Arbeit, Volkstum, Weltanschauung - Ulrich Herbert - E-Book

Arbeit, Volkstum, Weltanschauung E-Book

Ulrich Herbert

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Beschreibung

Die historischen Studien untersuchen die Zusammenhänge zwischen ideologischer Grundlage, wirtschaftlichem Nützlichkeitsdenken und politischer Praxis im Umgang mit den »Fremden« in Deutschland im Verlaufe des 20. Jahrhunderts. Folgende Themenkomplexe werden diskutiert: - die politischen und geistesgeschichtlichen Traditionen des Rassismus; - die Widersprüche zwischen wirtschaftlichen und ideologischen Zielsetzungen bei der Beschäftigung von KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern; - das Verhalten der deutschen Arbeiterschaft während der Diktatur; - die Ausgrenzung der ausländischen Opfer des NS-Regimes bei der westdeutschen »Wiedergutmachung« nach 1945/49; - die Versuche der »Vergangenheitsbewältigung« in beiden deutschen Staaten; - die Entwicklung der deutschen Ausländerpolitik. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Ulrich Herbert

Arbeit, Volkstum, Weltanschauung

Über Fremde und Deutsche im 20. Jahrhundert

FISCHER E-Books

Inhalt

VorwortTraditionen des Rassismus»Generation der Sachlichkeit«Von der »Reichskristallnacht« zum »Holocaust«Arbeiterschaft im »Dritten Reich«Der »Ausländer-Einsatz« in der deutschen Kriegswirtschaft, 1939–1945Von der »Arbeitsbummelei« zum »Bandenkampf«Nicht entschädigungsfähig?Zweierlei BewältigungAusländer und andere DeutscheDrucknachweise

Vorwort

Die nationalsozialistische Verfolgungs- und Vernichtungspolitik gegenüber den als minderwertig angesehenen ethnischen und sozialen Gruppen richtete sich in erster Linie gegen Nichtdeutsche – mehr als 95 % der Opfer der Mordpolitik des NS-Regimes waren Ausländer. Zwar wurde diese Politik von vielen Deutschen direkt oder indirekt mitgetragen; konzipiert und in Gang gebracht wurde sie jedoch von politisch hochmotivierten Funktionseliten auf der Grundlage präzise benennbarer weltanschaulicher Konzeptionen, die vor allem während der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg unter der bürgerlichen Jugend Deutschlands verbreitet und radikalisiert wurden. Grundlage dieser Vorstellungen waren die Annahmen, daß nicht das Individuum, sondern das Volk als Subjekt der Geschichte anzusehen seien und daß die zivilisatorischen, wirtschaftlichen und kulturellen Unterschiede zwischen den Völkern Ausdruck biologischer und historischer Prozesse seien, aus denen das Recht zur Dominanz der Stärkeren und zur Unterdrückung, womöglich zur Vertreibung oder Vernichtung schwächerer Völker abzuleiten seien.

Diese im Kern gegen die wertbezogenen Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft gerichteten Vorstellungen ließen sich als legitimierende und dynamisierende Faktoren ohne Schwierigkeiten mit den herkömmlichen Zielsetzungen des deutschen Kontinentalimperialismus verknüpfen und entfalteten ihre Wirksamkeit, als ihre Träger als junge Nachwuchselite des Nationalsozialismus in Spitzenstellungen des Regimes einrückten.

Diesem Befund steht eine nach dem Kriege in beiden deutschen Staaten zu beobachtende Tendenz gegenüber, wonach sich das Augenmerk in der wissenschaftlichen wie der allgemeinen Öffentlichkeit ebenso wie in der Politik bereits seit den ersten Nachkriegsjahren nicht auf die Mehrheit der – nichtdeutschen – Opfer konzentrierte, sondern auf die vergleichsweise wenigen Deutschen, die von den Nationalsozialisten verfolgt, vertrieben oder ermordet wurden. Das betrifft, beispielhaft, etwa jene ganz auf die kommunistischen Widerstandskämpfer in den Konzentrationslagern gerichtete Darstellung in den Büchern und Ausstellungen der DDR über die Nazi-KZs; oder die Praxis der westdeutschen Entschädigungsgesetzgebung, die – im strikten Gegensatz zu weitverbreiteten Überzeugungen – eben eine Gesetzgebung für Deutsche oder ehemalige Deutsche ist, während ausländische NS-Opfer davon ausgeschlossen waren, und Zahlungen an sie nur in Einzelfällen und nach mühsamen politischen Auseinandersetzungen erfolgten.

Hier liegt der Ausgangspunkt der in diesem Buch versammelten Arbeiten, die in den vergangenen Jahren an verschiedenen Orten veröffentlicht wurden und hier im Zusammenhang vorgestellt werden. Sie behandeln Struktur und Entwicklung der Beziehungen zwischen Deutschen und Fremden im 20. Jahrhundert unter drei miteinander verknüpften Fragestellungen, die auch den Titel des Buches ausmachen: die Frage nach der Bedeutung der Arbeit bzw. der Leistungsfähigkeit und des dadurch definierten Wertes des einzelnen – sowohl bei Ausländern wie bei Deutschen; nach der Definition dessen, was in Deutschland als »fremd« und was als »deutsch« zu gelten hat; und nach der Genese, Tradierung und Kontinuität der diese Beziehungen definierenden und legitimierenden ideologischen Grundlagen.

In dem ersten Beitrag, »Traditionen des Rassismus«, werden hierbei die »gesellschaftsbiologischen« Wurzeln völkisch-rassistischen Denkens untersucht. Dabei werden die Zusammenhänge zwischen »innerem« Rassismus (gegen »Abweichendes« im eigenen »Volkstum«) und »äußerem« Rassismus (gegen das Eindringen »fremden Volkstums«) als konstitutiv für die nationalsozialistische Verfolgungs- und Vernichtungspolitik herausgestellt. In »Generation der Sachlichkeit« wird die wichtigste Trägergruppe dieses Denkens näher betrachtet: die junge Generation der zwischen 1903 und 1913 Geborenen, die während des Ersten Weltkrieges aufwuchs und der auch die vor allem akademische Führungselite von Gestapo und RSHA entstammte. Ihre politische Sozialisation in der völkischen Studentenbewegung in den frühen 20er Jahren wird hier genauer untersucht.

In dem Beitrag »Von der ›Reichskristallnacht‹ zum ›Holocaust‹« wird analysiert, wie sich der sogenannte »seriöse«, um »Wissenschaftlichkeit« und Reputation bemühte Antisemitismus, wie er insbesondere in der Führungsgruppe von SD und Gestapo vertreten wurde, gegenüber der als »Pöbelantisemitismus« abgelehnten traditionellen Judenfeindlichkeit (etwa von SA und Partei) durchzusetzen begann und welche Auswirkungen dies für die Beschleunigung des Verfolgungs- zum Vernichtungsprozeß hatte.

Der Beitrag »Arbeiterschaft im ›Dritten Reich‹« thematisiert demgegenüber, in welcher Weise der NS-Staat mit den deutschen Arbeitern umging, welche Elemente von Zwang und Unterdrückung sich mit welchen Formen von sozialer Versorgung und welchen ideologischen oder realen Aufstiegserfahrungen kombinieren – und inwieweit die relative Privilegierung der deutschen Arbeiterschaft auf die Unterdrückung und Verfolgung zunächst von marginalisierten deutschen Arbeitergruppen, dann von Millionen ausländischer Zwangsarbeiter aufbaute. Demgegenüber werden in »Der ›Ausländer-Einsatz‹ in der deutschen Kriegswirtschaft« die Verquickung und die Widersprüche zwischen ideologischen und wirtschaftlichen Zielsetzungen bei der Behandlung der ausländischen Zwangsarbeiter während des Zweiten Weltkrieges dargestellt. Der Beitrag »Von der ›Arbeitsbummelei‹ zum ›Bandenkampf‹« wechselt hierbei die Perspektive: Der bislang ausschließlichen Konzentration der (deutschen) Widerstandsforschung auf den Widerstand von Deutschen wird der Widerstand der ausländischen Zwangsarbeiter in Deutschland gegenübergestellt, der 1943 allein drei Viertel aller Aktivitäten der Gestapo band.

Drei Beiträge beziehen sich auf die Folgewirkungen der beschriebenen Entwicklung nach 1945. In »Nicht entschädigungsfähig« wird untersucht, auf welche Weise es der westdeutschen Politik in den 50er Jahren gelang, die Entschädigungsverpflichtung für die nicht-deutschen NS-Opfer – mithin für die weit überwiegende Mehrheit – zu umgehen, ohne daß dies, jedenfalls in der deutschen Öffentlichkeit, auf größere Aufmerksamkeit gestoßen wäre. In »Zweierlei Bewältigung« wird der Versuch unternommen, diesen spezifischen Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik selbst als historisches Phänomen zu verstehen und ihn den parallelen Entwicklungen in der DDR gegenüberzustellen. In dem resümierenden Beitrag »Ausländer und andere Deutsche« schließlich wird ein weiter Bogen geschlagen von der Heranziehung ausländischer Saisonarbeiter im ausgehenden 19. Jahrhundert über den »Einsatz« von Millionen ausländischen Zwangsarbeitern während des Zweiten Weltkrieges bis zur Wiederaufnahme der Ausländerbeschäftigung in der Bundesrepublik Anfang der 60er Jahre und der aktuellen Diskussion um Asylbewerber, Aussiedler und andere Immigranten.

Die hier versammelten Aufsätze sollen dazu dienen, das auf Deutschland und Deutsche zentrierte Bild der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert und ihres Fokus, der nationalsozialistischen Eroberungs- und Vernichtungspolitik, auszuweiten und stärker unter dem Aspekt der politisch-ideologischen Kontexte sowie der Folgen dieser Geschichte für jene zu betrachten, die sie in erster Linie erleiden mußten.

Hamburg, im Frühjahr 1995

Ulrich Herbert

Traditionen des Rassismus

Am 18. September 1942 trafen der Reichsminister der Justiz, Thierack, und der Reichsführer SS, Himmler, folgende Vereinbarung: »Auslieferung asozialer Elemente aus dem Strafvollzug an den Reichsführer SS zur Vernichtung durch Arbeit. Es werden restlos ausgeliefert die Sicherungsverwahrten, Juden, Zigeuner, Russen und Ukrainer, Polen über 3 Jahre Strafe, Tschechen oder Deutsche über 8 Jahre Strafe nach Entscheidung des Reichsjustizministers. Zunächst sollen die übelsten asozialen Elemente unter letzteren ausgeliefert werden.«[1]

In einem Schreiben an den Leiter der Parteikanzlei, Bormann, erläuterte Thierack das Ziel dieser Übereinkunft: »Zweifellos fällt die Justiz jetzt schon sehr harte Urteile gegen solche Personen, aber das reicht nicht aus, um wesentlich zur Durchführung des oben ausgeführten Gedankens beizutragen. Es hat auch keinen Sinn, solche Personen Jahre hindurch in solchen Gefängnissen und Zuchthäusern zu konservieren, selbst dann nicht, wenn, wie das heute weitgehend geschieht, ihre Arbeitskraft für Kriegszwecke ausgenutzt wird.«[2]

Kurz darauf wurden die Leiter der Strafanstalten von der »Abgabe asozialer Gefangener an die Polizei« informiert, und die Aktion begann. Zunächst erschienen in den Gefängnissen Kommissionen des Reichsjustizministeriums, die die »asozialen« Gefangenen auszuwählen hatten. Dafür waren entsprechende Kriterienkataloge ausgearbeitet worden; darüber hinaus entschied der persönliche Eindruck, den die Beamten von den einzelnen Häftlingen gewannen.[3] Bis zum April 1943 waren im Rahmen dieser Aktion bereits 12658 »Sicherungsverwahrte« und »Schwerverbrecher« – unter ihnen eine große Anzahl ausländischer Zwangsarbeiter, vorwiegend aus den osteuropäischen Ländern – in Konzentrationslager eingeliefert worden, mehr als zwei Drittel von ihnen nach Mauthausen-Gusen; 5935 von ihnen waren bis zu diesem Zeitpunkt bereits umgekommen.[4]

Betrachtet man die Begründungen für diese Aktion sowie die Kriterien für »Asozialität« näher, so wird der politische und ideologische Zusammenhang deutlich, in dem die Vernichtung der »asozialen Gefangenen« zu sehen ist. In einem Rundschreiben des Rassepolitischen Amtes der NSDAP vom Juli 1942 wurden als »gemeinschaftsunfähig (asozial)« all jene Menschen bezeichnet, »die aufgrund einer anlagebedingten und daher nicht besserungsfähigen Geisteshaltung nicht in der Lage sind, den Mindestanforderungen der Volksgemeinschaft an ihr persönliches, soziales und völkisches Verhalten zu genügen«. Dazu zähle, wer »infolge verbrecherischer, staatsfeindlicher und querulantischer Neigungen fortgesetzt mit den Strafgesetzen, der Polizei und anderen Behörden in Konflikt gerät«, wer als »arbeitsscheu«, als »Rentenjäger« oder »Versicherungsschmarotzer« zu gelten habe, wer »den Unterhalt für seine Kinder dem Staat aufbürdet oder vom Kindergeld zu leben versucht«, wer sich als »besonders unwirtschaftlich und hemmungslos« erweise und keinen »geordneten Haushalt« führe sowie »Trinker, Straßendirnen, Zuhälter, Sittlichkeitsverbrecher, Homosexuelle usw«.[5]

In diesem Katalog fällt zunächst auf, daß er scheinbar wahllos vom notorischen Ladendieb über den Sittlichkeitsverbrecher bis zur »liederlichen Hausfrau«, dem Homosexuellen und dem »Arbeitsscheuen« alles nebeneinanderstellt, was den engen Rahmen der Wohlanständigkeit zu verlassen scheint – ein Katalog der sozialen Disziplinierung. Auf der anderen Seite ist bemerkenswert, daß hier von einer »anlagebedingten und nicht besserungsfähigen Geisteshaltung« gesprochen wird und daß dieses Schreiben vom »Rassepolitischen Amt« der Partei herausgegeben wurde. – Was aber haben Versicherungsbetrüger, Dirnen oder Säufer mit »Rassismus« zu tun?

Neben die Kennzeichnung der äußeren Erscheinungsformen von »Asozialität« tritt in dem Schreiben ein weiteres, strukturelles Merkmal: »Biologisch ist für die Gemeinschaftsunfähigen kennzeichnend: 1. die Erblichkeit der entscheidenden körperlichen und geistigen Anlagen und Merkmale, welche die Gemeinschaftsunfähigkeit bedingen. Es liegen Untersuchungen vor, welche die Beständigkeit der Gemeinschaftsunfähigkeit über mehr als zehn Generationen hinweg dartun. Damit ist auch der geringe Erfolg erklärt, der den vielfachen Erziehungs-, Besserungs- und Fürsorgemaßnahmen des Liberalismus an diesen beschieden war. 2. Die Gattenwahl erfolgt häufig aus dem gleichen schlecht veranlagten Menschenkreis. Das hatte zur Folge, daß die Nachkommenschaft immer unbrauchbarer wird.«[6]

Hinter den verschiedenen Erscheinungsformen von »Asozialität« stand diesem Denken zufolge also ein gemeinsames Prinzip: anlage-, also erblich bedingte Unfähigkeit zur Einpassung in die Gemeinschaft. Aus asozialer Abweichung wurde hier eine biologische Deformation, eine »rassische« Kategorie. Der Hinweis auf »Untersuchungen« über die Erblichkeit von »Asozialität« verweist darauf, daß hinter diesem Denken nicht nur Vorurteile und Vernichtungswille gegenüber gesellschaftlich Abweichenden stehen, sondern eine ganze wissenschaftliche Schule. »Die von uns geforderte rassenhygienische Sonderbehandlung dieser aus asozialer Sippe stammenden chronisch Gemeinschaftsunfähigen ist (…) in jeder Weise auch wissenschaftlich begründet«, formulierte etwa der Gießener Rassehygieniker H.W. Kranz im Jahre 1942.[7] Die »Ausmerzung der Gemeinschaftsunfähigen«, wie sie von Thierack und Himmler im September 1942 vereinbart worden war, entsprach den Forderungen von Rassehygienikern und Kriminalbiologen.

»Rassismus« läßt sich also nicht darauf reduzieren, daß den Angehörigen verschiedener Völker bzw. Rassen je verschiedene Eigenarten und davon abgeleitet unterschiedliche Werte zugeschrieben werden. Vielmehr ist unter Rassismus im allgemeinen und der rassistischen Praxis während der nationalsozialistischen Herrschaft im besonderen ein Weltbild zu verstehen, das sich sowohl nach innen wie nach außen richtet und als umfassende »Biologisierung des Gesellschaftlichen« definiert werden kann. Dieses Konzept wurde ganz oder in Teilen bereits vor 1933 von zahlreichen Wissenschaftlern zahlreicher Disziplinen vertreten; von Soziologen, Psychologen und Psychiatern ebenso wie von Kriminologen, Medizinern, Bevölkerungswissenschaftlern und Anthropologen. Darüber hinaus stießen wesentliche Teile gerade des nach »innen« gerichteten Rassismus, der abweichendes Verhalten ebensosehr auf Erbanlagen zurückführte wie ein Großteil der psychischen Krankheiten, auch in der Bevölkerung auf eine gewisse Zustimmung, weil er sich auf verbreitete Bedrohungsgefühle und Ablehnung gegenüber Abweichenden stützen konnte und insofern als nur graduelle Verschärfung des Umgangs mit »Verbrechern«, »Asozialen«, »Irren« usw. wahrgenommen wurde, wie er seit längerer Zeit üblich und gewohnt war.[8]

Die Entwicklung und schließliche Durchsetzung eines globalen rassistischen Ansatzes ist dabei vor allem als Ausdruck der rasanten sozialen, politischen und wirtschaftlichen Veränderungen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu verstehen. Vor allem die damit einhergehenden Veränderungen im gesellschaftlichen Bereich wurden von Teilen des Bürgertums und gerade in den Mittelschichten als bedrohlich und irritierend empfunden, zumal wenn es sich um Erscheinungen handelte, die den bürgerlichen Verhaltensnormen widersprachen und als Phänomene des Industrialismus, der Großstadt, der »Vermassung« der Gesellschaft wahrgenommen wurden, wie der tatsächliche oder vermeintliche Anstieg von Kriminalität, Prostitution, Homosexualität, »Verwilderung der Jugend« und auch der Geisteskrankheiten. Mit der popularisierten Form der Lehre Darwins wurde nun eine Erklärung für diese Entwicklung gefunden, die einleuchtend und, was für dieses fortschritts- und wissenschaftsgläubige Jahrhundert besonders wichtig war, naturwissenschaftlich abgesichert schien. Darwins Erkenntnisse, wonach die Ursache für die Evolution der Organismen in der »Natural Selection« zu suchen sei, wurde später von ihm selbst in seinem Buch »The Descent of Men and the Selection in Relation to Men« sowie in Deutschland vor allem von Ernst Haeckel auf den Menschen ausgedehnt.[9] Nach Darwin war die Selektion in der Natur deshalb notwendig, um das Mißverhältnis zwischen dem Nachkommenüberschuß und den vorhandenen Nahrungsquellen auszugleichen; dabei überlebten im Kampf ums Dasein jeweils nur die Stärksten, was Voraussetzung für eine stete Verbesserung und Höherentwicklung der Art sei.

Hier lag nun der Anknüpfungspunkt für die Übertragung des Darwinschen Modells aus der Biologie in die Sphäre des Gesellschaftlichen. Dieses Prinzip, so wurde argumentiert, habe auch die Regeln des menschlichen Zusammenlebens beherrscht; in dem Moment aber, als die Voraussetzungen für den Kampf ums Dasein entfielen – durch das Ausbleiben von Hungersnöten etwa als Folge der Modernisierung der Landwirtschaft – und die moderne Zivilisation durch Medizin, Wohlfahrtspflege und soziale Fürsorge die Schwachen, die vorher in diesem Kampf unterlegen gewesen und »selektiert« worden wären, nunmehr unterstützte und der Notwendigkeit des »Kampfs ums Dasein« enthob, sei das Naturgesetz der Selektion außer Kraft gesetzt worden. Da nun aber die Schwachen nicht mehr auf natürliche Weise ausgesondert würden, vermehrten sie sich in erheblicher Zahl, wodurch die Grundlage der Evolution, das Überleben nur der Starken, entfiel. Es seien also gerade die Auswirkungen der aus der bürgerlichen Tradition von Humanität und Gleichheitspostulat auf der einen, der christlichen Anschauung des Menschen als Geschöpf Gottes auf der anderen Seite heraus entwickelten Formen der staatlichen Hilfe gegenüber Bedürftigen und Schwachen, die die Weiter- und Höherentwicklung der Menschheit bzw. eines Volkes bedrohten oder gar verhinderten.

Diese hier grob skizzierte gedankliche Entwicklung fand vor allem deshalb so viel Unterstützung, weil sie der Überlegenheit und daraus abgeleitet dem Herrschaftsanspruch der gesellschaftlichen Führungsschichten des Kaiserreichs eine naturwissenschaftliche, damit »naturgesetzliche« Grundlage zu geben schien. Sie stand zudem in deutlichem Konnex zu den Fortschritten der Medizin und der Hygienebewegung im Kampf gegen die großen Volkskrankheiten während dieser Zeit. Denn so wie es gelang, körperliche Krankheiten durch naturwissenschaftliche Analysen ihrer Ursachen zu erkennen und erfolgreich zu bekämpfen, so müßte es diesem Gedanken zufolge nach der Entdeckung der naturwissenschaftlichen Ursachen für gesellschaftliche Fehlentwicklungen, für »Krankheiten am Volkskörper«, nun auch gelingen können, dagegen auf höchst wissenschaftlicher Ebene wirksame Gegenmittel zur Heilung zu entwickeln.

Diese Vorstellungen wurden von ihren Vertretern am Ausgang des 19. Jahrhunderts in durchaus unterschiedlicher Weise entwickelt und bezogen sich auch auf recht verschiedene Gruppen, die als »minderwertig« empfunden wurden – das reichte von den »Schwachsinnigen« über Menschen mit angeborenen körperlichen Krankheiten, über »Gewohnheitsverbrecher« bis hin zu »lieblosen« und »häßlichen« Menschen, wie etwa von Alexander Tille gefordert, einem der radikalsten Vertreter der »Wiedereinführung« harter Auslese, der 1893 u.a. empfahl, daß »jedermann um so weniger zu essen haben soll, je untüchtiger er ist, so daß die Untüchtigen unfehlbar zugrunde gehen«.[10]

Alfred Ploetz, einer der führenden Sozialdarwinisten, der 1904 die »Gesellschaft für Rassenhygiene« begründete, faßte die verschiedenen Forderungen der Gesellschaftsbiologen im Jahre 1895 in 3 Punkten zusammen: »1. Erzeugung möglichst vieler Devarianten. 2. Schärfere Ausjätung des schlechteren Teil der Convarianten, dessen Größe im richtigen Verhältnis stehen muß zu der Differenz zwischen erzeugten Individuen und erreichbaren Nährstellen. Keine Erleichterung der Gesamtgröße der selektorischen Einflüsse. 3. Keine Contraselection, d.h. keine Ausmerzung gerade der guten, und kein besonderer Schutz der schlechten Convarianten; also keine Kriege, keine blutigen Revolutionen, kein besonderer Schutz der Kranken und Schwachen.«[11]

Kurz gefaßt bedeutete dies: Die menschliche Fortpflanzung müsse so organisiert werden, daß möglichst viele erblich »Starke« zu produzieren seien, während nur so viele »Schwache« zugelassen werden dürften, wie »Nährstellen« – damit waren Arbeitsplätze oder Nahrungsmittel gemeint – vorhanden seien. Die »natürliche Selection«, etwa durch Krankheiten, aber auch durch Armut und Hunger, dürfe nicht behindert werden. Ereignisse, bei denen insbesondere die »Starken« umkämen, seien zu vermeiden.

Um die noch junge Disziplin der Rassenhygiene voranzubringen, bot der Essener Großindustrielle Friedrich Alfred Krupp im Jahre 1900 50000RM für ein Preisausschreiben auf, in dem die besten Arbeiten zum Thema »Was lernen wir aus den Prinzipien der Descendenztheorie in Beziehung auf die innerpolitische Entwicklung und Gesetzgebung der Staaten?« prämiert werden sollten.[12] Gewinner des Wettbewerbs wurde der Münchner Arzt Wilhelm Schallmayer mit seiner Arbeit »Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker, eine staatswissenschaftliche Studie aufgrund der neueren Biologie«.[13] Darin versuchte er zu zeigen, wie sehr durch die Errungenschaften der modernen Zivilisation die natürliche Selektion der Minderwertigen ausgeschaltet worden und die »Contraselection« – die Ausschaltung der besonders Begabten – ausgebreitet worden sei. Im Rechtswesen sei der alte Brauch, Kriminelle einfach umzubringen und mithin auch zu verhindern, daß die ihrem Tun zugrundeliegenden schädlichen Erbanlagen durch Fortpflanzung weitervererbt würden, durch eine Rechtsprechung abgelöst worden, die der Schwere der Tat, nicht der Veranlagung des Täters gerecht zu werden trachtete. Dadurch werde aber die Aufgabe des Rechtswesens verfehlt, »nämlich als selektiver Faktor in bezug auf soziale Eignung zu wirken« – ein Gedanke, der auch die Grundlage des sich entfaltenden Zweigs der »Kriminalbiologie« darstellte.[14] Ebenso sei das moderne Sozialwesen geeignet, gerade diejenigen Teile der Bevölkerung zu unterstützen, die besonders schlechte Erbanlagen besäßen und so in die Lage versetzt würden, in überdurchschnittlichem Maße Nachkommen in die Welt zu setzen. Ein Gleiches gelte für die Medizin, die durch erfolgreiche Bekämpfung der großen Volkskrankheiten, insbesondere aber der Säuglingssterblichkeit, die Mechanismen der »natürlichen Selection« weithin außer Kraft gesetzt habe. Durch diese und andere Entwicklungen sei die Struktur der Erbanlagen der deutschen Bevölkerung insgesamt verschlechtert worden. Dem müsse mit allen Mitteln entgegengearbeitet werden, und zwar in quantitativer Hinsicht durch ein Bündel von Maßnahmen zur Hebung der Geburtenziffern, in qualitativer Hinsicht durch staatliche »Fruchtbarkeitsbeeinflussung«, um Menschen mit schlechten Erbanlagen, etwa durch Zwangssterilisierung oder durch staatliches Eheverbot, von der Fortpflanzung auszuschließen, während die Bevölkerungsteile mit überdurchschnittlichen Erbanlagen zu erhöhter Kinderproduktion zu bewegen seien, etwa durch steuerliche Begünstigungen und entsprechende sozialpolitische Maßnahmen.

Die hier knapp skizzierte Argumentation Schallmayers fand in den folgenden Jahren zunehmende Verbreitung – nicht so sehr in der Öffentlichkeit, sondern vorwiegend unter den »Fachleuten«, also innerhalb der betroffenen Wissenschaftszweige sowie bei den Praktikern der Sozialfürsorge. Gemeinsam war ihnen, daß sie hinter dem Erscheinungsbild eines Individuums, dem »Phänotypus«, den »Genotypus« zu erkennen meinten – die Erbverfassung des einzelnen. Dieses Denken war nun durchaus nicht auf Deutschland oder gar auf rechtsradikale Kreise in Deutschland beschränkt. So forderte etwa auch Alfred Grotjahn, der Verfasser des gesundheitlichen Programms der SPD, »den menschlichen Artprozeß durch Abhaltung ganzer Gruppen von Minderwertigen von der Fortpflanzung in großem Maßstabe zu beeinflussen«, sowie »das gesamte Krankenhaus- und Anstaltswesen in den Dienst der Ausjätung der körperlich und geistig Minderwertigen zu stellen«.[15] In seiner Schrift »Krankenhauswesen und Heilstättenbewegung im Lichte der sozialen Hygiene« hatte Grotjahn gefordert, diejenigen Arbeiter abzusondern und in Asyle zu stecken, die »tuberkulös, geschlechtskrank, nervenkrank, verrückt, epileptisch, blind und taub, verkrüppelt, trunksüchtig, siech, schwer unfallverletzt und invalid« waren.[16]

Rassenhygiene und »Eugenik« als Bestandteile gesellschaftsbiologischen Denkens waren im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zudem auch in anderen westlichen Ländern unter Sozialwissenschaftlern, Medizinern und Kriminologen verbreitet, so etwa in England, den skandinavischen Ländern und vor allem den USA, wo die rassenhygienischen Postulate der Galton-Society und insbesondere des Eugenikers Charles B. Davenport einigen Einfluß auf die amerikanische Einwanderungspolitik gewannen.[17] In 26 amerikanischen Bundesstaaten gab es Gesetze zur Unfruchtbarmachung aus eugenischen Gründen, ebenso wie in Dänemark und Teilen der Schweiz und Kanadas.[18] Auf der anderen Seite beschränkte sich die Praxis der »Eugenik« in diesen Ländern auf Sterilisierungen auf freiwilliger Grundlage; zudem gerieten die Gesellschaftsbiologen dieser Länder seit Ende der 1920er Jahre wissenschaftlich ebenso wie praktisch mehr und mehr in die Defensive.

In Deutschland hingegen gewannen Rassenhygiene und gesellschaftsbiologisches Denken insgesamt vor allem seit dem Ersten Weltkrieg zunehmend an Bedeutung. In den 20er Jahren war die Rassenhygiene an fast allen Universitäten im Lehrplan vertreten, mit der Tendenz zur Etablierung als medizinische Spezialdisziplin; 1927 wurde – von allen Reichstagsparteien unterstützt – das »Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik« gegründet.[19] Gleichzeitig konkretisierten sich die Forderungen der Rassehygieniker und wurden zunehmend radikaler. Die Konsequenz einer »wissenschaftlich« festgeschriebenen Zweiteilung der Gesellschaft in »Hochwertige« und »Minderwertige« lag in der Forderung nach Ausgrenzung, schließlich nach »Ausmerzung« der als »minderwertig« Bezeichneten.

Dieser letzte Schritt war gedanklich spätestens mit der Schrift »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form« getan, die von dem Freiburger Psychiatrie-Professor Alfred Hoche und dem berühmten Rechtswissenschaftler Karl Binding 1920 herausgegeben worden war.[20] Die beiden Autoren forderten darin – angesichts der Opfer des Ersten Weltkrieges erschreckt und tief beeindruckt von der Lehre von der »negativen Auslese« –, vornehmlich die Geisteskranken nicht länger in Heimen zu pflegen, sondern sie zu töten; es gäbe »weder vom rechtlichen noch vom sozialen, noch vom sittlichen, noch vom religiösen Standpunkt aus schlechterdings keinen Grund, die Tötung dieser Menschen, die das furchtbare Gegenbild echter Menschen bilden und fast in jedem Entsetzen wecken, der ihnen begegnet, freizugeben – natürlich nicht an jedermann«. Voraussetzung für solche Maßnahmen aber sei es, so lautete die Schlußfolgerung beider Autoren, sich von überholten ethischen Prinzipien zu lösen und neue Werte zum Maßstab zu machen: »Es gab eine Zeit, die wir jetzt als barbarisch betrachten, in der die Beseitigung der lebensunfähig Geborenen und Gewordenen selbstverständlich war; dann kam die jetzt noch laufende Phase, in welcher schließlich die Erhaltung jeder noch so wertlosen Existenz als höchste sittliche Forderung galt; eine neue Zeit wird kommen, die von dem Standpunkte einer höheren Sittlichkeit aus aufhören wird, die Forderungen eines überspannten Humanitätsbegriffes und einer Überschätzung des Wertes der Existenz schlechthin mit schweren Opfern dauernd in die Tat umzusetzen.«[21]

Damit war die politische Perspektive dieses Denkens angedeutet: die radikale Absage an die politisch-philosophischen Prinzipien der Gleichheit und des Schutzes der Schwachen – sei es in politisch-philosophischer oder in religiöser Überzeugung fundiert – sowie die unbedingte Vorrangstellung der Interessen der Gemeinschaft vor denjenigen des Individuums. »Man glaube doch nicht«, schrieb dazu bereits 1918 der Biologe Oskar Hertwig, einer der schärfsten Kritiker der Sozialdarwinisten, »daß die menschliche Gesellschaft ein halbes Jahrhundert lang Redewendungen wie unerbittlicher Kampf ums Dasein, Auslese des Passenden, des Nützlichen, des Zweckmäßigen, Vervollkommnung durch Zuchtwahl usw. in ihrer Übertragung auf die verschiedensten Gebiete wie tägliches Brot gebrauchen kann, ohne in der ganzen Richtung der Ideenbildung tiefer und nachhaltiger beeinflußt zu werden«.[22]

Dies wird besonders augenfällig, wenn man die mit der Ausbreitung des Sozialdarwinismus einhergehende »Rasseforschung« der Rasseanthropologen in die Betrachtung mit einbezieht.[23] Zunächst weithin mit Körper- und Schädelmessungen beschäftigt, um die Unterschiedlichkeit und unterschiedliche Wertigkeit der verschiedenen Menschenrassen empirisch nachzuweisen, erhielten sie durch die Lehre Darwins sowie die (Wieder-)Entdeckung der Mendelschen Vererbungsregeln einen enormen Aufschwung. Anstatt eines bis dahin vorwiegend durch Anschauung geprägten Rassebegriffs schien der hieraus zu entwickelnde populationsgenetische Rassebegriff die Möglichkeit zu bieten, Unterschiedlichkeit und unterschiedliche Wertigkeit der Rassen biologisch zu beweisen, indem man objektive rassische Verschiedenheiten mit Wertmaßstäben und sozialen Eigenschaften kombinierte und so etwa »Rasse« mit Intelligenz, Kulturniveau oder seelischen Eigenschaften gleichsetzte.[24] Ähnlich wie die Sozialdarwinisten gegenüber allem Abweichenden innerhalb einer Gesellschaft argumentierten die Rasseanthropologen in bezug auf das Verhältnis der verschiedenen Menschenrassen untereinander, wobei angesichts der mangelnden wissenschaftlichen Grundlage darunter z.T. auch Nationen, Kulturkreise etc. subsumiert wurden: Abweichendes, Fremdes, Irritierendes wurde mit Hilfe wissenschaftlicher Kategorien als »weniger Wertvolles« definiert; aus dem sozialen Bedrohungsgefühl wurde ein gleichsam objektivierter biologischer Bedrohungstatbestand. Durch die in Deutschland sich ausbreitende »Kombination des sozialdarwinistischen Ausleseprinzips mit einem typologisch verengten und den verschiedensten ideologischen Inhalten ausgeführten Rassenbegriff (…) nach dem die nordische Rasse auf der Rassenskala die qualitativ hochwertigste aller Rassen sei und deshalb auch End- und Zielpunkt der Auslese sein müsse«, wurden, wie der Leipziger Historiker Kurt Nowak hervorgehoben hat, »innerer« und »äußerer« Rassismus miteinander verbunden.[25]

Damit war auch Anschluß gefunden an den traditionellen, sich aus sozialen und religiösen Motiven speisenden Antisemitismus, der nun eine gleichsam wissenschaftliche Untermauerung erhielt und zum Rassenantisemitismus wurde. Nunmehr wurden die im antijüdischen Vorurteil fixierten negativen Eigenschaften der Juden auf biologische Andersartigkeit zurückgeführt; kennzeichnend ist dabei die enge Verbindung von »biologischen« mit »seelischen«, sozialen, kulturellen und historischen Faktoren – geradezu die klassische Überführung vom sozialen Vorurteil in eine »wissenschaftliche« Kategorie.[26]

Der Erste Weltkrieg hatte vor allem deshalb ein Aufleben gesellschaftsbiologischer Argumentation zur Folge, weil er in den Augen der »Eugeniker« und »Rassewissenschaftler« eine »Contraselection« in größtem Ausmaße darstellte; gerade die Besten seien es gewesen, die auf dem Schlachtfeld geblieben seien. Und zusammen mit dem weiteren Ausbau der Sozial- und Fürsorgepolitik, der Medizin und moderner Strafvollzugsmethoden während der Weimarer Zeit, dem gleichzeitigen Rückgang des Geburtenüberschusses in der deutschen Bevölkerung, hervorgerufen durch den Trend gerade in bürgerlichen und mittelständischen Familien zur Ein- oder Zwei-Kinder-Ehe, schienen die seit langer Zeit geäußerten Befürchtungen der Gesellschaftsbiologen in dramatischer Weise aktuell geworden zu sein. Gegenmaßnahmen schienen dringend notwendig zu sein, sowohl »positiver« Art – durch entsprechende staatliche Hilfe für den »wertvollen« Teil der Bevölkerung, insbesondere zur Steigerung der Geburtenrate sowie durch moderne sozialpolitische Maßnahmen, als auch »negativer« Art – etwa durch staatliche Eingriffe, um die Vermehrung des »unwerten« Bevölkerungsteils zu verhindern oder doch einzudämmen. Gleichzeitig, wenn auch nicht durchweg von denselben Wissenschaftlern, wurden Maßnahmen gegen die Vermischung der »Rassen« gefordert, weil diese ebenfalls zur Verschlechterung der biologischen Substanz der deutschen Bevölkerung beitrügen.

Am Ende der Weimarer Republik war gesellschaftsbiologisches Denken in den einschlägigen Wissenschaftszweigen weit verbreitet, stieß aber ebensosehr auf entschiedene Ablehnung, insbesondere, wo es um die von Binding und Hoche geforderte »Vernichtung lebensunwerten Lebens« ging, während – etwa von seiten führender Juristen – die Forderung nach »Sterbehilfe« für unheilbar Kranke positiver aufgenommen wurde.[27] Waren jedoch die Diskussionen um praktische Maßnahmen gegenüber »Minderwertigen« in den vorausgegangenen Jahren im wesentlichen auf Wissenschaftler und Praktiker der Sozialfürsorge beschränkt gewesen, so war die biologische Erklärung gesellschaftlicher Vorgänge und insbesondere die Zurückführung ungewöhnlichen, normbrechenden, »anormalen« Verhaltens auf dahinterstehende biologische, ererbte und vererbbare Faktoren durchaus verbreitet. Das »rassenhygienische Paradigma« ist zutreffend als »Resonanzboden für bildungsbürgerlich geprägte Deutungsmuster gesellschaftlicher Wirklichkeit« bezeichnet worden, das dem gesellschaftlichen Status quo gegen alle Gefährdungen und Irritationen eine »wissenschaftliche Grundlage« zu geben schien.[28] Dabei trafen offenbar vor allem solche Argumente auf Zustimmung, die auf die finanzielle Belastung der Gesellschaft durch die »Aufbewahrung« und Pflege der Geisteskranken und Körperbehinderten, auf die Kosten des Strafvollzugs oder der Sozialhilfe für »Asoziale« verwiesen, zumal, wenn diese Kosten durch die postulierte Vererbbarkeit der Behinderung oder des »asozialen Verhaltens« auf die Kinder übertragen und somit immer weiter ansteigen würden.

Bei den Nationalsozialisten liefen diese verschiedenen Linien zusammen. Der nationalsozialistische Rassismus als konsequent gesellschaftsbiologische Weltanschauung wurde dabei explizit durchaus nicht von einer Mehrheit in der Bevölkerung geteilt. Aber in ihm bündelten sich die Angst vor einem Bevölkerungsrückgang in Deutschland – seit langem schon eine Art imperialistischer Alptraum –, Abwehr gegenüber allem Fremden, Irritierenden und Abweichenden sowie Antisemitismus und Antislawismus und wurden unter Hinweis auf den »wissenschaftlichen« Rassismus aus der Sphäre des Dünkels und des Vorurteils auf eine quasi objektive Ebene gehoben. Wie sehr diese einzelnen Aspekte dabei miteinander verbunden waren, mag beispielhaft eine Schrift des Leiters des Rassepolitischen Amtes der NSDAP, Dr. Walter Groß, von 1934 belegen, die ein Jahr nach der nationalsozialistischen Machtübernahme die »rassischen« Positionen des neuen Staates zusammenfaßte.[29]

Groß hob in seiner programmatischen Schrift »Rassenpolitische Erziehung« drei Prozesse hervor, »die in der Vergangenheit Völker zerstörten und die wir nun alle drei auch in unserem deutschen Volke heute ablaufen sehen seit Jahrzehnten, z.T. seit Jahrhunderten (…): der quantitative Rückgang der Zahl, die qualitative Verschlechterung des erblichen Wertes eines Volkes und namentlich die Mischung mit fernstehenden Rassen, die im Grunde dazu führt, daß die brauchbaren und wertvollen Anlagen beider zur Mischung kommenden immer wieder durchkreuzt und zerstört werden«. Der quantitative Bevölkerungsrückgang würde, wenn er sich in der bisherigen Weise fortsetzte, dazu führen, daß in knapp 50 Jahren »Deutschland zahlenmäßig etwa auf zwei Drittel seines heutigen Bestandes zurückgegangen sein wird, etwa nur noch die Einwohnerzahl des heutigen Polens vielleicht haben wird, während dieses gleiche Polen z.B., wenn es auch nur ungefähr die Geburtenziffern hält, die es jetzt hat, in der gleichen Zeit anschwellen wird auf die Bevölkerungsstärke des heutigen Deutschen Reiches, was dann bedeutet, daß diese beiden Staaten, rein zahlenmäßig gesehen, einfach ihre Rollen getauscht haben, die Großmacht Deutschland aufgehört hat und im Herzen Europas nichts mehr ist als ein kleines Vasallenstaatsgebilde, das zwangsläufig von dem gewaltig angeschwollenen und im Rahmen seiner Grenzen keinen Raum mehr findenden polnischen Volkstum erdrückt werden muß«.

Die »quantitative Verschlechterung« hingegen sei vor allem die »Folge eines humanitären und liberalen Geistes gewesen (…), daß man geglaubt hat, man könne und dürfe ungestraft die großen Gesetze der Auslese der Natur für das Reich des Menschen außer Kraft setzen, man könne und dürfe mit künstlichen Mitteln jene brutale und rücksichtslose, aber im tiefsten gerechte, wenn wir so wollen: göttliche Ordnung der Dinge der Natur durchbrechen, die darin besteht, daß immer und immer wieder das ausgemerzt wird, was nicht zumindest einem guten Durchschnitt genügt, und daß bloß das bevorzugt sich durchsetzt im Leben der Natur, der Tierwelt, der Pflanzenwelt, der primitiven Menschenwelt, was über den Durchschnitt hinausragt. Sie wissen, wie wir das gedanklich durchbrochen haben durch die Lehre von der Gleichheit, die keine Unterschiede mehr kennt und kennen darf und Unterschiede in der Wertigkeit zwischen den verschiedenen Menschen zurückführt auf äußerliche Momente der Umwelt, des Milieus und sie damit also bagatellisiert (…) Aber gleich sind die Wertigkeiten nirgends, und wenn nun in einem Volke der Teil, auf dessen Seite die geringeren Werte insgesamt aus erblichen Gründen liegen, zahlenmäßig anwächst und stärker wird gegenüber dem anderen, der an sich wertvoll sein könnte, so vermindert sich am Ende der Wert des ganzen Volkes und damit seine Stärke nach innen und außen (…) Während gesunde deutsche Familien im Durchschnitt eine lächerlich geringe Kinderzahl haben, bringen es die Familien mit erblicher Belastung, die Familien der Schwachsinnigen auf 3, auf 4, auf 5 Kinder im Durchschnitt, die selbstverständlich nichts anderes darstellen als die Fortsetzung der minderwertigen und unterwertigen Anlagen der Eltern (…), eine Erkenntnis, die, zunächst rein abstrakt-theoretischer Art, auf der praktischen Seite zur Forderung von Maßnahmen geführt hat, wie wir sie etwa im Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses heute ins Rollen bringen. Der dritte Prozeß, von dem ich heute sprach: Die Mischung mit Menschen ganz fremder und fernster Rassenbestandteile. Aus den Erlebnissen des letzten Jahres weiß man, wie stark ein solcher fremder Blutseinschlag in unserem Volk bereits geworden ist. Wenn es auch eigentlich für 70 Millionen immer nur kleine Bruchteilchen darstellt, so ist doch in der Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums und der anderen Arier- und Nichtarierparagraphen an den Dienststellen mit Erschütterung festgestellt worden, daß der Einbruch fremder Blutselemente in unser Volk unendlich viel weitergegangen ist, als wir es selbst uns hätten träumen lassen.

Das bedeutet aber nichts anderes, als daß eben auch die Harmonie, das Gesamtgefüge dieses Volkes leiblich, geistig, seelisch, charakterlich in sich morsch zu werden beginnt, denn wenn in den Menschen und Familien, im einzelnen oder in ganzen Gruppen, immer wieder zwei Seelen in der Brust miteinander ringen müssen, dann kann nichts anderes dabei herauskommen, als innere Unruhe und Zerrissenheit und nicht das, was Völkern Stärke und Staaten Zukunft gibt. Die Konsequenz aus dieser Erkenntnis ist dann das schon erwähnte Gesetzgebungswerk gewesen, das nun für die Zukunft durch alle möglichen gesetzlichen Bestimmungen ein weiteres Einsickern fremden Blutes unmöglich zu machen versucht.«

In dieser Ansprache Groß' wurde in gedrängter Form ausgesprochen, wie eng zum einen »eugenischer« und »anthropologischer« – »innerer« und »äußerer« – Rassismus zusammenhängen, wie sehr dies zweitens mit Hinweisen auf wissenschaftliche Erkenntnisse und naturgesetzliche Entwicklungen objektiviert und abgesichert wurde, und drittens, daß die Nationalsozialisten als ihr spezifisches Verdienst die unmittelbare Verbindung zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und politischer Praxis betrachteten, während vorher zwar bereits das Wissen, nicht aber die Bereitschaft zum Handeln existiert habe. Das rassistische Paradigma selbst, das gesellschaftsbiologisches Denken zur Grundlage sozialen Handelns erhob, war also nichts spezifisch Nationalsozialistisches. Es bestand vielmehr als weitgehend ausgebildetes Theorem bereits vor 1933 und fand innerhalb der beteiligten Professionen auch breite Unterstützung. Aber es traf ebensosehr auch auf erhebliche Kritik und Ablehnung – sowohl was seine wissenschaftliche Seriosität als auch die ethischen Implikationen betraf; dadurch waren Versuche der Umsetzung von der Theorie in praktisches Handeln vor 1933 weitgehend abgeblockt worden. Selbst Pläne zur Zulassung eugenisch indizierter Sterilisation auf freiwilliger Grundlage waren – im Gegensatz zur Entwicklung in anderen westlichen Ländern – über das Stadium vorparlamentarischer Beratung noch nicht hinausgekommen.[30] Durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde diese Balance beseitigt – die Befürworter rassistischen Denkens rückten in entscheidungsberechtigte Stellen ein, während ihre Kritiker mundtot gemacht wurden oder von sich aus verstummten. Gleichzeitig begann die Umsetzung des bis dahin nur Gedachten in die Praxis – und ein Prozeß der steten Radikalisierung dieser Praxis.

Das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«[31], auf das sich Groß bezieht, ist als erster Schritt auf dem Wege der Verwirklichung eines umfassend angelegten Programms zur »Reinigung des Volkskörpers« zu verstehen. Es wurde bereits am 14. Juli 1933 verabschiedet und sollte im Januar 1934 in Kraft treten; es bestimmte, daß Erbkranke, die an »angeborenem Schwachsinn« litten, zu sterilisieren seien, wobei unter Schwachsinn »jeder im medizinischen Sinne als deutlich abnorm diagnostizierbare Grad von Geistesschwäche« verstanden wurde.[32] Am gleichen Tag wie das Sterilisierungsgesetz wurde auch das »Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung«[33] beschlossen, nachdem ursprünglich gehegte Pläne, Gewohnheitsverbrecher ebenfalls unter das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« fallen zu lassen, aufgegeben worden waren, da eine sichere Definition, wer als aus erblicher Veranlagung Krimineller anzusehen sei, von den Fachleuten der Rassenhygiene und der Kriminalbiologie noch nicht endgültig zu erbringen sei. Allerdings könne, so wurde im offiziellen Gesetzeskommentar ausdrücklich betont, im Prinzip »gar kein Zweifel daran bestehen, daß auch die Anlagen zum Verbrecher erblich bedingt sind«.[34]

Die dritte von Groß angesprochene Maßnahme betraf vor allem die Juden, die vom Zugang zum Staatsdienst ausgeschlossen wurden: Der erste Schritt zur rechtlichen Diskriminierung der Juden, dem, wie Groß richtig voraussagte, bald immer weitere und immer radikalere folgen sollten.[35]

Der Weg, der hier beschritten wurde, führte von der Sterilisierung und »Absonderung« zur »Ausmerze«: zum Massenmord in bis dahin unvorstellbaren Dimensionen. Dadurch, daß das hemmende Element der Opposition gegen den Rassismus in der Politik und das gesellschaftsbiologische Denken in der Wissenschaft ausgeschaltet war, setzte ein Prozeß ein, in dessen Verlauf sich innerhalb des nationalsozialistischen Machtgefüges in zunehmendem Maße die jeweils radikalere Variante durchzusetzen begann. Dabei wurden »Rassepolitik« und »soziale Frage« immer mehr miteinander verschmolzen: die Beseitigung gesellschaftlicher Probleme durch die Beseitigung derjenigen, die man als Verursacher dieser Probleme ansah. Hier liegt der Zusammenhang zwischen der Politik der Nationalsozialisten gegenüber Angehörigen »minderwertiger Rassen bzw. Völker« – insbesondere der Juden, der Zigeuner und nach Kriegsbeginn auch der Bevölkerung Polens und der Sowjetunion – und den »Minderwertigen« innerhalb der deutschen Bevölkerung, wie etwa »Wanderer«, »Trinker«, »Hilfsschüler«, »Prostituierte«, »Arbeitsscheue«, »Homosexuelle«, »Gewohnheitsverbrecher«, die in den nun folgenden Jahren verfolgt wurden, weil ihr von der normativen Auffassung von Normalität abweichendes Verhalten als für die Volksgemeinschaft in doppelter Hinsicht schädlich angesehen wurde: gesellschaftlich – weil sie der Gemeinschaft schadeten, ihr Kosten aufbürdeten, ihre moralische Standfestigkeit in Frage stellten etc., und biologisch – weil ihr schädliches Verhalten als anlagebedingt, als vererbt und vererbbar angesehen wurde.[36] Ebenso erging es den »Geisteskranken«, wobei dieser Begriff eine außerordentliche Ausdehnung erfuhr. Vom Beginn der Sterilisierungsaktionen bis zu den ersten »Euthanasie«-Morden an »Geisteskranken« waren es nur fünf Jahre; in dieser Zeit wurde der Rahmen, der in gesellschaftsbiologischem Sinne »Auszumerzenden« immer weiter gesteckt. Wesentlich war dabei die Verbindung von populärem Vorurteil gegenüber sozialen Minderheiten und wissenschaftlicher Objektivierung. Es waren Fürsorgebeamte, Jugendpfleger, Anstaltsleiter, Beamte der Arbeitsverwaltung, Ärzte der Gesundheitsämter sowie eine anwachsende Zahl vorwiegend junger, karrierebewußter Wissenschaftler verschiedener Sparten, die hier die Chance sahen, aufbauend auf den Prinzipien der Gesellschaftsbiologie, zu einer umfassenden, totalen und in ihren Dimensionen bis dahin undenkbaren »Reinigung des Volkskörpers« zu schreiten.

Die Ermordung der europäischen Juden stellt dabei den Kulminationspunkt dieser Entwicklung dar, standen sie doch im Schnittpunkt des »äußeren« und des »inneren« Rassismus. Zum einen repräsentierten die Juden in den Augen der Rassisten innerhalb der Gesellschaft beinahe alle irritierenden und abzulehnenden Entwicklungen der Neuzeit; seien dies »Wucher« und Kapitalismus, »Intellektualismus«, Großstadtleben und »jüdischer Bolschewismus«, der in die deutsche Gesellschaft integrierten Juden – oder »Schleichhandel«, Armut und kulturelle Fremdartigkeit der Ostjuden; in jedem Falle wurde das ihnen zugeschriebene Verhalten als Ausdruck ihrer minderwertigen biologischen Konstitution angesehen. Auf der Grundlage der langen Tradition des religiös oder »kulturell« motivierten, populären Antisemitismus war hier das aufklärerische Postulat der Gleichheit ebenso wie die christliche Auffassung vom Menschen als Geschöpf Gottes besonders leicht umzustürzen. Dies mag auch erklären, warum nach Kriegsbeginn innerhalb der Kirche, aber auch in den Kreisen der bürgerlich-konservativen Opposition zwar die »Euthanasie-Aktionen« auf Widerspruch stießen, kaum aber die Deportation und Ermordung der Juden thematisiert wurden.

In der »Auslieferung der asozialen Elemente an den Reichsführer SS« vom September 1942, die eingangs beschrieben wurde, werden die verschiedenen Aspekte des Rassismus in einer einzigen Aktion deutlich. Als Kriterien galten hier das »Maß der Asozialität«, festgestellt durch die Strafdauer, sowie die »rassische Zugehörigkeit«, hier geteilt in zwei Gruppen: Deutsche und Tschechen auf der einen Seite; Juden, Zigeuner, Polen, Ukrainer, Russen auf der anderen. »Sicherungsverwahrte« waren in jedem Falle auszuliefern, bei ihnen war ja die »Anlagebedingtheit« der Kriminalität bereits gerichtlich festgestellt worden.

Der nationalsozialistische Rassismus ist in historischer Perspektive also als die konsequent ins Extrem radikalisierte Praktizierung einer Weltanschauung zu begreifen, die den irritierenden Erscheinungsformen der modernen Industriegesellschaft dadurch begegnet, daß sie jene auf vermeintlich naturwissenschaftlich feststellbare, biologische Ursachen zurückführt. Die daraus entwickelte Perspektive, der »natürlichen Ausmerze« durch entsprechende staatliche Maßnahmen »wieder« zu ihrem Recht zu verhelfen, um die der Natur zuwiderlaufende Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte oder Jahrhunderte anzuhalten und umzukehren und so die gesellschaftsbiologisch »saubere«, konfliktfreie Gesellschaft zu schaffen, fand vor allem aus drei Gründen so erhebliche Unterstützung gerade bei einem Teil der jungen, akademisch ausgebildeten Elite von Natur- und Gesellschaftswissenschaftlern:

1. Sie schien im Einklang mit dem »Fortschritt« und der »modernen Entwicklung« in Naturwissenschaft und Technik zu stehen und selbst mit außerordentlich »modernen« Methoden, wie etwa den Vorläufern der Genforschung zu arbeiten.

2. Sie war kombiniert mit der Propagierung moderner und fortschrittlicher Methoden der Sozialpolitik zur Unterstützung der »biologisch Wertvollen«. Von daher ist zu betonen, daß die nationalsozialistische Sozialpolitik gegenüber den nichtausgegrenzten »Volksgenossen« – von der Familienpolitik über Wohnungsbau bis zur Forcierung von Breitensport oder den Vorläufern des Massentourismus – als integraler Bestandteil einer »ganzheitlichen«, »organischen« Gesamtkonzeption zu verstehen ist, die das »Gute schützt« und das »Schlechte ausmerzt«.

3. Diese Konzeption verlangte von dem einzelnen keine persönliche emotionale Anteilnahme. Der Arzt, der die »Schwachsinnigen« für den nächsten Tötungstransport auswählte; der Arbeitsamtsbedienstete, der einen »Arbeitsverweigerer« zur Einweisung ins KZ vorschlug, der Sozialarbeiter, der eine »asoziale Sippe« entdeckte ebenso wie der Sachbearbeiter im Reichssicherheitshauptamt, der die Deportation von Juden oder von Zigeunern organisierte – sie konnten ihr Handeln als Ausdruck eines »objektiv« notwendigen, mit der »Natur« übereinstimmenden Konzepts zur biologischen Bereinigung des Volkskörpers verstehen oder doch legitimieren.

Voraussetzung dafür aber war, daß die Postulate von der Gleichheit der Menschen und vom Schutz der Schwachen aufgegeben worden waren. Die Bereitschaft, die Gesellschaft als biologisch strukturiertes System zu begreifen, das nicht nach humanen, sondern nach »natürlichen« Prinzipien zu organisieren sei, stellt sich geistesgeschichtlich als einer der zentralen Faktoren des hier in Gang gesetzten Prozesses dar. Zudem stießen aber auch in der deutschen Bevölkerung jedenfalls Teile des rassistischen »Ausmerze«-Programms wohl nicht auf Zustimmung, so doch auf eine Art von desinteressierter Sympathie, sofern davon solche Gruppen betroffen waren, die besonders auffällig den Normen bürgerlicher Wohlanständigkeit zu widersprechen schienen, wie »Gewohnheitsverbrecher«, »Prostituierte«, »Zigeuner«, »Homosexuelle« und andere. Mit zunehmender Radikalisierung und Beschleunigung dieses Programmes jedoch war »durch die terroristische Ahndung alles abweichenden Sozialverhaltens« potentiell jeder betroffen, wie Detlev Peukert hervorhob. »Der Terror fraß sich also – bei zunehmender gleichzeitiger Aggressivität – vom Rande der Gesellschaft in ihr Zentrum hinein.«[37]

Der nationalsozialistische Rassismus ist nur als ganzer zu bezeichnen; reduziert auf bestimmte Teile der Ausgrenzungs- und Vernichtungspolitik kann man ihn weder verstehen noch zutreffend einordnen. Dahinter steht die Vorstellung, gesellschaftliche Probleme auf biologische Ursachen zurückführen zu können. In der polykratisch strukturierten NS-Diktatur wurde dabei die dem rassehygienischen Paradigma innewohnende Tendenz zur beständigen Ausweitung des auszugrenzenden Teils der Gesellschaft zur Praxis – von der Diffamierung zur Absonderung und schließlich zur millionenfachen Vernichtung.

In der deutschen Gesellschaft der Nachkriegszeit jedoch wurde der totale, »ganzheitliche« Charakter des nationalsozialistischen Rassismus lange Zeit nicht herausgehoben und zum Gegenstand der Debatte gemacht – wohl auch deshalb, weil sich die Empfindung, es habe sich dabei um Verbrechen gehandelt, durchaus nicht auf alle Aspekte der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik erstreckte. Sei es, daß etwa die »Asozialen« in den Konzentrationslagern und als Opfer der Tötungsmaschinerie des Dritten Reiches in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Terrorpolitik des Nationalsozialismus (in der Bundesrepublik ebenso wie in der DDR) nicht oder – oft apologetisch – nur am Rande behandelt wurden; sei es, daß ein großer Teil der vom »inneren«, »sozialen« Rassismus Betroffenen in der westdeutschen Wiedergutmachungsgesetzgebung nicht als »Opfer« des Nationalsozialismus anerkannt wurden, ob es sich um Zwangssterilisierte, »Asoziale« oder »Geisteskranke« handelte[38]; oder sei es, daß populäre Stammtischsentenzen wie, Hitler habe aber wenigstens mit den Verbrechern aufgeräumt und man habe nachts wieder gefahrlos über die Straße gehen können, nach wie vor auf eine gewisse Zustimmung stoßen: Die Erkenntnis des verbrecherischen Charakters nationalsozialistischer Rassepolitik in ihrer Gesamtkonzeption hat sich erst nach und nach und mit zunehmendem zeitlichen Abstand durchgesetzt; dieser Prozeß ist noch nicht abgeschlossen.

»Generation der Sachlichkeit«

Die völkische Studentenbewegung der frühen zwanziger Jahre

Die Verwendung des Begriffs der »Generation« als historische Kategorie ist problematisch, weil weder exakt definiert werden kann, was eine Generation jeweils ausmacht, noch die Auswirkungen einer kollektiven Generationserfahrung einigermaßen präzise herausgestellt und als solche von anderen Einflüssen getrennt betrachtet werden können. Diese Schwierigkeiten tauchen aber offenbar immer dann auf, wenn versucht wird, »Generation« als generell gültige, für den gesamten historischen Prozeß konstitutive Kategorie zu nehmen. Als fruchtbarer erweist sich der Ansatz, wenn seine Verwendung auf solche Fälle begrenzt wird, in denen »Generation« auf evidente Weise als historisch wirkungsmächtiger Faktor hervortritt, wenn nämlich besonders bedeutsame und langfristig folgenreiche Ereignisse und Entwicklungen die Erfahrungen einer zu dieser Zeit heranwachsenden Altersgruppe geprägt und dadurch relativ scharf von den Erfahrungen anderer Altersgruppen unterschieden haben.[39] Daß dies auf den alle bisherigen Erfahrungsdimensionen sprengenden Ersten Weltkrieg und die zu dieser Zeit Heranwachsenden in besonderer Weise zutraf, ist einleuchtend und wurde auch bereits zeitgenössisch so formuliert, so daß der jeweils individuelle Lebensweg und die dabei gemachten Erfahrungen vor allem der männlichen bürgerlichen Jugend auf ein kontingentes Angebot der Sinndeutung stießen, welches die Erlebnisse der einzelnen einband in die Kategorien und Wertemuster seiner »politischen Generation«.[40]

In bezug auf den Ersten Weltkrieg wurde dabei in der Regel zwischen drei Gruppen unterschieden: der »jungen Frontgeneration«, der »Kriegsjugendgeneration« und der »Nachkriegsgeneration« – in Begriffen des für die politische Generationslehre der 30er Jahre besonders einflußreichen Günther Gründel, eines Mitgliedes des »Tat«-Kreises, der in seiner 1932 erschienenen »Sendung der Jungen Generation« den »Versuch einer umfassenden revolutionären Sinndeutung der Krise« unternommen hatte. Als »junge Frontgeneration« wurden dabei die zwischen 1890 und 1900 Geborenen beschrieben, »die bei Kriegsausbruch kaum zwanzig waren oder gar als Achtzehnjährige freiwillig oder später dem allgemeinen Muß folgend hinausgingen, (…) blutjung, noch tiefempfänglich für alles und am tiefsten für das Große und Furchtbare. Sie waren noch keine fertigen Männer, Weltanschauung und Mensch waren noch im Werden. Sie sind als begeisterte, aber durch das Übermaß des allzu starken und furchtbaren Erlebnisses vielleicht sehr bald entwurzelte Jünglinge hinausgetaumelt«, die »eigentlichen Träger des so viel diskutierten Fronterlebnisses«.[41]

Die Generation der nach 1910 Geborenen, die »Nachkriegsgeneration«, sei hingegen dadurch geprägt worden, daß sie »vom Krieg selbst keine tieferen Eindrücke mehr erfahren« habe; ihr fehle auch der Vergleich zur Vorkriegszeit – »ihre ersten Eindrücke waren der Umsturz, die beginnenden Inflationsjahre und eine verbreitete und vielfach in bloßem Wandertrieb verflachte Jugendbewegung«.[42]

Als wichtigste, von der Geburtenzahl auch quantitativ größte Gruppe aber hob Gründel die mittlere, die »Kriegsjugendgeneration« der zwischen 1900 und 1910 Geborenen heraus, denen zwar »das Fronterlebnis, durch das viele ihrer älteren Brüder tiefer, härter und radikaler geworden« seien, fehle – »was jene selbst erleben, können diese sich nur erlesen« –, denen der Krieg aber dennoch »zu einem ganz ungewöhnlich starken und einzigartigen Jugenderlebnis« geworden sei. Statt von sorglosen Freuden, sei ihre Kindheit ganz von den Auswirkungen des Krieges geprägt worden: »Kriegsbegeisterung 1914; Siegesschulfeiern und Heeresberichte; organisierte Arbeiterjugend für Staat und Volk; (…) Hunger, Not und Entbehrungen, Jugendausbildung; Kohlenferien und immer wieder: Hunger und Entbehrungen. (…) Schließlich: Zusammenbruch der Welt der Väter und alles dessen, was bisher gegolten hatte; ›Umsturz und Umwertung aller Werte‹« – dadurch aber auch »die ungewöhnlich frühe Erschließung der Kindesseele für das große Ganze, für völkische, gesellschaftliche und schließlich auch internationale Belange und für das kollektive Erleben überhaupt. (…) Das Volk, die Nation und die bösen Feinde waren bereits aktivste Faktoren in unserer harmlosen Kinderwelt« – insbesondere für die Jugend in Ostpreußen und im Rheinland, die während des Krieges bzw. danach unmittelbaren Kontakt mit dem »Feind« bekommen habe, wodurch das »Heimaterlebnis des Krieges bis zu besonderen Tiefen« vorgedrungen sei. Darin, hob Gründel hervor, liege auch der Grund dafür, daß »noch nie eine Jugend dies Deutschland, dies deutsche Land so liebte und lieben mußte, wie wir«. Entsprechend radikal habe das »Nachkriegsleben« gewirkt: »Nun war auch das Letzte noch problematisch geworden, das bisher wenigstens immer noch stillschweigend gegolten hatte: die Freiheit, das Vaterland und fast alle die soviel im Munde geführten Ideale und Werte der Alten.«

Damit sei aber der »endgültige Bankrott jener ganzen Welt der alten Generation« vollzogen worden, ohne daß dies jedem aber bereits bewußt gewesen sei. Durch die Verarmung und den Verlust der privilegierten Berufsaussichten seien jedoch für die bürgerliche Jugend die Kontakte zur Arbeiterjugend eröffnet und damit die sozialen Barrieren der Generation überwunden worden – »eine Erweiterung und Bereicherung (…), wie sie keine andere Zeit einer aufgeweckten Jugend jemals hatte geben können. Wir sind als ganze große Schicht enterbt und ausgesetzt worden (…), ein hartes, nüchternes Geschlecht mit tief im Herzen verkapselten Idealen, mit einem zähen Willen und mit bester Beherrschung der Kampfmethoden und Waffen im Ringen um Dasein, Geltung und Erfolg.« Entsprechend kennzeichnete er die hervorstechenden Eigenschaften dieser Generation: »Wahrheitsliebe und Schlichtheit«; »Ernst, wortkarge Verschlossenheit und Zurückhaltung, ja manchmal schroffe Kälte«; vor allem aber »Sachlichkeit«: die Sache über das Persönliche zu stellen, die Ablehnung des »Zurschautragens von Gefühlen« und des »Verbalaltruismus, Verbalmoralismus, Verbalpatriotismus«, denn »wo wir ehrliches Mitleid empfinden, scheuen wir uns, es nach altem Stil kitschig zu äußern und wollen lieber in den Verdacht der ›Gefühllosigkeit‹ kommen«; zudem »ein ausgesprochener Sinn für rationelle Methoden und für das Ökonomieprinzip überhaupt«.[43]

Eine solche Charakterisierung der »Kriegsjugendgeneration«, wie sie sich, mit geringen Abweichungen, in zahlreichen Beiträgen zur »Generationenfrage« seit Mitte der 20er Jahre fand[44], beruhte trotz aller Stilisierungen gewiß in vielen Punkten auf richtigen Beobachtungen des Empfindens und Verhaltens dieser Gruppe der bürgerlichen Jugend in Deutschland. Vor allem aber handelte es sich hierbei um die Beschreibung und Herleitung eines generationellen Lebensstils, dessen vorherrschende Kennzeichnung Kühle, Härte und »Sachlichkeit« als Abgrenzungsmerkmale zu der als gefühlig und zu sehr auf Personen statt auf »die Sache« konzentriert denunzierten Gruppe der Älteren waren. Den Vorsprung, den die Älteren durch ihre Kriegsteilnahme und »Fronterfahrung« hatten, versuchten die Jüngeren durch die Übernahme des Frontkämpferideals für den Kampf im Innern, die Stilisierung des kalten, entschlossenen Kämpfers und das Trachten nach »reinem«, von Kompromissen freiem und radikalem, dabei aber organisiertem, unspontanem, langfristig angelegtem Handeln zu kompensieren. Durch diese Interpretation der Generationserfahrung und die Propagierung des daraus entwickelten Lebensstils wurde es zudem möglich, die ja sehr diffusen, widersprüchlichen und gar nicht in allgemeinerer Form formulierbaren Erfahrungen der einzelnen in eine einzige Perspektive einzubinden, die auch Leid, Verlust und Zukunftsangst als positive und geradezu avantgardistische Prädispositionen interpretierte, die den – tatsächlichen oder befürchteten – sozialen Abstieg der bürgerlichen Jugendlichen als Ausdruck der Überwindung der Klassengegensätze heroisierte und zudem nicht so sehr über politische Analyse, sondern über die Akzentuierung eines Lebensgefühls wirksam wurde, das zuverlässiger die Konturen der eigenen Generation markierte und zudem einfacher adaptierbar und damit wirksamer war als ein weltanschauliches Gebäude oder ein politisches Programm.

Wie sich dieses Konglomerat aus historischer Legitimation und generationellem Stil in der Attitüde dieser Generation in den 20er Jahren niederschlug, wurde oft beschrieben. Ernst Niekisch kennzeichnete die Haltung der Nachkriegsjugend als »Voraussetzungslosigkeit und Bindungslosigkeit«; »insgeheim verachtet sie bereits die Sache der Zivilisation, des Fortschritts, der Humanität; sie zweifelt an der Vertrauenswürdigkeit der Vernunft und erschaudert nicht vor einer Barbarisierung des Lebens.«[45]

Die schaudernde Bewunderung, die in solchen Worten zum Ausdruck kam, finden wir auch in Peter Suhrkamps Essay »Söhne ohne Väter und Lehrer« von 1932, in dem er die zu dieser Zeit knapp Dreißigjährigen als die »Unruhigsten, die Unklarsten und die Abenteuerlichsten« in der bürgerlichen Welt dieser Jahre kennzeichnete: »Das Bezeichnendste an ihnen ist ihr Mangel an Humanität, ihre Achtlosigkeit gegen das Menschliche. Sie haben zwischen zwanzig und dreißig viel hinter sich gebracht, so viel, wie die meisten Menschen sonst in ihrem ganzen Leben nicht erwischen; die Nachkriegszeit bot alle Möglichkeiten dazu. (…) Im übrigen waren die Väter zum größten Teil im Kriege. Die Kinder dieser Eltern gerieten, da sie sich selber überlassen oder auch davongelaufen waren, nach dem Krieg in alle Krisenhysterien und Krisenlaster, ohne dabei großen Schaden zu nehmen. Sie reagierten auf die Zeit, gaben ihr nach, nutzten sie aus; jederzeit gerissen, fix und tüchtig. Die Dreißigjährigen sind sicher die begabteste Generation unter den Jungen. (…) Und mit ihrer bekannten Fixigkeit und Tüchtigkeit und mit einer überraschenden Selbstdisziplin stabilisieren sie heute in allen Lagern und Positionen für sich eine fixe Lebensform und fixe Lebensgewohnheiten. Sie sind die schärfsten Gegner des Liberalismus. (…) Ihre Intellektualität ist skeptisch und nicht selten sogar destruktiv. (…) Der Höhepunkt des intellektuellen Daseins ist eine Philosophie der Destruktion, welche die endgültige Vernichtung der bürgerlichen Welt herbeiführen soll.«[46]

Die politische Welt, in die diese »Kriegsjugendgeneration« bürgerlicher Söhne in den frühen 20