Arcana Academy 1: Arcana Academy - Elise Kova - E-Book

Arcana Academy 1: Arcana Academy E-Book

Elise Kova

0,0
14,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Gefährliche Tarot-Magie, tödliche Intrigen und ein undurchsichtiger, unwiderstehlicher Prinz, der alle Fäden in der Hand hält: Willkommen in Arcana Academy! Seit dem Tod ihrer Mutter hält Clara sich mit illegaler Tarot-Magie über Wasser. Doch nach einem missglückten Auftrag landet sie im Kerker von Halazar. Ihr Tod scheint sicher – bis Prinz Kaelis, der gefürchtete Leiter der Arcana Academy, ihr einen Deal anbietet: Mit ihrer Gabe soll Clara ihm helfen, eine mächtige Tarotkarte zu stehlen. Zur Tarnung führt der Prinz sie als neue Elevin an der Tarot-Schule ein – und als seine Verlobte. Schon bald erkennt Clara, dass hinter Kaelis' eiskalter Fassade ungeahnte Tiefen stecken. Aber auch verborgene Absichten. Kann sie dem Prinzen vertrauen? Und will sie das? Schließlich riskiert sie für seine Ziele ihr Leben. Und dann sind da noch Claras eigene Pläne … Geheimnisvoll, prickelnd, überraschend – die neue Enemies-to-Lovers-Romantasy-Trilogie von Bestseller-Autorin Elise Kova punktet mit ungewöhnlicher Tarot-Magie und der aufregenden Slow-Burn-Liebe zwischen einem düsteren Magier und einer furchtlosen, listenreichen Rebellin.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Elise Kova

Arcana Academy

Aus dem Englischen von Anne Brauner und Susanne Klein

Seit dem Tod ihrer Mutter hält Clara sich mit illegaler Tarot-Magie über Wasser. Doch nach einem missglückten Auftrag landet sie im Kerker von Halazar. Ihr Tod scheint sicher – bis Prinz Kaelis, der gefürchtete Magier und Leiter der Arcana Academy, ihr einen Deal anbietet: Mit ihrer Gabe soll Clara ihm helfen, eine mächtige Tarotkarte zu stehlen. Zur Tarnung führt der Prinz sie als Novizin an der Akademie ein – und als seine Verlobte. Schon bald erkennt Clara, dass hinter Kaelis’ eiskalter Fassade ungeahnte Tiefen stecken. Aber auch verborgene Absichten. Kann sie dem Prinzen vertrauen? Und will sie das? Schließlich riskiert sie für seine Ziele ihr Leben. Und dann sind da noch Claras eigene Pläne …

Geheimnisvoll, prickelnd, überraschend – der Auftakt der neuen Romantasy-Trilogie von Bestseller-Autorin Elise Kova punktet mit ungewöhnlicher Tarot-Magie und der aufregenden Slow-Burn-Liebe zwischen einem düsteren Magier und einer furchtlosen, listenreichen Rebellin.

Wohin soll es gehen?

Karten

Buch lesen

Glossar

Personenverzeichnis

Danksagung

Viten

Für Jenny, danke, dass du an mich glaubst

EINS

Zusammenbruch oder Tod. Im Gefängnis Halazar gibt es nur das eine oder das andere. Ich verweigere beides.

Zwei Wärter nähern sich meiner Zelle. Der erste trägt eine unangenehm helle Laterne. Nachdem ich fast ein Jahr lang kein Sonnenlicht gesehen habe, blendet mich schon bloßer Lampenschein.

So schnell kommen sie mich nicht schon wieder holen. Ich rechne damit, dass die Männer vorbeigehen, doch sie bleiben vor meiner Tür stehen. Ich erkenne keinen der beiden, denn Aufseher Glavstone tauscht die Wärter regelmäßig aus – jeder, der zu lange hierbleibt, könnte zu viel mitbekommen.

»Clara Graysword?« Graysword: Den Namen erhalten alle verwaisten und ungewollten Kinder in der Stadt Eclipse. Es ist der Name, den ich angegeben habe, als man mich gefangen nahm. Er ließ alle wissen, dass ich keine Familie hatte, die man mit mir in den Abgrund reißen konnte.

Statt einer Antwort recke ich nur das Kinn.

»Deine Anwesenheit wird verlangt.« Der Mann hebt die Laterne höher, als wollte er durch die Gitterstäbe einen besseren Blick auf mich erhaschen. Sein Pech, denn man lässt mich hier verrotten, und das zeigt sich auch in meinem Gesicht.

»Das klingt formell.« Meine Stimme bricht, meine Kehle ist trockener als Eibenasche. »Von wem?«

Der Wärter reagiert nicht, stattdessen lässt er einen Schlüssel in das massive Schloss an meiner Zellentür gleiten.

Für gewöhnlich wird dieses Schloss nur einmal pro Woche geöffnet und sie haben mich bereits vor drei Tagen geholt. Ich werde immer nur rausgelassen, um mich in eine winzige verborgene Kammer neben der Wachstube von Aufseher Glavstone zu quetschen, wo ich Tarotkarten für ihn anfertigen muss – im Tausch für die wenigen Annehmlichkeiten, die in dieser Gruft zu bekommen sind. Doch ich würde die Arbeit auch ohne diesen Handel ausführen. Sie hält meinen Verstand wach und meine Finger beweglich für den Moment, in dem ich hier rauskomme.

Denn ganz gleich, ob ich es aus eigener Kraft schaffe oder meine Familie mich holt: Ich komme hier raus. Ich weigere mich, an diesem Ort zu sterben.

Die Männer treten zur Seite und ich stelle mich zwischen sie. Sobald sich meine Augen an das Licht der Laterne gewöhnt haben, sehe ich den Ort meiner Gefangenschaft deutlicher als je zuvor – offen gesagt, deutlicher, als mir lieb ist.

Bei den Zwanzig Großen Arkana, Halazar ist wirklich grauenhaft.

Die Wände sind mit einer dicken Schicht aus Dreck, Blut und anderen Dingen beschmiert, über die ich lieber nicht nachdenken will. Den Gestank kann ich mir nur vorstellen, denn meine Nase ist jetzt schon so lange davon überfordert, dass ich gar nichts mehr rieche.

Meine Mitgefangenen schrecken zischelnd vor dem grellen Schein der Laterne zurück in die Sicherheit ihrer finsteren Zellen. Ihre Kleider hängen in Fetzen und sie kriechen auf allen vieren durch den Dreck wie Tiere.

Die Dunkelheit lässt Verstand und Körper der Insassen verkümmern. Dies ist das trostloseste Gefängnis im gesamten Königreich Oricalis, der Ort, an dem die Übelsten der Üblen gefangen gehalten werden. Mörder, Vergewaltiger, Schänder von Unschuldigen und solche wie ich … die es wagen, die Arkana ohne Kontrolle durch die Krone zu nutzen.

Ich werde einen mir unbekannten Gang entlang- und anschließend eine schmale Treppenflucht hinaufgeführt. Der Wärter hinter mir hat die Hand auf seinen Schwertgriff gelegt, macht sich aber nicht die Mühe, es aus der Scheide zu ziehen. Offenkundige Drohungen sind überflüssig. Wo könntest du schon hin?, lautet die unausgesprochene Frage.

Durch einen Schlitz in der Mauer am oberen Treppenabsatz schlägt mir kalter Wind ins Gesicht. Ich sehe den aufgewühlten Fluss. Es wird schon dunkel oder vielleicht dämmert es auch; schwer zu sagen, weil es bewölkt ist. Doch egal, ich muss trotzdem unwillkürlich blinzeln. Außer dem Fluss sehe ich noch die Berge, die Öffnung geht also nach Westen hinaus, weg von der Stadt.

Die Luft, die ich einatme, ist so klar, dass sie in meinen Lungen brennt. Ich bin zu einem derart elenden Geschöpf verkommen, dass ich nicht einmal weiß, wie man saubere Luft atmet.

»Weitergehen.« Der Wärter hinter mir gibt mir einen Stoß. Ich stolpere und suche an der Wand nach Halt, wobei einer meiner brüchigen Fingernägel bis ins Nagelbett hinein abreißt. Doch mein Körper hat bereits so viele Misshandlungen erduldet, dass ich den Schmerz kaum noch wahrnehme.

Schließlich bleiben wir vor einer Tür stehen. Eine Schnitzerei im Holz zeigt ein Schwert, das aus wogenden Wolken hervorragt. Eine Krone ziert den Griff und Rosen ranken sich um die Klinge.

Das Bild ist unverwechselbar – das Ass der Schwerter. Die erste Karte der Farbe. Das Symbol der königlichen Familie von Oricalis. Zu beiden Seiten der Tür stehen zwei Ritter in silberner Rüstung. Keine Stadtwächter oder Gefängniswärter, sondern Königsritter. Sie werden Stellis genannt, eine Elitetruppe aus den allerbesten Kriegern des Königreichs, die geschworen haben, die Krone zu beschützen und ihre Gesetze zu wahren. Es heißt, ihre Gewandtheit und Kraft wird nur noch von ihrer Brutalität übertroffen. Taubenweiße und rabenschwarze Federbüschel ragen an den Seiten ihrer Helme nach oben, dort, wo Fächer aus winzigen Schwertern eingraviert sind.

Einen kurzen Augenblick lang bin ich nicht mehr in Halazar, sondern durchlebe wieder meine letzten Stunden in Eclipse, als mich Stellis wie diese vor einem Richter vom Clan des Gehängten zu Boden drückten. Ich erinnere mich noch an den kalten Untergrund an meiner Wange. Er stand in starkem Kontrast zu meiner brennenden Scham – man hatte mich gewarnt, dass ich im Begriff war, in eine Falle zu tappen, und ich hatte es trotzdem getan.

Ich muss all meine Kraft aufbieten, um ruhig zu bleiben. Um meine Hände am Zittern zu hindern. Um im Hier und Jetzt zu bleiben, obwohl die Worte des Richters in meinem Kopf widerhallen: Auf Befehl der Krone wirst du zu lebenslanger Haft in Halazar verurteilt.

»Eure Hoheit, wir haben die Gefangene!«, ruft einer der Stellis durch die Tür.

Hoheit? Nein. Nein, nein, nein. Der Drang, wegzulaufen, überwältigt mich beinahe.

»Bringt sie herein«, befiehlt eine Stimme, die kaum lauter ist als ein schattenhaftes Flüstern und nicht wärmer als die düsterste Winternacht.

Die Tür schwingt auf und gibt den Blick auf einen prunkvollen Raum frei, den es in Halazar eigentlich nicht geben dürfte. Zu beiden Seiten der Tür stehen je vier niedrige Schränke aus Eibenholz. Es ist ein Zeichen von absolutem Luxus, Holz für die Möbelherstellung zu nutzen, anstatt es zur Gewinnung von Farbpulver zu verbrennen. Schwere Samtvorhänge halten die Kälte ab und lassen kaum Licht herein.

Die schiere Opulenz ist wie ein Missklang. Ein Mann, der von Kopf bis Fuß in vergleichbare Pracht und ganz in Schwarz gekleidet ist, sitzt entspannt in einem der beiden Lehnsessel. Seine Füße ruhen auf dem Rücken von Aufseher Glavstone.

Die muskulösen Arme des Aufsehers zittern unter dem Gewicht der Beine des anderen Mannes – und von den tausend Schnitten, die seinen Körper bedecken. Die Blässe seines Gesichts bildet einen extremen Kontrast zum herabtropfenden Blut, was die Brutalität noch unterstreicht.

Glavstone in einem solchen Zustand zu erleben, würde mich normalerweise frohlocken lassen, jetzt aber stehen mir alle Haare zu Berge. Gefahr, raunt sogar die Luft um den Mann im Lehnsessel. Selbst das Licht scheint ihn zu fürchten.

Prinz Kaelis, zweitgeborener von drei Söhnen des Königs von Oricalis, befähigt zur Handhabung umgekehrter Karten und Schulleiter der Arcana Academy. Der Prinz, der einen gesamten Adelsclan vernichtet hat. Ein Mann, dessen Name in Oricalis mit Verzweiflung gleichgesetzt wird. Von dem ich aus gutem Grund glaube, dass er meine Mutter getötet hat … Und der Mann, der mich ins Gefängnis Halazar gesteckt hat.

»Clara Graysword.« Er redet langsam, als wäre es schmerzhaft, den Namen auszusprechen. Wenn er sich schon an »Graysword« stößt, würde ich gern erleben, wie er meinen Geburtsnamen sagt. Doch mein wahrer Name ist eins meiner bestgehüteten Geheimnisse.

»Eure Königliche Hoheit.« Ich zwinge mich zu einem trägen, ja gelangweilten Tonfall, damit er nicht merkt, dass ich jeden einzelnen Monat des vergangenen Jahres damit verbracht habe, seinen Namen zu verfluchen und Rachepläne gegen ihn zu schmieden.

»Setz dich.« Ein Grinsen umspielt seine Lippen.

Ich möchte ihm ins Gesicht spucken. Und doch betrete ich gehorsam das Zimmer, wobei ich einen Bogen um die Blutlache unter Glavstone mache. Als ich an ihm vorbeigehe, bekomme ich einen genaueren Eindruck von seinen Verletzungen. Jede ist das Ergebnis absolut präziser, sauberer Schnitte, die sogar die dicke lederne Jacke des Aufsehers aufgeschlitzt haben. Ich habe schon von der Zerstörungskraft gehört, die der Ritter der Schwerter in den Händen eines begabten Arkanisten anrichten kann. Aber ich habe die Wirkung noch nie mit eigenen Augen gesehen – und auch noch nie jemanden derart gehasst, dass ich die Karte so hätte einsetzen wollen.

Das war, bevor ich Kaelis begegnet bin.

Von meinem Platz im Lehnsessel gegenüber dem Prinzen mustere ich ihn so unverhohlen wie er mich.

Alles an Prinz Kaelis ist streng – als hätte man einem Künstler die Aufgabe gestellt, die brutalste Interpretation von Männlichkeit abzubilden, die er sich vorstellen kann. In seinen schwarzen Lacklederstiefeln kann man sich fast spiegeln. Durch die eng anliegende Hose zeichnen sich seine kräftigen Oberschenkel ab. Er trägt einen übergroßen Mantel, der mit tausend silbernen Schwertern bestickt ist. Darunter lugt ein schwarzes Hemd hervor. Und an einer Kette um seinen Hals, geschmiedet aus dunkelgrauem Stahl, hängt ein Schwert mit einer Krone auf dem Knauf. Tiefviolettes, fast schwarzes Haar umspielt in unordentlichen Wellen sein Gesicht und taucht seine Augen in ständiges Dunkel.

Eine Aura aus Macht und Selbstvertrauen umgibt ihn – ein krasser Gegensatz zu meinem eigenen Zustand: Unter meiner dünnen Haut stehen die Knochen hervor. Mein Haar war noch nie besonders bemerkenswert, weder was seine Beschaffenheit noch was seinen Farbton – ein dunkles Braun – betrifft. Jetzt ist es bis knapp unter die Ohren gekürzt worden, weil es sich in den Tiefen von Halazar unmöglich bändigen ließ. Meine Gefängniskluft sieht aus, als trüge ich sie seit dem ersten Tag meiner Ankunft, was auch stimmt.

»Wenn du weißt, wer ich bin, dann ahnst du vermutlich auch, warum ich hier bin.« Er legt seine Finger aufeinander und presst sie gegen seine schmalen Lippen.

»Ich habe so eine Vermutung, Eure Hoheit.« Sein Titel schmeckt bitter in meinem Mund.

»Gut. Und noch besser, dass du dich noch unterhalten kannst. Halazar lässt Menschen oft … verstummen«, murmelt er.

Verstummen? Er meint wohl zugrunde gehen. Zerbrechen. Nicht, dass ich mit dem Großteil der Insassen hier wirklich Mitleid hätte. Aber es gibt auch ein paar Gute, wie mich zum Beispiel, deren einziges Verbrechen es ist, dass sie versucht haben, das Leben für sich und ihre Liebsten besser zu machen.

Kaelis greift in seinen Mantel und zieht ein Kartendeck hervor. Jede einzelne Karte ist mit atemberaubender Detailtreue gemalt. Die Farben, die Symbole. Jeder Pinselstrich ist makellos. Das Deck liegt perfekt in seinen langen, eleganten Fingern. Ein Tarot, das eines Prinzen würdig ist. Der Gedanke, dass ein Mann wie er solche Schönheit erschaffen kann, ist nicht auszuhalten.

Was würde ich darum geben, die Karten von Nahem betrachten zu können. Obwohl hier im Raum gerade ein Mann verblutet und mein schlimmster Feind mir gegenübersitzt, habe ich nur Augen für die überwältigende Kunstfertigkeit. Meine Hände zucken, als der Prinz die Karten mischt und dann mit einer dramatischen Geste eine davon zieht, statt sie dem Deck mithilfe von Magie zu entnehmen.

»Ich habe ein paar Fragen an dich, Clara. Und obwohl du gewiss der Inbegriff absoluter Aufrichtigkeit bist, kann ich eine Verurteilte leider nicht einfach so beim Wort nehmen.« Er legt die gezogene Karte auf seine ausgestreckte Hand.

Die Neun der Schwerter. Eine Frau liegt halb zugedeckt auf einem Bett, neun Schwerter fixieren sie auf der Matratze, ihr Gesicht ist verzerrt vor Qual.

Das Anfertigen dieser einen Karte muss fast einen ganzen Tag gedauert haben. Die Sorgfalt in den Details – und die damit verbundene Macht der Karte – ist unglaublich. Aber in mein Staunen mischt sich Entsetzen. Denn ich kenne die Bedeutung dieser Karte und weiß, was jetzt kommt. Es hat mich überrascht, dass sie bei meiner Verhandlung nicht eingesetzt wurde. Wobei ich immer davon ausgegangen bin, dass sie es nicht getan haben, weil mein Schicksal schon vor Beginn des Prozesses besiegelt war. Warum hätten sie also eine Karte an jemanden wie mich verschwenden sollen?

»Wenn du so nett wärst«, sagt er. Als hätte ich eine andere Wahl, als meine Hand auf die Neun der Schwerter zu legen und mich zu wappnen.

Ein Aufblitzen von Silber – dann verzehren kalte weiße Flammen die Karte. Das Feuer verwandelt sich in neun kleine Schwerter aus Licht und Schatten, die schmerzlos meine und seine Hand durchbohren und unsere Handflächen miteinander verbinden. Der Blick des Prinzen wird eindringlich.

Ein Schauer durchfährt mich und ich verliere mich kurz, während die Magie von mir Besitz ergreift. Die Anspannung in meinem ausgezehrten, misshandelten Körper lässt nach, meine Schultern sacken herab. Entspann dich, flüstert die Magie der Karte, gib nach …

»Dein Name?«

»Clara«, antworte ich. Obwohl er das bereits wusste. Eins der neun schimmernden Schwerter verschwindet.

»Und wieso bist du hier, Clara?« Er spielt mit mir.

»Weil ich unerlaubt Tarotkarten angefertigt, verkauft und benutzt habe, ohne erst die Arcana Academy zu durchlaufen und einem Clan zugewiesen zu werden«, erwidere ich.

Die Worte fühlen sich nicht wie meine eigenen an. Es kommt mir vor, als bewegten sich unsichtbare Fäden in meiner Kehle und förderten sie gewaltsam zutage.

Ein weiteres Schwert verschwindet.

Ich verzichte darauf, hinzuzufügen, dass Menschen wie ich, Menschen ohne Geld und Teilhabe, nicht gezwungen wären, solche Maßnahmen zu ergreifen, wenn er, seine Familie und ihre Gesetze die Lehre und die Nutzung von Tarot nicht kontrollieren würden. Und es liegt nur an illegalen Zeichnern wie mir, dass die gewöhnlichen Menschen im Königreich überhaupt eine Vorstellung davon haben, wie die Arkana ihr Leben zum Besseren verändern könnten.

»Das unerlaubte Anfertigen von Tarotkarten hat dich also nach Halazar gebracht.« Der Prinz schnalzt mit der Zunge. »Und was hast du getan, nachdem man dich für dieses Verbrechen eingesperrt hat?«

»Ich habe auf Befehl des Aufsehers Glavstone Karten getuscht.« Das dritte Schwert verschwindet.

»Du Miststück«, knurrt Glavstone und blickt mich mit seinen gelben Augen böse an, als hätte ich ihn verraten.

»Ja, das bin ich wohl«, gebe ich beiläufig zurück und glaube, vom Prinzen ein amüsiertes Schnauben zu hören.

Doch dann schüttelt er den Kopf und jede Belustigung ist wie weggeblasen. »Wie viele Karten hast du für den Aufseher im vergangenen Jahr angefertigt?«

»Hunderte, vielleicht sogar tausend.« Meine Antwort ist vage, aber ehrlich. Ich habe nicht mitgezählt … »Ich habe oft viele Stunden am Tag gezeichnet.« Das vierte Schwert verschwindet.

»Von welchen Farben?«

»Von allen Farben.« Das fünfte.

»Und irgendwelche Karten der Großen Arkana?«

»Ich weiß nicht, wie man Karten der Großen Arkana tuscht; niemand weiß das«, antworte ich rundheraus. Das sechste. Die Magie dafür ist seit Langem verloren gegangen – wenn sie überhaupt je existiert hat – und zur bloßen Legende geworden.

Ein Grinsen lässt Prinz Kaelis’ Lippen zucken. »Hättest du Karten der Großen Arkana gezeichnet, wenn du gewusst hättest, wie es geht?«

»Ich hätte es probiert«, gebe ich zu. Mutter, meine Arkana-Lehrerin, hat mir eingeschärft, es nie zu versuchen – weil es noch nie jemandem gelungen sei und ich mein Talent besser anderweitig einsetzen sollte. Und dass es nur Unglück brächte, selbst wenn ich Erfolg hätte. Doch ich hatte schon immer ein Problem damit, blindlings Befehlen zu gehorchen. Wenn ich auch nur die leiseste Ahnung gehabt hätte, wie ich es anfangen soll, hätte ich es auch probiert.

Noch zwei Schwerter sind übrig.

Prinz Kaelis legt den Kopf schief und betrachtet mich, als wäre ich ein unbedeutendes kleines Tier.

»Tja, es hat den Anschein, als hättest du deine Lektion während deines Aufenthalts hier nicht gelernt«, sagt er ernst. »Menschen wie du – die die wohlüberlegte Ordnung der Arkana aufs Spiel setzen, die eine Gefahr für unsere Gesellschaft darstellen, indem sie Macht in die Hände von nicht ausgebildeten Arkanisten legen … und die nicht aus ihren Fehlern lernen –, um die müssen wir uns kümmern. Was denkst du, wie ich mit dir verfahren sollte?«

»Gnädig.« Selbst ich kann es mir nicht verkneifen zu grinsen, als ich das sage.

Er schnaubt und sein durchtriebenes Lächeln – wie das einer Katze kurz vor dem Sprung – wird zu einem breiten, raubtierhaften Grinsen. Ein Schwert ist noch übrig. Eine weitere Frage. Ich habe Angst, dass er sich das Schlimmste für zuletzt aufgehoben hat. Und wappne mich.

»Wer war es?«

»Wer war was?« Schmerz durchzuckt meine Hand und schießt meinen Arm hoch. Der Preis für das Verweigern einer Antwort.

»Wer in der Arcana Academy hat dir und dem Rest dieser Truppe, bei der du mitgemacht hast, Zugang zu meinen Ressourcen verschafft?«

Ich presse die Kiefer so fest aufeinander, dass sie knacken. Meine Zähne tun weh. Nein. Nein!, sage ich mir ganz fest. Ich werde ihren Namen nicht nennen. Selbst wenn es sich anfühlt, als würde ein unsichtbares Messer langsam vom Handgelenk bis zur Schulter die Haut von meinem Arm abschälen.

»Ich … Ich …« Ich versuche, von der Frage abzulenken. Der Schmerz vernebelt meine Gedanken. Mein Arm fühlt sich an, als wäre er in kochende Säure getaucht worden.

Kaelis nimmt die Füße von Glavstones Rücken und beugt sich zu mir her. Das Licht der Magie, das unser beider Hände durchdringt, lässt die blassen Umrisse seines Gesichts gespenstisch wirken und verstärkt die Schatten unter Wangenknochen und Augen.

Wenn man ihn so sieht, kann man sich leicht fragen, ob die Gerüchte, er sei ein Abkömmling des Nichts – ein Beherrscher der umgekehrten Arkana, ein Monster, das eigentlich nur in Sagen existiert – , nicht doch wahr sind. Und auch, dass er mit der verdrehten Magie einer dieser Karten den Eremiten-Clan ausgelöscht hat, sodass dieser nur mehr eine Erinnerung ist.

»Sag es mir.«

Ich beiße die Zähne zusammen und schweige. Ich habe die Schuld auf mich genommen, damit es niemand tun muss, den ich liebe. Ich werde nicht noch einen Menschen verlieren, der mir am Herzen liegt. Nicht an ihn.

»Ich muss zugeben, ich bin beeindruckt, wie viel Schmerz du ertragen kannst, wenn man bedenkt, in welch erbärmlichem Zustand du bist.«

Ich blecke die Zähne. Die Schwerter unter meiner Haut haben meine Brust erreicht. Sie drohen mir die Lunge herauszureißen.

»Aber du weißt, dass der Schmerz nur noch schlimmer wird. Also, sag mir, Clara … Wer hat die Materialien aus der Arcana Academy gestohlen?«

»Jemand … aus der Schule …« Der Prinz gewährt mir eine kurze Atempause, aber das leuchtende Schwert in meiner Hand verschwindet nicht und das Gleiche gilt für den Schmerz.

Aus irgendeinem Grund lässt meine Sturheit seine Augen amüsiert funkeln. Und doch bleibt er unerbittlich. »Ein Name, du weißt, dass ich einen Namen will.«

»Clara ist ein Name.« Ich versuche mir schlaue Ausflüchte auszudenken, um nicht antworten zu müssen. Meine Kehle schmerzt, weil ich der Wahrheit ausweiche, obwohl die Magie weiß, dass Kaelis danach trachtet. Tausend Messer schneiden in meine Muskeln; ich sehe Sterne. Ich bin so schwach, dass ich vor Schmerz fast ohnmächtig werde.

Seine Finger umklammern meine noch fester und unsere Hände zittern. Es ist fast so, als würde der Prinz mein schwindendes Bewusstsein mit Gewalt in meinen Körper zurückpressen. »Wie lautet der Name der Person, die euch Zugang zu Materialien verschafft hat, welche allein der Akademie vorbehalten sind?«, knurrt er.

»Arina.« Der Name schießt aus mir heraus wie ein Pfeil von einer straff gespannten Bogensehne. Er fliegt den ganzen Weg von Halazar über den Fluss hinweg bis zur Festung der Academy. Dort, wo meine kleine Schwester – meine einzige lebende Blutsverwandte – noch immer Schülerin ist. Aber wahrscheinlich nicht mehr lange. Meine Schwäche hat sie gerade zum Tode verurteilt. Kaltes Entsetzen packt mich, heftiger als der grausamste Winter.

»Gut. So etwas hatte ich mir schon gedacht.« Der Prinz nimmt die Hand weg und das silbrige Licht verblasst. Der Schmerz verschwindet, aber die Last der Welt bricht tonnenschwer über mich herein. Ich muss alle meine Kräfte aufbieten, um nicht im Stuhl zusammenzusacken.

Er steht auf und schaut auf mich herab. »Jetzt bleibt nur noch eins für dich.«

Als ich ihn ansehe, gebe ich mir keine Mühe, den Hass in meinen Augen zu verbergen. Doch meine Verachtung reizt ihn nur noch mehr. Verdammter Bastard.

»Ich verurteile dich zum Tode bei Sonnenuntergang, Clara Graysword.« Die Ankündigung bereitet ihm eindeutig große Freude.

»Was?« Der Schreck macht meine Stimme ganz schwach. Ich war dazu verurteilt, hier zu sterben … Aber ich habe noch geatmet. Ich hatte meine Flucht geplant. Ganz egal, wie gering meine Chancen waren, ich hatte noch Hoffnung.

Kaelis geht auf die Tür zu, blafft die Stellis an, die Glavstone aufsammeln und ihn aus dem Raum schleppen.

Dann wirft der Prinz einen Blick über die Schulter. »Genieß deine letzte Stunde auf dieser Welt, Arkana-Verräterin.«

Die Tür fällt hinter ihm ins Schloss und wird verriegelt.

ZWEI

Eine Stunde. Nicht viel Zeit. Aber genug, um mich zu sammeln und meine nächsten Schritte zu planen. Ich schlucke schwer und lehne mich im Stuhl zurück. Mit Panik vergeude ich nur wertvolle Zeit durch unüberlegtes Handeln. Für Arina muss ich fokussiert sein und strategisch denken. Hier rauszukommen, um sie zu warnen, ist vielleicht das Einzige, was sie noch vor einem furchtbaren Tod durch Kaelis’ Hand retten kann. Oder davor, das Mal zu bekommen und zu den Mühlen geschickt zu werden. Was noch schlimmer ist.

Als Erstes untersuche ich die Schränke. Sie sind natürlich verschlossen, aber die Schlösser sind so primitiv, dass sie eher rein dekorative Zwecke erfüllen. Ich gehe zurück zu den Stühlen und ziehe einen Polsternagel aus dem Satin. Er ist gerade lang genug, um an den einfachen Verriegelungsmechanismus im Schranktürschloss heranzukommen. Mithilfe des Nagels und roher Gewalt gibt es nach und die Tür geht auf.

Im ersten Schrank liegen reihenweise staubbedeckte Weinflaschen. Ich nehme mir den nächsten Schrank vor. Er ist voller Bücher über die Arkana und ich muss an mich halten, um sie nicht sofort durchzublättern.

Tja, wenn ich sowieso sterben muss, dann mit einem guten Buch in der Hand und halb betrunken.

Weiter geht’s mit Schrank Nummer drei …

»Volltreffer!« Sobald die Tür von Schrank drei aufschwingt, beginne ich breit zu lächeln. Was ich so lange nicht mehr getan habe, dass es fast wehtut. »Kaelis, du verdammter Idiot.« Arina hat sich immer darüber beklagt, dass dem Prinzen nichts entgeht, was ihre geheimen Vorhaben in der Akademie sehr erschwert. Doch nach dem, was ich hier vor mir sehe, würde ich widersprechen.

Es sei denn … er wollte, dass ich das hier finde, weshalb er mich unbeaufsichtigt hier zurückgelassen hat. Könnte schon sein. Doch selbst wenn das sein Plan war, werde ich nicht anders handeln, da die Alternative der sichere Tod ist. Ich ergreife eine Chance, wenn sie sich mir bietet.

Der Schrank ist voller Zeichenutensilien: Pinsel mit Menschenhaar in allen Größen. Büchsen mit seltenen Pigmenten und Ölfarben, die nur darauf warten, mit einem Spachtel zusammengemischt zu werden. Und meine Lieblingsmaterialien … Tintenfässer und Federhalter.

Blankokarten nehmen ein gesamtes Regalbrett ein. Ich fahre mit dem Daumen über ihre Kanten, freue mich an der Textur des Papiers. Der Traum einer jeden Tarotkarten-Zeichnerin.

Ich gebe mir keinerlei Mühe, meine Spuren zu verwischen. Dafür ist keine Zeit. Meine einzige Chance ist, mich möglichst weit von Halazar zu entfernen, und zwar so schnell es geht.

Eine Tarotkarte zu tuschen – auch eine mit ganz schlichter, minimalistischer Gestaltung – , wird mich fast zehn Minuten kosten. Während ich die Utensilien auf dem Boden ausbreite, überlege ich, welche Karten mir die größten Fähigkeiten verschaffen. Ich habe Zeit für drei Karten, beschließe ich und mache mich an die Arbeit.

Ich ziehe zwei Farbpulverbüchsen heraus, eine für Münzen und eine für Kelche, aber sie sind beide leer. Fluchend schnappe ich mir eine dritte, für Stäbe. Auch leer. Nur in der vierten ist Farbpulver. Ich starre auf das schimmernde obsidianschwarze Pulver. Schwerter … Für mein Vorhaben nutzlos.

Aber ich werde es schon hinkriegen, auch wenn es nicht so gedacht ist.

Jede Farbe erfordert ihr eigenes Pigment. Jeder andere Arkanist, der mir bisher begegnet ist, kann Schwerter ausschließlich mit zermahlenen Falkenfedern aus dem Karggebirge zeichnen, Münzen nur mit getrockneten und zerstoßenen Beeren aus der Ödnisweite, Stäbe allein mit der Asche von Eiben aus den von Ungeheuern besiedelten Blutwäldern und Kelche einzig mit zerstoßenem Kristall aus den Tiefen der Versunkenen Minen. Eine Karte der Kleinen Arkana mit beliebigem Farbpulver anzufertigen, ist eine Gabe, wie Mutter sagen würde. Nicht einmal sie vermochte das. Und egal, wie sehr ich mich angestrengt habe, ich konnte diese Fähigkeit nie einer anderen Person beibringen.

Ich gebe das Farbpulver in zwei Tintenfässchen und vermische es dann mit ein paar Tropfen Wasser aus einer Flasche, die ich ebenfalls im Schrank gefunden habe. Dann ritze ich meinen Finger mit einem Federhalter an. Um die Spitze sammelt sich etwas Blut. Ich halte den Finger über das Tintenfass und lasse Blut hineintropfen.

Eigentlich ist Blut kein notwendiger Bestandteil beim Tuschen von Karten, aber es ist der einzige Weg, den ich kenne, wie man ein Pigment, das eigentlich für eine bestimmte Tarot-Farbe gedacht ist, nutzen kann, um die Karte einer anderen Farbe anzufertigen. Mutter hat mir beigebracht, die Magie ganz natürlich fließen zu lassen, sodass die Karten zu einer Erweiterung meiner selbst werden. Dass ich diese Methode zum Anmischen von Pigmenten entdeckt habe, war ein Glücksfall.

Nun, da die Tinte mit meinen Kräften angereichert ist, mache ich mich ans Zeichnen. Obwohl in meinem Hinterkopf die Uhr tickt, ist meine Hand ruhig. Ich habe das hier so oft gemacht, dass es mir schon in Fleisch und Blut übergegangen ist. Noch ehe ich lesen konnte, habe ich bereits gezeichnet.

Das Tuschen von Karten wurde zu meinem Lebensanker. Als ich dann mit dreizehn das erste Mal hungrig und auf mich selbst gestellt war, Arinas Hand in meiner, unser Vater seit Langem fort und unsere Mutter tot … begriff ich, dass ich mein Talent in Nahrung und Schutz umwandeln konnte. Und Arina, die kapriziöse kleine Rebellin, folgte meinem Beispiel.

Sobald die drei Karten fertig sind, stecke ich zwei davon unter mein Brustband, die dritte drücke ich gegen meine Rippen. Mit einer smaragdgrünen Lichtexplosion sinkt die Karte in mich hinein. Magie flutet meinen Körper, füllt ihn ganz aus, nährt ihn.

Der Page der Münzen gewährt einen Tag lang großes Können für eine bestimmte Aufgabe. Und jetzt gerade muss ich Expertin im Klettern sein. Was mir an Kraft fehlt, werde ich durch Geschicklichkeit wettmachen.

Ich reiße die Vorhänge zurück und blinzle ins graue Tageslicht. In der Ferne sehe ich die Silhouette von Eclipse. Die Stadt ist nah genug, um schwimmend dorthin zu gelangen, aber doch so weit weg, dass nur Dummköpfe es wagen würden, an der Stelle, wo der Fluss Farlum ins Meer mündet, dem Wildwasser zu trotzen.

Heute bin ich einer dieser Dummköpfe.

Ich öffne ein Fenster, blicke hinab auf die steilen Mauern des Gefängnisses und muss schwer schlucken. Je länger ich hinunterschaue, desto weiter entfernt scheint das Wasser unter mir zu sein. Es ist viel zu tief, um zu springen.

Als ich mein Bein über die Brüstung schwinge, denke ich, dass es – selbst bei meinem üblichen Glück – immer noch Selbstmord ist. Aber mir bleibt keine andere Wahl und ich bin verzweifelt. Selbst wenn ich dem Prinzen mit dieser Aktion geradewegs in die Hände spiele, ergreife ich lieber meine Chance und gehe bei dem Versuch unter.

Als ich mit dem Abstieg beginne, spüre ich die Magie vom Pagen der Münzen durch mich hindurchströmen. Der kalte Fels lässt meine Finger taub werden, trotzdem halte ich mich ganz fest. Meine Zehen suchen nach Halt in dem rissigen, vom Wind geformten Stein. Dank der Magie der Tarotkarte weiß ich genau, wie ich das Gewicht verlagern und meine zitternden Muskeln anspannen muss, um die Kraft auszugleichen, die mir fehlt. Stück für Stück arbeite ich mich voran.

Doch dann peitscht der Wind seitlich über das Gebäude und unter meinem Fuß bröckelt die Mauer. Aus dem Gleichgewicht gebracht, schwinge ich frei. Den Schrei, der sich in meiner Kehle Bahn brechen will, unterdrücke ich. Ein Blick nach unten lässt mich schwindeln und mir wird klar, wie weit oben ich noch immer bin und wie weit weg die zerklüfteten Felsen und der Fluss sind. Mit Wucht lasse ich den Körper zurück an die Mauer prallen. Blut schießt mir aus der Nase. Doch das ist immer noch besser als alles andere.

Wäre es mir nicht gelungen, Arina und mich durch illegales Zeichnen von Karten durchzubringen, würde ich als Älteste im Haus jetzt genau solche Klettertouren unternehmen und die gigantische Schlucht, bekannt als »die Klamm«, rauf- und runterklettern, um Federn der dort nistenden, seltenen Falken zu sammeln, damit sie zu Pigment zermahlen werden können. Ich würde klettern, bis mir die Nägel abfallen und meine Zehen brechen. Bis meine Finger nachgeben, ich in den Abgrund stürze und mein Name und mein Gesicht sich für immer im Nebel der Klamm verlieren.

Das war Mutters Schicksal, jedenfalls haben mir das die Stadtwachen gesagt – eine Lüge, die ich nie geglaubt habe. Sie wurde ermordet. Ihr Seil wurde abgeschnitten. Aber von wem und warum? Das weiß ich noch immer nicht. Obwohl die Suche nach der Wahrheit und der Wunsch, Rache zu üben, mich in diese Lage hier gebracht haben.

Ich setze meinen Abstieg fort, vertraue auf den Pagen der Münzen, auf meine eigene Magie und Kraft. Und sobald meine Muskeln zittern und zu versagen drohen, denke ich an die vielen Möglichkeiten, wie Kaelis Arina schaden könnte. Auch wenn meine eigensinnige kleine Schwester es nie zugeben würde: Sie braucht mich.

Zu guter Letzt erreiche ich den Fuß der Mauer. Am liebsten würde ich in mich zusammensacken und erst mal wieder zu Atem kommen, doch ich zwinge mich, weiterzumachen. Ich schätze, dass von meiner Stunde noch ungefähr fünfzehn Minuten übrig sind, und Prinz Kaelis ist genau die Sorte Mensch, die mich vor der Zeit holen würde. Wenn ich noch auf der Gefängnisinsel von Halazar bin und er meine Flucht bemerkt, ist mein Leben in Windeseile verwirkt. Meine einzige Hoffnung ist, es in den Fluss zu schaffen, ehe Kaelis feststellt, dass ich weg bin.

Nicht weit entfernt erspähe ich ein Boot. Vielleicht das, mit dem der Prinz gekommen ist? Es ist klein genug, dass ich es möglicherweise auch allein rudern kann, und ich sehe niemanden in der Nähe. Ich danke diesem Glücksfall und will mich schon dorthin begeben, halte dann aber doch inne: Das ist viel zu einfach. Wenn er sein Spiel mit mir treibt, ist das eine Falle. Aber selbst wenn er nicht dahintersteckt, ist ein Boot viel zu auffällig.

In meinem geschwächten Zustand ist Schwimmen ein Wahnsinn, aber trotzdem irgendwie sicherer.

Ich ziehe eine der beiden verbliebenen Karten hervor, das Ass der Kelche. Dann lege ich die Karte aufs Wasser und berühre sie vorsichtig. Tröpfchen steigen auf, umkreisen mich, hüllen mich in reine Macht. Meine Augenlider schließen sich flatternd und ich atme die alte Magie vom Ass der Kelche ein, der ersten Karte dieser Farbe. Seine Macht schenkt mir die Herrschaft über das Wasser.

Jede Farbe der Kleinen Arkana wird von einem Element dominiert. Die Stäbe vom Feuer, Schwerter von der Luft, Münzen von der Erde und Kelche vom Wasser. Die Karten der vier Farben, von der Zwei bis hinauf zum König, haben ihre eigenen einzigartigen Eigenschaften … Aber das Ass? Das ist der Anfang. Das ureigene Wesen der Farbe.

Ich hole tief Luft, atme dann mit meinem Mantra »Das Glück ist auf meiner Seite« wieder aus und springe hinein.

Das Wasser ist kalt und alle Luft entweicht aus meiner Lunge. Und doch strample ich und kämpfe darum, den Kopf oben zu halten. Die Anstrengung wärmt mich gerade so weit, wie es nötig ist. Die Kraft des Asses verleiht mir eine gewisse Kontrolle, sodass ich mich mühelos durch kleine Wellen hindurchbewege, doch die größeren schlagen trotzdem über mir zusammen.

Ich verliere jedes Zeitgefühl. Mittlerweile weiß Prinz Kaelis bestimmt, dass ich weg bin. Er sucht nach mir. Er wird die Hinweise deuten und sich zusammenreimen, was ich getan habe, wenn er nicht schon hinter mir her ist.

Schwimm. Weiter, befehle ich mir mit jedem Atemzug. Mich verlässt die Kraft und mit ihr auch die Magie. Die Strömung droht mich unter Wasser zu ziehen. Und die Stadt ist immer noch so weit weg …

Erinnerungen an den Sternrebellen-Club und all seine Tröstlichkeiten verleihen mir neue Kraft. Meine Freunde. Nein, meine Familie. Bristara hat Arina und mich aufgenommen, hat uns Hoffnung geschenkt. Selbst an den dunkelsten Tagen in Halazar wanderten meine Gedanken zu Arina, Gregor, Ren, Jura, Twino und Bristara … Selbst wenn mir mein Verstand sagte, dass sie mich schon längst aufgegeben hatten, weigerte sich mein Herz, das zu glauben. Sie warten auf mich. Sie zählen auf mich.

Eine Welle schwappt über mich hinweg. Ich werde unter Wasser gezogen, an einen Ort, wo nur kalte, erdrückende Finsternis herrscht. Dort, im wirbelnden Wasser, lauern meine Albträume und werden Realität, wollen mir das letzte bisschen Atemluft aus der Lunge pressen.

Doch ganz egal, wie dunkel die Nacht ist, ich weigere mich, die Hoffnung auf die Dämmerung aufzugeben.

Ich fasse mir an die Brust, wo sich die letzte Karte befindet. Mein beliebtestes Motiv. Bis heute habe ich Tausende davon angefertigt. Die Neun der Kelche – die Wunschkarte, die Möglichkeit, eine kleine Veränderung am eigenen Schicksal vorzunehmen.

Rette mich.

Die Neun der Kelche vermischt sich mit der verbleibenden Kraft des Asses. Das Wasser teilt sich und mit einem Aufblitzen violettblauer Magie tauche ich wieder auf. Tief sauge ich die Luft ein, komme zu Atem und strample weiter. Das Ufer ist nicht mehr so weit entfernt, und wenn es mir gelingt, den Kopf über Wasser zu halten, kann ich es schaffen. Es ist schon so nah.

Und genau da spüre ich über die Wellen hinweg das Sirren von Magie, höre einen Bootsrumpf durchs Wasser gleiten und sehe das düstere Licht, das vor dem Geschöpf flieht, das es nicht ertragen kann. Irgendwann musste mein Glück ja aufgebraucht sein …

Meine schlimmste Angst hat sich bewahrheitet. Der Mistkerl wusste, dass ich fliehen würde. Ich wette, er wusste schon am Tag meiner Gerichtsverhandlung, dass er mich töten würde, und hat mich vorher nur in Halazar verrotten lassen, weil er es konnte. Alles, was Arina je über ihn gesagt hat, stimmt.

Mein Leben ist nichts weiter als ein Spiel für ihn, ist mein letzter Gedanke, ehe mich ein kurzes Aufblitzen von Magie trifft, der Schmerz mich packt und meine Muskeln verkrampfen. Eine Welle schwappt über mich hinweg und die Welt wird schwarz.

DREI

Man hält mich im Zustand der Bewusstlosigkeit. Jedes Mal, wenn ich allmählich zu mir komme, verscheucht jemand die Klarheit wieder, indem er mir irgendwelche Tränke den Rachen hinabzwängt und Magie über meinen Körper jagt. Schmale Streifen Licht dringen in den Raum und ich öffne meine rissigen, trockenen Augenlider, die aber sofort von sanften Fingern wieder geschlossen werden. Stimmen werden laut und leiser, aber keine ist zu erkennen.

Als ich endlich wieder ganz bei Bewusstsein bin, schrecke ich hoch und versuche wach zu bleiben, versuche, nicht erneut wegzudämmern. Bevor sie – wer immer »sie« sein mögen – mir das Bewusstsein ein weiteres Mal rauben.

»Na, na«, beruhigt mich eine ältere Frau. »Ihr habt viel durchgemacht. Ruht Euch aus.«

Der Raum, in dem ich mich befinde, ist mir gänzlich unbekannt. An diese … unerträgliche Protzigkeit würde ich mich erinnern.

Jedes Möbelstück und gerahmte Gemälde ist mit Silber verziert. An den Seiten des Raums ragen schwarze Marmorsäulen auf. Es gibt einen Kamin, der groß genug ist, um einen ganzen Bären darin zu braten. Kronleuchter erhellen den extrem dunklen Raum mit sanftem Kerzenschein. Ihr Licht fällt auf extravagante Kuriositäten und Raritäten, die in derartiger Fülle die Wände bedecken, dass es klaustrophobisch wirken könnte, wäre der Raum nicht so riesig. Dank seiner enormen Größe lässt die Anzahl an Absonderlichkeiten das Zimmer fast … museal erscheinen. Und sehr viel nüchterner als ein typisches Schlafzimmer.

Denn trotz seiner Ausmaße nehme ich an, dass es sich um ein Schlafzimmer handelt. Das riesige Himmelbett lässt mich zur Zwergin werden. Es ist aus schwarzem Stein und mit schweren Vorhängen ausgestattet. Ich liege auf Seidenlaken, über mir ein endloses Meer aus gestepptem Samt, mit einigen Pelzinseln zu meinen Füßen.

»Wo bei den vier Farben bin ich?«, will ich wissen, sehe die Frau wütend an und wünschte, ich hätte eine Waffe bei mir. Leider habe ich gar nichts. Nicht mal meine zerfetzten Kleider aus dem Gefängnis. Man hat mich in ein Nachthemd aus Chiffon gesteckt. Hoffentlich war sie das.

»Arcana Academy«, erwidert sie sofort, obwohl ich halb damit gerechnet habe, dass sie sich ziert. »Ich bin Rewina, die Zofe Seiner Hoheit.«

Eine Zofe? Kein Diener? Wie seltsam … Allerdings ist das unorthodoxe Personal des Prinzen meine geringste Sorge.

»Warum bin ich in der Akademie?« Durch die Fenster, die – wenig überraschend – von schweren Samtvorhängen eingerahmt sind, sehe ich in der Ferne die Lichter von Eclipse auf der anderen Seite des Farlum. Eine riesige, massive Brücke über die Flussmündung hinweg verbindet die Stadt mit der Akademie und blockiert gleichzeitig den Zugang zum Meer. Schiffe können nur durch ein gesichertes Tor passieren, was es der königlichen Familie ermöglicht, allen Handel im Königreich und mit anderen Ländern zu kontrollieren.

»Der Prinz wird es Euch sagen, denke ich.«

Beugt sie sich mit dieser Antwort Kaelis’ Autorität? Oder weiß sie selbst nicht, warum ich hier bin? Was auch immer die Wahrheit sein mag, verbirgt sich hinter einem scheinbar warmherzigen Lächeln, Augen voller Runzeln und flauschig grauweißen Haaren. Rewina erinnert mich vage an Bristara, obwohl sie älter ist als die Patronin des Sternrebellen-Clubs.

»Da wir gerade von ihm sprechen, er wird wissen wollen, dass Ihr wach seid. Bitte entschuldigt mich«, sagt sie, als stünde es in meiner Macht, irgendjemanden zu entschuldigen

Die Zofe verschwindet und ich bin allein. Sofort werfe ich die Decken beiseite und schwinge meine Beine über die Bettkante. Das Bett scheint zwei Stockwerke hoch zu sein und meine Knie knacken, als ich mich abstoße. Jede Faser meines Körpers schmerzt und ächzt. Meine Beine sind wackelig. Mein Magen drückt schlaff gegen meine Rippen. Ich fühle mich schlimmer als beim Verlassen meiner Zelle. Wie lange war ich bewusstlos?

Ich bin erst zwanzig – vielleicht auch einundzwanzig, je nachdem, welches Datum wir haben –, fühle mich aber dreimal so alt.

Doch zuerst das Wichtigste: eine Waffe. Ich steuere auf den Kamin zu, versuche, mich vom Blick auf die Stadt und den Raritäten an den Wänden nicht ablenken zu lassen. Dort angekommen, schnappe ich mir den Schürhaken. Damit könnte man ein scheußliches Loch in einen Schädel reißen. Auch wenn ich in meinem momentanen Zustand Mühe habe, den Schürhaken überhaupt anzuheben, ist er besser als nichts.

Als Nächstes suche ich in den Regalen nach etwas Praktischerem, etwas, das sich verbergen lässt. Idealerweise Tarotkarten … Und dann –

»Willst du mich damit angreifen?« Kaelis’ Stimme fährt mir wie ein kalter Hauch über die Haut. Seine Anwesenheit macht mir bewusst, wie nackt ich unter dem papierdünnen Nachthemd bin, das meinen Körper kaum verhüllt.

»Ich habe darüber nachgedacht.« Ich verdränge mein Unbehagen und drehe mich zu ihm um. Kaelis lehnt sich an einen Bettpfosten und mischt lässig sein Kartendeck durch. Die Karten gleiten so mühelos durch seine Finger wie die damit verbundene Drohung, die er nicht aussprechen muss.

»Es freut mich, zu sehen, dass du dich genügend erholt hast, um wieder dein übliches erbärmliches Auftreten an den Tag zu legen.«

Ich gehe nicht auf seine Beleidigung ein. »Warum bin ich hier?«

»Du bist nicht in der Position, Fragen zu stellen.«

»Sagt es mir, verdammt noch mal.« Meine Finger umklammern das Eisen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich dem Mörder meiner Mutter ins Gesicht sehe. War es wirklich Kaelis, der befohlen hat, ihr Seil zu durchtrennen? Er ist für alle Arkanisten und die für sie geltenden Gesetze zuständig.

»Achte auf deine Ausdrucksweise, Clara. So spricht man nicht mit einem Prinzen. Daran wirst du arbeiten müssen.«

»Ihr werdet mich sowieso töten, was spielt es da noch für eine Rolle?« Ich zucke mit den Achseln, als wäre mein Leben zu verlieren kaum mehr als eine triviale Angelegenheit. »Zumindest werde ich sterben, ohne Euch in die Karten zu spielen.«

»Hast du das nicht schon getan?« Er meint meinen Fluchtversuch. Verdammter Mist. Mein Argwohn war begründet. Aber selbst wenn ich es mit Bestimmtheit gewusst und nicht nur vermutet hätte, hätte ich trotzdem mein Glück versucht und die Flucht gewagt.

»Ich besitze zu viel Würde, um es noch einmal dazu kommen zu lassen«, reize ich ihn, damit er mir seinen Plan verrät. Denn wenn er es darauf abgesehen hätte, mich zu töten, wäre ich nicht hier.

»Würde? Die Frau, die durch Gebirgstunnel gekrochen ist und in Hinterhöfen nach Essbarem gesucht hat, behauptet, Würde zu besitzen?« Er schnaubt. »Verzeih mir, ich wusste nicht, dass ich mit der Königin der Ratten spreche.«

»Lieber bin ich die Königin der Ratten als der König der Schlangen«, stichele ich. Mein Leben lang habe ich Geschichten über die Oricalis gehört, seine Familie. Ich habe erlebt, wie sie über das Königreich von Oricalis herrschen. Ich habe die glitzernden Türme der Reichenviertel von Eclipse gesehen und die armseligen Hütten in ihrem Schatten – voller Menschen, die hungrig waren, froren und sich nach einem Moment des Mitgefühls sehnten.

Er zieht die Augenbraue hoch. »Nun, dieser Logik zufolge passen wir tatsächlich gut zusammen, denn du bist meine liebste Beute.«

Ich umklammere den Schürhaken noch fester und ignoriere bewusst das unwillkürliche Zittern meiner Muskeln, dem ich nicht Einhalt gebieten kann. Ich habe keine Karten und keine Macht gegen ihn. Nichts, um mich zu verteidigen, außer meiner schwindenden Kraft und einem Schürhaken. Prinz Kaelis hingegen könnte mir mit einem Fingerschnippen das Fleisch von den Knochen schälen, wenn er wollte. Es hilft nichts, für den Moment muss ich mich fügen.

»Na gut.« Klappernd lasse ich den Schürhaken zu Boden fallen und halte ihm kapitulierend die ausgestreckten Handflächen hin. »Warum bin ich noch immer am Leben?«

»Jetzt stellst du die richtigen Fragen.« Er stößt sich vom Bettpfosten ab, verstaut seine Karten in der Tasche und geht auf mich zu. Kurz denke ich darüber nach, mit den Zehen nach dem Schürhaken zu angeln, um herauszufinden, ob ich nicht doch genug Kraft habe, ihm den Haken ins Brustbein zu rammen. Wahrscheinlich nicht. Und mir ist auch bewusst, dass er mit einem bloßen Gedanken eine Karte aus seiner Tasche beschwören könnte; meine Sicherheit ist eine Illusion. Aber es wäre ein befriedigendes Experiment. »Ich brauche dich.«

»Ihr? Braucht mich?« Jetzt schnaube ich.

»Was glaubst du, warum ich dich sonst aus dem Gefängnis befreit hätte? Warum ich dich nicht dort sterben ließ?« Das Funkeln in seinen Augen verrät mir, dass er nicht lügt. Ein Gefängnis, in das Ihr mich gesteckt habt, will ich sagen. Der Prinz kommt noch einen Schritt näher, also mache ich einen Schritt zurück und stoße an die Wand neben dem Kamin. »Was weißt du über die einundzwanzigste Tarotkarte?«

Die einundzwanzigste Tarotkarte? Es gibt sechsundfünfzig Karten in den Kleinen Arkana, vierzehn von jeder Farbe, und zwanzig Karten in den Großen Arkana, den berühmten Narren nicht mitgezählt – dieser ist der Anfang von allem und daher mit Null nummeriert. Es sei denn …

»Die einundzwanzigste Tarotkarte ist nichts weiter als ein Mythos.«

Mutter hat uns Legenden über die einundzwanzigste Tarotkarte erzählt: die Welt. Die Geschichten besagen, dass die Karte dem, der sie einsetzt, die Macht gibt, alles zu verändern – wirklich alles. Sie ist wie die Neun der Kelche, nur unendlich viel mächtiger. Eine Karte, die so machtvoll ist, dass sie die Realität abwandeln und die Welt selbst ändern kann. Doch eine solche Karte ist nur ein Traum …

»Ich versichere dir, dass sie das nicht ist.« Kaelis ragt jetzt bedrohlich über mir auf. »Denk doch, was du bewirken könntest, wenn du die Welt in Händen hieltest.«

Und das tue ich. Bevor ich mich bremsen kann, stelle ich mir vor, wie ein sorgfältig formulierter Wunsch und die mysteriöse Karte, bekannt als die Welt, mich zur mächtigsten Arkanistin machen könnte, die je existiert hat. Ich könnte mir ganz Eclipse untertan machen – das gesamte Königreich. Ich würde Kaelis und seine Familie vernichten. Ich könnte meine Mutter wieder zum Leben erwecken, und niemand würde mir oder denen, die mir am Herzen liegen, jemals wieder etwas zuleide tun.

Kaelis taxiert mich aufmerksam. Im flackernden Feuerschein glänzen seine Augen, als könne er all meine Gedanken lesen, auch diejenigen, die sich um seinen Tod drehen. Doch je mehr ich gegen ihn ankämpfe, desto mehr scheint es ihn zu erfreuen.

»Möchtest du sie haben?« Seine Stimme ist nur noch ein Flüstern, in dem große Entschlossenheit liegt.

»Sie existiert nicht.«

»Doch, tut sie. Und du, Clara, bist der entscheidende Schlüssel, um sie zu bekommen.«

»Wie bitte?« Der Mann hat den Verstand verloren.

»Du wirkst überrascht.« Das kleine, arrogante Grinsen, das die ganze Zeit schon auf seinem Gesicht liegt, wird breiter. »Bist du nicht die Meisterdiebin, von der es heißt, dass sie alles beschaffen kann? Die Frau, die antike Tuschpinsel aus dem erhabenen Museum von Oricalis gestohlen hat? Die illegale Tarotkarten und Ungezeichnete Arkanisten durch ganz Eclipse und auch noch anderswohin geschmuggelt hat? Und all das vor ihrem zwanzigsten Geburtstag?«

»Wie ich sehe, eilt mir mein Ruf voraus«, stoße ich spöttisch hervor, obwohl meine Kehle so trocken ist wie die riesige Wüste im Osten des Königreichs.

Er aber fährt fort, als wäre meine Stimme von den zunehmenden Schatten verschluckt worden. »Dieselbe Frau …« Mit einer langsamen, bedächtigen Bewegung stemmt Kaelis die flache Hand gegen die Wand direkt neben meinem Kopf. Dann beugt er sich noch näher zu mir, bis mir nicht mehr genug Luft zum Atmen bleibt. Es gibt nur noch ihn, der mit der Überpräsenz seiner Gestalt alles in mir in Erregung versetzt.

»Dieselbe Frau, von der es heißt, dass sie jede Tarotkarte mit jeder erdenklichen Tinte anfertigen kann? Ein so unglaubliches Kunststück, dass es in der Unterwelt von Eclipse schon legendär ist. Verrat es mir, Clara: Wie hast du es in Halazar geschafft, allein mit dem Farbpulver für Schwerter auch Münzen und Kelche für deine Flucht zu tuschen?«

»Ihr … Ihr habt dafür gesorgt, dass es dort nur das Pigment für Schwerter gab«, stelle ich fest.

Kaelis’ Blick droht mich ganz zu verschlingen, obwohl das Feuer, das in seinen Augen glüht, teilweise von welligen Haarsträhnen verdeckt wird. Man hat mich benutzt. Getestet. Meine Flucht … Nein, schon davor. Der Aufseher hat mich gezwungen, alle möglichen Tarotkarten fast ohne Materialien anzufertigen. Kaelis hätte mich von Anfang an töten können, wenn er gewollt hätte. Vielleicht war meine komplette Gefangenschaft ein Test – seit jener Nacht, in der man mich gefangen genommen hatte.

»Was habt Ihr mit mir vor?«, kehre ich zu meiner ursprünglichen Frage zurück.

»Ich wollte wissen, ob du es wirklich in dir hast, Clara.« Er betrachtet mich unter seinen langen Wimpern. »Ich wollte herausfinden, ob du nicht nur das Talent, sondern auch den Biss hast, um zu überstehen, was als Nächstes kommt. Nämlich, mir die Welt zu verschaffen.«

»Ich werde Euch niemals helfen«, sage ich wütend.

»Blühe auf in meiner Welt oder stirb in deiner. Hilf mir und du wirst belohnt. Kämpf gegen mich, und alles – und jeder –, der dir lieb und teuer ist, wird auf eine Weise vernichtet, die deine schlimmsten Vorstellungen übersteigt.« Es ist ein Versprechen, keine Drohung.

Vor meinem inneren Auge sehe ich Arina. Sie ist hier in der Akademie, unter Kaelis’ Kontrolle. Ich denke auch an meine Leute im Club, über die er wahrscheinlich ebenfalls Bescheid weiß.

Wie eine Viper schießt meine Hand an seine Kehle. Ich grabe die Finger tief in seine gespenstisch blasse Haut. Obwohl ich in meinem Jahr in Halazar nicht ein Mal die Sonne gesehen habe, ist meine Haut immer noch etwas dunkler als seine. Kaelis verzieht spöttisch die Lippen.

»Wagt es ja nicht«, flüstere ich. Doch als ich fester zudrücke, zittern meine Finger. Er kann fühlen, wie schwach ich bin. Gehörte es auch zu seinem Plan, mich in einen solchen Zustand zu versetzen?

»Dann tu genau das, was ich sage.« Seine Stimme klingt völlig klar, trotz meines erbärmlichen Versuchs, ihn zu würgen. Ich habe nicht einmal die Kraft, seine Worte zu einem Keuchen zu dämpfen.

Ich will ihn brechen. Ich will seinen Hals so lange zusammenpressen, bis seine Augen hervortreten. Es ist mir egal, welche Folgen das für mich hat: Mein Leben ist ohnehin verwirkt. So viel ist offensichtlich. Prinz Kaelis ist dafür bekannt, sein Spielzeug stets zu zerstören.

Ohne Vorwarnung springen die Flügel der großen Tür mit einem solchen Krachen auf, dass die Fensterscheiben klirren. Es gibt einen Lichtblitz und das magische Zischen einer Tarotkarte. Den tiefen Furchen im Türrahmen nach zu urteilen, muss es wohl eine Karte aus der Farbe der Schwerter gewesen sein.

Ein Mann steht im Türrahmen. Er hat dunkles Haar und schwarze Augen wie Kaelis, denselben Hautton und dieselbe arrogante Ausstrahlung.

Doch in allem anderen sind die beiden völlig gegensätzlich: Dieser Mann trägt einen gut geschnittenen Mantel aus goldenem Stoff mit einem weißen Hemd und einer weißen Hose. Seine Stiefel haben einen warmen Honigton. Selbst der Schwertanhänger an der Kette um seinen Hals ist anders. Er besteht aus strahlendem Silber, das trotz der schwachen Beleuchtung so hell glänzt, dass ich es von hier drüben sehen kann.

Entsetzt lasse ich Kaelis los. Denn der Mann ist Prinz Ravin, Thronerbe von Oricalis und Regent von Eclipse.

Kaelis richtet sich auf, immer noch lässig, als hätte ich nicht gerade versucht, ihn zu erwürgen. »Hallo, Bruder. Hast du schon mal was von Anklopfen gehört?«

»Als ob du mir die Tür aufmachen würdest.« Ravins Blicke huschen zwischen mir und Kaelis hin und her. »Was treibst du da?«

Ich bin nicht sicher, an wen die Frage gerichtet ist, deshalb halte ich den Mund. Vor allem, weil ich keine Ahnung habe, ob Ravin meine Hand am Hals seines Bruders gesehen hat.

»Dasselbe könnte ich dich fragen.« Kaelis’ Ton lässt darauf schließen, dass die Brüder sich nicht besonders nahestehen.

»Ich bin hier, um dir mitzuteilen, was ich soeben von Glavstone erfahren habe: Jemand ist aus Halazar entflohen.«

Mir gefriert das Blut in den Adern, vor allem, als Ravins Blick auf mich fällt.

»Und inwiefern sollte mich das kümmern?«, fragt Kaelis gedehnt und schafft es, gereizt und gelangweilt zugleich zu klingen.

»Es war eine illegal arbeitende Arkanistin. Zelle zweihundertfünf.« Meine Zellennummer. »Die Angelegenheit muss ernst genommen und unter Ausschöpfung aller Gesetze untersucht werden.«

»Das wird sie bestimmt. Ich bin mir sicher, dass Glavstone sich darum kümmert.«

»In der Tat. Ich habe Wärter aus Halazar abgezogen, damit sie ganz Eclipse durchkämmen können.«

»Gut gemacht.« In Kaelis’ Stimme schwingt Herablassung mit.

»Als Nächstes kommen sie hierher.«

»Bemerkenswert.« Kaelis zuckt mit den Schultern.«

Ravins Erregung nimmt angesichts der so deutlich zur Schau gestellten Entspanntheit seines jüngeren Bruders weiter zu. »Ich gehe davon aus, dass du ihnen erlaubst, eine Durchsuchung durchzuführen, da die Türen der Akademie heute Abend ohnehin offen sind.«

»Ja, selbstverständlich.« Kaelis richtet seinen Fokus demonstrativ wieder auf mich. Eine Mischung aus Entsetzen und Angst lässt mich stocksteif dastehen. Ich weiß nicht, wo ich hinschauen soll. Und ich wünschte, ich hätte mehr als diesen Fetzen von einem Nachthemd, um mich zu bedecken. »Und jetzt, sofern es dir nichts ausmacht: Ich bin beschäftigt.«

»Womit denn?« Ravins Aufmerksamkeit ist unangenehmer als der grelle Lampenschein in den Tiefen von Halazar.

»Ich informiere die neueste Anwärterin der Akademie darüber, was bei den Feuerfestspielen heute Abend von ihr erwartet wird.«

Das ist heute Abend? Das bedeutet, heute ist der erste Tag der Stäbe, mein Geburtstag. Schlimmster Geburtstag aller Zeiten.

»Anwärterin?«, fragen Ravin und ich fast gleichzeitig.

»Ist sie nicht zu alt, um eine Anwärterin zu sein? Eine Anwärterin in einem Nachthemd?«, schiebt Ravin hinterher.

»Das klingt, als wäre ich uralt«, murmele ich empört vor mich hin. Ich bin heute einundzwanzig geworden. Wobei ich nach meiner Zeit in Halazar wahrscheinlich wie achtzig aussehe.

Trotzdem: Mit einundzwanzig hat man die Grenze genau genommen schon überschritten … Alle Arkanisten im Königreich Oricalis müssen der Akademie in ihrem zwanzigsten Lebensjahr beitreten. Dieser Zeitrahmen spiegelt die zwanzig Trumpfkarten wider – ein Jahr für jeden Trumpf – und folgt der Überzeugung, dass die Fähigkeiten eines Arkanisten erst dann reifen können, wenn er ein Jahr für jeden Trumpf gelebt hat.

Diejenigen, die sich weigern, der Akademie beizutreten, oder die von Stadtwachen entdeckt werden, während sie als Arkanisten im Verborgenen wirken, werden automatisch Gezeichnet und zu den Pulvermühlen geschickt. Die Akademie bietet die Chance auf ein besseres Leben, wenn man es schafft, aufgenommen zu werden. Allerdings … scheitern die meisten bei den Prüfungen im ersten Schuljahr oder sterben dabei.

»Heute ist ihr Geburtstag.« Ein klebriges Gefühl breitet sich auf meiner Haut aus bei Kaelis’ Bemerkung. Er hat sich offensichtlich über mich informiert.

»Dann hätte sie letztes Jahr in die Akademie eintreten müssen. Ich weiß ja nicht, welche Art von Unterhaltung sie dir bietet, aber dein Vergnügen steht nicht über dem Gesetz.«

»Da bin ich anderer Meinung«, erwidert Kaelis scherzhaft. Sein Spott lässt eine Ader an Ravins Schläfe hervortreten.

»Zeichne sie mit dem Mal und schicke sie zu einer Mühle. Oder töte sie. So oder so, erledige das.« Wieder streift mich Ravins Blick und er verzieht die Lippen.

»Für Adlige gelten Ausnahmen«, entgegnet Kaelis. »Es ist schon häufiger vorgekommen, dass der Sohn oder die Tochter eines Adligen der Akademie ein wenig verspätet beitritt, damit er oder sie zunächst ihre andere Ausbildung beenden kann.«

»Sie ist keine Adlige.« Dass Ravin sich so sicher zu sein scheint, bereitet mir Unbehagen.

»Doch, ist sie.« Kaelis greift in seine Manteltasche und zieht ein zusammengefaltetes Stück Papier heraus. Es ist vergilbt und an den Rändern eingerissen. Er geht auf seinen Bruder zu. »Denn es ist so, dass ich einige Nachforschungen betrieben habe. Du weißt ja … welche Schuldgefühle mich während der vergangenen fünf Jahre geplagt haben.« Die Worte hängen schwer in der Luft, weil so viel unausgesprochen bleibt.

Vor fünf Jahren … Keiner kennt die ganze Wahrheit, was an dem Tag geschah, als der Eremiten-Clan vernichtet wurde. Die offizielle Version lautet, dass der adlige Clan gegen die Krone aufbegehrte und Kaelis ihn daraufhin mit unfassbarer Macht zerstört hat. Unschuldige Menschen. Zahllose Menschenleben. Ausradiert von Kaelis’ Hand, der eine so umfassende und furchterregende unbekannte Magie einsetzte, dass es Gerüchte gab, es könnte sich nur um eine umgekehrte Karte gehandelt haben. Eine unnatürliche Macht, die eigentlich nicht existieren sollte. Denn was könnte es sonst gewesen sein?, raunten und tuschelten die Leute.

»Du hast Nachforschungen über den Eremiten-Clan angestellt?« Ravin wirkt halb schockiert, halb zweifelnd.

»Ich habe mich gefragt, ob vielleicht jemand überlebt hat.« Kaelis reicht seinem Bruder das Dokument. Von dort, wo ich stehe, kann ich es nicht lesen, doch als Kaelis fortfährt, werden die Leerstellen gefüllt. »Wie du dem Schriftstück entnehmen kannst, ist das hier Clara Redwin, eine sehr entfernte Nichte der High Lady Hannah Tymespun – ihre Blutlinie ist so weit verwässert, dass sie an jenem schicksalhaften Tag verschont blieb und jetzt die letzte lebende Erbin des Eremiten-Clans ist.«

Bei den Zwanzig, wovon spricht er bloß? Als ich gefangen genommen wurde, lebte ich unter dem Namen Graysword. Und davor befahl Mutter Arina und mir, als Nachname Daygar anzugeben. Redwin ist mir vollkommen neu.

Als Kaelis wieder auf mich zukommt, bin ich viel zu verblüfft, um etwas zu sagen. In seinen dunklen Augen ist jetzt das gleiche Funkeln zu sehen wie in dem Moment, in dem er mich in Halazar in dem Zimmer allein gelassen hat. Dann hebt er das Kinn und verschränkt seine Finger mit meinen. Es ist eine seltsam intime Geste, und das Einzige, was mich davon abhält, ihn von mir zu stoßen, ist der pure, alles lähmende Schock über das, was als Nächstes kommt: »Was bedeutet, dass sie als Adlige und zukünftige Oberste Lady eines Clans mehr als geeignet ist, nicht nur verspätet der Akademie beizutreten, sondern auch meine zukünftige Braut zu sein.«

VIER

Es passiert nicht oft, dass ich zu verdutzt bin, um etwas zu sagen, aber Kaelis hat es geschafft. Ich muss ihn falsch verstanden haben. Ich –

»Was?«, kommt Ravin meiner eigenen Frage zuvor.

»– sagt Ihr da?«, ergänze ich leise knurrend.

»Seit meinem zwanzigsten Geburtstag weist Vater mich unablässig darauf hin, dass es sich für einen Mann meines Alters nicht ziemt, keinerlei Aussichten zu haben. Ich kann sein Gezeter nicht ewig ertragen. Und sollte dir und deiner geliebten Leigh – oder den Nachkommen, die ihr eines Tages zeugt – etwas zustoßen, würde die Krone an mich fallen.«

Obwohl Kaelis ganz sachlich spricht, verdüstert sich Ravins Miene bei der Andeutung, ihm und seiner Frau könnte »etwas zustoßen«.

»Deshalb ist es höchste Zeit«, fährt Kaelis fort, »dass ich meine Pflicht als zweitgeborener Prinz erfülle. Und wie ließen sich alte Wunden besser schließen, als dass ich die letzte lebende Angehörige des Clans, den ich selbst vernichtet habe, zu meiner Braut mache?«

»Genug jetzt mit diesen Spielchen«, blafft Ravin und wirft das Papier beiseite.

»Das ist kein Spielchen«, entgegnet Kaelis feierlich. »Ich habe sie gebeten, auf die Vier der Stäbe zu schwören, mich zu heiraten. Sie hat Ja gesagt und den Schwur abgelegt. Es ist also bereits passiert.« Nichts davon ist geschehen, aber ich bleibe stumm.

Möchte ich mit dem Prinzen verlobt sein? Bei den vier Farben und allen Trümpfen: Nein. Aber ich möchte noch viel weniger Gezeichnet oder zurück nach Halazar geschickt werden. Deshalb halte ich meine Finger mit seinen verschränkt und achte nicht auf den Geschmack von Erbrochenem in meiner Kehle. »Der Einzige, der hier ein Spiel spielt, bist du, finde ich. Weil du weiterhin regelmäßig unerlaubt in meiner Akademie auftauchst, ohne dass ich dich eingeladen hätte.«

Mit wenigen großen Schritten durchquert Ravin den Raum. Kaelis’ Griff wird fester, als wollte er mich davon abhalten, davonzulaufen. Mit wütendem Blick bleibt der ältere Prinz vor uns stehen.

Von Nahem erkenne ich die Unterschiede zwischen den Brüdern. Sie sind fast gleich groß – es ist unmöglich, zu sagen, wer von ihnen größer ist, ohne sie Rücken an Rücken zu sehen –, aber Ravin ist muskulöser. Seine Lippen wirken etwas voller, obwohl er sie zornig zusammengepresst hat. Seine Augen sind tief dunkelbraun statt schwarz wie die von Kaelis. Und sein Haar hat den Ton von mattschwarzer Tinte. Das von Kaelis ist von einem dunklen Mitternachtsviolett wie die Falkenfedern, die zur Pigmentherstellung benutzt werden – es zeigt die gesamte Bandbreite nächtlicher Schattierungen.

»Ich weiß, dass du lügst«, knurrt Ravin.

Kaelis grinst nur über die Gereiztheit seines Bruders. »Hast du einen Beweis dafür?«

»Lass diesen Unsinn bleiben, bevor ich Vater hinzuziehe.«

»Bevor du Vater hinzuziehst«, wiederholt Kaelis mit einem spöttischen Lächeln. Dann senkt er die Stimme zu einem Flüstern. »Nur zu. Zieh ihn mit hinein. Versuch ruhig, meine Behauptung zu widerlegen, was Claras Abstammung betrifft, mit oder ohne seine Hilfe. Aber solange deine Nachforschung läuft, untersteht sie mir und meinem Schutz, vor allem nach dem heutigen Abend.«

Ravin spannt den Unterkiefer an und die Muskeln an seiner Wange treten hervor. Wieder schießt sein Blick zu mir. Einen Moment lang denke ich, dass er mich direkt ansprechen wird. Obwohl ich keine Ahnung habe, was er wohl sagen könnte. Schließlich stößt der erstgeborene Prinz ein angewidertes Schnauben aus. Dann verschwindet er ohne ein weiteres Wort und knallt mit so viel Wucht die Türen hinter sich zu, dass ich fast zu spüren meine, wie die uralten Fundamente der Arcana Academy erzittern.

Im selben Moment, in dem wir wieder allein sind, lässt Kaelis mich eilig los. Zumindest können wir uns auf gegenseitige Abneigung einigen.

»Wir müssen dich so schnell wie möglich als offizielle Novizin einschreiben und deinen neuen Namen unter den anderen Adligen verbreiten.« Kaelis zieht ein Taschentuch hervor und wischt sich damit die Finger ab, so als wolle er meine Spuren von sich tilgen. »Ehe Gefängniswärter oder Stadtwachen hier ankommen oder Ravin eine weitere Idee ausbrütet, wie er sich in meine Akademie einmischen kann.«

Ich sehe dem Prinzen in die Augen. »Ich kann nicht behaupten, dass er es ist, der mir Sorgen bereitet.«