Wer waren die Nationalsozialisten? - Ulrich Herbert - E-Book

Wer waren die Nationalsozialisten? E-Book

Ulrich Herbert

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Beschreibung

DAS DRITTE REICH UND DIE DEUTSCHEN - ANATOMIE EINER DIKTATUR

Wer waren die Nationalsozialisten?? Diese einfache Frage berührt den Kern der NS-Herrschaft. Denn wer sie präzise beantworten will, der muss wissen, wer das Dritte Reich ermöglicht und durch sein Handeln – oft bis zuletzt – unterstützt hat. Ulrich Herbert, einer der angesehensten Zeithistoriker der Gegenwart, geht in diesem Buch den spezifischen Merkmalen der nationalsozialistischen Diktatur nach und analysiert von den Ursprüngen des Judenhasses bis zum Werdegang einstiger NS-Funktionäre in der Bundesrepublik zentrale Themen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts.

War es eine kleine Gruppe von Verbrechern, die das deutsche Volk ins Schlepptau nahm? Ein Projekt traditioneller Eliten? Oder doch eine von breiten Schichten der Bevölkerung getragene faschistische Bewegung? Die Antworten auf die Frage, wer die Nationalsozialisten waren, sind ebenso zahlreich wie die Versuche, personelle Kontinuitäten auszublenden und zwischen den Verbrechen des Regimes und der eigenen Verantwortung einen Trennstrich zu ziehen.
Indem Ulrich Herbert diese Frage zum Ausgangspunkt seiner Studien nimmt, dringt er tief in den Charakter der NS-Diktatur ein und legt zentrale Aspekte ihrer Herrschaft frei. Seine prägnant argumentierenden Aufsätze bündeln nicht nur seine Überlegungen zur Geschichte des Nationalsozialismus, sondern spiegeln zugleich den Weg, den die NS-Forschung in den letzten Jahrzehnten genommen hat.

  • Eine Charakterstudie der NS-Diktatur
  • Welche Rolle spielten die Eliten?
  • Wie groß war die Zustimmungsbereitschaft in der Bevölkerung?
  • Wie fassten die NS-Führungsgruppen nach dem Krieg wieder Fuß?
  • Von einem der besten Zeithistoriker seiner Generation

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Ulrich Herbert

Wer waren die Nationalsozialisten?

C.H.Beck

Inhalt

Zu diesem Buch

1. Wer waren die Nationalsozialisten?

I.

II.

III.

IV.

2. Was haben die Nationalsozialisten aus dem Ersten Weltkrieg gelernt?

3. Woher kam der Judenhass?

I.

II.

III.

IV.

4. Das Jahrhundert der Lager

5. Der deutsche Professor im Dritten Reich

6. Nationalsozialistische und stalinistische Herrschaft

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

7. Deutsches Europa und Großgermanisches Reich

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

X.

8. Barbarossa

I.

II.

III.

IV.

9. Der Weg zur Ermordung der europäischen Juden

10. Nachklänge der «Volksgemeinschaft»

I.

II.

III.

IV.

11. NS-Eliten in der Bundesrepublik

I.

II.

IV.

Anhang

Anmerkungen

Zu diesem Buch

1. Wer waren die Nationalsozialisten?

2. Was haben die Nationalsozialisten aus dem Ersten Weltkrieg gelernt?

3. Woher kam der Judenhass?

4. Das Jahrhundert der Lager

5. Der deutsche Professor im Dritten Reich

6. Nationalsozialistische und stalinistische Herrschaft

7. Deutsches Europa und Großgermanisches Reich

8. Barbarossa

9. Der Weg zur Ermordung der europäischen Juden

10. Nachklänge der «Volksgemeinschaft»

11. NS-Eliten in der Bundesrepublik

Verzeichnis der Abkürzungen

Literatur

Publikationsorte

Register

Zu diesem Buch

Die Frage, wer die Nationalsozialisten waren, ist die Frage nach dem Charakter der Diktatur. Schon seit den 1920er Jahren und dann verstärkt im Verlauf der Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde sie auf sehr unterschiedliche Weise beantwortet, und immer war mit dieser Antwort eine politische Botschaft verbunden. Als gewalttätiger Verein marginalisierter Außenseiter wurden sie wahrgenommen, als hoffnungsvolle Jugendbewegung, als völkische Schwärmer, als deutsche Faschisten nach dem italienischen Vorbild, als Partei der Arbeitslosen, als Bürgerkriegstruppe oder als anachronistische Antisemitenpartei – und all das traf ja auch zu, wenn auch nur in Teilaspekten.

Neuere Untersuchungen auf der Basis von Wähleranalysen und Parteistatistiken zeigen indes ein eher unspektakuläres Bild. Die NSDAP-Mitglieder waren weit überwiegend männlich und rekrutierten sich in deutlich überrepräsentativem Maße aus der «Kriegsjugendgeneration» der zwischen 1900 und 1915 Geborenen, also der im Jahr 1935 zwischen 20 und 35 Jahre alten Männer. In dieser Altersgruppe war der Anteil der Arbeiter auch höher als in der Generation der zwischen 1880 und 1900 Geborenen, in der Personen aus dem Mittelstand stärker vertreten waren. Insgesamt aber war der Prozentsatz der Arbeiter bei den Parteimitgliedern deutlich geringer als in der Gesamtbevölkerung. Angestellte und Beamte hingegen stießen in den dreißiger Jahren «geradezu in hellen Scharen» zur Partei. NSDAP-Mitglieder kamen eher aus Kleinstädten als aus den urbanen Zentren, sie waren eher protestantisch als katholisch, und in den Zentren der sozialistischen Arbeiterbewegung war ihre Zahl besonders niedrig. Zu den Motiven ihres Parteieintritts gehörten Antisemitismus, Antimarxismus und die Idee des nationalen Sozialismus, nach dem Krieg gaben sie bei Befragungen indes besonders häufig jugendlichen Idealismus, Opportunismus und äußeren Druck an.[1] Das sind interessante, aber keineswegs überraschende Befunde: ein ziemlich durchschnittlicher Mix aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Zur Beantwortung der politischen Fragen nach dem Charakter der Diktatur und der Unterstützung und Dynamik der nationalsozialistischen Gewaltpolitik tragen sie nur wenig bei.

Nach dem Krieg wurden als «die Nationalsozialisten» zunächst alle Mitglieder der NSDAP und ihrer Nebenorganisationen verstanden. Damit verbunden war die Überzeugung, dass das «Dritte Reich» vor allem durch eine Massenbewegung gestützt wurde und sich schon dadurch von traditionellen Diktaturen unterschied, die von Honoratioren mithilfe des Militärs gelenkt wurden. Demgegenüber wurde der NS-Staat, besonders von der Linken und in der DDR, als Projekt der traditionellen Eliten bezeichnet, der Großunternehmer und der Militärs vor allem, welche sich der Nationalsozialisten als Instrument bedienten, um ihre Ziele durchzusetzen – eine Vorstellung, die stark vom Aufstieg des italienischen Faschismus geprägt war. Aber in dem Maße, wie die Verbrechen des «Dritten Reiches» in den Vordergrund der Aufmerksamkeit rückten, wurde verstärkt nach Schuld und Verantwortung gefragt, und damit traten die Mitglieder der Terrororganisationen wie der SS und der Gestapo in den Vordergrund.

Solche Vorstellungen stießen in der Bundesrepublik vor allem in den ersten Nachkriegsjahrzehnten auf Ablehnung, hier wurde der Nationalsozialismus auf eine kleine Führungsgruppe reduziert, letztlich auf Hitler selbst. Die Vorstellung, dass es allein Hitler gewesen sei, der Regime und Volk zusammengehalten habe und für die Verbrechen des Regimes verantwortlich gewesen sei, mutet heute abwegig an, war aber jahrzehntelang außerordentlich verbreitet – und in der nicht enden wollenden Zahl von neuen Hitler-Biografien klingt diese Wahrnehmungsweise bis heute nach. Die massenhafte Zustimmung zum Regime wurde auf diese Weise ausgeblendet, Parteimitglieder und Bevölkerung wurden als Opfer von Verführung und Gewalt angesehen. Als Täter galten in erster Linie die wenigen NS-Spitzenfunktionäre. Die Männer in den Konzentrationslagern und an den Erschießungsgräben seien überwiegend «Asoziale und Kriminelle» gewesen, wie so schon früh Konrad Adenauer bemerkte – und nach ihm viele andere. Dass deren Kommandeure promovierte Akademiker aus bürgerlichen Elternhäusern waren, galt als unglaubhaft oder wurde ignoriert. Denn dass der gutbürgerliche Nachbar, Kollege oder Onkel während der Kriegsjahre ein SS-Offizier, KZ-Wachmann oder Judenmörder gewesen sein sollte, schien absurd, weil die Ruchlosigkeit solcher Verbrechen und die Wohlanständigkeit des Nachbarn oder Kollegen nicht zueinander in Beziehung gebracht werden konnten. Und wenn man womöglich auch die NS-Verbrechen nicht bezweifelte, so schienen sie doch Gegenstand einer anderen Erinnerung zu sein, der Erinnerung der Sieger.

Solche Vorstellungen waren natürlich immer auch von dem Interesse gesteuert, personelle Kontinuitäten auszublenden, das Maß an Zustimmung und Begeisterungsbereitschaft gegenüber dem Regime in der Bevölkerung zu negieren und die Rolle der Führungsgruppen in Verwaltung und Wirtschaft sowie der Wehrmacht bei der Kriegs- und Mordpolitik des Regimes zu verbergen. Erst seit den 1990er Jahren und seitdem in zunehmendem Maße wurde sichtbar, dass die Zustimmung großer Teil der Bevölkerung zum «Dritten Reich» und seiner Innen- wie Außenpolitik viel ausgeprägter war als bis dahin angenommen. Und ebenso wurde deutlich, dass die Verbrechen des Regimes in den Ministerien, den Universitäten und der Wehrmachtsführung nicht nur hingenommen, sondern aktiv vorgedacht, konzipiert und mitgetragen worden waren.

Allerdings provozierte die politische Entwicklung im wiedervereinigten Deutschland nach 1990, insbesondere die massiven Ausschreitungen gegen Ausländer und das Anwachsen rechtsextremistischer Gruppierungen, im Lande selbst wie bei seinen Nachbarn irritierte Fragen nach der Gegenwärtigkeit der deutschen Vergangenheit. Denn diese schien nun plötzlich nicht mehr so vergangen wie noch ein Jahrzehnt zuvor. Die Reaktionen in den USA, in Israel oder in Polen auf die Ereignisse von Rostock und Hoyerswerda, von Hünxe und Mölln schienen jene Befürchtungen zu bestätigen, die in den Jahren bis 1989 zwar geringer geworden, aber wohl nie ganz verschwunden waren. Die Frage, wer die Nationalsozialisten waren – und womöglich: sind – gewann dadurch eine neue Aktualität.

Dieses Buch enthält in elf Kapiteln verschiedene Ansätze, die sich mit diesen Fragen auseinandersetzen. Sie behandeln die sich wandelnden Erklärungsversuche dessen, was man unter «Nationalsozialisten» verstand, wie das Welt- und das Geschichtsbild der «Nazis» aussah und welche Rolle dabei der Antisemitismus spielte. Es wird gefragt nach der Zustimmungsbereitschaft in der Bevölkerung und nach der Rolle der deutschen Eliten, hier in Sonderheit der Professoren im «Dritten Reich». Die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen des Vergleichs von nationalsozialistischer und stalinistischer Herrschaft wird diskutiert, ebenso die nach der Vorgeschichte und Typologie des «Lagers», das in der Geschichte des Nationalsozialismus eine so große und schreckliche Bedeutung gewann. Drei Kapitel widmen sich den Perspektiven der Kriegs- und Vernichtungspolitik des NS-Staats. Das betrifft die verschiedenen Varianten der europapolitischen Konzepte des NS-Regimes, die Planungen und Entscheidungen des Kriegs gegen die Sowjetunion und den Weg zur Ermordung der europäischen Juden. Schließlich wird gefragt, welche Bedeutung die Propagierung der «Volksgemeinschaft» während der NS-Diktatur besaß und ob wir Auswirkungen dieser Konzeption auch noch in den Jahren nach dem Kriege feststellen können. Das letzte Kapitel analysiert, in welchem Maße es den NS-Führungsgruppen gelang, nach dem Krieg in der westdeutschen Gesellschaft wieder Fuß zu fassen, und fragt nach den Umständen und Auswirkungen dieser «Rückkehr in die Bürgerlichkeit».

Die Kapitel basieren auf Vorträgen und Aufsätzen, die ich in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten gehalten und verfasst habe und die dabei auch den Weg der Forschung – und meiner eigenen Überlegungen – widerspiegeln. Der älteste Beitrag ist von 1995, der jüngste von 2020. Manche der Analysen und Einsichten dieser Beiträge finden sich später in anderen Arbeiten wieder, vor allem in meiner «Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert» und dem kleinen Buch über «Das Dritte Reich».

Die Beiträge verweisen dabei auch auf den Prozess der allmählichen Herausbildung von Thesen und Schwerpunkten in der Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Kolleginnen und Kollegen, auf deren Studien ich mich neben meiner eigenen Quellenarbeit stütze. Historische Forschung ist ein individueller und arbeitsteiliger, gleichwohl kollektiver Prozess, und gerade im Bereich der NS-Forschung habe ich die enge Zusammenarbeit mit anderen Historikerinnen und Historikern, die in diesem Feld arbeiten und gearbeitet haben, als besonders anregend und hilfreich empfunden. Das hing auch damit zusammen, dass es in diesen Jahrzehnten für die beteiligten Wissenschaftler, deutsche wie nichtdeutsche, nicht einfach war, ein erweitertes, für Deutsche meist sehr schmerzhaftes Bild vom NS-Regime, seinen Anhängern und seinen Verbrechen zu erarbeiten. Dass dieses Bild heute in Deutschland auf zwar nicht einhellige, aber doch verbreitete Zustimmung trifft, war etwa Mitte der 1980er Jahre in Zeiten von Historikerstreit und Bitburg-Kontroverse durchaus nicht absehbar.

Die einzelnen Beiträge wurden, von kleineren Korrekturen und Ergänzungen abgesehen, in der Fassung ihrer Entstehung belassen. Das gilt auch für die Anmerkungen und Literaturhinweise. Hier zeigen sich in manchen Fällen die seither erreichten Fortschritte sehr deutlich, wenn etwa auf Defizite verwiesen wird, die in den darauffolgenden Jahren intensiv bearbeitet wurden. Auch gibt es einige Redundanzen und Überschneidungen. Gleichwohl ist der Band als durchgehende, weitgehend chronologisch strukturierte Studie angelegt. Ich danke den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Forschungsgruppe Zeitgeschichte an der Universität Freiburg, besonders Martin Günzel, sehr für Anregungen und Hilfe bei der Fertigstellung dieses Buches.

Freiburg, im Oktober 2020

Ulrich Herbert.

1. Wer waren die Nationalsozialisten?

Ludwig Losacker, Jg. 1906, Sohn eines Kaufmanns und Fabrikbesitzers, studierte nach ersten Berufserfahrungen in der väterlichen Firma in Heidelberg Jura und Volkswirtschaft und schloss das Studium 1933 mit der Promotion zum Dr. iur. ab.[1] In Heidelberg fand er Kontakt zur völkischen Studentenbewegung, nahm an dem Kampf gegen den jüdischen Universitätsprofessor Gumbel teil und wurde schließlich Mitglied der NS-Studentengruppe. Im Juni 1933 schloss er sich der SS an. Nach Abschluss der Referendarzeit trat er 1934 als Regierungsassessor bei der Polizeidirektion Baden-Baden in den Staatsdienst ein; im Januar 1936 ging er kurzzeitig als Ministerialreferent in das Reichsministerium des Innern. Nach einem Betriebspraktikum bei den IG-Farben trat er im Dezember 1938 als Syndikus in die Firma Wanderer ein und ließ sich in Chemnitz als Rechtsanwalt nieder. Zugleich wurde er Mitarbeiter des SD. Bei Kriegsbeginn ging er wieder in den Staatsdienst und wurde vom Reichsminister des Innern als Landkommissar nach Polen in den Ort Jasło im Distrikt Krakau geschickt, wo er kurze Zeit später zum Kreishauptmann, also etwa zum Landrat, ernannt wurde. Bereits im Januar 1941 übernahm er die Position des Amtschefs in Lublin, im August des Jahres die gleiche Funktion in Lemberg. Im Januar 1943 wurde er Leiter der Hauptabteilung Innere Verwaltung des Distrikts Krakau, im Juli 1943 kommissarischer Gouverneur ebendort.

Losacker galt als fähiger Jurist und energischer Verwaltungsmann. Mit der Misswirtschaft unter seinem Vorgänger Dr. Lasch räumte er in Lemberg rasch auf. Wie Thomas Sandkühler in seiner Untersuchung des Holocaust in Lemberg herausarbeitet, baute Losacker in kurzer Zeit rund 45 Prozent der aufgeblähten deutschen Beamtenschaft wegen charakterlicher und fachlicher Mängel ab. Er setzte sich scharf gegen Korruption ein, was ihm durch seine Funktion innerhalb des SD erleichtert wurde.

Zugleich aber war Losacker mit der Politik Hitlers in der Kirchenfrage durchaus nicht einverstanden. Dieser Dissens ging so weit, dass Losacker sogar nach Berlin reiste, um Hitler persönlich von der Verfehltheit seiner antikirchlichen, in Sonderheit antikatholischen Politik zu überzeugen, wenn auch vergeblich. Losacker setzte sich zudem mehrfach für die polnische Bevölkerung seines Gebietes ein. So protestierte er heftig gegen die Zamość-Aktion, als seit Ende 1942 die polnischen Bewohner aus 300 Dörfern aus dem für deutsche Ansiedlung vorgesehenen Gebiet zwangsevakuiert wurden, wobei Tausende den Tod fanden. Auch wegen der Erschießung von polnischen Gutsbesitzern und eines polnischen Arztes gegen den Willen Losackers kam es zu heftigen Auseinandersetzungen mit dem Höheren SS- und Polizeiführer. Mitte Oktober 1943 wurde Losacker deshalb seiner Ämter enthoben und zur Waffen-SS geschickt.

Der gleiche Dr. Losacker aber wird übereinstimmend von Dieter Pohl und Thomas Sandkühler als einer der Hauptverantwortlichen für die Ingangsetzung und Durchführung der Ermordung der Juden im Distrikt Lemberg geschildert. Losacker setzte sich besonders engagiert für eine Koordination zur Vereinheitlichung und Effektivierung der «Endlösung» ein, die dann mit der «Aktion Reinhardt» auch in die Tat umgesetzt wurde.

Nach dem Kriege wurde Losacker Hauptgeschäftsführer der Arbeitgeberverbände der deutschen chemischen Industrie. Von 1960 bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1971 leitete er als Direktor das renommierte Deutsche Industrieinstitut in Köln. Zugleich organisierte er den «Freundeskreis der ehemaligen GG-Beamten», der zum Beispiel das Studium des Sohnes von Hans Frank finanzierte, und trat in fast allen NS-Prozessen, die das Generalgouvernement betrafen, als Entlastungszeuge auf. Losacker starb 1994.

Von Biographien wie dieser werden wir hier häufiger hören: führende Funktionäre der nationalsozialistischen Diktatur, in die Politik des NS-Regimes und seine Verbrechen, vor allem in den Judenmord, tief verstrickt – aber offenbar keine perversen Fanatiker, keine «Hundertprozentigen» ohne Bildung und Reflexionsvermögen, sondern Männer mit erstklassiger Ausbildung und aus guter Familie, die sich von den tradierten Vorstellungen von dem, was ein Nazi gewesen sei, erheblich unterscheiden. Männer auch, die in der Bundesrepublik teilweise herausragende Karrieren machten und dabei – soweit wir das übersehen können – als loyale Staatsbürger der Bundesrepublik agierten. Wir finden sie in den Besatzungsverwaltungen und im Reichssicherheitshauptamt ebenso wie in den Ministerien und Sonderverwaltungen, in der Wissenschaft und im Militär. Das Bild von dem, was und wer ein Nationalsozialist war, gerät offenbar ins Wanken.

Die Frage, wer die Nationalsozialisten waren, ist die Frage nach dem Charakter der Diktatur. Sie offenbart die politische Botschaft, die mit dem Bezug auf diese Diktatur verbunden wird. Zudem bietet die Frage aber auch ein nützliches Kriterium bei der Untersuchung nicht nur der NS-Diktatur selbst, sondern auch der historiographischen Beschäftigung mit ihr. Im Folgenden soll daher zunächst untersucht werden, welche Entwicklung die Beschäftigung mit dieser Frage nach 1945 genommen hat, wie sie jeweils beantwortet wurde und warum. Im zweiten Schritt wird dann versucht, den Ort des Nationalsozialismus innerhalb der deutschen Rechten in Weimar zu bestimmen, um dann die politischen Karriereprofile während der NS-Zeit näher zu betrachten. Abschließend soll die Problematik der hier besprochenen Ambivalenz näher betrachtet werden.

I.

«In den ersten Tagen», so notierten die Berichterstatter des amerikanischen Geheimdienstes OSS über die Frühphase der Besatzungszeit in Deutschland, «konnte man keinen einzigen Nazi in Deutschland finden… Die Frage, ob er Parteianhänger gewesen sei, wird ein Deutscher immer verneinen. Gleichzeitig wird er aber einen Nachbarn nennen, auf den dies zutrifft.»[2]

Die Schwierigkeiten der Amerikaner bei dem Versuch, herauszufinden, wer die Nationalsozialisten gewesen seien, hielten an. Zwei Denkschulen bildeten sich dabei heraus, die für die amerikanische Besatzungspolitik von einigem Einfluss waren. Auf der einen Seite die Vorstellung, der Nationalsozialismus sei vor allem auf ein Zusammengehen der traditionellen Eliten mit dem Führungskern der NS-Bewegung zurückzuführen. Aus dieser Analyse, die gerade im OSS viele Anhänger hatte, erwuchsen die Nürnberger Prozesse, insbesondere die sogenannten Nachfolgeprozesse gegen Ärzte, Generäle, Industrielle und andere traditionelle Führungsgruppen der deutschen Gesellschaft, die mit den NS-Verbrechen in Verbindung gebracht wurden, sowie gegen Einsatzgruppenführer, Rassespezialisten und andere Funktionsträger des Regimes.[3]

Auf der anderen Seite stand die Vorstellung, die Grundlage des NS-Regimes und seiner Verbrechen habe in der Massenbasis der Diktatur gelegen, in der Unterstützung des Regimes und seiner Kriegs- und Rassepolitik in erheblichen Teilen der Bevölkerung und in den bei den Deutschen besonders ausgeprägt zu beobachtenden Affinitäten zu autoritärem, antiliberalem, militaristischem und nationalistischem Gedankengut. Aus dieser Denkschule erwuchs das Programm der politischen Überprüfung aller Deutscher in den Westzonen, die Entnazifizierung. Dieses ehrgeizige Projekt – nämlich eine Gesellschaft von mehr als 50 Millionen Einwohnern individuell im Hinblick auf ihre politischen Aktivitäten während der NS-Herrschaft zu untersuchen und gegebenenfalls zu bestrafen – traf von Beginn an auf massive Kritik, vor allem, weil bei der Entnazifizierungsprozedur in der US-Zone die leichten, schnell zu erledigenden Fälle zunächst vorgezogen wurden, während man die schwerer Belasteten erst ab 1947 verhandelte, als das Verfahren schon weitgehend an die deutschen Stellen abgegeben worden war. Die aber urteilten nicht zuletzt aufgrund der sich wandelnden politischen Großwetterlage zunehmend milder – mit der Folge, dass ausgerechnet die besonders stark belasteten NS-Funktionäre im Zuge des Kalten Krieges von dieser allgemeinen De-facto-Amnestie profitierten und weitgehend unbehelligt davonkamen.[4]

Das führte in Westdeutschland zu einer auffälligen Solidarisierung der sogenannten Leichtbelasteten mit den Schwerbelasteten. Wenn Alle Nazis gewesen sein sollen, war es keiner – so die verbreitete Überzeugung. Der Begriff des NS-Regimes und der Nationalsozialisten regredierte in der Folge im öffentlichen Gebrauch auf die kleine Gruppe von Funktionären um Hitler – meist Goebbels, Göring, Bormann, Himmler, Heydrich. Das spiegelte sich auch in der sich etablierenden Rechtsprechung, wo eine der geschichtsinterpretierenden Grundannahmen die Rede von den «nationalsozialistischen Haupttätern» war, womit die eben genannten sechs Personen gemeint waren, während für nahezu alle anderen die Kategorie des «Gehilfen» zur Verfügung stand.[5]

Zudem waren auch die im Gefolge des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses eingeleiteten Verfahren gegen die deutschen Eliten im Zuge des sich verändernden politischen Gesamtklimas bereits 1948 abgebrochen worden. Die dort verurteilten Industriellen, Ärzte, Generäle und SS-Offiziere wurden bald freigelassen, was in Westdeutschland wie eine Bestätigung ihrer Unschuld und eine Widerlegung der hinter ihrer Verurteilung stehenden Vermutung über die Rolle der Eliten im NS-Staat angesehen wurde. Im Gefolge dessen wurden selbst die wegen schwerster Verbrechen Verurteilten, wie die Einsatzgruppenkommandeure, die zehntausende von Juden in der Sowjetunion hatten ermorden lassen, nun überwiegend als unschuldig angesehen. Eine Kampagne für ihre Freilassung stieß auf breite Unterstützung bei allen Bundestagsfraktionen außer der KPD und zeitigte sehr weitgehenden Erfolg. Es gelang für eine Weile sogar, den Begriff «Kriegsverbrecher» in der westdeutschen Öffentlichkeit durch die Neuschöpfung «Kriegsverurteilte» zu ersetzen und mit den «Kriegsgefangenen» gleichzusetzen.

Auf diese Weise entstand in Deutschland in den 50er Jahren ein sehr eigentümliches Bild von «den Nationalsozialisten». Die Verbrechen des NS-Regimes wurden anonymisiert – Täter wie Opfer blieben namenlos. Es ist offenkundig, dass das damit einhergehende Geschichtsbild von der NS-Diktatur diese Anonymität der Träger des Regimes noch verstärkte. Betrachtet man die ersten Versuche von Gesamtdarstellungen des «Dritten Reiches», so sind die dort agierenden Nationalsozialisten bis auf die genannten Haupttäter und ihr enges Umfeld anonym; mit Namen genannt werden hingegen diejenigen, die zum Widerstand, zu den geistigen Gegnern des Regimes zählten.

Zwei Redeweisen begannen sich nun durchzusetzen: Auf der einen Seite die von den Nationalsozialisten als verführten Idealisten, die Gutes im Sinn gehabt, aber zu spät gemerkt hätten, mit wem sie sich dort eingelassen hatten. Solches war ja in vielen Fällen gewiss nicht falsch, diente hier aber vor allem zur Einebnung von Verantwortung und Funktionsdifferenzen, nicht zuletzt, weil die Legitimationsfigur der «Verführung» und des Idealismus nun verständlicherweise vor allem von jenen gebraucht wurde, die solcher Legitimation in besonderer Weise bedurften.

Auf der anderen Seite kam zur gleichen Zeit das Bild von den Nationalsozialisten als Verbrechertypen und sozialen Außenseitern auf. Konrad Adenauer etwa, dessen Widerwille gegen das NS-Regime nie in Frage stand, bemerkte über die in den Nürnberger Verfahren Verurteilten im September 1952 im Bundestag, zweifellos seien die meisten von ihnen völlig unschuldig. Allerdings müsse man zugeben, dass unter ihnen auch «ein kleiner Prozentsatz von absolut asozialen Elementen» existiere, der «wirkliche Verbrechen» begangen habe.[6] Damit wurden die NS-Verbrechen vollends aus der deutschen Gesellschaft exmittiert. Der übergroßen Masse von verführten Idealisten, die nach 1945 nun das «Recht auf politischen Irrtum» für sich reklamierten, stand die kleine Gruppe von sadistischen Asozialen gegenüber, die offenkundig für die ja nicht mehr zu bestreitenden Verbrechen während der NS-Zeit verantwortlich waren.

Als Prototyp des asozialen Nazi-Verbrechers setzte sich im Gedächtnis ausgerechnet eine Frau durch: Ilse Koch, die Frau des KZ-Kommandanten Koch, die als «Hexe von Buchenwald» beschrieben, mit grausigen Details wie den berüchtigten Lampenschirmen aus Menschenhaut belastet und nach einem Sensationsprozess zu lebenslänglicher Haftstrafe verurteilt wurde, die sie in Aichach bis zu ihrem Selbstmord absaß. Ilse Koch war nach allem, was wir wissen, eine niederträchtige Person, aber sie hat niemanden ermordet, und die Geschichte mit den Lampenschirmen entpuppt sich bei näherem Hinsehen als eine Entlastungsphantasie des Publikums. Aber niemand war offenbar so gut geeignet wie sie, das sich etablierende Klischee vom sadistischen Nazi zu erfüllen, das sich von nun an verbreitete und in Teilbeständen bis heute existiert. Neben Ilse Koch wirkten die promovierten, durchweg männlichen Einsatzgruppenführer, die schneidigen SS-Ärzte oder gar ein distinguierter Herr wie Dr. Losacker als Verkörperung von Seriosität und Gediegenheit.[7]

Nun kann man dies gewiss als eine spezifisch bürgerliche Form der Abstoßung von Verantwortung und der Einsicht in den Charakter der nationalsozialistischen Verbrechen sehen. Aber diese Konstellation wirkte darüber hinaus. Selbst für Menschen, deren Ablehnung und Verabscheuung des NS-Regimes außer Frage stand, war die Verbindung zwischen den als abnorm und jeder Erfahrung fern wahrgenommenen NS-Verbrechen und dem als einstigen Gestapo-Stellenleiter enttarnten Kollegen oder Nachbarn nicht zu ziehen, weil die Ruchlosigkeit der Verbrechen und die Wohlanständigkeit des Nachbarn oder Kollegen nicht zueinander in Beziehung gebracht werden konnten.

Diese Konzeptionalisierung der Vorstellung von den Nationalsozialisten wurde auf eigentümliche Weise bestärkt, als Anfang der 60er Jahre mit den Angeklagten in den ersten NS-Verfahren in Westdeutschland sowie dem Jerusalemer Eichmann-Prozess nun unzweifelhafte NS-Verbrecher auftraten – die aber das Adenauersche Verdikt von den marginalisierten Asozialen zu bestätigen schienen. Denn im Frankfurter Auschwitz-Prozess sah man schäbige, spießige Kleinbürgergestalten, deren Antriebe wiederum nicht politischer Natur, sondern eher Ausdruck pathologischer und sadistischer Veranlagungen gewesen zu sein schienen. Aber auch Eichmann in Jerusalem schien das zu bestätigen – eine subalterne Bürokratennatur ohne jegliches Format, aber auch ohne politische und ideologische Motive. Das traf im Falle Eichmann zwar gar nicht zu, aber dieses Bild entsprach der seit den späten vierziger Jahren eingeübten Wahrnehmung, wonach der Judenmord von Asozialen und Sadisten bewerkstelligt worden war.[8]

Der Weg über die Untersuchung der Protagonisten, so die Schlussfolgerung der Historiker, führte bei der Analyse der NS-Diktatur offenkundig nicht weiter. Das Interesse der sich in den 60er und 70er Jahren etablierenden neuen strukturgeschichtlichen Richtung der NS-Forschung bezog sich denn auch eher auf die Mechanismen der Herrschaft, auf soziale und wirtschaftliche Interessen, auf die Funktionsweise der Diktatur. Die dabei erreichten Erkenntnisse waren erheblich und weitreichend – das Personal der Diktatur aber blieb weitgehend außerhalb der Forschung; während die nach wie vor unentwegt erscheinenden Memoiren und Biographien von und über Nazigrößen ein beschönigendes und meist verzerrtes Bild der Diktatur und ihrer Rolle darin entwarfen – ein Bild, dessen Plausibilität jedoch rasch abnahm, bis diese Bücher schließlich in den Kleinanzeigen-Seiten der Nationalzeitung ihren Platz fanden.[9]

In den 1970er Jahren aber legte die sozialgeschichtliche NS-Forschung dann eine Reihe von Untersuchungen über Sozialstruktur und Milieuzugehörigkeit der Nationalsozialisten vor; so die Bücher von Peter Merkl, Reinhard Mann oder Mathilde Jamin.[10] Diese im Einzelnen sehr nützlichen Studien zeigten Anhänger und «Kämpfer» des Nationalsozialismus in den Weimarer und frühen Diktatur-Jahren: Gescheiterte und Marginalisierte, Fanatiker und nie zivilisierte Soldaten, Abenteurer und Absteiger – «zwischen den Klassen», wie Jamin den sozialen Ort der frühen Nazis treffend beschrieb. Mit etwas Distanz wird aber deutlich, dass diese Studien auf der Suche nach den Nationalsozialisten nur fanden, was sie zuvor schon kannten: Als Nationalsozialisten wurden diejenigen gefasst, die schon vor 1933 als solche auftraten: Parteimitglieder, SA-Männer, Funktionäre. Zudem ergaben sich deutliche Unterschiede zwischen den frühen Anhängern und Mitgliedern der Hitlerbewegung auf der einen und ihren Wählern seit 1930 auf der anderen Seite. Denn diese repräsentierten die deutsche Bevölkerung fast in ihrer ganzen sozialen Breite, und die frühen Überzeugungen, wonach unter den Hitler-Wählern die proletaroiden Mittelschichten, die sozialen Absteiger, das «Lumpenproletariat» gar überwogen, erwiesen sich als falsch.[11]

Vor allem aber tritt bei erneuter Betrachtung der sozialgeschichtlichen Arbeiten über die frühen Nazis hervor, dass es ja nicht der hier untersuchte Nationalsozialismus der SA-Männer und Kneipenschläger war, der die Welt erschütterte – sondern der Nationalsozialismus des Judenmords, des Vernichtungskriegs, der grausamen Partisanenverfolgungen, der Ausbeutung fast ganz Europas – und an diesem Nationalsozialismus, das sei vorweggenommen, waren die SA-Schläger und Alten Kämpfer zwar auch, aber eher am Rande beteiligt.

Das historiographische Problem, das sich hier zeigte, rührte vor allem daher, dass bis in die späten 70er Jahre in Deutschland – und übrigens auch in anderen Ländern – über die deutsche Vernichtungs- und Besatzungspolitik nur wenige empirische Studien vorlagen, und nahezu keine, die sich mit einzelnen Regionen unter deutscher Besatzung und dem deutschen Personal auseinandersetzten. So war auch über die tatsächlichen Protagonisten von Völkermord und Besatzungsterror nur wenig bekannt – anders als bei den westdeutschen Staatsanwälten, die sich seit den 1960er Jahren mühsam in die Verhältnisse im Baltikum oder in Galizien, in Majdanek und Sobibór einzuarbeiten versuchten und dazu fast keine historische Fachliteratur fanden.[12] Erst in den frühen 80er Jahren setzten die Forschungen hierzu in verstärktem Maße ein – nicht wenige davon auf der Basis der staatsanwaltlichen Ermittlungen der 60er und 70er Jahre. Und hier entstanden nun allmählich größere empirische Arbeiten über die Praxis von Besatzung und Völkermord – Christian Streits Arbeit über den Tod von fast drei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, Falk Pingels Buch über die Konzentrationslager, dann die Arbeiten von Götz Aly, Michael Zimmermann, Hans Walter Schmuhl, Rolf-Dieter Müller; die große Reihe «Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg» vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, schließlich die Arbeiten von Christian Gerlach, Thomas Sandkühler, Karin Orth, Dieter Pohl, Frank Bajohr und vielen anderen, die folgten.[13]

Hier wurden unsere konkreten Kenntnisse von der deutschen Besatzungs- und Vernichtungspolitik während des Zweiten Weltkrieges vervielfacht – und nun kamen mit einem Male auch die Protagonisten dieser Politik ins Blickfeld. Die Generäle und Offiziere der Wehrmacht etwa, die für die Hungerstrategie gegenüber den Kriegsgefangenen und der sowjetischen Zivilbevölkerung verantwortlich waren. Die Staatssekretäre und Ministerialbeamten, welche diese Strategien vor dem Beginn des Krieges gegen die UdSSR erdacht und geplant hatten. Die deutschen Beamten und Funktionäre, die in Polen und Russland die Umsiedlungen der einheimischen Bevölkerung organisierten, um für die deutschen Ansiedler Platz zu machen. Die jungen Kommandeure von Polizei- und Einsatzgruppeneinheiten, die im Baltikum oder in Weißrussland hinter der Front die jüdische Bevölkerung massakrierten. Die Betriebsleiter, die die Arbeitskraft der KZ-Häftlinge in unterirdischen Produktionsanlagen ausbeuteten. Die deutschen Wissenschaftler – Historiker und Sprachwissenschaftler, Volkskundler und Ostforscher –, die dem Regime zuarbeiteten: die einen nur ideell, die anderen ganz praktisch durch die Entwicklung von Volkstumskarten zur Eindeutschung von Regionen, durch bevölkerungswissenschaftliche Berechnungen über die Grenzen der Ernährungsmöglichkeiten der indigenen Bevölkerungen und vieles andere. Die Ärzte, die das «unwerte Leben» diagnostizierten und es zur «Euthanasie», also zum Tod durch Vergasen freigaben. Die Rassekundler, die «zigeunerische Sippen» ausfindig machten und zur Deportation vorschlugen. Aber auch die vielen Deutschen, die an der Beraubung der Juden verdienten – durch Übernahme der jüdischen Betriebe und Wohnungen. Mit einem Mal also waren die Bücher der Historiker voll mit Namen der Funktionsträger und Profiteure des Regimes, und ein Bild von «den Nationalsozialisten» wurde sichtbar, das mit den subalternen SA-Schlägern und Adenauers «Asozialen» kaum noch etwas gemein hatte.

Statt gescheiterter Randexistenzen traten nun Arrivierte aus der Mitte und der Spitze der Gesellschaft ins Bild, und ein näherer Blick auf ihre Biographien verriet, dass auch die Annahmen über politische Karrieren von NS-Spitzenfunktionären und Verantwortlichen für Deportation und Völkermord ganz offenbar unzutreffend waren. Nur wenige «alte Kämpfer» waren darunter; schon weil die Zahl der jungen und sehr jungen Männer unter den Spitzenfunktionären des Regimes vor allem in den besetzten Ländern überproportional hoch war. Viele von ihnen gehörten nicht einmal der NSDAP an oder waren erst relativ spät in die Partei eingetreten. Ihre politische Sozialisation hatten diese Männer in sehr verschiedenen Gruppen und Milieus erfahren, häufig kamen sie aus den Freikorps, viele entstammten den unzähligen nationalen Bünden und Vereinen, vaterländischen Verbänden oder nationalen studentischen Verbindungen, erst ab den 30er Jahren dominierte der Nationalsozialistische Studentenbund. Viele von ihnen waren vom Herkommen eher den Deutschnationalen, den soldatischen Nationalisten oder gar den Konservativen zuzurechnen; vereinzelt finden sich darunter auch einstige Liberale und Demokraten.[14]

Ein Gleiches trifft auf die Wissenschaftler zu. Zwar gibt es auch hier direkte Karrieren aus der Partei in führende Stellungen an Universitäten und Instituten. Aber ein großer Teil derjenigen, die als Ärzte, Naturwissenschaftler oder Geisteswissenschaftler die Politik des Regimes in besonderem Maße trugen, scheint der nationalsozialistischen Bewegung eher spät oder gar nicht nahegestanden zu haben. Sie entstammten der klassischen oberen Mittelschicht der Beamten und Selbständigen, waren national erzogen worden, hatten eine gute Ausbildung hinter und noch bessere Karrierechancen vor sich.[15]

Die Häufigkeit solcher Befunde hat zunächst dazu geführt, Faktoren wie Karrierismus und Opportunismus, Technokratentum oder Beamtenmentalität ins Feld zu führen. Solche Faktoren spielen natürlich immer eine Rolle, und in Diktaturen, die politische Anpassung extensiv belohnen, umso mehr. Nur hätten diese Männer glänzende Karrieren auch außerhalb des engeren Staats- und Terrorapparats gemacht. Um einen Lehrstuhl zu erreichen, war es nicht nötig, eigens Vertreibungspläne zu entwerfen oder kriminelle Sippen ausfindig zu machen. Die erneuten Versuche, auch solche Männer in Spitzenstellungen des NS-Regimes auf ihre Rolle als nur angepasste Funktionierer ohne eigene Überzeugung zu reduzieren, wie das auch in den 80er und 90er Jahren noch häufig vorkam, stand in deutlichem Widerspruch zu dem nachhaltigen, insistierenden Vorgehen dieser Personen, das wir hier allenthalben finden.

Die Arbeiten über «Judenstämmlinge und ererbtes Verbrechertum», die Studien über das historische Anrecht der Deutschen auf den Osten oder die Selektion auszumerzender Irrer sind ebenso wie die zahlreichen Studien und Gutachten über die Grundlagen einer deutschen Bevölkerungspolitik nicht entstanden, weil das NS-Regime das befahl. Vielmehr ermöglichte das NS-Regime den Wissenschaftlern das zu tun, was sie seit langem tun wollten und taten, nun aber intensiviert und frei von humanistischen oder liberalen Einwänden und Beschränkungen. Eben dies aber wurde nach 1945 zur generalisierenden Apologie: Man habe, was man tat, ja auch vorher schon getan; ergo könne es nicht nationalsozialistisch gewesen sein. Ein gleiches gilt auch für viele sogenannte Praktiker, etwa Ingenieure oder Bauleiter oder Betriebsführer, die sich nach dem Kriege im Stile Speers als unpolitische Technokraten stilisierten, vermeintlich naiv und ohne viele politische Kenntnisse. Solche Einwände rekurrieren implizit immer wieder auf das verbreitete Bild von dem, was ein Nationalsozialist «eigentlich» gewesen sei.

Je genauer man also hinzuschauen begann, desto klarer wurde sichtbar, dass das seit Kriegsende entwickelte Bild von den Nationalsozialisten offenbar unzutreffend war: Unter den führenden Protagonisten der Rasse- und Kriegspolitik des Regimes waren viele Männer, deren Entwicklung und Eigenschaften in Widerspruch zu dem standen, was man sich gemeinhin unter einem Nazi vorstellte: Sie waren jünger, besser ausgebildet, beruflich erfolgreicher und persönlich weniger konform als vermutet. Vor allem aber war ihr politischer Werdegang weitaus weniger einheitlich: Ein Teil von ihnen war schon vor 1933 zur NS-Bewegung gestoßen, ein anderer Teil aber hatte vor 1933 andere politische Richtungen im rechten Umfeld bevorzugt. Wenn das zutrifft, dann ist es nötig, die an den Verhältnissen vor 1933 gewonnenen Definitionskriterien, wer ein Nationalsozialist gewesen sei, zu überprüfen.

II.

Das Bild von der deutschen Rechten in Weimar, das wir im überwiegenden Teil der Literatur finden – auch hier gibt es Ausnahmen, aber nicht viele – trennt zwischen verschiedenen Gruppierungen und Richtungen sehr scharf. Die Konservative Revolution als Gruppierung aristokratisch-revolutionärer nationalistischer Denker; die Deutschnationalen und der Stahlhelm; die ästhetisierenden soldatischen Nationalisten; die völkischen Schwärmer; die Traditionskonservativen mit vielfältigen Verästelungen; die zwischen Republik und Diktatur oszillierenden Leute vom Jungdeutschen Orden – und von all diesen Gruppen separiert: Hitler und die Nationalsozialisten.

Bei dem Versuch, Klarheit über diese verwirrende Vielfalt zu gewinnen, ist es nützlich, bei der sich neu formierenden politischen Rechten der Frühphase der Weimarer Republik grob zwei Gruppen zu unterscheiden, die allerdings auf eine spezifische und noch zu erläuternde Weise miteinander verknüpft waren:

Auf der einen Seite die Traditionsrechte, herkommend aus Nationalen, Konservativen und Alldeutschen des Wilhelminismus – durch den Ersten Weltkrieg, mehr noch durch Niederlage, Revolution, Republikgründung und durch Versailles radikalisiert, aber in Vielem auch von anachronistischer Gestalt und Gesinnung, in welcher die verwehte Herrlichkeit des Reiches unter Bismarck und Wilhelm II. nach wie vor die politische Vorstellungswelt bestimmte. Parteipolitisch hatte sie sich nach dem November 1918 in drei Richtungen neu gruppiert; in die DNVP, die DVP und die sogenannten Vaterländischen Organisationen. Hier bereits waren die Grenzen zur Neuen Rechten fließend.[16]

Diese Neue Rechte hingegen bestand vor allem aus einer nahezu nicht überschaubaren Zahl von völkischen Gruppierungen, Bünden und Parteien, Resten versprengter Freikorps, Teilen der bündischen Jugendbewegung. Diese Welt der rechtsradikalen Bünde und völkischen Verbände war jedoch kein festgefügtes politisches Lager, sondern eher ein Milieu, ein fiebriger Dauerzustand aus Kundgebungen und Geheimtreffen, Verbandsneugründungen und -auflösungen, gekennzeichnet eher durch Stimmungen und Personen als durch Programme und Parteien. Die weit überwiegende Zahl der Mitglieder oder derer, die sich diesen Gruppen zugehörig fühlten, war jung und sehr jung. Viele von ihnen waren noch in der letzten Kriegsphase Soldat geworden, so etwa die Angehörigen der Jahrgänge 1900 und 1901, und kämpften nach Kriegsende nun weiter gegen innere und äußere Feinde – gegen Spartakus und Ruhrarmee, gegen die Münchener Räterepublik, gegen die Polen an der östlichen Grenze des Reiches oder die französische Besatzungsmacht im Ruhrgebiet und im Rheinland. Schon von hierher rührte die Orientierung auf Gewalt, die man durch die gesamte Weimarer Zeit hindurch als prägendes Merkmal verfolgen kann.

Beide Fraktionen des «nationalen Lagers», wie es vielfach zusammenfassend betitelt wurde, waren aber, so sehr sie sich in Bezug auf ihr Politikverständnis und die Form ihres Auftretens auch unterschieden, miteinander auf vielfältige und bemerkenswerte Weise verknüpft. Statt in der Öffentlichkeit von Parteitagen unter den Augen der Presse und der politischen Gegner über Sachfragen zu streiten, entwickelte sich hier eine halböffentliche Struktur von Clubs und informellen Vereinen, die einerseits eine gewisse soziale und politische Exklusivität sicherstellte, andererseits zahlreiche Querverbindungen zwischen Personen und Gruppierungen ermöglichte, welche in der Öffentlichkeit gegeneinander standen, ohne dass dies dem Publikum offenbar werden musste. Diese neokonservative Ringbewegung erreichte die rechtsradikalen Intellektuellen im Umkreis von Möller van den Bruck, Ernst Jünger oder Martin Spahn ebenso wie die Spitzen der Vaterländischen Verbände, der völkischen Zirkel, der studentischen Korporationen und Bünde, umfasste aber auch die führenden Vertreter von Teilen der alten Eliten, also der Reichswehr, der Verwaltung, der Großagrarier und der Industrie, sowie der rechten und konservativen Parteien bis hinein in DVP und Zentrum.[17]

In dieser Form der Vergemeinschaftung spiegelte sich zum einen die Ablehnung parlamentarischer Strukturen und des als der deutschen Tradition fremd angesehenen Parteienwesens wider, zum anderen aber auch ein ausgeprägtes aristokratisches Bedürfnis, ein Elitismus, der in denkbar scharfem Kontrast stand zu den apostrophierten Zielen der «Volksgemeinschaft» und der «Überwindung der Klassenschranken». Zugleich aber fand in diesen Zirkeln der alt- und neurechten Ringbewegung eine intensive Diskussion um Ziele und Wege der nationalen Revolution statt, die freilich in ihren Grundstrukturen nach wie vor elitär gedacht wurde.

In den ersten Wochen und Monaten nach dem Kriege war die radikale Rechte in Deutschland zersplittert und demoralisiert, ideologisch und organisatorisch ungeordnet. Diese Position der Defensive begann sich jedoch bereits seit Anfang 1919 zu verändern. Grundlage dieser Entwicklung war vor allem die Wahrnehmung des Krieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit in großen Teilen der Bevölkerung. Der Krieg hatte Deutschland nie direkt erreicht; die nationalen Energien waren nicht verbraucht. Eine realitätsverleugnende Grundstimmung, eine radikale Widerstandspose kam deshalb schon in jenem vielzitierten «Traumland der Waffenstillstandsperiode» auf, also der Zeit zwischen November 1918 und Mai 1919. Als dann am 7. Mai 1919 die Friedensbedingungen der Alliierten übergeben wurden, konnten Erschrecken und Empörung in Deutschland nicht größer sein. Unternehmer- und Gewerkschaftsverbände erklärten gemeinsam, der Vertrag sei nichts anderes als das «Todesurteil für das deutsche Wirtschafts- und Volksleben». Seit Weltgedenken sei an keinem so großen, so arbeitsamen und gesitteten Volk ein solches Verbrechen verübt worden, wie es nun gegen Deutschland geplant sei.[18] «Unser Unglück ist ohne Grenzen, es ist nicht auszuschöpfen in der Zeit unseres Lebens», schrieb der nationalliberale Historiker Hermann Oncken. «Man wird vergeblich in der Geschichte seit Karl dem Großen nach einer Parallele zu einer gleichen Verknechtung des besiegten Volkes suchen.»[19] Die Selbstversenkung der im britischen Stützpunkt Scapa Flow internierten deutschen Flotte am 21. Juni und eine Aktion von Berliner Studenten und Freikorpsangehörigen, die in das Berliner Zeughaus eindrangen und die im Kriege 1870/71 erbeuteten französischen Fahnen verbrannten, können als Belege gelten für jene Mischung aus Enttäuschung, ohnmächtiger Wut und der Weigerung, der durch die Niederlage geschaffenen Realität ins Auge zu sehen, die die Stimmung im Frühsommer 1919 prägte. «Es war vielleicht die verhängnisvollste Wirkung des Versailler Friedensvertrags», hat Martin Broszat dazu treffend formuliert, «dass er die fällige deutsche Selbstkritik an der wilhelminischen imperialistischen Vorkriegs- und Kriegspolitik nach 1919 weitgehend zuschüttete.»[20]

Bereits während der öffentlichen Diskussionen um die Friedensbedingungen im Mai und Juni 1919 begann eine hemmungslose Agitation der Rechten gegen die Regierung und insbesondere gegen jene Kräfte, die als Promotoren und Drahtzieher der Unterzeichnung denunziert wurden. Die gemeinsame Stoßrichtung der nationalistischen Honoratioren um den Deutschnationalen Karl Helfferich, die Matthias Erzberger systematisch als Reichsverderber verleumdeten, und der rechtsradikalen Studenten in der Organisation Consul, die ihn ermordeten, verweist auf die Arbeitsteilung und die Kooperation in der «Großen Rechten», wie das intern vielfach gespaltene nationale Lager zeitgenössisch vielfach bezeichnet wurde.[21]

Die heroische Pose galt fortan als Ausweis eines edlen, idealistischen Patriotismus, verbunden mit einer dumpfen Prophezeiung der Rache. Es war kein Radikalnationalist, sondern der Präsident der Nationalversammlung, der Zentrumsabgeordnete und spätere Reichskanzler Konstantin Fehrenbach, der am 12. Mai 1919 in der Nationalversammlung diese Perspektive gewiesen hatte: «Dieser Vertrag ist eine Verewigung des Krieges. Und jetzt wende ich mich an unsere Feinde, in einer Sprache, die auch Sie verstehen: memores estote, inimici, ex ossibus ultor. Aber auch in Zukunft werden deutsche Frauen Kinder gebären, und die Kinder, die in harter Fron aufwachsen, werden imstande sein, nicht nur die Hand zur Faust zu ballen, sie werden mit dem Willen erzogen werden, die Sklavenketten zu brechen und die Schmach abzuwaschen, die unserem deutschen Antlitz zugefügt werden will.»[22]

Vor allem die Berliner Studenten waren national entflammt. Die Mehrheit von ihnen hatte den Krieg aktiv miterlebt, viele gehörten den Freikorps und Zeitfreiwilligen an, die der Regierung jetzt gegen Spartakus und Polen zur Seite standen. Ihre Erfahrungen während der ersten Jahreshälfte 1919 ließen die Erlebnisse des Krieges und der Nachkriegszeit zu einem einheitlicheren und politisch formulierbaren Bild von der politischen Entwicklung und Lage des Reiches zusammenwachsen. Denn die bewaffneten Auseinandersetzungen während des «Spartakus-Aufstandes» im Januar 1919 in Berlin schienen die Voraussagen der Rechten vor einer unmittelbar drohenden bolschewistischen Revolution zu bestätigen. Die Erfahrungen der Revolutionszeit, die Kämpfe an der Ostgrenze des Reiches zu Polen, die Besetzung der Rheinlande durch die Westalliierten und schließlich vor allem die Friedensbedingungen von Versailles hatten eine forcierte Politisierung und Radikalisierung zur Folge. Als deren wesentliche Kennzeichen galten die zunehmende Distanz zur neuen Republik und ihren Regierungen, die deutliche Absetzung vom «Patriotismus» alter Prägung, der sich im November 1918 als offensichtlich überholt und politisch untauglich erwiesen hatte, die Anknüpfung an die völkische Jugendbewegung der Vorkriegszeit – und der Antisemitismus.[23]

Nicht die Prophezeiungen der Liberalen und Linken hatten sich für sie bestätigt – Menschenrechte, Demokratie, Internationalismus –, sondern jene der radikalen Rechten: die wirtschaftliche Versklavung Deutschlands, die Abtrennung von Gebieten mit mehr als drei Millionen Deutschen vom Deutschen Reich, die Nichtaufnahme in den Völkerbund, die Absage an die selbst aufgestellten Prinzipien der Selbstbestimmung bei unterbundenen oder nicht wirksamen Volksabstimmungen im Osten und Südosten. Sie bewirkten eine tiefgreifende Abkehr vom Westen nicht nur bei der alten, sondern vor allem bei der neuen, jungen Rechten in Deutschland.

Die erst im Vertrag von Versailles einem Großteil der Bevölkerung schockartig zu Bewusstsein gekommene militärische Niederlage hatte zudem in den Augen auch solcher, die den radikalen Rechten zuvor fern gestanden hatten, deren Hauptaussagen eine quasi empirische Validität verliehen, und erst dies kennzeichnet den tiefgreifenden Unterschied der deutschen gegenüber der Entwicklung in den Staaten des Westens, wo die ja gleichfalls vorhandenen rechtsextremen Potentiale eben keine umfassende Aufwertung und Bestätigung durch die Erfahrung der Niederlage und des Zusammenbruchs erhielten. Denn durch die Ereignisse der Nachkriegsjahre, die im Mythos von der Versailler Versklavung ihre Zusammenfassung fand, schienen sich aus dieser Sicht eben nicht die Kategorien von Menschenrechten und Demokratie, wie sie noch von dem amerikanischen Präsidenten Wilson verkündet worden waren, zu bestätigen, sondern die Aussagen der nationalistischen Rechten.

Auf der Basis dieser Erfahrungen und ihrer politischen Interpretation und aufruhend auf den tradierten und sich allmählich konsolidierenden Vorstellungen der Rechten seit den 1890er Jahren baute sich nun vor allem in der jungen Generation des deutschen Bürgertums ein Gegenmodell zur liberalen Welt von 1789 und 1848 auf, die bereits als offensichtlich gescheitert und durch den Versailler Vertrag auch als diskreditiert angesehen wurde. Dieses Gegenmodell, das auf Volk und Rasse statt auf die Rechte und die Würde des Individuums, auf politische Biologie, Antisemitismus und territoriale Expansion statt auf Toleranz, Internationalismus und konsensualen Interessenausgleich abhob, bot eine weltanschauliche Grundlage, die nicht nur die jüngsten historischen Entwicklungen zu erklären imstande schien, sondern auch tendenziell alle Probleme und Irritationen der modernen Welt auf ein dahinterstehendes Grundmuster zurückzuführen versprach.

Im Mittelpunkt des politischen Denkens der Neuen Rechten der 20er Jahre stand der Begriff des «Volkes». Entscheidend für die Zugehörigkeit zum deutschen Volk war in Aufnahme der nun gemachten Erfahrungen nicht eine subjektive Kategorie, nämlich deutsch «zu empfinden», sondern eine objektive: Abstammung, Geschichte und Kultur. Waren «Geschichte und Kultur» dabei als nationalkulturelle Faktoren zu verstehen, bedeutete «deutsche Abstammung» die Bejahung des Volks-Begriffs als einer biologischen Kategorie und, wie sich im Rahmen der sich zuspitzenden Kontroversen bald zeigte, des rassenbiologischen Prinzips.[24]

Seit dem Sommer 1919 war angesichts der deutschen Gebietsabtretungen, wie sie als Ergebnis des Krieges in den Bedingungen von Versailles festgeschrieben waren, die aktuell-politische Bedeutung einer solchen Hervorhebung des «Volks»-Begriffs offensichtlich: Nicht der Staat, der, wie zu beobachten, auch untergehen konnte; nicht die Nation, die an den bestehenden Nationalstaat gebunden war, sondern das «Volk» als quasi gegebene, «organische» Kategorie begründete die Zusammengehörigkeit der Deutschen. Damit verbunden war die Ablehnung des Staatsbürgerbegriffs. Zum «Volk» gehörte auch, wer keine deutsche Staatsangehörigkeit besaß, aber deutscher «Abstammung» war. Das schloss deutsche Minderheiten in Ost- und Südosteuropa ein. Nicht zum «Volke» gehörte, wer zwar Staatsbürger, aber nicht «deutscher Abstammung» war. Das aber richtete sich in erster Linie gegen die deutschen Juden.

Hier wird deutlich, wie sich der neue Nationalismus, auf vielfältige neue Erfahrungen aufruhend, mit dem Gedankengut der alten Rechten verband – und je näher man hinschaut, desto mehr verwischen sich die Differenzen. Der sich etablierende neue Antisemitismus war je nach Klassenlage und Kulturstufe wild und schreierisch – oder indigniert und «wissenschaftlich»: Jedenfalls war er Teil der Identitätsmerkmale des nationalen Lagers, wenngleich er in der Bevölkerung bei weitem nicht eine so herausragende, dynamisierende Bedeutung besaß wie bei der aktivistischen Rechten.

Nur ein Jahr nach Kriegsende und Revolution war die deutsche Rechte wieder in der Offensive. Vor allem der Mythos von Versailles steht hier symbolisch für die Reetablierung der nationalistischen Rechten, der es gelang, die innenpolitischen Gegner mit der Schmach der Niederlage zu belegen und zu delegitimieren. Die unmittelbare Schlussfolgerung der Rechten aus dieser Entwicklung bestand in dem Versuch der schnellen Lösung: über den Kapp-Putsch 1920 oder den Hitler-Putsch 1923 sofort wieder an die Macht zu kommen. Das erwies sich als ein Fiasko, weil die Rechte organisatorisch zersplittert, politisch noch nicht vereinheitlicht und sozial noch ohne feste Grundlage dastand, und es bedurfte eines zweiten Anlaufes zehn Jahre später, um unter gewandelten Bedingungen dieses Ziel zu erreichen. Als längerfristig folgenreich erwies sich jedoch, dass die Ereignisse der Nachkriegsjahre den ideologischen Grundpositionen der radikalen Rechten in größeren Teilen der Bevölkerung, vor allem im deutschen Bürgertum und zumal in der bürgerlichen Jugend eine tiefgreifende Legitimation verliehen, die verbunden war mit der bereits frühzeitig formulierten Aufforderung, diese Schmach, dieses «größte Unrecht, das je einem Volk angetan» worden sei, dereinst zu rächen.

III.

Wie sich die radikalen Nationalisten in den verschiedenen Organisationen und Bünden zur aufsteigenden Hitler-Partei stellten, wurde schon vor den ersten Erfolgen der NSDAP 1929/30 vielfach erörtert, zumal sich der Aufstieg der Hitler-Bewegung ja nicht zuletzt in den Universitäten bereits seit längerem angekündigt hatte. Aber erst seit den Septemberwahlen 1930, die den Nationalsozialisten einen Erdrutschsieg bescherten, stand diese Frage im Mittelpunkt.

Für viele Konservative und Deutschnationale war die Hitler-Partei im Grunde kein akzeptabler Partner – aber nicht so sehr wegen ihrer Programmatik, die ja in nahezu allen Punkten mit den gängigen Positionen der radikalen Rechten übereinstimmte: Zerschlagung des Parlamentarismus, Aufbau einer wie immer gearteten autoritären Regierungsform, Zerschlagung der Arbeiterbewegung und ihrer Organisationen, Revanche für die Niederlage des Ersten Weltkrieges, Aussonderung der kranken, schwachen, delinquenten Teile des Volkes und antijüdische Gesetze – so etwa könnte man den Konsens der Rechten zu dieser Zeit grob umreißen.

Gegen eine Unterstützung der NSDAP sprach vielmehr die «rohe Ungeistigkeit» der Partei und ihrer Führer, vor allem aber ihre auf Mehrheiten und Massenunterstützung ausgerichtete Taktik. Andererseits war die schlichte Ignorierung der Nationalsozialisten angesichts ihrer wachsenden Bedeutung ebenfalls nicht möglich. Der nationalistische Aktivist und Autor Edgar Jung brachte diese widersprüchliche Haltung kurz vor der NS-Machtübernahme beispielhaft zum Ausdruck. Der Rückgriff auf die Massen, so schrieb er, könne nur Mittel zur Machtgewinnung, nicht Ziel der nationalen Erhebung sein. Die Nationalsozialisten seien daher nur das «Referat Volksbewegung» innerhalb des nationalen Lagers. Aber der Nationalsozialismus sei «unsere Volksbewegung», und die Organisation der Massen sei ein unumgängliches Zugeständnis an den einzig möglichen Weg zur Machtergreifung. Es sei daher Aufgabe und Verpflichtung der nationalistischen Intellektuellen, in dieser Bewegung prägend zu wirken. Jung sah hier die Hitler-Partei als Erbe oder Produkt des Kampfes der gesamten Rechten und erinnerte dabei explizit an die Freikorps, die Rheinlandbewegung, den Juni-Club, die akademischen Zirkel.[25]

Nicht zurückzustehen, sondern das Positive im Nationalsozialismus aufzunehmen und der Bewegung den eigenen Stempel aufzudrücken – solche Vorstellungen waren unter den jungen radikal-nationalistischen Intellektuellen dieser Zeit durchaus verbreitet. Und nicht nur dort. Dass die Nazis zwar eine grob ungeistige Bewegung seien, aber doch bestes junges deutsches Volkstum, war etwa auch die Überzeugung vieler deutscher Professoren aus der älteren Generation.

Dass die Nazis selbst Ausdruck der Masse, der Straße, waren, die man so sehr verachtete, war common sense im deutschen Nationalkonservatismus – und doch schien nur so ein Ausweg aus den Verschlingungen der Moderne möglich, um die technische Moderne akzeptieren, deren zivilisatorische Auswirkungen aber abstreifen zu können. Auch in der Reichswehr waren die Bedenken gegen die Nazis nicht gering, aber mit keiner anderen Bewegung war das Prinzip der Wehrfreiheit wieder zu erlangen, die Schmach von 1918 zu tilgen und der Großmachtstatus Deutschlands wiederherzustellen.