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Woher kommt, was wir erinnern? Aus der Vergangenheit. Aber könnte es auch aus der Zukunft kommen, insofern, als dass Zukunfts-Samen in allem Ursprung bereits enthalten sind? Dann wäre etwas so Zukünftiges wie die Apokalypse also auch erinnerbar, zumindest deren Keime in uns. Versuchen wir`s! Und das - warum nicht - jetzt: im Jahr 2020.
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Seitenzahl: 99
Veröffentlichungsjahr: 2020
Für Elisabeth und Günter Kempa
Leere Schachtel, stille Box
Ende der Welt?
Unterwegs zwischen Alpha und Omega
Ich-Gang
Chaos und Kristall
Umstülpung
Karfreitag
Karsamstag
Pneuma
Das Wahrnehmen des Ätherischen
Es denkt in dir
Ja, so sei es
Der Altar der Nacht
Des Umgriffs bedürftig
Erschütternde Gleichung
Ein Feuer bin ich gekommen
Apokalypsis Jesu Christu
Die Intervalle
Erinnerte Apokalypse
Prim
Sekund
Terz
Quart
Tritonus
Quint
Sechst
Septime
Oktave
Echo
AHA-Erlebnis in Corona-Zeiten
Das Antlitz der Erde
Literaturempfehlung
Inhaltsangabe
Zitate
21. März 2020:
Die permanent geschlossene Kirche, was für ein neues Symbol! Eine leere Schachtel, eine Aussparung in der Stadt, eine stille Box. Gleich werde ich da hineingehen, den Wein vorbereiten, das Brot, den Weihrauch, Gewänder anziehen und Kerzen anzünden. Dann geht`s los: Vor dem ersten Wort eine Reglosigkeit im Raum bemerken. Kein Mensch da. Kein Ministrant, der vorausgeht. Ich nehme das Glöckchen also selbst und läute dreimal: Hallo, liebe Welt, hallo alle, die jetzt hierher denken um 10.00 Uhr jeden Tag. „Wer Ohren hat, zu hören, der höre!“ Diesen Satz aus der Apokalypse sag ich mir jetzt selbst vor, denn ehe ich den Mund aufmache und das erste Wort in den Raum entlasse, den ersten Satz, muß ich mein Gehör aufspannen, diesen Raum im Raum. Ohne das aufgespannte Gehör, ohne dieses ätherische Netzwerk, könnte sich nichts an die Worte heften, sie blieben nur eine Reihe weisheitsvoller edler Worte, wären aber kein Dialog mit dem göttlichen Weltengrund. Die leere Kirche bringt`s auf den Punkt: Hör doch! Sei hörsam!
Und dann gibt`s noch den anderen leeren Raum, die Schule, d.h. für mich: das Religionszimmer im ersten Stock. Dies existiert für mich jetzt nur noch in der Vorstellung oder als Nachbild. Was haben wir da nicht alles geredet über Gott und die Welt, manchmal war ich euer Vorleser: Oskar und die Dame in Rosa von Eric-Emanuel Schmitt oder Siddharta von Hermann Hesse. Das war schön und das war leicht. Wirklich mutig mußte ich aber sein, wenn ich euch was aus dem Neuen Testament erzählte. Habt ihr das eigentlich gemerkt? In der fünften Klasse habt ihr die Szenen aus dem Evangelium sofort nachgespielt, unglaublich begabte Schauspieler, kaum zu bremsen! In der zwölften Klasse habt ihr`s nachgedacht und weiter-gedacht, so dass ich merkte: das ist ja schon bei euch, ich helfe bestenfalls bei der Erinnerung daran.
Jetzt aber ist in diesem Raum Funkstille. Gegenüber der Tafel unser vor Jahres gemeinsam erstelltes Diagramm. Grosses Querformat. Ganz links ein rotes Knäuel, da haben wir hingeschrieben Genesis. Ganz rechts ein blaues Vakuum, da haben wir hingeschrieben Apokalypse. Zwischen diesen Antipoden sich kreuzende Linien. Eine querliegende Sanduhr. Evolution. Welt und Ich. Ich und der göttliche Weltengrund.
Und jetzt? Jeder hockt mehr oder weniger bei sich daheim. Durch München sah ich gestern Lautsprecher-Wagen fahren, ganz langsam, und eindringlich und in ständiger Wiederholung wurde gesagt oder eher gerufen (es klang wie ein Bellen): „Bleiben Sie zuhause! Zum Arzt dürfen Sie gehen, zur Apotheke, zum Einkaufen und zur Arbeit, aber bilden Sie keine Gruppen! Zuwiderhandlungen werden hart bestraft!“ Ich glaube, jeder, der das hörte, war eigenartig berührt. Corona. Ein Virus legt die Welt lahm? Womit haben wir`s zu tun? Wirklich zu tun?
Oh! Gar nicht so leicht heute, nach Hintergründen zu fragen, ohne den flinken Stempel „Verschwörungstheoretiker“ aufgedrückt zu bekommen. (Im Mittelalter hieß das Häretiker oder Ketzer.) Dieser Begriff taugt aber nicht, er bringt uns nicht weiter. Er sagt nichts - und das in Bausch und Bogen, völlig unwissenschaftlich. Wo bleibt die Analyse und Differenzierung? Hört nicht auf zu denken, lassen wir uns das Denken nicht verbieten. Könnte es sein, dass wir alle jetzt lernen müssen umzugreifen?
Mein erstes eigenes Umgreifen bestand nun, da es keine Schule und keine Kirche mehr gab und ich doch aber Lehrer und Pfarrer bin, darin, vor ein unsichtbares Publikum zu treten, vor eine Hörerschaft, die ich gar nicht wahrnehmen konnte, kurz: ich ging unter die Podcaster. Und das ohne weiteren Plan! Ich fing - entgegen meiner Gewohnheit - einfach an zu sprechen, täglich. Im Laufe der Wochen hatte sich ein inhaltlicher Fluß herausgebildet, der mäandernd, immer zielstrebiger, in Richtung des Meeres drängte. In diesem Buch berichte ich von einigen der Stationen auf diesem Weg zur Mündung des Flusses. Und das Meer, in das er sich endlich ergießt, heißt Apokalypse. Es empfiehlt sich, den Stationen in chronologischer Reihenfolge nachzugehen, dann ist das Lesen ähnlich einer Pilgerfahrt, und umso gewinnbringender wird die Ankunft an jenem Meere sein können.
Wir werden noch sehen: Johannes auf Patmos erlebte den apokalyptischen Christus, den Menschensohn, wie er ein Beziehungsgeflecht mit der Welt, ein Gewebe in der Welt herstellt und dieses selber ist. Er hat eine Metamorphose vollzogen.
Joseph Beuys hat das im 20. Jahrhundert auf seine Weise als Künstler erlebt und sagte in einem Interview mit einem Priester, dass das Bild des Christus, seine Konfiguration, sein tradiertes Zeichen heute sich aufgelöst habe in ein Gewebe von Kraftzusammenhängen in der Welt. „Das Ganze hat sich aufgelöst in ein Gewebe, sagen wir ruhig: in ein Gewebe von Kraftzusammenhängen in der Welt.“ (Es lohnt sich, diesen Satz auswendig zu lernen!)
Peter Handke, der wie kein anderer Schriftsteller einen Sinn für dieses Phänomen hat, begreift Literatur heute als etwas apokalyptisches, etwas, das die Wahrnehmung auf das Gewebe von Kraftzusammenhängen in der Welt richtet. In seinem Journal „Am Felsfenster morgens“ (herrliches Beispiel tausender solcher Wahrnehmungen mitten im Alltag) schreibt er, dass ihm scheine, dass erst jetzt, vor dem drohenden Ende der Welt, wir so frei seien, die Sprache der Welt zu sprechen, der Sonne, der Blumen, der Vögel, der Luft. Das sei Literatur!
Dass ein Romantiker wie Novalis einstmals, im Hinblicken auf den gegenwärtigen Christus, dichtete: „Aus Kraut und Stein und Meer und Licht, schimmert sein kindlich Angesicht“, das kann man natürlich beruhigt unter romantisch-idealistischer Weltauffassung verbuchen. In Wirklichkeit ist das aber die Morgenröte eines neuen Sinnes, einer neuen Wahrnehmung und Erkenntnis.
Dass ein Heutiger, ein kritischer Geist, ein Zeitgenosse wie Peter Handke, so von der neuen Wahrnehmungsfähigkeit und Sprachfähigkeit in seinen Büchern nicht nur schreibt, sondern sie auch anwendet, ist zutiefst tröstlich. Dass es das bei aller Digitalisierung und Beschleunigung noch gibt, oder wieder gibt, denn es ist ja neu.
Ich wiederhole: „Mir scheint, jetzt erst, vor dem drohenden Ende der Welt, sind wir so frei, die Sprache der Welt zu sprechen, der Sonne, der Blumen, der Vögel, der Luft.“
Was aber heißt „jetzt erst, vor dem drohenden Ende der Welt“? Johannes der Apokalyptiker musste ja sozusagen von Berufs wegen von Apokalypse reden. Aber ein Schriftsteller unserer Tage, der kürzlich den Nobelpreis für Literatur erhalten hat,- ist das von ihm nicht zu theatralisch, zu pessimistisch auch gesehen, wenn er sagt: jetzt, vor dem drohenden Ende der Welt?
Wo sind wir denn? Wo befinden wir uns auf der Evolutions-Strecke zwischen Genesis und Apokalypse?
Darüber will ich im Folgenden schreiben, unter Zuhilfenahme des Diagrammes, von dem ich schon im ersten Kapitel sagte, dass es in dem Religionszimmer der Schule hängt, das jetzt verwaist ist.
Wenn wir jetzt, liebe Leser, in einer Gesprächsrunde zusammensäßen, würde ich mit der Frage beginnen: wie geht es euch mit den beiden Begriffen Genesis und Apokalypse? Was steigt in euch auf, wenn ihr das hört? - Da kämen sehr wahrscheinlich unterschiedliche Antworten zusammen. Etwa: Genesis? Das ist doch die Schöpfungsgeschichte zu Beginn des Alten Testaments. Kann ich glauben oder nicht. Genesis? Ist halt eine naive, märchenhafte Erzählung, unvereinbar mit unserem naturwissenschaftlichen Verständnis. Ein Dogma eher. Genesis? Ein Mythos. So, wie alle alten Kulturen mal eine Mythologie hatten. Ist aber gewiß voller Weisheit, nur eben übersetzungsbedürftig, das mit den sieben Tagen und mit Adam und Eva.
Und Apokalypse? Ein Showdown am Ende des neuen Testaments. Irgendwas mit Jüngstem Gericht. Ziemlich gruselig. Aber vielleicht auch esoterisch? Eine Mischung von Angstmache und Hoffnung? Ende der Welt?
Genesis irgendwie unvorstellbar, weit weg, ganz vorn, am Anfang.
Apokalypse, irgendwie ganz weit weg, ganz hinten, am Ende.
Von Anfang und Ende spricht auch die Wissenschaft. Urknall und Wärmetod. Oder Kältetod. Da gibt`s zwei Theorien, das Ende betreffend. Und dazwischen läuft der Evolutionsprozess ab mit seinen chemischen, physikalischen, biologischen Mutationen, aber auch Zufällen.
Bibel und Naturwissenschaft sagen also beide: Unsere Welt ist ein in Raum und Zeit sich Entfaltendes und dann wieder sich Zurücknehmendes. Ein „Lebewesen“ von einer gewissen Dauer. So, wie ein Schlüsselblümchen seine Zeit hat und eine Eiche ihre Zeit hat, so hat auch unser Planet und das Sonnensystem seine Zeit. Eine Lebenszeit und einen Alterungsprozess. Darin sind sich die Anhänger der materialistischen Evolutionstheorie und die Kreationisten, also jene fundamentalistischen Verfechter der Schöpfungsgeschichte, einig: Es gibt einen Urbeginn und ein Ziel. Ein Alpha und ein Omega.
Das, was Johannes als Offenbarung erlebte, war nicht nur imaginativ-intuitiver Natur, nicht begrenzt auf Vision und Wesensbegegnung, sondern auch inspirativer Natur, d.h. ein Wort-Ereignis, ein Gehörtes. Und so hörte Johannes: „Ich bin der Erste und der Letzte, bin Alpha und bin Omega.“ Das hatte er also vor sich: Das Wesen dieses Sonnensystems, das Wesen dieser Evolution, dieser Schöpfung selbst. Sein Wesen umfasst auch, so hörte er weiter, Leben und Tod.
Nun werde ich das Diagramm ins Blickfeld rücken, von dem schon die Rede war.
Alles, was ich jetzt anhand dieser Skizze entwickeln werde, kann zu einem hohlen Schema gerinnen oder aber sich entpuppen zum lebendigen Meditationsbild. Das ist ein gewisses Risiko. Ich appelliere an deine Geduld und Vorstellungskraft, an deine Bildekraft. Wer mag, kann einfach mitzeichnen, was ich in Worten vorzeichne. Du benötigst ein möglichst großes Blatt im Querformat. Wir zeichnen, ob jetzt auf dem Papier oder nur in der Vorstellung, eine querliegende Acht, eine sogenannte Lemniskate, das Unendlichkeitszeichen der Mathematik. Blattfüllend. Wenn nun diese Acht quer vor dir liegt mit ihrer Kreuzung in der Mitte, dann ist das auf den ersten Blick eine simple Achterbahn, der ich mit den Augen oder dem Finger nachfahren kann. Denn so verläuft die Bewegung dieses Symbols, ein harmonisches Schwingen zwischen links und rechts. Ein Pendeln.
Aber dieses simple Symbol birgt ein Geheimnis, dem wir uns annähern sollten. Bekannt ist das Phänomen, das ich meine, als „Möbisches Band“ oder „Möbiusband“. Die linke Schlaufe umschließt ihren Innenraum, d.h. die Linie ist Grenzlinie und birgt etwas, umfährt etwas. Zwischen den Schlaufen, an deren Kreuzungspunkt aber, kommt es zu einer erstaunlichen Wende, zu einer Umstülpung: Innen wird aussen, so dass die rechte Schlaufe scheinbar eine identische Grenzlinie darstellt wie die linke, aber Beziehung aufnimmt zu ihrer Umgebung, ihrer Peripherie. Sie kümmert sich also nicht um das, was sie umschließt, im Gegenteil, dem kehrt sie „den Rücken“ zu. Um das deutlicher zu kriegen, ist es hilfreich, radiusartige Linien einzuzeichnen, die von dem linken Schlaufenbogen ins Schlaufeninnere gehen und sich dort alle treffen in einem Brennpunkt. Achtung: bei der Kreuzung zwischen den beiden Schlaufen springt das um. Die Radien des rechten Schlaufenbogens verlaufen nach außen! Sie treffen sich hier nicht im Binnenraum der Schlaufe, sondern strahlen aus ins Unendliche, wie bei einer Kinderzeichnung die Sonnenstrahlen.
Wir haben einen Schwellenübergang gezeichnet, oder gedacht. Eine Umstülpung. Den Umsprung von einem Prinzip in ein gegensätzliches, ohne dass etwas auseinanderfällt. Die Dynamik ist doch nach wie vor eine durchlaufende, beide Seiten der Acht verbindende, durchatmende. Spannendster Punkt im wahrsten Sinn ist die Kreuzung, das Herz dieses Kreislaufes.
Jetzt machen wir zwei Eintragungen: ganz links Genesis oder Alpha, ganz rechts Apokalypse oder Omega. Jetzt fehlt uns nur noch eine horizontale Wegstrecke, die von ganz links bis ganz rechts mitten durch die Kreuzung verläuft. Das soll nämlich unsere Zeitstrecke, Zeitachse sein. Der Evolutions-Weg. Wir sind auf ihm unterwegs zwischen Alpha und Omega.