Aramäisch - Holger Gzella - E-Book

Aramäisch E-Book

Holger Gzella

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Beschreibung

Die aramäische Sprache ist ein Wunder: Ganz ohne militärische Eroberungen wurde sie im ersten Jahrtausend v. Chr. zur Verwaltungssprache des persischen Großreichs und damit zur ersten Weltsprache überhaupt. Holger Gzella, weltweit einer der besten Kenner des Aramäischen, erklärt, warum sich Sprache und Schrift eines politisch unbedeutenden Territoriums von Nordafrika bis Indien durchsetzten konnte und wie es zu einem zweiten Wunder kam: In der Weltsprache Aramäisch wurden Schriften mit einer universalen Botschaft verfasst, die aus lokalen Kulten die ersten Weltreligionen machten. Das anschaulich geschriebene Buch lässt auf faszinierende Weise das unsichtbare Gewebe erkennen, das die Kultur des Altertums geprägt hat und die großen Religionen bis heute verbindet. Das Aramäische war über tausend Jahre lang die Lingua franca zwischen Indus und Nil, ja mehr noch: Durch mächtige Netzwerke von Beamten und Schreibern prägte es Politik, Recht, Literatur und Religion der Alten Welt. Wichtige Teile des Alten Testaments sind auf Aramäisch geschrieben, Jesu Muttersprache war Aramäisch, das rabbinische Judentum war zum großen Teil aramäischsprachig, und die orientalischen Kirchen sind (teils bis heute) ohne das Aramäische als Literatur- und Liturgiesprache nicht zu denken. Im 7. Jahrhundert schließlich wurde das Aramäische vom Arabischen, der Sprache des Korans, als Leitsprache des Orients abgelöst.Die aramäische Sprache ist in Forschung und öffentlicher Wahrnehmung zu Unrecht ins Abseits geraten. Holger Gzellas faszinierende Gesamtdarstellung bringt ein «vergessenes Weltreich» zum Vorschein, das in den Weltreligionen bis heute weiterlebt.

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Holger Gzella

ARAMÄISCH

WELTSPRACHE DES ALTERTUMS

Eine Kulturgeschichte von den neuassyrischen Königen bis zur Entstehung des Islams

C.H.Beck

Historische Bibliothek der GERDA HENKELSTIFTUNG

Die Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung wurde gemeinsam mit dem Verlag C.H.Beck gegründet. Ihr Ziel ist es, ausgewiesenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Möglichkeit zu geben, grundlegende Erkenntnisse aus dem Bereich der Historischen Geisteswissenschaften einer interessierten Öffentlichkeit näherzubringen. Die Stiftung unterstreicht damit ihr Anliegen, herausragende geisteswissenschaftliche Forschungsleistungen zu fördern – in diesem Fall in Form eines Buches, das höchsten Ansprüchen genügt und eine große Leserschaft findet.

Zuletzt erschienen:

Frank Rexroth: Fröhliche Scholastik

Die Wissenschaftsrevolution des Mittelalters

Hartmut Leppin: Die frühen Christen

Von den Anfängen bis Konstantin

Dieter Langewiesche: Der gewaltsame Lehrer

Europas Kriege in der Moderne

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Europa, Asien und Afrika vom 3. bis zum 8. Jahrhundert n. Chr.

Jill Lepore: Diese Wahrheiten

Eine Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika

Klaus Mühlhahn: Geschichte des modernen China

Von der Qing-Dynastie bis zur Gegenwart

Gudrun Krämer: Der Architekt des Islamismus

Hasan al-Banna und die Muslimbrüder

Thomas O. Höllmann: China und die Seidenstraße

Kultur und Geschichte

Zum Buch

Die aramäische Sprache ist ein Wunder: Ganz ohne militärische Eroberungen wurde sie im ersten Jahrtausend v. Chr. zur Verwaltungssprache des persischen Großreichs und damit zur ersten Weltsprache überhaupt. Holger Gzella, weltweit einer der besten Kenner des Aramäischen, erklärt, warum sich Sprache und Schrift eines politisch unbedeutenden Territoriums von Nordafrika bis Indien durchsetzen konnten und wie es zu einem zweiten Wunder kam: In der Weltsprache Aramäisch wurden Schriften mit einer universalen Botschaft verfasst, die aus lokalen Kulten die ersten Weltreligionen machten. Das anschaulich geschriebene Buch lässt auf faszinierende Weise das unsichtbare Gewebe erkennen, das die Kultur des Altertums geprägt hat und die großen Religionen bis heute verbindet.

Über den Autor

Holger Gzella ist Ordinarius für Alttestamentliche Theologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er gehört weltweit zu den renommiertesten Experten für die aramäische Sprache, hatte von 2005 bis 2019 den Lehrstuhl für Hebräisch und Aramäisch an der Universität Leiden inne und ist Ordentliches Mitglied der Academia Europaea sowie der Königlich-Niederländischen Akademie der Wissenschaften.

Inhalt

Verzeichnis der Karten

Vorwort

1. Ein unsichtbares Weltreich

Aramäisch und seine Quellen

Genealogie und Sprachbezeichnungen.

Philologia sacra.

Das Aramäische in der modernen Forschung.

Raum und Zeit

Zentrum und Peripherie.

Die Hauptphasen: Altes Aramäisch, Mittel- und Neuaramäisch.

Vernetzungen.

Sprecher und Schreiber

Der Wandel des gesprochenen Aramäisch.

Die geschriebene Sprache als eigenständige Ausdrucksform.

2. Die Wiege der aramäischen Schrift (9.–8. Jahrhundert)

Eine neue Schrift für eine neue Welt

Frühe Verwaltungssprachen.

Die Ablösung der Keilschrift.

Strukturvorteile der Alphabetschrift.

Das Altaramäische.

Schreibmaterialien.

Die Herausbildung von Standardsprachen.

Vom Alphabet zur Schriftkultur

Beamtentum und Professionalisierung.

Alphabetinventare.

Die Schreibung von Vokalen.

Die Schreiber: Ausbildung und Austausch.

Der Beginn literarischer Aktivität

Weihe und Fluch.

Mehrsprachige Schreibermilieus.

3. Assyrien und Babylonien: Alphabetschreiber erobern die Welt (7.–6. Jahrhundert)

Die Entstehung einer assyrisch-aramäischen Verwaltungskultur

Das Erbe der syrischen Schriftkoiné.

Dockets und Beischriften.

Die Konsolidierung des Aramäischen im Assyrerreich.

Keilschrift- und Alphabetschreiber.

Aramäisch jenseits der Bürokratie.

Auf dem Weg zur Lingua franca.

Unsichtbares Wachstum in babylonischer Zeit

Die funktionale Erweiterung des Aramäischen.

Die Verbreitung in Syrien-Palästina.

Zwischenstaatliche Kommunikation.

Weisheit und höhere Bildung: Das Ideal des aramäischen Schreibers

Die Weisheitssprüche Achikars.

Der «Schreiberspiegel».

4. Das Perserreich: Die Herrschaft des Buchstabens (5.–4. Jahrhundert)

Reichsaramäisch als Lingua franca

Rechts-, Verwaltungs- und Literatursprache.

Standardisierung einer Regionalsprache.

Zwei- und Mehrsprachigkeit.

Praktische Elementarausbildung.

Eine Bittschrift aus Elephantine.

Die Entwicklung der lokalen Dialekte.

Korrespondenz mit imperialer Signatur

Schriftverkehr von Ägypten bis Baktrien.

Öffentliche Inschriften der Oberschichten.

Privatrecht.

Buchhaltung und andere Wirtschaftstexte.

Privatkorrespondenz.

Das Selbstbewusstsein der achämenidischen Beamten

Personalführung und Berufsethos.

Literarische und reflektierende Texte.

5. Israel: Vom Buchhalter zum Seher (4. Jahrhundert v. Chr.–1. Jahrhundert n. Chr.)

Schriftgelehrsamkeit in der Perserzeit: Das Buch Esra-Nehemia

Religiöse Erneuerung durch Esra und Nehemia.

Die biblische Überlieferung.

Die Verdrängung des Hebräischen durch das Aramäische.

Jüdische Tradenten, jüdische Schrift.

Wissenschaft und Exegese.

Weltweisheit in hellenistischer Zeit: Erleuchtung im aramäischen Danielbuch

Koexistenz von Griechisch und Hasmonäisch-Aramäisch.

«Der Verständige»: Apokalyptische Visionen.

Menetekel und gestutzter Weltenbaum.

Die Beschränkung herrscherlicher Macht.

Aramäische Texte aus Qumran, hellenistische Wissenschaft und die Sprache Jesu

Das Hasmonäische.

Patriarchenzyklus und Hiobbuch.

Weltgeschichtliches.

Mantik und Naturkunde.

Levitisch-priesterliche Texte.

Das Versiegen des Hasmonäischen.

Judäisch-aramäische Umgangssprache und häusliche Schriftlichkeit.

Die Sprache Jesu im Neuen Testament.

6. Syrien und Mesopotamien: Staatsdiener als Träger der Tradition (3. Jahrhundert v. Chr.–3. Jahrhundert n. Chr.)

Zentrifugale Kräfte.

Palmyrenisch, Edessenisch, Ostmesopotamisch.

Das intellektuelle Leben in Palmyra

Aufstieg einer Oase.

Der Status des Palmyrenisch-Aramäischen.

Königin Zenobia.

Die Ursprünge der syrisch-christlichen Literatur in Edessa

Die Herausbildung der klassisch-syrischen Literatursprache.

Epigraphische Kultur.

Christlich-syrisches Schrifttum.

Ostmesopotamien: Hatra, Stadt der Bürokraten

Ursprünge und Kontakte mit Assur.

Inschriften und Graffiti.

Südmesopotamien.

7. Das Schrifttum als geistiger Raum der Religionen (ab 4. Jahrhundert n. Chr.)

Hocharamäisch im syrischen Christentum

Heilige Schriften statt Kulthandlungen.

Die Konsolidierung des Christentums über die Sprache.

Rezeption jüdischer und griechischer Textkultur.

Buchkultur und literarisches Schaffen.

Die kirchliche Ost-West-Teilung und das Klassisch-Syrische.

Das Christlich-Palästinische.

Aramäisch als zweite heilige Sprache im Judentum

Revitalisierte Frömmigkeit.

Das Jüdisch-Palästinische.

Das Jüdisch-Babylonische.

Die Targume.

Die Samaritaner und das Samaritanisch-Aramäische.

Das Geheimwissen der Mandäer

Gnostische Wurzeln.

Der mandäische Schriftkanon.

Zaubertexte und Amulette.

8. Von der aramäischen zur arabischen Weltsprache (1. Jahrtausend v. Chr.–2. Jahrtausend n. Chr.)

Die Nabatäer: Nordarabiens Brücke in die aramäische Sprachwelt

Altnordarabische Sprachen.

Die überregionale Ausrichtung des Nabatäisch-Aramäischen.

Nabatäische Charakteristika.

Mehrsprachigkeit und das Vordringen der arabischen Umgangssprache.

Die nabatäischen Ursprünge der arabischen Schriftsprache

Die Entwicklung des arabischen Alphabets aus dem Nabatäischen.

Der Ausbau der arabischen Schriftsprache.

Aramäische Spuren im Koran.

Aramäisch und Arabisch in der islamischen Welt

Arabisch-aramäische Interferenzen.

Umgangssprachliche Konvergenzen.

9. Alte Sprache, neues Leben

Das Biotop der Dialekte

Wechselwirkungen von gesprochener und geschriebener Sprache.

Westliche und östliche Dialektgruppen.

Schwindende Minderheiten.

Neubeginn aus der Tradition

Neuaramäische Schriftkulturen im Irak.

Die Urmia-Schriftsprache.

Die Aufwertung des Turoyo.

Coda: Anatomie einer Weltsprache

Anhang

Zeittafel der relevantesten politischen Ereignisse

Zeittafeln zur Geschichte des Aramäischen

Anmerkungen

1. Ein unsichtbares Weltreich

2. Die Wiege der aramäischen Schrift (9. – 8. Jahrhundert)

3. Assyrien und Babylonien: Alphabetschreiber erobern die Welt (7. – 6. Jahrhundert)

4. Das Perserreich: Die Herrschaft des Buchstabens (5.–4. Jahrhundert)

5. Israel: Vom Buchhalter zum Seher (4. Jahrhundert v. Chr. – 1. Jahrhundert n. Chr.)

6. Syrien und Mesopotamien: Staatsdiener als Träger der Tradition (3. Jahrhundert v. Chr. – 3. Jahrhundert n. Chr.)

7. Das Schrifttum als geistiger Raum der Religionen (ab 4. Jahrhundert n. Chr.)

8. Von der aramäischen zur arabischen Weltsprache (1. Jahrtausend v. Chr. – 2. Jahrtausend n. Chr.)

9. Alte Sprache, neues Leben

Literatur

Bildnachweis

Register

Verzeichnis der Karten

Karte 1: Die Fundorte der altaramäischen Inschriften 86

Karte 2: Das Assyrerreich 104

Karte 3: Das Achämenidenreich 142

Karte 4: Der hellenistische und römische Nahe Osten 244

Karte 5: Das Verbreitungsgebiet der neuaramäischen Schriftsprachen 376

Vorwort

Das erste Weltreich der Geschichte entstand vor fast dreitausend Jahren in dem fruchtbaren Halbrund, das sich zwischen der östlichen Mittelmeerküste über das nördliche Zweistromland bis zur Küstenregion des Persischen Golfes erstreckt und den Ruf besitzt, die frühesten Hochkulturen der Menschheit hervorgebracht zu haben. Mit der Abfolge der assyrischen, babylonischen und persischen Herrscherdynastien dehnte dieses Reich sich während der folgenden fünf Jahrhunderte geographisch und administrativ immer weiter aus. Nach den Eroberungen Alexanders des Großen zerfiel es dann wieder in zahlreiche regionale Teilstaaten, die um die Zeitenwende ein Vasallenverhältnis mit dem ostwärts expandierenden Rom eingingen, aber ihr lokales Brauchtum weiterhin pflegten. Auf ihrem Boden bildeten sich schließlich die grenzüberschreitenden Offenbarungsreligionen der Spätantike heraus. Deren jüngste, der Islam, prägt das Gesicht des gesamten Raumes bis auf den heutigen Tag.

Eine Kontinuität ist in diesem langen Prozess nicht auf den ersten Blick auszumachen. Doch hinter der Transformation von Imperien zu Weltanschauungen waltete ein unsichtbares Reich ohne jede eigene politische Autorität, wirtschaftliche Macht oder kulturelle Vorrangstellung. Es subsistierte in einem Netz schriftkundiger Beamter und Gelehrter, zusammengehalten wurde es durch eine gemeinsame Schreibertradition in einer heute selbst Fachgelehrten kaum noch aus eigener Anschauung bekannten Sprache: dem Aramäischen. Als Medium des Rechts, der Verwaltung und der Literatur nahm das Aramäische während der tausendfünfhundert Jahre zwischen den neuassyrischen Königen und den ersten Kalifen im permanenten Wandel von Hoch- und Umgangssprachen immer neue Gestalten an. Sie alle verbanden sich zu einer stabilen Überlieferung, die Räume, Zeiten und Milieus überstieg.

In diesem Buch wird zum ersten Mal der Versuch unternommen, die aramäische Schrifttradition anhand ihrer Träger, Institutionen und Bildungsansprüche möglichst kohärent zu beschreiben. Damit führt das vorliegende Werk nach insgesamt zehnjähriger Arbeit zwei frühere Bücher von mir über die Geschichte des Aramäischen in englischer (2015) und niederländischer Sprache (erste Auflage 2017, zweite Auflage 2019, überarbeitete englische Ausgabe 2021) weiter. Das eine ist als Handbuch auf der Grundlage der linguistischen Fakten konzipiert, das andere als Erzählung des organischen Wandels der Sprache unter Berücksichtigung ihrer sozialen wie kulturellen Voraussetzungen. Das vorliegende Buch legt den Schwerpunkt auf die aramäischsprachigen Schrift- und Schreibertraditionen, ihre weiträumige Vernetzung und die bislang noch nirgends zusammenhängend analysierten historischen Grundlagen des aramäischen Schrifttums bis zum Ausgang der Antike. Verweise in den Anmerkungen auf die beiden anderen Bücher betreffen vornehmlich technische Einzelheiten und wissenschaftliche Standardwerke wie Textausgaben, Wörterbücher und Grammatiken. Die spezialisierte Bibliographie zu den genannten Themen dort ist sorgfältig zusammengestellt und wird deshalb hier nicht wiederholt, sondern nur ergänzt und aktualisiert. Bei allem Ringen um eine differenzierte Darstellung wurden offensichtliche Holzwege und Nebenschauplätze der wissenschaftlichen Diskussion weitgehend ausgeblendet. Meine aramäische Sprachgeschichte von 2017/2021 benennt aber die wichtigsten Desiderate und entwirft Perspektiven für zukünftige Forschungen. Nun ist also ein Langzeitvorhaben abgeschlossen, das mich während meiner Lehr- und Wanderjahre immer begleitet hat, seit ich, 2002 von Rom nach Heidelberg kommend, bei der Suche nach einem zeitlosen und von kurzlebigen Moden möglichst unberührten Habilitationsthema auf diesen unerschöpflichen Gegenstand traf – und in der Person Klaus Beyers (1929–2014) auf den Lehrer meines Lebens.

Weil sich das aramäische Schrifttum über etliche Jahrhunderte im steten Wandel langlebiger Einrichtungen wie Schreiberschulen, Verwaltungszentren und gelehrter Tradentenkreise immer wieder verjüngt hat, bildet der Aufbau generell die chronologische Entwicklung ab. Sie beginnt mit dem Auftreten der ersten aramäischen Schriftquellen um die Mitte des neunten vorchristlichen Jahrhunderts. Ein zwar nicht unausweichlicher, aber bei diesem Thema doch naheliegender Ausklang ist die Verwandlung der Spätantike durch die Ausbreitung und Konsolidierung des Arabischen im vormaligen Sprachgebiet des Aramäischen vom achten bis zum zehnten nachchristlichen Jahrhundert. Sie beendete einmal die bis dahin vorherrschende Funktion des Aramäischen als ein globales, in verschiedenen Kulturen und Glaubensgemeinschaften produktives, diese somit verbindendes schriftliches Ausdrucksmittel. Darüber hinaus unterbrach die Verbreitung des Arabischen das weitläufige Netz miteinander verflochtener aramäischer Mundarten.

Aus der Chronologie folgt eine thematische Ordnung der Gegenstände, denn das Aramäische hat sich phasenweise aus einer lokalen Repräsentations- und Verwaltungssprache über ein imperiales Verständigungsmittel zu einer literarischen Ausdrucksform entwickelt. Die Einteilung der Kapitel ist dabei nach institutionellen Kontexten gegliedert: von den alten Fürstentümern Syriens über die reaktive Anerkennung als zweites offizielles Medium im assyrischen und babylonischen Reich, die aktiv vorangetriebene Zentralisierung und Normierung durch die achämenidische Staatskanzlei, die Implementierung als nationale Literatursprache Judäas bis zur regionalen Aufspaltung der gemeinsamen Schriftsprache und zur Textgelehrsamkeit in verschiedenen ähnlich strukturierten Religionen. Entsprechend seiner rezeptionsgeschichtlichen Bedeutung wurde dem zentralen Kapitel über das Aramäische in der biblischen Tradition bewusst ein etwas größerer Umfang eingeräumt. Der aramäisch-arabischen Symbiose in Nordarabien ist eine separate Behandlung gewidmet, weil genau diese Verschmelzung am Ende eines langen Prozesses die arabische Schriftsprache hervorgebracht hat. In den Ausführungen zu einzelnen Gebieten wechseln sich Synopse und Detailstudie ab. So sollen Schreiberkultur und schreiberische Traditionen nicht nur als roter Faden sichtbar werden, der alle aramäischen Verwaltungs- und Literatursprachen über Räume und Zeiten miteinander verknüpft, sondern, je nach Quellenlage, auch ihre konkreten Funktionen erläutert werden. Politische und soziale Geschichte sowie materielle Kultur werden hingegen nur behandelt, soweit sie die Voraussetzungen für ein dauerhaftes Schreibertum geschaffen haben. Als Folge der trümmerhaften Dokumentation zumal der älteren Phasen, die noch keine durchlaufende Handschriftenüberlieferung kannten, muss ständig auf die Grenzen dessen hingewiesen werden, was man zuverlässig wissen kann.

Anders als die meisten anderen antiken Sprachen wird Aramäisch in Gestalt seiner modernen Dialekte bis auf den heutigen Tag ohne Unterbrechung auf natürlichem Wege von Kindern erlernt und inzwischen überall auf der Welt in verstreuten Migrantengemeinschaften zur alltäglichen Verständigung gebraucht. Vereinzelte Dialekte haben in Anlehnung an die klassischen aramäischen Literaturen wiederum eigene Schrifttraditionen hervorgebracht; doch auch wo das nicht der Fall war, besteht, wie im syrischen Christentum, weiterhin zumindest eine indirekte Partizipation an der hochsprachlichen kulturellen Überlieferung. Deshalb resümiert am Ende ein kurzer Ausblick die neuzeitliche Entwicklung des Aramäischen, denn sie ist unlöslicher Teil ihres dreitausendjährigen Kontinuums, auch wenn sie sich längst unter vollkommen anderen Bedingungen vollzieht als in den vielfältig miteinander verbundenen schreiberischen Institutionen zwischen dem Alten Orient und dem frühen Kalifat.

In Zitaten aus den verschiedensten Epochen, Regionen und Kulturen des aramäischen Schrifttums kommen unterschiedliche Träger der Schreiberkultur selbst zu Wort. Sämtliche Übersetzungen wurden vom Autor speziell für diesen Zweck angefertigt und streben eine möglichst genaue Wiedergabe an, ohne dass bei schwierigen Stellen die Entscheidung für ein bestimmtes Verständnis explizit begründet wird. Hinweise auf Editionen und Kommentare bahnen jedoch den Weg zu einem vertieften Studium der Primärquellen. Aus Gründen der Lesbarkeit sind Orts- und Personennamen in vereinfachter Umschrift ohne erklärungsbedürftige diakritische Zeichen wiedergegeben. Lediglich bei den vereinzelten aramäischen Begriffen nähert sich die Transkription wissenschaftlichen Gepflogenheiten an, allerdings aus Mangel an einem einheitlichen und allgemein akzeptierten System ebenfalls in der Form eines Kompromisses. Auf Einzelheiten bei der Rekonstruktion der Aussprache im Original nur konsonantisch geschriebener Wörter wurde nicht eingegangen; wer mehr darüber wissen möchte, kommt in den beiden vorausgehenden Aramäischbüchern des Verfassers hoffentlich zu seinem Recht.

Ulrich Nolte hat das Buch angeregt und zusammen mit Petra Rehder im Lektorat betreut, Lea Gzella, Kilian Feßler und Angela Kern haben bei ihrer aufmerksamen Durchsicht des Manuskripts zahlreiche Verbesserungen beigetragen. Kilian Feßler hat sich darüber hinaus mit vorbildlicher Zuverlässigkeit um die Reproduktionsrechte für die Abbildungen gekümmert, in zahllosen Bibliotheksgängen Literatur beschafft und das Stichwortverzeichnis erstellt. Marie Hell schließlich hat für mich während ihres Studiums in Jerusalem Photos von Inschriften im Israel-Museum angefertigt. Nur dank der Mithilfe dieser guten Geister war ich überhaupt in der glücklichen Lage, mich monatelang gänzlich ungestört den drei eigentlichen Aufgaben eines Wissenschaftlers zu weihen, nämlich Lesen, Denken und Schreiben, und zwar, getreu der Empfehlung Quintilians, größtenteils während der Stille der Nacht, in räumlicher Abgeschiedenheit und beim Schein der Studierlampe (Institutio oratoria X,3,25).

Ein besonderes Privileg ist für mich die Förderung durch die Gerda Henkel Stiftung und die Aufnahme in deren Historische Bibliothek, da meine wissenschaftliche Arbeit sonst meist «unter Tage» stattfindet und in bewährter philologischer Manier das liebenswürdige Einzelne der Synthese aus einem Guss überordnet, nicht umgekehrt. Die Ludwig-Maximilians-Universität München sowie die Katholisch-Theologische Fakultät haben mir über ein menschlich, intellektuell und bibliothekarisch ohnehin geradezu ideales Umfeld hinaus ein vorgezogenes Forschungsfreisemester gewährt und damit eine zügige Fertigstellung im Winter 2021/22 ermöglicht. Literatur, die bis zum Osterfest 2022 vorlag, konnte vollauf berücksichtigt werden.

Gewidmet ist das Buch meiner Frau Lea als Hochzeitsgabe. «Von Herzen – Möge es wieder – Zu Herzen gehn!»

1. Ein unsichtbares Weltreich

Aramäisch und seine Quellen

Wer im Zentrum Amsterdams die Keizersgracht entlanggeht, sei es südwärts nach einem Besuch des Anne-Frank-Hauses auf dem Weg zum Photographiemuseum FOAM, sei es in nördlicher Richtung vom Rijksmuseum zurück zum Hauptbahnhof oder schlicht beim Einkaufsbummel in den vielen kleinen Geschäften der «Neun Straßen», bemerkt vielleicht bei Nummer 220 ein ungewöhnliches Schild. Es ist an der Außenmauer der Liebfrauenkirche, wörtlich «Muttergotteskirche», gut sichtbar angebracht und mit einer doppelten Aufschrift versehen. Die niederländische Fassung kann man selbst ohne Kenntnisse der Sprache Vondels oder Hoofts unmittelbar verstehen: «De Moeder Gods-kerk van de Syrisch-Orthodoxen Amsterdam». Sie weist darauf hin, dass diese Kirche, 1854 fertiggestellt und damit eine der ersten neugotischen der Niederlande, seit dem Jahre 1985 der syrisch-orthodoxen Gemeinde gehört, die sie vom katholischen Redemptoristen-Orden erworben hatte, obschon dort weiterhin zugleich römisch-katholische Gottesdienste gefeiert werden.[*1]

Über dem niederländischen Text befindet sich an erster und damit an prominenter Stelle ein anderer gleichen Inhaltes, aber in einer Schrift und Sprache, die selbst aus dem Amsterdamer Wimmelbild der Restaurant- und Ladenschilder mit Bezügen zu aller Herren Länder heraussticht. Wörtlich übersetzt lautet er: «Kirche der Gottesgebärerin Maria der Syrer orthodoxen Bekenntnisses, Amsterdam». Die exotisch anmutenden, «westsyrisch» genannten Zeichen sind Teil der westsemitischen Alphabetfamilie, aus der sich neben diesen in direkter Linie ebenso die griechischen, lateinischen, hebräischen, arabischen, kyrillischen und andere Buchstaben entwickelt haben. Geschrieben sind die Worte auf Klassisch-Syrisch, das heißt in der Liturgie- und Kirchensprache der am weitesten verbreiteten orientalisch-christlichen Tradition. Ihr Einfluss reichte einst über den gesamten Mittleren Osten bis nach China, heute durch Diasporagemeinden immerhin noch in einzelne Städte Europas, Nordamerikas und Australiens. Das Syrische bildet zusammen mit seinen zahlreichen Schwesterdialekten eine kumulativ noch viel bedeutendere Sprachgruppe. In anderen Vertretern derselben Gruppe sind überdies längere Passagen des Alten Testaments, etliche Schriftrollen aus Qumran und große Stücke des Talmuds verfasst, ihre modernen Ableger kann man aber auch im öffentlichen Nahverkehr von Metropolen wie London, Paris oder Berlin immer wieder hören. Es handelt sich um das Aramäische.

Syrische Inschrift an der Liebfrauenkirche in Amsterdam, Keizersgracht 220

Die Formulierung des Hinweisschildes mutet unscheinbar an, trägt aber bei aller Schlichtheit die Prägung von dreitausend Jahren Kulturgeschichte. Der hier nach der Aussprache transkribierte Ortsname Amsterdam stammt natürlich erst aus der Neuzeit. Doch schon der Ausdruck «Gottesgebärerin» im Namen der Kirche ganz am Anfang reicht in die christologischen Debatten des fünften Jahrhunderts zurück und bezieht darin unmissverständlich Stellung. Er bezeugt nämlich den Glauben der westsyrischen Tradition an die in Christus untrennbar verbundene göttliche und menschliche Natur, weshalb Maria mit dem Menschen Jesus von Nazareth zugleich Gott, den Schöpfer der Welt, geboren hat. In der ursprünglich geographisch, nachher soziokulturell verwendeten Bezeichnung «syrisch» spiegelt sich daneben der spätantike Wandel von politisch-regionaler zu länderübergreifender konfessioneller Zugehörigkeit. Zu jener Zeit war nämlich der einheimische Name «Aramäer» durch die Konnotation «Heide» negativ besetzt, weshalb sich Christen nach dem griechischen Toponym «Syrien» benannten und so zugleich ihr Band mit der griechisch-christlichen Kultursprache der byzantinischen Kirche betonten. Noch weiter in die Vergangenheit führt das erste Wort, ʿēttā «Kirche», das im Syrischen aus dem Urtext der Hebräischen Bibel entlehnt ist (ʿēḏā «Versammlung, Gemeinde») und an die jüdischen Wurzeln des Christentums erinnert. Die bis heute offizielle Fassung des syrischen Alten Testamentes wurde bereits im zweiten nachchristlichen Jahrhundert übersetzt und ist damit ein gutes Stück älter als die lateinische Vulgata, sein Gegenstück in der katholischen Kirche. Der religiösen Schriftkultur geht wie so oft eine amtliche voraus. Die Buchstabenformen und orthographischen Regeln, die in der modernen Inschrift fast unverändert fortbestehen, sind einer vorchristlichen Kanzleischrift entsprungen. Sie belegen die Anfänge der syrischen Literatur im Verwaltungswesen eines Kleinstaates in der heutigen Südosttürkei in hellenistisch-römischer Zeit mit zunächst eng begrenztem Einflussgebiet. Aus dem syrischen Terminus trīṣ šoḇḥā «orthodox», wörtlich «rechten Lobes», bei der Konfessionsangabe «syrisch-orthodox» führen gleich zwei Spuren zum Aramäischen der Antike zurück. Einmal steckt darin dasselbe Wort für «ordnen, richtigstellen», das in einer Inschrift aus Palmyra aus dem Jahre 89 n. Chr. für die Neuordnung der Verhältnisse eines paganen Tempels begegnet, zum anderen das Verb für «preisen», das im alttestamentlichen Buch Daniel aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert das Bekenntnis zum wahren Gott bezeichnet. Theologische Denkformen können nach uralter Auffassung schließlich nicht abgekoppelt werden von Gebet und Lobpreis als den zentralen religiösen Vollzügen. Auch das Nomen ʾalāhā «Gott» im Titel «Gottesgebärerin» ist das gleiche wie in den frühesten bekannten aramäischen Inschriften aus dem neunten Jahrhundert v. Chr., nur mit einer leicht veränderten Lautung. Alle diese Lexeme gehören zum gemeinsamen aramäischen Grundwortschatz und haben durch ihren Gebrauch über die Jahrtausende eine tiefe leuchtende Patina angenommen.[*2]

Genealogie und Sprachbezeichnungen.  Aramäische Sprachen dienten während ihrer langen Geschichte etlichen verschiedenen Völkern, Institutionen und Religionsgemeinschaften als mündliche oder schriftliche Verständigungsmittel. Ohne übergeordnete Prestigekultur konnte eine gemeinsame Schrifttradition nur innerhalb der imperialen Verwaltung gedeihen, die Assyrer, Babylonier und Achämeniden zwischen dem späten achten und dem späten vierten vorchristlichen Jahrhundert für ihre Großreiche eingerichtet hatten. Mit dem Zerfall des letzten dieser Reiche in zumindest nominell selbständige Staaten der hellenistischen Welt spaltete sich auch das aramäische Schrifttum in regionale Kanzlei- und Literaturtraditionen auf, die genauso wenig wie die seit jeher im Alltag gebrauchten Dialekte einer zentralen Steuerung unterlagen. Spätestens seit dem Ende des achten vorchristlichen Jahrhunderts bildeten Sprecher und Schreiber des Aramäischen folglich keine sozial oder kulturell in irgendeiner Weise kohärente ethnolinguistische Gemeinschaft innerhalb der Gesamtbevölkerung Westasiens mehr.

Aus diesem Grund existiert «das» Aramäische nicht als konkrete, einheitliche und universelle Größe wie die griechische Koiné oder das klassische Latein, sondern nur als linguistische Abstraktion, ähnlich dem Romanischen oder dem Germanischen. Die Zugehörigkeit der historischen Einzelsprachen, ob nun mit oder ohne Schrifttradition, zur aramäischen Familie gründet in bestimmten gemeinsamen Merkmalen des Laut-, Formen- und Vokabelbestandes, die einerseits systematisch genug sind, um die Gestalt einer Sprache zu bestimmen, und andererseits so spezifisch, dass sie kaum unabhängig voneinander entstanden sein können. Ob man solche Gemeinsamkeiten primär als Überbleibsel eines älteren Stadiums erklärt, von dem sich durch Migration einzelner Sprechergruppen neue Varianten mit wiederum je eigenen Charakteristika abgezweigt haben, oder als Folge gegenseitiger Angleichung in räumlichen oder sozialen Kontaktzonen, hat jedoch für das definitorische Gewicht keine Bedeutung.[*3]

Bis zur Auflösung des zusammenhängenden aramäischen Sprachgebietes in kleinere Inseln in islamischer Zeit ist ein ziemlich konstanter grammatischer Bauplan erkennbar. Grundlegende Gemeinsamkeiten in Phonologie, Morphologie und Syntax verbinden die Erscheinungsformen des Aramäischen untereinander und mit den Mitgliedern ihrer weiteren Familie, des Semitischen, im Unterschied zu den indogermanischen Sprachen Europas und Asiens. Der Bestand bedeutungsunterscheidender Laute ist vergleichsweise reich. Charakteristisch sind dabei einmal eine ganze Reihe verschiedener Kehllaute, zum anderen einige Konsonanten, die ursprünglich mit Stimmabsatz artikuliert wurden, dann in einigen Sprachen (darunter zumindest spätere Stufen des Aramäischen) mit gegen den Vordergaumen gepresstem Zungenrücken. Die langen Vokale blieben stabil, die kurzen, von denen a am häufigsten vorkam, waren jedoch namentlich im Aramäischen im Laufe der Zeit vielen Änderungen unterworfen und wurden regelmäßig von umgebenden Konsonanten beeinflusst.

Typisch semitisch ist auch die Wortbildung nicht durch Komposita, sondern durch Ableitungen von einer im Regelfall gleichbleibenden, meist dreikonsonantigen oder zumindest einem dreikonsonantigen Schema angeglichenen Wurzel mit abstraktem Bedeutungskern. Durch inneren Vokalwechsel und teils Präfixe entstehen aus solchen Wurzeln auf im Prinzip die gleiche und überwiegend vorhersehbare Weise sowohl nominale als auch verbale Stämme. Solche Bildungsmuster korrelieren beim Nomen zuweilen mit bestimmten Bedeutungsklassen wie nomina agentis und Verbalsubstantiven (bei Substantiven, die Dinge bezeichnen, sind Konsonanten und Vokale allerdings oft zu einer untrennbaren Einheit verschmolzen), beim Verb stets mit Bedeutungsbeziehungen wie Kausativ, Faktitiv, Passiv und dergleichen. Aus den jeweils festen Stämmen werden konkrete Wörter geformt, indem Endungen hinzutreten, bei einigen Verbalkonjugationen zudem Präformative, die das maskuline und feminine Genus sowie die Einzahl oder Mehrzahl (nebst Rudimenten einer Zweizahl), beim Nomen auch die Bestimmtheit und beim Verb die Person bezeichnen.

Ein ursprüngliches Kasussystem war schon im ältesten Aramäisch geschwunden. Weil für die Anzeige von Tempus (Zeit), Aspekt (Verlauf) und Modalität (Wirklichkeit) ursprünglich nur wenige Konjugationen zur Verfügung standen, sind diese Kategorien auch formal miteinander eng verknüpft; die Integration des Partizips ins Verbalsystem führte im Aramäischen im Laufe der Zeit zu verschiedenen neuen Formen zur Anzeige namentlich von Tempus und Aspekt. In der Syntax begegnen häufig Nominalsätze, wobei eine Kopula «sein» erst spät entstand. Logische Abhängigkeit wird nur teilweise durch grammatische Unterordnung bezeichnet, und Relativsätze sind formal selbständige Hauptsätze. Die Wortstellung schwankt, besonders im Aramäischen. Der Wortschatz kennt kein eigenes Verb für «haben»; verschiedene Modalverben ergänzen die ursprünglich begrenzten Möglichkeiten, Adverbia zu bilden.[*4]

Nur sehr wenige spezifische Lautveränderungen und grammatische Bildeelemente, wie beispielsweise die typisch aramäischen Endungen eigens für determinierte Nomina, erlauben es, sämtliche aramäischen Sprachen einander zuzuordnen und von anderen historisch verwandten, wiederum jeweils diversifizierten Gruppen derselben semitischen Großfamilie abzugrenzen. In abnehmendem Grade der Verwandtschaft sind dies das Hebräische und das Phönizische, mit denen das Aramäische dasselbe unmittelbare kulturelle Umfeld teilt; dann das Arabische, zu dem es immerhin phasenweise in enger Verbindung stand; manche der Sprachen Äthiopiens, mit denen es sich jedoch anscheinend erst in der Spätantike direkt berührte; und schließlich das Akkadische in Mesopotamien, das zwar im Stammbaum einen Platz ganz am anderen Ende innehat, aber neben dem Aramäischen mehrere Jahrhunderte lang in einer zum großen Teil zweisprachigen Gesellschaft verwendet wurde. Sie alle zusammen bilden das Semitische. Nachdem völkerkundliche Mutmaßungen des späten neunzehnten Jahrhunderts über einen gleichnamigen Menschentyp nach ihren katastrophalen Auswirkungen im zwanzigsten Jahrhundert endgültig als wissenschaftlich unhaltbar erwiesen wurden, ist «semitisch» nur noch als ausschließlich linguistischer Begriff brauchbar.

Allerdings verbreitete sich das Aramäische nicht als Komponente einer bereits entwickelten Kolonialverwaltung, bei der ganze Mitarbeiterstäbe aus der Heimat in die Fremde verpflanzt wurden und dort weiterhin ihre gewohnte Lebensweise pflegten. Ebenso wenig strahlte es als Medium einer als überlegen wahrgenommenen Literatur, Wissenschaft oder anderen intellektuellen Tradition über politische Grenzen aus. Deshalb gibt es keinerlei Anzeichen für eine typisch aramäische Kultur mit konstitutiven, über Raum und Zeit stabilen Elementen wie gesonderten Formen des Handwerks, Brauchtums oder Feierns. Aramäisch ist also eine verzweigte Sprache, die sich primär in einem weitgespannten Netz schreiberischer Formen und Techniken verstetigt hat. Der moderne Oberbegriff geht auf die älteste bezeugte Selbst- und Fremdbezeichnung der Sprache zurück. Das Adjektiv «aramäisch» ist von dem Toponym «Aram» für die Region etwa entsprechend der Syrischen Wüste bis zum Fluss Euphrat abgeleitet.[*5]

In aramäischen Quellen begegnet es zuerst in einem Vertrag von der Nilinsel Elephantine aus dem fünften Jahrhundert v. Chr. Dieser früheste Beleg bezeichnet die Tätowierung von Sklaven, ohne dass man entscheiden könnte, ob es sich auf die Kanzleisprache des achämenidischen Großreiches oder bloß auf die mit ihr assoziierte Schrift bezieht. Eindeutig linguistisch gebraucht wird das gleiche Wort sodann im Alten Testament. Dort wird zweimal ausdrücklich der Wechsel vom Hebräischen zum Aramäischen angezeigt, einmal im Buch Esra aus dem vierten oder dritten vorchristlichen Jahrhundert und zum anderen im Buch Daniel, das um 164 v. Chr. abgeschlossen wurde. Jedoch meint «aramäisch» in Esra und Daniel nicht die achämenidische Verwaltungssprache, sondern die regionale aramäische Literatursprache, die sich im jüdischen Palästina aus jener entwickelt hatte. In einer hebräisch verfassten Anekdote aus dem zweiten Königsbuch über eine Gesandtschaft des assyrischen Großkönigs, die im achten Jahrhundert spielt, aber in späterer Zeit aufgeschrieben sein könnte, bezeichnet «aramäisch» indes die aufstrebende, noch nicht fixierte Verkehrssprache der früheren mesopotamischen Reiche. Man betrachtete also alle diese Varianten trotz kleinerer linguistischer Differenzen sowie unterschiedlicher gesellschaftlicher Einbindungen als verwandt.[*6] Griechische und römische Schriftsteller nannten die Sprache hingegen nach ihrem primären Verbreitungsgebiet überwiegend «syrisch». Mit derselben Bezeichnung geben auch die griechischen und lateinischen Bibelübersetzungen das Adjektiv «aramäisch» des originalen Wortlautes wieder. Dabei liegt dem Toponym Syrien, das aus einer Verkürzung des alten mesopotamischen Landschaftsbegriffs «Assyrien» entsprechend etwa dem heutigen Nordirak abgeleitet ist, generell keine genaue und einheitliche geographische Definition zugrunde.[*7] Deshalb dient das Attribut «syrisch» in der klassischen Literatur als ein Sammelbegriff im weiteren Sinne. Neben einem fremden Zungenschlag und einer Herkunft irgendwo aus dem Großraum Syrien-Palästina schließt er zuweilen ethnische Vorurteile wie übermäßigen Parfümgebrauch, penetrante Leutseligkeit oder einen verweichlichten Charakter mit ein, vergleichbar dem deutschem «levantinisch».[*8] Ein Kenner der Region wie der Epigrammatist Meleager von Gadara (im heutigen Jordanien) aus dem ersten Jahrhundert v. Chr. verband freilich eine syrische Abstammung zutreffend mit aramäischer Sprache. In seinem Vers «Bist du ein Syrer, so grüß ich ‹Salām›!» transkribiert er nämlich ganz korrekt den entsprechenden Gruß in Abgrenzung vom phönizischen und griechischen Äquivalent.[*9] Mit demselben Wort, wörtlich «Friede!», begrüßen einander bis auf den heutigen Tag Christen der syrischen Kirchen. Ebenso verhält es sich mit dem selteneren Adjektiv «assyrisch». Griechische Historiographen der achämenidischen Epoche wie Thukydides verwendeten es für das Reichsaramäische; das Römische Recht der Kaiserzeit bezeichnete so das Syrische als Sprache gültiger Verträge. Die klassisch-lateinische Dichterdiktion wiederum kennt es als poetisches Wort für «orientalisch», namentlich bei Salben, Färbemitteln und aromatischen Pflanzen, aber auch bei edlen Materialien.[*10] Der Hauptgrund dafür ist, dass Luxusgüter von den phönizischen Städten, die damals zur römischen Provinz Syrien gehörten, in den Westen des Reiches verschifft wurden. Sobald jedoch in der Spätantike die religiöse Identität die regionalen Wurzeln als Identifikationsmerkmal einer Person zu überlagern begann, trat auch bei den verschiedenen Erscheinungsweisen des Aramäischen die Zugehörigkeit zur selben Sprache in den Hintergrund. Die zuvor klar wahrgenommene Einheit zerfiel in einen christlichen und in einen jüdischen Zweig aramäischer Traditionsliteratur, obwohl sich beide aus durchaus verschiedenen Schriftsprachen auf der Grundlage ganz unterschiedlicher lokaler Dialekte zusammensetzen. Ihre Gemeinsamkeit besteht hauptsächlich im Gebrauch derselben Buchstabenformen, teils auch in einem religiös-kulturellen Vokabular, nicht aber in übergreifenden linguistischen Erscheinungen. Das Aramäische der Christen Palästinas etwa steht dem ihrer jüdischen Nachbarn sprachlich wesentlich näher als dem ihrer mesopotamischen Glaubensgenossen. Kirchenschriftsteller des vierten Jahrhunderts wie der Exeget Hieronymus oder die Pilgerin Egeria bezeichneten deshalb auch den aramäischen Dialekt der palästinischen Christen etwas unscharf als «Syrisch» (sermone Syro, voce Syra oder siriste), während mit dem Attribut «aramäisch» sowohl im jüdischen wie im christlichen Gebrauch nun immer häufiger die Konnotation «heidnisch» mitklang. Deshalb hatten die Christen aramäischer Sprache innerhalb des hellenistisch-römischen Kulturkreises größtenteils diesen ursprünglich griechischen Namen übernommen.[*11] So notiert Egeria in ihrem Reisebericht über die Sprachverhältnisse in Palästina:

Und weil in dieser Provinz ein Teil der Bevölkerung sowohl Griechisch als Aramäisch («Syrisch») kennt, ein anderer Teil aber nur Griechisch, ein weiterer Teil lediglich Aramäisch, und weil der Bischof, auch wenn er Aramäisch kennt, dennoch immer Griechisch spricht und niemals Aramäisch, deshalb steht also immer ein Priester bereit, der, wenn der Bischof Griechisch spricht, ins Aramäische übersetzt, damit alle verstehen, was erklärt wird. Weil auch alle Lesungen, die in der Kirche vorgetragen werden, auf Griechisch vorgetragen werden müssen, steht immer jemand bereit, der sie des Volkes wegen ins Aramäische übersetzt, damit sie immer etwas lernen. Damit freilich die Lateiner an Ort und Stelle, die ja weder Aramäisch noch Griechisch kennen, sich nicht betrüben, wird es auch ihnen erklärt, zumal es andere griechisch-lateinische Mönche und Nonnen gibt, die es ihnen auf Latein erklären.[*12]

Für aramäische Sprachen der jüdischen Literatur indes wurde im Lateinischen seit Hieronymus’ Danielkommentar bis in die neuzeitlichen Wissenschaftssprachen hinein zuweilen der Term «Chaldäisch» verwendet. Das rührt daher, dass nach Daniel (2,4) die Zukunftsdeuter am babylonischen Hof, «Chaldäer» genannt, auf Aramäisch kommunizierten. Griechische Historiographen bezeichneten so zuweilen babylonische Priester. Da man aber bereits im Klassischen Latein mit Chaldaei unter dem Einfluss des babylonischen, also aus dem Land der Chaldäer stammenden hellenistischen Astrologen Berossus meist, und oft in despektierlicher Weise, ganz allgemein Wahrsager meinte, konnte sich das Wort in der Antike nicht als linguistischer Begriff etablieren. Erst im Mittelalter wurde es durch die Hieronymus-Rezeption gängig.[*13] Obwohl der Gegenstand also viel umfassender ist, als die Gliederung der schriftlichen Überlieferung in «Syrisch» und «Chaldäisch», später «christliches Aramäisch» und «jüdisches Aramäisch», vermuten lässt, setzt diese Zweiteilung sich bis weit in die neuzeitliche Erforschung der Sprache fort.[*14] Denn sobald im frühmodernen Europa die humanistische Gelehrsamkeit auch über das lateinische und griechische Schrifttum hinauszugreifen begann, bestanden die verfügbaren Quellen einmal aus Bibel, Liturgie und Kirchenvätern des syrischen Christentums, zum anderen aus den aramäischen Teilen des Alten Testamentes sowie der rabbinischen Literatur. Beide hatten eigene philologische Traditionen herausgebildet, die in die Grammatik, Lexikographie und Editionspraxis der aufsprießenden semitischen Sprachwissenschaft einflossen und sich zu einem teils noch heute tragenden Fundament verfestigten. Zwar kamen bereits im Mittelalter einzelne europäische Reisende mit aramäischsprachigen Bewohnern des Nahen Ostens in Berührung. Wilhelm von Rubruk etwa traf Mitte des dreizehnten Jahrhunderts auf ostsyrische Christen selbst im Mongolenreich, und die Notablen von Paris, Bordeaux und Rom konnten 1287/1288 den in Peking geborenen ostsyrischen Mönch Rabban Sauma auf Europabesuch kennenlernen. Doch das hat ebenso wenig zu einer nennenswerten Beschäftigung mit aramäischer Sprache und Schrifttum geführt wie die nur in wenigen Ausnahmefällen mehr als oberflächliche Kenntnis, die selbst gebildete Christen von der Existenz einer hebräischen Textkultur in jüdischen Gemeinschaften in Südspanien, im Rheinland und anderswo besaßen.[*15]

Philologia sacra.  Doch ab dem fünfzehnten Jahrhundert intensivierten sich schon ältere, zunächst allerdings noch sehr zaghafte römisch-katholische Interessen an der Einheit mit den orientalischen Kirchen. Sie zogen seit der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts verstärkt Kleriker der maronitischen Kirche, die zur syrischen Tradition gehört, samt Handschriften ihrer maßgeblichen Texte ins Umfeld römischer Ausbildungsstätten, von wo ihr Wirken in die übrigen europäischen Länder ausstrahlte.[*16] Schon etwas früher hatten christliche Hebraisten begonnen, zum Zwecke eines vertieften Verständnisses der Bibel auf der Grundlage originalsprachlicher Texte systematisch Begriffe, Konzepte und Methoden der jüdischen Grammatik und Exegese zu übernehmen, die seit dem Mittelalter von Rabbinen in Europa gepflegt wurden, und in eigenen Handbüchern zu kodifizieren. Weitgespannte Netze zwischen jüdischen, mitunter zum Christentum konvertierten, und katholischen sowie protestantischen Gelehrten verschiedener Denominationen ermöglichten mithilfe des aufblühenden Verlags- und Druckereiwesens einen quirligen Wissensaustausch. Dabei behauptete das Hebräische mit großem Abstand die Führung, betrachtete man es doch als die Ursprache der Menschheit (dass die syrischen Christen diesen Ehrenplatz natürlich dem Aramäischen einräumten, änderte nichts daran). Doch im beginnenden Drittel des sechzehnten Jahrhunderts erschienen auch die ersten Grammatiken und Wörterbücher, die sich speziell mit dem Aramäischen befassten. Ihr Autor, der Heidelberger Kosmograph und Orientalist Sebastian Münster (1488–1552), blickte einem früher vom Hundertmarkschein entgegen.[*17]

Weil einstweilen niemand das Aramäische zu einem Forschungsgegenstand eigenen Rechts erhob, wie Hiob Ludolf (1624–1704) im siebzehnten Jahrhundert das Äthiopische und Johann Jacob Reiske (1716–1774) mehr als ein Menschenalter später das Arabische, blieb es für Jahrhunderte einer dienenden Rolle verhaftet. Man studierte es, um Zugang zu alten jüdischen und christlichen Bibelübersetzungen sowie zu kirchengeschichtlichen und exegetischen Quellen zu erhalten. Im Vordergrund standen dabei Wortlaut und Interpretation der Heiligen Schrift, und zwar noch ohne eine Scheidung in eine alttestamentliche und eine neutestamentliche Wissenschaft. Ihnen suchte man sich durch einen ständigen Vergleich der verschiedenen antiken Wiedergaben und die Konsultation jüdischer Autoritäten anzunähern. Die Bibelpolyglotten des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, deren Umfang mit der Erschließung weiterer Fassungen stetig wuchs, brachten den Bestand dieser philologia sacra in der Form paralleler Spalten in eine Zusammenschau. Neben der dort mitgegebenen lateinischen Übersetzung bereiteten ihn mehrsprachige Wörterbücher und vergleichende Grammatiken didaktisch auf. In den ausführlichen etymologischen Angaben selbst kleinerer Lexika für den heutigen akademischen Elementarunterricht, die darin weit über das Maß der gängigen griechischen und lateinischen Schulwörterbücher hinausgehen, wirkt diese Tradition nach. Dabei ist es mittlerweile längst nicht mehr üblich, dass Theologen mit Vorliebe für die Exegese wie noch in den fünfziger und sechziger Jahren jedes Semester eine neue semitische Sprache erlernen. Auflagenstarke theologische Handbücher des siebzehnten Jahrhunderts erlauben Einblicke in die praktische und funktionale Verwendung aramäischen Materials zu vergleichenden Zwecken. Die 1623 erschienene Philologia sacra des Salomo Glassius zum Beispiel führt die Targume, die interpretierenden rabbinischen Bibelübersetzungen, als Beleg für «messianische» Auslegungen prophetischer und anderer Schriftstellen schon in der frühen jüdischen Rezeptionsgeschichte an, die das christliche Verständnis des Alten Testamentes als Präfiguration des Neuen stützen sollten. Johannes Hülsemanns Methodus concionandi aus dem Jahr 1638 empfiehlt eine tägliche wiederholte Lektüre einzelner Kapitel der Heiligen Schrift im Original mit kurzen Zusammenfassungen des Gedankenganges, Nachschlagen in ausgewählten Kommentaren, Sammlung thematisch verwandter Parallelstellen aus Wörterbüchern und Konkordanzen und eine abschließende fromme Besinnung zur Reinigung der Gedanken.[*18] Zu einer ausgefeilten kanonischen Methodenlehre wie in der Textkritik erst der klassischen Sprachen, dann des Neuen Testaments, reiften die vergleichenden Beobachtungen an aramäischen und anderen semitischen Texten aber nicht heran.[*19] Daher rührt ein gewisser sprachwissenschaftlicher Dilettantismus in der Fachtradition bis in die Neuzeit. Auch Versuche, das Verhältnis der jüdischen und christlichen Formen des Aramäischen zueinander und zu anderen semitischen Sprachen systematisch zu klären, wie sie zumal der Universalgelehrte Joseph Justus Scaliger (1540–1609) unternommen hatte, blieben in dieser frühen Periode Ausnahmen.[*20] Die aufkommende historische Kritik, die durch die Freilegung der verschiedenen Schichten des Alten Testaments die Entstehung der einzelnen biblischen Bücher nachzuzeichnen erstrebt, hat die Erforschung des Aramäischen kaum gefördert. Diese wurde somit weiterhin als reines Hilfsmittel für das Studium jüdischer und syrisch-christlicher Quellen zur Bibelauslegung und den kirchlichen Altertümern betrieben, wobei die Beschäftigung mit rabbinischer Exegese und die Wortphilologie gegenüber literaturgeschichtlichen Entwürfen in den Hintergrund traten.

Das Aramäische in der modernen Forschung.  Das änderte sich gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts, als Jean-Jacques Barthélemy (1716–1795) die Entzifferung über das ganze römische Reich verstreuter aramäischer Epigraphe in der Schriftsprache der Oasenstadt Palmyra in der Syrischen Wüste gelang. Einzelne Inschriften waren zwar schon länger bekannt, konnten jedoch nicht gelesen werden, weil sich die Buchstabenformen trotz historischer Verwandtschaft nicht unmittelbar aus der jüdischen oder der syrischen Schrift ableiten ließen. Die Kenntnis ihrer älteren Entwicklungsstufen erlaubte es danach aber, das epigraphische Material, das im neunzehnten Jahrhundert durch Reisen und Ausgrabungen im Vorderen Orient rasch anwuchs, in die aramäische Sprachgeschichte einzuordnen und ihren Horizont jenseits der syrisch-christlichen und der rabbinischen Traditionsliteratur zu erkunden.[*21]

Umfangreiche neue Textfunde, eine stark empirisch-historische Ausrichtung und die Herausbildung einer bürgerlichen Orientalischen Philologie ähnlich der Romanistik oder Germanistik neben einer in wachsendem Maße spezialisierten alttestamentlichen und neutestamentlichen Exegese innerhalb der Theologie emanzipierten sodann das Aramäische als Gegenstand eigenen Rechts. Grammatiken, Wörterbücher und Textausgaben bezogen ihre Anerkennung folglich nicht mehr nur aus ihrem Nutzen für das Verständnis der Heiligen Schrift, denn pagane Grab- und Ehrenmäler oder aramäische Literaturen anderer Religionsgemeinschaften wie der Samaritaner und Mandäer wurden mit der gleichen Leidenschaft und Scharfsinnigkeit untersucht wie zuvor Bibelstellen. Die veränderte Quellenlage förderte einen genuin historischen Zugang zur Sprache, weil die durch ihre beständige Weitergabe nach Zeitlosigkeit strebenden kanonischen Literaturen nun ihre Ergänzung fanden in Momentaufnahmen aus dem Alltagsleben. Es sind dies hauptsächlich Gedenkinschriften auf Stein, kurze Quittungen und Auftragszettel auf Tonscherben sowie längere Briefe, Verträge und Wirtschaftsurkunden auf Papyrus und Leder. Die vielfältige Beschaffenheit ihrer Textträger verlangte nach weiteren Spezialisierungen wie der Paläographie, der Epigraphik und der Archäologie.

Auf der Grundlage einer umfassenden Beherrschung des Handwerks, einer nüchtern-systematischen Vorgehensweise und einer asketischen Arbeitsethik konsolidierten Theodor Nöldeke (1836–1930) als Grammatiker, Julius Euting (1839–1913) als Paläograph und Mark Lidzbarski (1868–1928) als Epigraphiker die Aramaistik als eine streng historisch-philologische Teildisziplin. Den primären Bezugspunkt bildete die mittlerweile methodisch entwickelte und infrastrukturell zementierte Erforschung der semitischen Sprachen. Als rein bürgerliche Philologen mit oft allenfalls lockerer kirchlicher Bindung trieben sie anstelle eines theologischen Erkenntnisinteresses die Neugier und der Wunsch an, spezifische Detailprobleme bei der Lesung, Analyse und Übersetzung einzelner Zeugnisse zu lösen. Am 4. November 1865 schrieb Nöldeke mit der ihm eigenen Nüchternheit, aber nicht ohne einen Schalk im Nacken, an den Leidener Arabisten Michael Jan de Goeje:

Du wunderst Dich einmal wieder über meine Aramäischen Studien! Freilich die Litteratur hat für mich hier sehr wenig Interesse, zum Theil ist sie mir in hohem Grade widerwärtig, aber ich treibe diese Sprachen ja gar nicht der Litteratur wegen, sondern beschäftige mich mit diesen Litteraturen allein der Sprache wegen. Das rein linguistische Studium ist doch wohl das Fach, für das Allah mich eigentlich geschaffen hat. […] Das Aramäische hat dadurch besondere Anziehungskraft für mich, weil wir hier eine weit größere dialektische Varietät vor uns haben, als in den andern Semit. Sprachen.[*22]

Seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert setzte sich passend zu dieser vornehmlich empirischen Ausrichtung auch der Name Aramäisch als Oberbegriff für die Sprache immer mehr durch. Ältere Generationen kannten ihn zwar schon aus der Bibel, sofern sie das Original lasen und nicht die griechische oder lateinische Übersetzung. Sie sahen aber mangels Interesses an einer historisch begründeten Differenzierung über die kanonisch statt linguistisch legitimierten Sammelkategorien «Syrisch» und «Chaldäisch» hinaus meist keinen Anlass, ihn anzuwenden. Mit den Gebrauchstexten aus dem Alltagsleben als Maßstab aber konnte von der historisch-vergleichenden Warte aus die ursprüngliche, durch Kopierfehler regelmäßig getrübte Gestalt der späteren Literatursprachen präziser ermittelt und in den Stammbaum des Aramäischen eingeordnet werden. Das Gesamtbild trat dadurch immer klarer hervor.

Dieses Rüstzeug bewies sogleich seinen Nutzen bei der Aufarbeitung der epigraphischen Primärquellen, die im zwanzigsten Jahrhundert, zumal in dessen erster Hälfte, in großer Zahl entdeckt wurden und die kulturgeschichtliche Bedeutung des Aramäischen noch viel direkter vor Augen führten. Die Papyri und Tonscherben von der Nilinsel Elephantine dokumentieren auf breiter Basis die aramäische Weltsprache des fünften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts; die aramäischen Texte unter den Schriftrollen vom Toten Meer illustrieren die Evolution von einer imperialen Amts- zu einer lokalen Literatursprache im hellenistischen Palästina; und die Inschriften aus dem römischen Syrien, Mesopotamien und Nordarabien enthüllen den Hintergrund der religiösen aramäischen Traditionen der Spätantike sowie des Arabischen. Als 1956 in der Vatikanischen Bibliothek zudem die erste vollständige Handschrift des palästinischen Targums mit einer alten jüdischen Pentateuchübersetzung ins Aramäische entdeckt wurde, löste das eine Renaissance der Targumforschung aus. Überdies werden seit einigen Jahrzehnten auch die noch gesprochenen aramäischen Dialekte detailliert beschrieben und analysiert. Eine Geschichte des Aramäischen muss sich deshalb nicht auf Schriftsprachen beschränken, sondern kann idealerweise die ganze Vielfalt erfassen. Erst dank der räumlichen und zeitlichen Ausdehnung des nun verfügbaren Materials gelingt es, die Entwicklung der aramäischen Sprachfamilie in ihren mannigfachen Verästelungen angemessen differenziert darzustellen.[*23]

Die besondere Situation des Aramäischen als Sprache ohne eigenes Sprechervolk korreliert mit seiner Erforschung in der Gegenwart. Nachdem im neunzehnten Jahrhundert aus dem Studium der Bibel und der christlichen Altertümer zahlreiche neue philologische und historische Disziplinen hervorgegangen sind, gehört die Beschäftigung mit verschiedenen aramäischen Einzelsprachen dort im Normalfall teils zu den sekundären oder tertiären Gegenständen, teils zu den Hilfswissenschaften mit wiederum spezialisierten Techniken.[*24] Die bibelnahen Teilbereiche behaupten ihre Stellung in der Exegese; die Grammatik und Lexikographie der Einzelsprachen, die historisch-vergleichende Einordnung sowie die Dokumentation moderner Dialekte haben ihren Stammplatz in der semitischen Sprachwissenschaft; die epigraphischen Zeugnisse aus der ersten Hälfte des ersten Jahrtausends gehören zur Geschichte und Kultur des Alten Orients; Inschriften aus hellenistisch-römischer Zeit haben in der Alten Geschichte und der Klassischen Archäologie ihre Nische gefunden; die rabbinische Traditionsliteratur ist Gegenstand einer philologisch orientierten Judaistik; das syrische Schrifttum hat seinen größten Resonanzraum in der Kirchengeschichte des Altertums, der Wissenschaft vom Christlichen Orient und der fachübergreifenden Erforschung der Spätantike; und das Mandäische zieht seit seiner Entdeckung hauptsächlich Interesse aus Gnosisforschung und Religionswissenschaft an. Im akademischen Umfeld wird das Aramäische deshalb traditionell als Schrift- und Literatursprache, und zwar meist als eine zusätzliche, wahrgenommen und seine Erschließung auf das Studium textlicher Quellen gerichtet.

Ein separates Fach mit eigener Infrastruktur, in dem der Zusammenhang der einzelnen Erscheinungsformen der aramäischen Sprache und ihrer Literaturen erarbeitet würde, ist daraus nicht entstanden. Keine Instanz hat folglich in der unüberschaubaren Vielfalt der Sprachstufen, Quellenarten, soziokulturellen Hintergründe und akademischen Schulen mit je verschiedenen didaktischen Gepflogenheiten und Terminologien, Methoden und Gegenständen sowie zeitlichen und räumlichen Abgrenzungen ein kanonisches Grundwissen mit verbindlichen Standards festgelegt. Aus diesem Grund geraten die Querverbindungen zwischen den altorientalischen, biblischen, jüdischen, christlichen, modernen und anderen Teilbereichen, wiewohl linguistisch und kulturgeschichtlich evident, in der hochdiversifizierten Beschäftigung mit ihren Gegenständen leicht aus dem Blick. Wie das Aramäische eine Weltsprache ohne Reich ist, so ist die Aramaistik eine Disziplin ohne Curriculum.[*25] Das hat die Sichtbarkeit des Aramäischen in der Forschung stark reduziert. In einem öffentlichen Vortrag über «Die Weltsprachen des Altertums in ihrer geschichtlichen Stellung» begnügte ein bedeutender Gräzist sich seinerzeit damit, es nur auf einer einzigen Seite en passant zu nennen.[*26] Auch nach über hundert Jahren hat sich daran in der Altertumswissenschaft bislang nicht viel geändert. Deshalb wird hier der Versuch unternommen, eine Neubewertung des Aramäischen als Weltsprache des Altertums anzustoßen.

Raum und Zeit

Die Klassifizierung des Aramäischen als Weltsprache hängt zunächst an seinem weiten Verbreitungsgebiet.[*27] Alle frühesten Inschriften des neunten und achten Jahrhunderts v. Chr. stammen aus Zentral- und Ostsyrien. Dort dürfte also das ursprüngliche Kerngebiet liegen, denn manche der betreffenden Ortschaften werden bereits in mesopotamischen Tontafeln aus dem Ende des zweiten Jahrtausends mit einer Bevölkerung namens «Aramäer» assoziiert. Im Zuge der assyrischen Expansion wurden sie Teil des ersten Großreichs der Geschichte. Textfunde des siebten und sechsten Jahrhunderts belegen für diese Zeit eine stabile Präsenz des Aramäischen in Assyrien im Norden des Irak und in Babylonien im Süden, aber ein Teil der Bevölkerung bestand wohl schon zuvor aus aramäischsprachigen Stämmen. Im fünften und vierten Jahrhundert erreichte es mit der Provinzverwaltung des persischen Reiches seine größte Ausdehnung und lässt sich zudem in ganz Palästina, das heißt im heutigen Israel, Libanon und Jordanien, sowie in Ägypten, im Norden der Arabischen Halbinsel, in Kleinasien in der Südosttürkei, in Iran und in Afghanistan nachweisen. Während der folgenden zwei oder drei Jahrhunderte verschwand es aus Nordafrika sowie aus Kleinasien wieder, drang aber danach in der Gestalt der ostsyrischen Kirchensprache weiter ostwärts und schließlich bis nach China vor. Zwischen etwa dem achten und dem zehnten nachchristlichen Jahrhundert reduzierte sich durch den Wechsel zum Arabischen das ehemals zusammenhängende Sprachgebiet auf einzelne größere und kleinere Inseln. Nach verschiedenen Auswanderungswellen des späten neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts wird Aramäisch heute auch in zahlreichen Diasporagemeinschaften in Europa, Nordamerika und Australien gesprochen.[*28]

Zentrum und Peripherie.  Bei der feineren Untergliederung dieses riesigen Raumes ist die Unterscheidung zwischen Zentrum und Peripherie die wichtigste. Das Zentrum umfasst hier Syrien, Mesopotamien und ab spätestens der Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends auch Palästina, also die Regionen, in denen aramäische Mundarten von einem Großteil der Bevölkerung natürlich erworben und in der alltäglichen Verständigung gebraucht wurden. Denn die aramäischen Schriftsprachen, auf deren Grundlage sich überregionale Verwaltungs- und Literaturtraditionen entfalteten, entstanden immer wieder aus lebendig gesprochenen Dialekten oder verjüngten sich durch deren Einfluss. Wegen seiner tiefen Wurzeln konnte das Aramäische sich dort auch am längsten halten. Die lokalen und regionalen Dialekte bis in die Neuzeit lassen sich grob in den westlichen Zweig Westsyriens und Palästinas einerseits und den östlichen Ostsyriens und Mesopotamiens andererseits einteilen, wobei die Ost-West-Grenze etwa zwischen dem Euphrat im Norden und Palmyra im Süden verläuft. Sie bildeten aber ein durchgehendes Netz mit gleitenden Übergängen infolge vielfältiger sozialer, familiärer oder merkantiler Kontakte zwischen Sprechern benachbarter Varianten.

Die physische Geographie des Kerngebietes hat der Verbreitung des Aramäischen weitere Rahmenbedingungen gesetzt. In der zerklüfteten Landesnatur Syriens und Palästinas konnten zahlreiche kleinere Ortsgemeinschaften mit ihrer Region geradezu verwachsen und Lebensweisen entwickeln, die den verschiedenen Vegetationszonen am besten entsprachen. Die Einwohner bestanden aus verzweigten Familien und Stammesbünden, die einander durch verschiedene Loyalitäten verpflichtet waren und in Alltagsgeschäften an der Autorität ansässiger Führer aus ihren Reihen festhielten. Daher widerstanden sie dem Sog mesopotamischer, hellenistischer und römischer imperialer Strukturen, die sich stets aufs Neue mit ihnen arrangieren und die globale Herrschaft in vorgefundene Gepflogenheiten einsenken mussten. Folglich entstanden in dezentralen Einheiten immer wieder neue Schriftsprachen aus lokalen Mundarten. Das günstige Klima namentlich im fruchtbaren Küstenstreifen ermöglichte anders als in den meisten Landstrichen Mesopotamiens vielerorts Regenfeldbau, aber der Mangel an natürlichen Rohstoffen erforderte seit dem Beginn der Sesshaftwerdung eine regelmäßige Kooperation. Sie verknüpfte die einzelnen Regionen samt ihren lokalen Eigenheiten zu einem übergreifenden, kohärenten Sprach- und Kulturraum.

So etablierten sich bei aller lokalen Verschiedenheit im Detail Schrift- und Verwaltungssysteme, deren Strukturen nicht zuletzt wegen der gemeinsamen Verwendung der Alphabetschrift aneinander anschließen konnten. Weil deshalb die alphabetschriftliche Kultur den Gesamtraum Syrien-Palästinas erschloss, stellte für die mesopotamischen Reiche die aramäische Schriftsprache der syrischen Provinz die nächstliegende Brücke dorthin dar und führte in einem weiteren Schritt zur offiziellen Anerkennung des Aramäischen. Und da nur die phönizischen Städte an der Westküste des heutigen Libanon über natürliche Häfen verfügten, breitete sich das Aramäische nach Carl Schmitts anschaulicher Dichotomie als «Landtreter» auf festem Boden ost- und südwärts aus, nicht wie das Phönizische, der «Seeschäumer» unter den semitischen Sprachen, ins westliche Mittelmeergebiet.[*29] An dieser Lage änderte sich auch später nichts, denn nachdem der Übergriff des Perserkönigs Xerxes auf die griechischen Stadtstaaten in der Schlacht bei Salamis 480 v. Chr. gründlich und endgültig gescheitert war, blieb das mare nostrum bis in die arabische Zeit Hoheitsgebiet der Griechen, Römer und Byzantiner. Das Aramäische gelangte um 500 v. Chr. nach Afghanistan sowie kurzfristig nach Indien und ein Jahrtausend später nach Peking, aber eben nicht nach Athen. Erst die Mobilität und Konnektivität im römischen Reich führte palmyrenische Legionäre bis ins ferne Britannien, syrische Händler an den Niederrhein und nabatäische Kaufleute nach Rom und Puzzuoli.

In die ägyptische, kleinasiatische und iranische Peripherie dagegen wurde das Aramäische als ausländische Reichssprache getragen, ohne dort Rückhalt in einer substantiellen muttersprachlichen Bevölkerung zu erlangen. Deswegen war es nach dem Rückzug der politischen Macht, der es seine Unterstützung und damit sein Ansehen verdankte, besonders anfällig für Erosion, konnte aber, wie in Iran, durchaus einen umfangreichen Bestand verschiedener Lehnwörter oder erstarrter Schreibungen hinterlassen. Eine Ausnahme bildet Arabien, wo das Aramäische mangels besserer Alternativen langfristig zu einer verbindenden Schriftsprache avancierte, deren Erbe erst ab ungefähr dem fünften Jahrhundert n. Chr. das Arabische antrat, sobald dieses nach dem Vorbild des Aramäischen eine eigene Schriftkultur entwickelt hatte. Aramäische Sprachen haben also primär durch ihren Gebrauch in Recht, Verwaltung und Literatur, aber unter verschiedenen geopolitischen Voraussetzungen, Weltgeltung erlangt. Dieser Prozess lässt sich durch eine zusammenhängende Untersuchung des aramäischen Schreiberwesens am effizientesten erklären. Zwar fehlen größtenteils prosopographische Informationen, die anhand bestimmter Individuen Aufschlüsse geben könnten über schreiberische Mobilität und Sozialkontakte, aber an Schriften, Schreibregeln und Ausdrucksformen lassen sich vielfach die Folgen solcher Verbindungsmöglichkeiten gleichwohl ablesen.

Die Hauptphasen: Altes Aramäisch, Mittel- und Neuaramäisch.  Ein weiteres Kriterium für eine Weltsprache ist der Gebrauch über einen längeren Zeitraum gemessen an Zahl und Intensität der Sprechsituationen. Dokumentiert sind aramäische Sprachen seit etwa der Mitte des neunten vorchristlichen Jahrhunderts bis heute, freilich immer wieder mit Lücken in der Quellenlage, zumal zwischen dem vierzehnten und dem sechzehnten Jahrhundert. Doch erst seit dem späten neunzehnten Jahrhundert setzen Bestrebungen ein, das Aramäische als Gesamtphänomen auf der Grundlage sprachhistorischer, dialektgeographischer und sprechsituationsbezogener Erscheinungen präzise zu untergliedern. Eine wissenschaftlich adäquate Darstellung auf dem neuesten Stand vermeidet sowohl eine statische Einteilung nach kulturellen Gruppen – etwa die frühneuzeitliche Gabelung in ein jüdisches und ein christliches Textcorpus – als auch eine rein lineare Chronologie, wie sie wegen ihrer Eingängigkeit besonders in der nordamerikanischen Fachwissenschaft beliebt ist. Klaus Beyer (1929–2014), der die linguistische Gesamtgliederung des Aramäischen begründet hat, differenziert stattdessen erstens zwischen den entwicklungsgeschichtlichen Hauptphasen alt, mittel und neu, zweitens zwischen den wesentlichen Dialektgebieten Palästina und Westsyrien im einen sowie Ostsyrien und Mesopotamien in anderen Fall und drittens zwischen Umgangs- und Schriftsprachen. Die Abgrenzungen einzelner Perioden fallen dabei einerseits immer wieder mit politischen oder soziokulturellen Veränderungen zusammen, die sich auf den Gebrauch der Schriftsprache auswirkten, aber der beständige Einfluss gesprochener Dialekte und älterer Literaturtraditionen erzeugt andererseits eine kontinuierliche Evolution.[*30]

(1) Zur ersten Hauptphase, dem alten Aramäisch, zählt die Periode dialektübergreifender aramäischer Schriftsprachen und ihrer unmittelbaren Ausläufer. Das «Altaramäische» der frühesten Inschriften des neunten und achten Jahrhunderts v. Chr. machte dabei den Anfang und mündete bald in eine Schriftkoiné Zentralsyriens. Sie fächerte sich mit der Einverleibung des Kerngebietes in das assyrische Reich im siebten und dessen Fortsetzung durch das babylonische Reich im sechsten Jahrhundert dezentral auf. Weil das Material aus assyrischer und babylonischer Zeit keine gemeinsamen Merkmale bezeugt, die einen eigenen Epochenbegriff rechtfertigen, unterscheidet man am besten zwischen älterem und jüngerem Altaramäisch. Erst die Normierung durch die achämenidische Staatskanzlei brachte mit dem in Schrift und Sprache unmittelbar als eigenständig erkennbaren «Reichsaramäisch» des fünften und vierten Jahrhunderts ein neues Stadium hervor. Als Folge seiner Konsolidierung im Verwaltungswesen und seines Ansehens als internationale Verkehrssprache setzen lokale Schriftsprachen der hellenistischen und römischen Zeit in Palästina, Syrien, Nordarabien und Teilen Irans das Reichsaramäische fort, allerdings mit regionalen Ausprägungen der zuvor gemeinsamen Schrift. Diese Ausläufer, das Hasmonäische, das Palmyrenische, das Edessenische (oder Altsyrische), das Nabatäische und das Arsakidische, bilden zusammen das nachachämenidische Reichsaramäisch (s. Übersicht S. 387 ff). Einige andere sind nicht direkt der achämenidischen Schreiberkultur und ihren Institutionen entsprungen, darunter das Jüdisch-Palästinische als Nachfolger des Hasmonäischen in Palästina, das Ostmesopotamische und die aramäischen Schriftsprachen Babyloniens.

Wo Aramäisch auch gesprochen wurde, zeichnet sich im Unterschied zu früheren Perioden überall der mal stärkere, mal schwächere Einschlag regionaler Dialekte in den Texten ab. Das Nebeneinander archaisierender Schriftsprachen wie des Nabatäischen in Nordarabien oder des Arsakidischen in Iran und innovativer verschriftlichter Umgangssprachen wie in erster Linie des Ostmesopotamischen verbietet einen gemeinsamen linguistischen Oberbegriff für die heterogenen Varianten der hellenistisch-römischen Zeit. Der aramäischen Literatur boten die neuen Spielräume der fragmentierten regionalen Schriftsprachen nach dem Zusammenbruch des persischen Imperiums jedenfalls erheblich bessere Gestaltungsmöglichkeiten als der zuvorderst statische Einsatz des Reichsaramäischen in der zentralisierten Staatskanzlei. Im hasmonäischen Judäa entstand ein vielseitiges theologisches Schrifttum, das lokales religiöses Glaubensgut mit internationalen Wissenstraditionen verband; das Palmyrenisch-Aramäische erwies sich an der Seite des Griechischen als gleichberechtigtes Repräsentationsmedium einer stolzen syrisch-hellenistischen Doppelkultur; und das Altsyrische erwarb im Schmelztiegel vielfältiger intellektueller Einflüsse unter den Beamten Edessas die Ausdruckskraft, die es nur wenig später zur hauptsächlichen Kirchensprache des christlichen Orients werden ließ.

(2) Die zweite, mittlere, Hauptphase besteht aus den Schrifttraditionen überregionaler Religionsgemeinschaften und beginnt im dritten bis vierten Jahrhundert n. Chr. Dazu zählen einmal das Jüdisch-Palästinische, das Christlich-Palästinische und das Samaritanische in Palästina, zum anderen das Jüdisch-Babylonische, das Syrische und das Mandäische in Syrien sowie Mesopotamien. Die Grundlage dieser Buchsprachen bildeten unverändert lebendige west- und ostaramäische Dialekte, die zuvor mit Ausnahme des Syrischen nur eine rudimentäre oder gar überhaupt keine Schriftkultur kannten. Jeweils charakteristische Schriften grenzten sie auch visuell voneinander ab.[*31] Allerdings hatten sich die sozialen Voraussetzungen gegenüber der ersten Hauptphase radikal gewandelt. Mittlerweile war der Bruch mit der älteren reichsaramäischen Kanzleikultur als der letzten Schriftsprache, die alle aramäischen Dialekte umfasste, praktisch vollzogen, die eigene Traditionsbildung wurde wahrscheinlich unter dem Einfluss der christlichen Infrastruktur aktiv vorangetrieben und die Entfaltung raum- und zeitübergreifender literarischer Überlieferungen verlagerte sich von den Amtsstuben in die neuen Institutionen christlicher Klöster und rabbinischer Lehrhäuser. Dies begründet trotz der sprachlichen Kontinuität eine deutliche Zäsur. Entsprechend der identitätsbestimmenden Wirkung des Schrifttums wird diese Phase zuweilen auch «klassisches Aramäisch» genannt, was dann zutrifft, wenn man «klassisch» ganz allgemein als zeitlos, nachahmenswert und orientierend definiert.

(3) Wegen des klassischen Charakters dieser aramäischen Literatursprachen entzieht sich der Übergang von der zweiten zur dritten Hauptphase einer scharfen chronologischen Bestimmung. Zwar erlahmte nach den ersten zwei bis drei Jahrhunderten der Kalifenherrschaft die Produktion aramäischer Schriften unter Juden, Samaritanern und palästinischen Christen. Die Ursache dafür liegt im Wechsel eines Großteils der syrischen, palästinischen und mesopotamischen Bevölkerung, unabhängig von ihrer Religion, zum Arabischen. Eine wachsende Zahl arabischer Einflüsse aus der Umgangssprache weist auf deren immer häufigeren Gebrauch auch im Alltag hin, das Ausbleiben gemeinsamer Lautentwicklungen ab etwa dem zehnten Jahrhundert auf eine Unterbrechung des zuvor zusammenhängenden Sprachgebietes. Die Übergangszeit ausgedehnter aramäisch-arabischer Zweisprachigkeit dürfte daher um 950 im Großen und Ganzen abgeschlossen gewesen sein.

Allerdings pflegten syrische Christen bis zum Mongolensturm, dem im Jahre 1258 schließlich das abbasidische Kalifat in Bagdad zum Opfer fiel, weiterhin aktiv ihr traditionsreiches Schrifttum. Wenn die lange stiefmütterlich behandelte syrische Literatur des zehnten bis vierzehnten Jahrhunderts zu einer Spätzeit gehört, dann gewiss nicht im Sinne eines Absterbens, bei dem es kein Halten mehr gibt. So fasste namentlich Johan Huizinga (1872–1945), der als Gymnasiast zwar nicht Aramäisch, aber immerhin eifrig Hebräisch und vor allem Arabisch getrieben hatte, während eines Spazierganges in der Natur vor den Toren Groningens um 1907 seinen Eindruck vom «Herbst des Mittelalters» zusammen. Der Natur der Sache angemessener wäre die Konnotation von «spät» mit einer reichen Ernte wie bei einem Spätwerk oder einer Spätlese.[*32] Auch in der Folgezeit wurden, wenngleich zahlenmäßig wie qualitativ von geringerer Ordnung, immer wieder syrische Originalschriften erstellt oder, wie besonders im späten neunzehnten bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein, literarische Werke aus europäischen Sprachen ins Syrische übersetzt. Deshalb ist die neuaramäische Phase auch kein chronologisches Folgestadium der vorangehenden mittleren. Vielmehr bezeichnet der Begriff allein aus dem Blickwinkel der Gegenwart die noch heute gesprochenen aramäischen Dialekte sowie die neuen Schriftsprachen, die ab dem sechzehnten Jahrhundert sporadisch aus ihnen entstanden. Diese Dialekte gehen aber nicht auf verwilderte ältere Kultursprachen zurück, sondern wurden im Gegenteil seit jeher in einem kontinuierlichen Fluss zur Verständigung im täglichen Leben gesprochen und sind selber periodisch zur Schriftlichkeit erstarrt.

Vernetzungen.  Was allerdings auch bei einer solchen komplexen Gliederung des Aramäischen wie der hier referierten in der Vergangenheit höchstens ansatzweise berücksichtigt wurde, sind die zahlreichen zeitlichen, räumlichen und sozialen Querverbindungen zwischen den aramäischen Einzelsprachen. Sie können, so die zentrale These des vorliegenden Buches, am besten als weitgespannte Netze zuerst amtlicher, dann textgelehrter Berufsschreiber bestimmt werden. Diese Schreiber genossen allesamt eine ähnlich strukturierte Ausbildung, standen über lange Perioden trotz teils erheblicher räumlicher Abstände miteinander in Kontakt und pflegten gegenüber anderen Metiers gemeinsame Distinktionsmerkmale. Mit der buchstaben- statt silbenorientierten Alphabetschrift gebrauchten sie nämlich zunächst alle dasselbe Notationsprinzip. Dank kompatibler didaktischer Techniken, die sich offenbar zusammen mit der Schrift verbreitet hatten, konnten aramäische Schreiber verschiedener Institutionen weiterentwickelte Rechts- und Verwaltungspraktiken immer wieder ohne größere Mühe implementieren. Die schreiberische Etikette, die sich auf diesem Fundament herausbildete und durch Abschreiben reflektierender Texte jüngeren Generationen eingepflanzt wurde, erleichterte dank einem Gefühl der Zugehörigkeit zum selben Stand die Kommunikation jenseits pragmatischer Gegenstände. Sie hatte offenbar einen wesentlichen Anteil daran, dass sich die Führung buchhalterischer und notarieller Amtsgeschäfte zuletzt in schriftgelehrte Literaturen verwandelte. Schreiber im Staatsdienst späterer Reiche Europas und Asiens verstanden sich ebenfalls als die Organe, die in der Verwaltung Leib und Glieder des Staates zusammenhielten, durch ihr kulturelles Kapital Herrscher erst zur Ausübung der Macht befähigten und damit Recht, Ordnung und Wohlergehen ermöglichten.[*33]

Bei einer Darstellung, die ihre Schwerpunkte auf die schreiberischen Netze, Institutionen und Selbstverständnisse setzt, empfiehlt sich aus Gründen der Kohärenz eine Beschränkung auf den Zeitraum zwischen den ersten direkten Textzeugnissen um 850 v. Chr. und der Konsolidierung des Arabischen als der neuen Weltsprache in der Übergangsphase von etwa 700 bis 950 n. Chr. Auf Kaffeesatzleserei zu den nicht mehr rekonstruierbaren Ursprüngen des Aramäischen in vorschriftlicher und vorstaatlicher Periode wird dabei verzichtet. Erst im besagten Zeitraum wurden ja aus einem Kontinuum natürlich gesprochener aramäischer Dialekte heraus fortwährend neue Schriftsprachen mit Leben gefüllt, interagierten miteinander und erloschen wieder.

Sobald jedoch die Ausbreitung des Arabischen das engmaschige Netz benachbarter aramäischer Mundarten unterbrach, versteiften bald auch die literarischen Überlieferungen, die aus ihnen hervorgegangen waren, und brachen zum Teil dauerhaft ab. Damit erkaltete letzten Endes der Organismus eines umfassenden aramäischen Schreibertums. Allerdings entstünde ohne wenigstens angedeutete Ausblicke auf das Nachleben der falsche Eindruck, dass die Geschichte des Aramäischen insgesamt dann ebenfalls zu einem Ende gekommen sei. Deshalb werden, wo relevant, spätere Entwicklungen immerhin im Überblick skizziert und am Schluss die modernen Dialekte kurz vorgestellt, die neuzeitlichen Versuche, daraus aramäische Schrifttraditionen zu schaffen, eigens summarisch besprochen und alles in ein umrisshaftes historisches Gesamtbild eingeordnet.

Sprecher und Schreiber

Bis zu den ersten systematischen Feldforschungen im späten neunzehnten Jahrhundert anhand der Transkription nach Diktat mitgeschriebener oder in einen Phonographen gesprochener Texte richtete sich die Erschließung des Aramäischen als einer klassischen Sprache durchweg auf Schriftquellen. Das Fundament wurde durch das Erlernen des Klassisch-Syrischen und des Biblisch-Aramäischen gelegt, weil diese als religiöse Literatursprachen bereits von einheimischen Grammatikern normiert und sorgfältig überliefert waren. Aufmerksames Lesen, ein Vergleich grammatischer, lexikalischer und inhaltlicher Einzelheiten unter ständigem Nachschlagen sowie eine zusammenfassende Erörterung sprach- und kulturgeschichtlicher Fragen richtete sich auf die Interpretation wichtiger Texte. Diese Techniken liegen auch griffigen Definitionen der Philologie samt und sonders zugrunde, sei es als langsames Lesen, wie Nietzsche meinte, sei es als looking things up, wie in einer dem Latinisten D. R. Shackleton Bailey zugeschriebenen Anekdote über dessen Tagewerk. Seit dem neunzehnten Jahrhundert stellte vor allem das Studium des Griechischen und Lateinischen der Analyse maßgebliche Begriffe und Kategorien zur Verfügung.

Der Wandel des gesprochenen Aramäisch.  Gleichwohl sind auch die einzelnen aramäischen Schriftsprachen mit wenigen Ausnahmen keine rein literarischen Kunstgebilde, sondern, wie gesagt, in je unterschiedlichem Maße standardisierte Formen von Mundarten, die man zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort in einem bestimmten Umfeld zur spontanen und alltäglichen Verständigung gebrauchte, weil man sie eben in der Kindheit erworben hatte. Folglich bilden selbst stark kodifizierte Schrifttraditionen wie das Reichsaramäische oder das Klassisch-Syrische allerlei Veränderungen in der Aussprache, im Formenschatz und im Satzmuster gegenüber den älteren Entwicklungsstufen ab. Einem solchen unbewussten Wandel ist jede natürlich erlernte Sprache von einer Generation zur nächsten unterworfen, weil beim Hören bedeutungsunterscheidende Informationen mit bloßem Hintergrundrauschen verwechselt, beim Verstehen seltene Bildungen auf der Suche nach Regelmäßigkeit häufigeren angeglichen oder aufgrund von Bilingualität beim Sprechen Strukturen der einen Sprache auf die andere transferiert werden. Durch Heirat, Handelskontakte oder ortsübergreifende religiöse Feste können sich solche Innovationen wie Wellen in einem Teich schnell über ein ganzes Kontinuum benachbarter Dialekte verbreiten.[*34]

Namentlich die Verwendung in mehrsprachigen Umgebungen hat das Aramäische zur Vermittlung verschiedenster Wissenstraditionen prädestiniert. Dem Akkadischen in Mesopotamien verdankt es aus der Zeit frühester Kontakte einen Teil seines kultischen, juristischen und astronomischen Vokabulars: ʾāsǣ «Arzt», um nur ein Wort aus Dutzenden herauszugreifen, blieb in der syrischen Naturwissenschaft über Jahrhunderte gebräuchlich, šēd «Dämon, Teufel» (eigentlich «Schutzgott») ist es in modernen Dialekten noch immer. Sodann hat ihm das Altpersische einen ansehnlichen Bestand achämenidischer Verwaltungsterminologie hinterlassen, aus dem pardēs «Park, Königsforst» über die Weitervermittlung ins Hebräische und Griechische als «Paradies» in den Alltagswortschatz der modernen Sprachen eingegangen ist. Jüdische Sprecher haben dem Hebräischen einige spezifische Begriffe der Gottesverehrung entnommen, beispielsweise ṣadaqā, eigentlich «rechtes Handeln», im Sinne von «Almosen». Dem Griechischen entstammen Bezeichnungen aus dem Bereich der Architektur und der römischen Provinzverwaltung, wie ʾesṭōā «Säulenhalle» (Stoa) oder nāmōs «Gesetz» (Nomos), in der christlichen Tradition auch viel aus der philosophisch-theologischen Fachsprache, wobei es sich aber meist eher um lautlich noch als solche erkennbare Fremdwörter des technischen Schrifttums als um vollständig eingebürgerte Lehnwörter handelt, etwa pusis «stoffliche Natur» (Physis). In islamischer Zeit reicherten das Arabische und verschiedene iranische Sprachen wie das Kurdische die aramäischen Dialekte weiter an; unter diesen Entlehnungen befinden sich sogar etliche allgegenwärtige Erscheinungen wie die arabische Partikel illa «ohne dass» im Neuwestaramäischen oder das kurdische Komparativsuffix -tǝr