Um diese Zeit herrscht in den Läden der geringste Andrang und auf den Straßen nur wenig Verkehr. Was ich will, ist, so schnell wie möglich in meine Dunkelheit zurückzukehren.

Eine Stunde und zwei Minuten habe ich gebraucht, um die unangenehme Pflicht hinter mich zu bringen. Nichts Bemerkenswertes an dieser ersten Ausfahrt seit vielen Sonnen. Nur ein Motorrad auf der Straße, aber ich war zu tief in Gedanken versunken, um mich davon aus der Fassung bringen zu lassen. Zurück in meiner sicheren Küche, wo mir der Rest der Welt nichts anhaben kann, sortiere ich die Einkäufe ein. Diesmal nach Verfallsdatum. Das ist sinnvoller als eine alphabetische Ordnung, vor allem aber erfordert es mehr Zeit und Konzentration. Ich kann nicht nachdenken.

Nachdem ich den letzten Beutel Toastbrot verstaut habe, falle ich erschöpft ins Bett. Ich habe das Gefühl, dass ich nun endlich schlafen werde. Ich schließe die Augen, lege beide Hände flach neben den Körper, lasse meinen Nacken schwer werden. Ich bin entspannt und davon überzeugt, dass ich diesmal einschlafen werde. Plötzlich drängt sich das Bild des Motorrads, dem ich vorhin begegnet bin, in meine Gedanken. Eine Sportmaschine, genau wie die von Benjamin, aber schwarz-grün. Seine war schwarz, einfach nur schwarz.

Im Gegensatz zu den Frauen von Benjamins Bikerfreunden hatte ich nie Angst, wenn ich ihn unterwegs wusste. Nicht weil ich von Natur aus zuversichtlich und optimistisch wäre, sondern weil Benjamin vorsichtig war. Natürlich liebte er die Geschwindigkeit, er liebte es, das Vibrieren des Motors unter seinem Körper zu spüren, sich in die Kurven zu legen, aber ihm war stets bewusst, dass überall Gefahr lauerte, und ich wusste, dass er vernünftig war. Obwohl ich so ein rettungsloser Hasenfuß bin, hatte ich nie Angst, hinter ihm aufzusteigen.

Ich habe mir nie übermäßig Sorgen gemacht, wenn er später nach Hause kam. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass er bei einem Motorradunfall sterben könnte.

Ich habe ein paar Stunden geschlafen. Nach Einbruch der Dunkelheit bin ich zum Briefkasten gegangen. Ich glaubte, einen Schatten zu erkennen, der ins Gestrüpp auf der gegenüberliegenden Straßenseite huschte. Ich bin mir beinahe sicher, dass es eine streunende Katze war.

Ich sitze am Küchentisch und öffne ohne Hast den Brief des Notars. Das Protokoll des Treffens. Wie vereinbart erbe ich als Benjamins Ehefrau einige Vermögenswerte. Außerdem wird mir seine Lebensversicherung ausgezahlt. Benjamin und ich waren nicht wohlhabend, aber wir hatten beide ein wenig Geld zur Seite gelegt. Von dem Erbe, dessen Höhe der Notar mir schwarz auf weiß mitteilt, kann ich in meiner Abgeschiedenheit eine Weile leben. Ich schiebe den Brief, der mir nicht mehr verrät, als ohnehin vorgesehen war, beiseite und ziehe den alten Kalender von Madame Hugues heran, den ich immer noch nicht weggeworfen habe.

Ich beginne mit dem Monat April, dessen Foto einen Strauß gelber Rosen auf einem schlichten hölzernen Gartentisch zeigt. In einigen Feldern stehen Anmerkungen. 2. April: Salatsetzlinge einpflanzen. 6. April: Schnittlauch teilen. 10. April: Gemüsebauer. 13. April: Petersilie säen. 18. April: Brot mit Erdbeermarmelade? 20. April: Dahlien pflanzen. 22. April: Sitzgruppe unter Pauls Baum aufstellen. 30. April: Oleander umtopfen.

Ich lese noch einmal den Eintrag Sitzgruppe unter Pauls Baum aufstellen. Ich frage mich, wer Paul ist und welcher Baum wohl ihm gehört. Bislang habe ich die nähere Umgebung des Hauses nur im Dunkeln gesehen. Bäume konnte ich dabei nicht erkennen.

Und damit erlischt meine Neugier schon wieder, ich habe nicht genug Energie, um sie lebendig zu erhalten, die Erschöpfung siegt.

Durch den Spalt zwischen den Fensterläden beobachte ich die Sonne, die langsam über den Baumwipfeln auf den umliegenden Hügeln aufgeht. Ich habe seit vielen Sonnen nicht mehr geschlafen. Ich habe nicht mehr in Madame Hugues’ Kalender gelesen, bin ziellos durch das Haus gewandert, in immer mehr Decken gehüllt, weil mir immer kälter wird. Ich verliere zunehmend an Substanz, als verschwände ich Stück für Stück.

Ich durchforste meine Vergangenheit nach glücklichen Momenten. Doch da meine Kraft und Energie schwinden, fällt es mir immer schwerer, die Bilder der Nacht des 21. Juni von mir fernzuhalten. Was, wenn ich aufhörte, dagegen anzukämpfen? Wenn ich sie einfach über mich hereinbrechen ließe?

Später – ist es eine andere Sonne? Ich weiß es nicht mehr – ruft Anne an. Mechanisch nehme ich den Anruf entgegen.

»Amande, möchtest du uns am Sonntag besuchen kommen?«

Ich weiß nicht, welcher Tag heute ist. Ich antworte Nein, ich müsse mich ausruhen, ich schlafe zu wenig. Sie fragt mich, ob ich Schlaftabletten brauche oder etwas anderes, ganz gleich was, sie könne gern vorbeikommen, mit oder ohne Richard. Ich weiß es nicht. Und das antworte ich ihr auch.

»Ich kann am Sonntag kommen …«, wiederholt sie.

Einverstanden, höre ich mich sagen, Sonntag, aber abends, nicht tagsüber.

Ich will nicht, dass sie die Sonne in mein Haus lassen.

Ein Abendessen für Anne und Richard gibt mir ein neues Ziel. Ich bin nicht in der Verfassung, das Haus zu verlassen und frische Lebensmittel einzukaufen, aber ich habe noch verschiedene Konserven und einige nicht abgelaufene Milchprodukte, aus denen ich ein halbwegs brauchbares Gericht kochen kann. Aus Dosenratatouille, gefülltem Braten im Vakuumbeutel und einem Paket Nudeln bereite ich einen Nudelauflauf zu. Darüber streue ich einen Rest geriebenen Gruyère, aus dem ich die grünlich angeschimmelten Brösel aussortiert habe.