Archipel der Leidenschaften - Charlotte Casiraghi - E-Book

Archipel der Leidenschaften E-Book

Charlotte Casiraghi

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Beschreibung

Charlotte Casiraghi, Tochter von Prinzessin Caroline von Monaco, und ihr Lehrer Robert Maggiori nehmen den Leser im vorliegenden Buch mit auf eine Philosophische Reise in die Welt der Gefühle, die sie auf einer imaginären Landkarte verorten. Zwischen den beiden Polen der positiven und negativen Empfindungen vermessen sie 40 verschiedene Arten von Emotionen und Gemütszuständen - von Liebe, Hass, Gier und Geiz über Ekstase, Eifersucht, Melancholie und Wut. So entsteht eine geistreiche, kurzweilige Kartographie der Leidenschaften, die zum Nach- und Weiterdenken anregt.

Eine Schülerin, ein Lehrer, ein Treffen, unzählige Diskussionen - und schließlich der Gedanke, die im Gespräch entwickelten Ideen aufzuschreiben. Entstanden ist ein tiefsinniger und dabei wunderbar unterhaltsamer Dialog, der sich des poetischen Bildes eines "Archipels der Leidenschaften" bedient. Denn Charlotte Casiraghi und Robert Maggiori stellen sich vor, dass unsere Gefühle und Stimmungen kleine Inseln bilden, die innerhalb eines fest umrissenen Bereichs von einem magnetischen Strom des Verlangens umflossen werden, der sie alle zusammenhält.

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Veröffentlichungsjahr: 2019

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Charlotte CasiraghiRobert Maggiori

ARCHIPELDERLEIDENSCHAFTEN

Kleine Philosophie der großen Gefühle

Aus dem Französischen von Grit Fröhlich, André Hansen und Ruth Karzel

C.H.Beck

ZUM BUCH

Eine Schülerin, ein Lehrer, ein Treffen, unzählige Diskussionen – und schließlich der Gedanke, die im Gespräch entwickelten Ideen aufzuschreiben. Entstanden ist ein tiefsinniger und dabei wunderbar unterhaltsamer philosophischer Dialog, der sich des poetischen Bildes eines Archipels der Leidenschaften bedient. Denn Charlotte Casiraghi und Robert Maggiori stellen sich vor, dass unsere Gefühle und Stimmungen kleine Inseln bilden, die innerhalb eines fest umrissenen Bereichs von einem magnetischen Strom des Verlangens umflossen werden, der sie alle zusammenhält. Zwischen den beiden Polen der positiven und negativen Empfindungen vermessen sie 40 verschiedene Arten von Emotionen und Gemütszuständen – von Liebe, Hass, Gier und Geiz über Ekstase, Eifersucht, Melancholie und Wut. So entsteht eine geistreiche, kurzweilige Kartographie der Leidenschaften, die zum Nach- und Weiterdenken anregt.

ÜBER DIE AUTOREN

Charlotte Casiraghi ist Gründungsdirektorin des philosophischen Instituts Les Rencontres Philosophiques de Monaco.

Robert Maggiori ist Philosoph und Literaturkritiker für Libération. Er ist Mitbegründer von Les Rencontres Philosophiques de Monaco.

INHALT

VORWORT – DIE DUNKLE NACHT DER LEIDENSCHAFTEN

ERSTER TEIL: GUTE ABSICHTEN

LIEBE

FREUNDSCHAFT

BRÜDERLICHKEIT

KAMERADSCHAFTLICHKEIT

WOHLWOLLEN

GÜTE

MITGEFÜHL

FREUNDLICHKEIT

BESCHEIDENHEIT

ERBARMEN

BEWUNDERUNG

ANBETUNG

ZWEITER TEIL: INTENSIVE GEFÜHLE UND AFFEKTE

EKSTASE

FREUDE

VERTRAUEN

MUT

GEDULD

SANFTHEIT

LANGEWEILE

MÜDIGKEIT

SEHNSUCHT

TRAURIGKEIT

FURCHT

ANGST

MELANCHOLIE

EKEL

SCHAM

HOCHMUT

STOLZ

ZORN

GEWISSENSBISSE

SCHULD

DRITTER TEIL: BÖSARTIGE BESTREBUNGEN

LÄSTEREI

KNAUSRIGKEIT

SPOTT

BOSHAFTIGKEIT

EIFERSUCHT

ARROGANZ

GRAUSAMKEIT

HASS

NACHWORT – LEIDENSCHAFTLICHKEIT ODER FLUCHT

LITERATUR

VORWORTDIE DUNKLE NACHT DER LEIDENSCHAFTEN

ERSTER TEILGUTE ABSICHTEN

LIEBE

FREUNDSCHAFT

BRÜDERLICHKEIT

KAMERADSCHAFTLICHKEIT

WOHLWOLLEN

GÜTE

MITGEFÜHL

FREUNDLICHKEIT

BESCHEIDENHEIT

ERBARMEN

BEWUNDERUNG

ANBETUNG

ZWEITER TEILINTENSIVE GEFÜHLE UND AFFEKTE

EKSTASE

FREUDE

VERTRAUEN

MUT

GEDULD

SANFTHEIT

LANGEWEILE

MÜDIGKEIT

SEHNSUCHT

TRAURIGKEIT

FURCHT

ANGST

MELANCHOLIE

EKEL

SCHAM

HOCHMUT

STOLZ

ZORN

GEWISSENSBISSE

SCHULD

DRITTER TEILBÖSARTIGE BESTREBUNGEN

LÄSTEREI

SPOTT

BOSHAFTIGKEIT

EIFERSUCHT

ARROGANZ

GRAUSAMKEIT

HASS

NACHWORTLEIDENSCHAFTLICHKEIT ODER FLUCHT

Für meinen Bruder Joseph †

Für meinen Vater Stefano †

VORWORT

DIE DUNKLE NACHT DER LEIDENSCHAFTEN

Intensität, Intensität in der Einheit, das braucht es unbedingt. Ab einer gewissen Schwelle – doch nicht vorher – ist ein Gefühlsgedanke gültig, er gilt anders, gilt wirklich und ergreift Macht. Er könnte sogar ausstrahlen …

Henri Michaux, «Pouvoirs»

Manchmal bleiben ein Lehrer und eine Schülerin verbunden. Zwar gehen sie auseinander, und jeder folgt dem eigenen Weg, doch die Verbindung bleibt, weil das, was sie voneinander gelernt und untereinander ausgetauscht haben, weiter wächst und reift. So war es bei uns. Aus einer Begegnung wurde eine Freundschaft, denn die Begegnung war echt und wurde zum Anfang einer Geschichte. So gingen das Lernen und der Austausch auch nach der Universität weiter, wurde Tag für Tag reicher durch unendliche Diskussionen, leidenschaftliche Gespräche, verrücktes Lachen – auch in diesem Moment, wo wir gerade mit ungeschickten Händen versuchen, eine Salami aus den Abruzzen in Scheiben zu schneiden –, Abschweifungen vom Thema, Lektüren, Gerede, echte polemische Debatten und gespielter Streit …

– Ach, du nervst mich mit deinen Jankélévitch-Zitaten …

– Und du zitierst ständig Psychoanalytiker oder Gedichte …

– Ich möchte, dass du verstehst, aus welchem Stoff Gefühle sind, denn sie sind keine rein intellektuellen Konstruktionen, sondern gehen durch den Körper und die Sinne. Schau, wenn wir zum Beispiel die Ekstase nehmen …

– Gut, hör auf, das sehen wir später …

Eines Tages kam uns die Idee aufzuschreiben, was in unseren Dialogen keimte. Häufig gingen unsere Gespräche in alle möglichen Richtungen, kamen aber immer wieder auf die Frage des Sinnlichen zurück, auf das, was uns berührt, auf die Grenzen oder das Fehlen von Grenzen zwischen den Gefühlen, ihre Logik, ihre Irrung zuweilen …

– Warum gibt es eigentlich kein Wort für das, was zwischen Liebe und Freundschaft liegt?

– Gilt das auch für andere Sprachen?

– Müsste man recherchieren …

– Das wird ganz schön anstengend, vierhändig zu schreiben, oder?

Wir wollten nichts beweisen, niemandem irgendeinen Rat geben, keinerlei Regeln aufstellen, wir wollten weder werten noch den Anspruch erheben, wir könnten lehren, wie man Leidenschaften beherrscht, wir wollten weder unterscheiden, was gut oder schlecht sei, noch sagen, wie es einem besser gehe …

– Aber «Rezepte zum Glück» klingt trotzdem gut!

– Ja, das stimmt schon, aber mir sind Kochbücher lieber …

Wir waren auch der Meinung, dass die Philosophie – denn ihr verdanken wir unsere Begegnung und dass es weiterging zwischen uns – nicht einfach eine konzeptuelle Sache sein konnte, sondern dass sie im Boden des Sinnlichen, des Gefühls und Affekts, der Empfindung, des seelischen Zustands wurzelt, ja im manchmal geheimnisvollen Bereich der Erinnerungen und Träume, anders gesagt, dass sie erlebt und gelebt, nicht nur gedacht wird und dass es interessant sei, den Moment zu begreifen, da ein Affekt, von einem unbestimmbaren, gewissen Etwas, einem Je ne sais quoi, berührt, einerseits abdriftet, sich verwandelt, ein Anderer wird und andererseits in Leidenschaft kippt, sich entzündet, einen mitreißt, ins Unbekannte und Unbeherrschbare entführt.

Wir haben also Inseln entworfen.

Wenn das gesprochene und geschriebene Wort wie die Zeit fließen könnte, hätten wir versucht einen Archipel darzustellen, mit seinen Meeresstraßen und Landengen, seinen Riffen und Rinnen, den Wellen und Strömungen, die auseinanderfließen, zusammenfließen, sich vermischen … Statt einer Kartographie der Leidenschaften hätten wir eine Strömungslehre entwickelt, die sich mit der fließenden Dynamik von Leidenschaften, Gefühlen, Affekten und Empfindungen beschäftigt.

– Ist Leben nicht erfahren, das heißt spüren oder fühlen?

– Ja, so könnte man sagen. Doch Fühlen muss man so verstehen wie die spanische Philosophin María Zambrano, als eine Fähigkeit, die wir sind, die ursprünglicher ist als die Fähigkeiten, die wir haben, wie etwa das Denken.

Jeder kennt diese Erfahrung: Was man spürt, eröffnet bei seinem Ausbruch Felder unterschiedlicher Stärke in uns und vor uns, die sich weder eindeutig benennen noch beherrschen lassen, nicht nur, weil sie im Fluss sind, man also die Ufer des gerade Erlebten wahrnimmt, während man bereits die Umrisse des gleich zu Erlebenden schon erahnt, sondern sie zeigen sich – oder, besser gesagt, entziehen sich – in Form von Verflechtungen aus Empfindungen und Gefühlen, Gedanken und Träumereien, Phantasien und Leidenschaften. Nichts steht lediglich klar umrissen für sich. Ein Schmerz beispielsweise ist niemals rein, denn im selben Moment, da man ihn verspürt, wird er bereits vom Denken erfasst, das ihm seine subjektive Wirkung verleiht oder auch nicht, daraus, anders gesagt, sofort ein Leiden macht: Ich weiß noch gar nicht, ob bei diesem Sturz mein Arm gebrochen wurde, doch stelle ich mir schon vor, dass ich verletzt bin, und schreiend vor Schmerz, denke ich an die Probleme, die ich haben werde zu arbeiten. Ebenso ist kein Denken jemals völlig abstrakt; es denkt nur, wenn er durch Schmerz, Erinnerungen, Müdigkeit, Lust oder Krankheit berührt, also befreit, behindert, beschwert, verfinstert oder erhellt wird, sogar durch ein einfaches Niesen, von dem William James sagte, dass es einen Moment lang alle Seelenzustände verblassen lasse. Mit anderen Worten, der Ausdruck von Affekten, Stimmungen, Leidenschaften und Gefühlen kennt keinen Punkt, noch weniger Grammatik oder Syntax. Er lässt sich auch nicht in einem Notensystem fassen, in dem man die einzelnen Noten zumindest hintereinander lesen kann, ehe ihre Töne ineinander verschmelzen.

– Bergson sagt etwas Ähnliches am Anfang seines Buchs Schöpferische Evolution …

– Ja, wir sollten ihn zitieren. Er schreibt über psychologische Zustände, «daß sie keine gesonderten Elemente sind. Sie setzen einander fort in einem endlosen Fließen. […] ein Fließen flüchtiger Nuancen […], die ineinandergreifen».Tatsächlich folgt nicht eins aufs andere; alles ist verschlungen, überlagert sich. Nicht nur, dass ein Gefühl wie ein Willensakt vorläufig ist und man von einem zum anderen wechselt, sondern die Gefühle vermischen sich, verwandeln sich unter der Hand und unerwartet in ein anderes. Es gibt keinen Ekel, in den sich nicht auch Faszination mischt, die einen anzieht. Es gibt keinen Hass, der nicht auch ein Fünkchen Liebe enthält, keine Zärtlichkeit, die nicht auf Grausamkeit folgt oder ihr vorausgeht, denn das eine Gefühl ist bereits da, wenn das andere noch meint, sich zu entwickeln. Es ist diese Aufeinanderfolge von Empfindungen, Gefühlen, Repräsentationen und Willensakten, die das Gefühlsleben ausmacht, das Sinnesleben, also kurzum das Leben, denn auch das logische Denken und die Vorstellungskraft werden durch die Gefühle beeinflusst. Manchmal kann man schlecht denken, nicht weil es einem an Ideen mangele, sondern einfach, weil einem kalt ist.

– In der Geschichte der Philosophie wollte man ständig Körper und Geist trennen, das Physische und das Psychische. Man hat versucht, Grenzen zwischen dem, was man als Affekte bezeichnete, und dem, was man Empfindung, Gefühl oder Emotion nannte, zu ziehen …

In dieser laufenden Verflechtung von Gegensätzen und Nuancen erlebter Erfahrung ist es schwer, den Punkt ausfindig zu machen, der die Gefühle eint oder unterscheidet (zumal sich auch ihre Intensität und Dichte ständig verändert), den Moment zu erfassen, an dem sie kippen, eine Grenze zu ziehen, jenseits welcher jene Emotion, jenes Begehren, jener Trieb, jene Stimmung sich ins jeweilige Gegenteil oder ein angehöriges Gefühl verwandelt. Und doch legen wir einen unwirklichen und unvorhersehbaren Raum frei, in dem wir dem Gefühlsleben begegnen können, als bestünde es aus einzelnen Momenten und Affekten, die man mühelos unterscheiden und erkennen könnte. Bin ich mir wirklich sicher, nicht auch Liebe zu empfinden, wenn ich jemanden verachte, tatsächlich zu lieben, wenn ich jemanden nur anbete, eifersüchtig zu sein, wenn ich neidisch bin, wohlwollend zu sein, wenn mich nur ein verborgener Egoismus treibt? Angesichts dessen kann man den Versuch doch nur aufgeben, eine Geometrie entwerfen zu wollen, die dem Mitleid, der Ekstase, der Traurigkeit, der Boshaftigkeit, der Grausamkeit, der Freundlichkeit, der Freundschaft, der Scheu, der Klugheit, dem Lästern, dem Mut, der Sanftheit ihren jeweils eigenen Bereich zuschreibt, der von hohen undurchdringlichen Mauern eingehegt wird?

– Wir werden versuchen, so etwas wie einen Archipel des Erlebten sichtbar zu machen … Das ist keine Kleinigkeit!

– Du hast recht, und wir müssen auch auf wohlwollende Leser hoffen, die aufmerksam die manchmal schwankenden Brücken begehen, die von einer Insel zur anderen führen, Leser, die die Strömungen wahrnehmen, die zu einem Ufer hin treiben oder von einem anderen weg und die ohne Regeln von einer Insel zur anderen ziehen …Gestehen wir damit die Unmöglichkeit ein, die Gefühlswelt zu de-finieren, eben weil sie irrational, ungeordnet, überspannt sei und sich in romantischen Ergüssen ergeht?

– Nein.

Gefühle oder Affekte können natürlich in Typologien eingeteilt und durch allgemeine Charakteristiken beschrieben werden, doch komplizierter wird es, wenn sie durch Leidenschaft elektrisiert oder entzündet werden, die das Subjekt in einen Zustand wirft, in dem es vom Taumel ergriffen wird, selbst nicht mehr weiß, wie ihm geschieht, und um sich zu beruhigen, erfindet es Gründe, die es in ein Gefängnis des Unausgesprochenen sperren. Man könnte es eine Logik nennen, doch sie ist kaum sichtbar und schwer zu erkennen, weil sie jedem Subjekt inhärent ist, jeder Art, mit der dieses sich selbst zum Ausdruck bringt, seinen Willen zeigt, jedem Ausbruch seines Begehrens, jedem Hereinbrechen seiner Wunsch- und Wahnvorstellungen, denn diese Logik ist von jenem Dunklen umhüllt, das jedem Menschen innewohnt. Vielleicht ist das vor allem so, weil die «Wahrheit» dessen, was man lebt, niemals in demjenigen steckt, der es lebt, sondern in den Augen, dem Herzen, der Sprache der Anderen; ich kann boshaft sein oder freundlich, knausrig oder großzügig, hasserfüllt oder liebevoll, doch nur der Andere weiß, ob meine Freundlichkeit Freundlichkeit ist, meine Boshaftigkeit Boshaftigkeit, meine Liebe Liebe … Um sich im Archipel der Emotionen und Leidenschaften zu orientieren, muss man auch nach Osten schauen, zur Ethik der fernöstlichen Philosophie.

– Da bekomme ich es ein wenig mit der Angst zu tun. Überall ist von Gefühlen und Leidenschaften die Rede, in den philosophischen Klassikern, Essays, psychologischen Studien, Filmen, Romanen, Liedern …

– Du meinst, wir sollten dem Ozean keinen weiteren Tropfen hinzufügen?

– Ja. Doch es gibt vielleicht einen vernünftigen Grund, sich in ein so unvernünftiges Unterfangen zu stürzen. Findest du nicht auch, dass der Stellenwert von Gefühlen sich ein wenig verändert hat, was übrigens Veränderungen der Gesellschaft und des Zeitgeists entspricht? Der Soziologe Zygmunt Bauman hat dies mit dem Begriff liquid society beschrieben: Eine Gesellschaft bezeichnet man als flüchtig oder verflüssigt, wenn die Situationen, in denen die Menschen sich befinden und handeln, sich verändern und die Handlungsweisen sich nicht zu Verfahren und Gewohnheiten verfestigen können. Eine solche Gesellschaft zeigte sich, als an die Stelle der festen Ära der Produzenten das Zeitalter der Konsumenten trat, wodurch das Leben selbst verflüssigt wurde. Ein frenetisches, ungewisses, prekäres dringliches Leben entstand, und das Individuum verlor die Fähigkeit, etwas Bleibendes aus seinen Erfahrungen zu lernen, weil der Rahmen und die Bedingungen, in denen sie sich ereigneten, sich unaufhörlich weiter verändern. Wir leben nicht mehr in festgefügten, starren Gesellschaften wie in der festen Phase der Moderne mit dem Aufbau von Nationalstaaten mit undurchlässigen Grenzen, einem vertikalen Herrschaftsprinzip, stabilen Institutionen und Informationsmonopolen, wo Parteien und Gewerkschaften eine zentrale Rolle spielten. Vielmehr leben wir in Gesellschaften mit einem weichen Äußeren, die der sich wandelnden und kaleidoskopischen Moderne entsprechen, dem Multikulturalismus, der Vermischung der Bevölkerung, dem virtuellen Verschwinden räumlicher Distanzen, der Kommunikation in Echtzeit, ständig präsenter Internetverbindungen, die unablässig Veränderungen bringen.

– In einem solchen Kontext weiß man überhaupt nicht mehr, was wichtig ist.

– Es ist nicht mehr so wichtig, was die Wirklichkeit verändert. Sie scheint sich von allein ständig zu verändern, sich im Fluss der Informationen zu verflüchtigen. Wichtiger ist vielmehr das, was im Gedächtnis bleibt, was in gewisser Weise die Zeit anhält oder eine Minute des Schweigens auslöst.

– Die Emotionen bleiben im Gedächtnis.

Am wichtigsten ist das Ereignis, welches mehr als andere das öffentliche Empfinden prägt, die meisten Emotionen und die größte Aufregung hervorruft. Das erklärt auch, warum laut einer Studie des französischen Rundfunkarchivs INA innerhalb von zehn Jahren der Anteil der Fernsehsendungen in der Sparte Vermischtes um 73 Prozent gestiegen ist. Die Aufzeichnung von Emotionen mit dem Ziel, Aufmerksamkeit zu binden, läuft auf allen Kanälen, schriftlich in der Presse, audiovisuell über Radio- und Fernsehsender, über die sozialen Medien, und sie wird in allen Bereichen eingesetzt, in Politik, Wirtschaft, Kultur, Sport, im Sozialen, sogar in der Religion. Es ist eine neue Art der Machtausübung entstanden, die in der Lenkung von Emotionen besteht. Zugleich hat das dazu geführt, dass die Machtausübung in den verschiedenen Bereichen auf eine emotionale Weise erfahren und erlitten wird. In der Demokratie der sozialen Medien und der netzweiten Reaktion ist es heute kaum relevant, seine Meinung zu sagen – ohnehin gibt jeder von uns bei jeder Gelegenheit seine Meinung ab, so dass diese sich gegenseitig aufheben. Es kommt vielmehr darauf an, seine Emotion auszudrücken, seine Erschütterung, sein Mitgefühl, seine Furcht, seine Angst … Dieser Druck, Emotionen und Mitgefühl zu äußern, löscht letztlich alle Nuancen aus – Liebe und Freundschaft werden lediglich zu likes. Und die Art, wie die Gefühle tatsächlich im «innersten Kern» (María Zambrano) unseres Empfindens genau entstehen, sich mischen, wie sie der Nachtseite des Menschlichen entspringen, wird unwesentlich.

So fanden wir es also notwendig, noch einmal darüber zu schreiben, was Mitgefühl oder Erbarmen, Bescheidenheit, Sanftheit oder Arroganz, Freundschaft oder Liebe sind. Dabei verfolgen wir keine hohen Ansprüche. Philosophische und psychoanalytische Ansätze haben wir gemischt, in Erklärungen und Beschreibungen gelegentlich einen poetischen Stil gewählt. Wir wollten nichts beweisen, das Einzige, was wir zeigen möchten, ist: Wenn wir Gefühle, Leidenschaften oder Stimmungen achten, so akzeptieren wir das Geheimste in jedem von uns, akzeptieren wir uns selbst in unserem Widersprüchlichsten, Verletzlichsten, Menschlichsten und zugleich Unmenschlichsten. Das gibt uns die Fähigkeit, den Anderen anzunehmen und uns auf den einzulassen, der sich vor dem Hintergrund des Unbekannten abzeichnet.

Fontainebleau, Paris, Monaco, Sommer 2017

Wir schrieben diese Zeilen, als wir vom tragischen Tod der Philosophin und Psychoanalytikerin Anne Dufourmantelle erfuhren, der wir beide sehr verbunden sind. Sie wird immer in unserem Gedächtnis und unseren Herzen bleiben.

ERSTER TEIL

GUTE ABSICHTEN

LIEBE

Woher kommt die Liebe? wo hat sie ihren Ursprung und ihre Herkunft? wo ist die Stätte, da sie wohnt, von wo sie ausgeht? Ja, diese Stätte ist verborgen oder im Verborgenen.

Søren Kierkegaard, Leben und Walten der Liebe

Arme Stachelschweine. Wie können sie sich vor dem eisigen Wind schützen? Sie drängen sich aneinander und erzeugen dadurch eine eigene Wärme. Doch wenn sie sich aneinanderdrängen, stechen sie einander. Und wenn sie auseinander gehen, frieren sie. Schopenhauer sah hierin ein Gleichnis für das Leben des Individuums, das «zwischen beiden Leiden hin- und hergeworfen» werde. Hier geht es um die Frage nach der richtigen Distanz. Ihre Notwendigkeit liegt vor allem an einem «Bedürfnis der Gesellschaft», denn dieses «treibt», wie Schopenhauer bitter bemerkt, «aus der Leere und Monotonie des eigenen Inneren entsprungen, die Menschen zueinander; aber ihre vielen widerwärtigen Eigenschaften und unerträglichen Fehler stoßen sie wieder voneinander ab».

Man habe Mittel und Wege gesucht, um eine «gegenseitige Erwärmung» zu fördern und ein Zusammenleben zu ermöglichen, wenn nicht sogar befriedigend zu gestalten. So seien etwa «Höflichkeit und feine Sitte» erfunden worden. Das erscheint wenig, um sämtliche Formen von Abscheu, Neid, Feindschaft und Hass zu mildern, die die Menschen voneinander entfernen, bis sie einander fremd und gleichgültig sind und zu Feinden werden. Aber wenn Personen sich schon nahe sind, weil sie von gegenseitiger Anziehung und Zuneigung gehalten werden, ja wenn sie durch Gefühle der Kameradschaftlichkeit, der Freundschaft oder Liebe einander verbunden sind – welche Distanz sollten sie dann gegenseitig wahren? Spontan möchte man meinen, der geringste Abstand wäre jener, der Liebende und Geliebte beinahe unzertrennlich sein lässt, als wären sie eins miteinander. Aber das ist nicht gesagt.

Zunächst ist unklar, in welcher Entfernung ein vielgestaltiges Objekt wie die Liebe zu platzieren wäre, wenn man es lediglich untersuchen möchte. Verfiele jemand, der überhaupt nicht liebt, der nichts und niemanden liebt, auf die Idee, dies zu tun, würde er um sich herum nichts als leere und kalte Gedankenkonstruktionen errichten. Und für den Liebenden oder Verliebten ist es auch nicht einfacher; er wird nicht umsonst als blind bezeichnet. Mit entflammtem Herz und benebeltem Geist würde er bestenfalls sein Herzklopfen beschreiben. Ganz sicher zählt die Liebe zu den entgrenzten Wirklichkeiten, die, wenn sie gelebt und erlebt werden, das Denken beeinträchtigen oder verwirren und, wenn sie durchdacht werden, verlieren, was sie an intensiver Lebendigkeit aufzuweisen hätten.

Auch ist die Versuchung groß, nicht darüber zu reden und dem Geheimnis sein Geheimnis zu lassen oder sich mit dem Gedanken abzufinden, dass über Liebe reden immer über etwas anderes reden heißt, wie einst über den Tod oder über Gott. Aber ist es denn so unnütz, über etwas anderes zu reden? Wenn wir also weder definieren noch umschreiben, kommen wir doch wenigstens durch Umschiffen, Durchstreifen und Umherschweifen weiter, wie jene Wandermönche ohne feste Bleibe von Kloster zu Kloster; man flaniert, umkreist, begegnet falschen Freunden, sammelt Homologien und Synonymien und findet vielleicht heraus, warum zwischen Freundschaft und Liebe für nichts Platz ist, während doch jeder im Erleben der beiden Gefühle spürt, dass es da unendlich viele Nuancen gibt, von der verliebten Freundschaft bis zu platonischer … Liebe, geistiger Liebe, Anhänglichkeit, Zuneigung, Zärtlichkeit, Wohlwollen, Herzlichkeit, Affinität, Vertrautheit, Verknalltsein, Strohfeuer, Schwärmerei, Schwäche für etwas oder Sympathie.

Vielleicht sollte man sich auch für eine Herangehensweise entscheiden, die die Theologen als «apophatisch» bezeichnen; sie besteht darin, nicht zu sagen, was etwas – oder Gott – ist, sondern was es nicht ist. Wird man überhaupt je wissen, was die Liebe nicht ist, wenn sie so heterogen ist und die Skala ihrer Abstufungen buchstäblich unendlich? Wenn etwa im Französischen aimer (lieben) in Begleitung eines winzigen Adverbs, aimer bien, den Sinn von «gern mögen» annimmt und sich auf alles anwenden lässt, aufs Reisen, auf die Lektüre, den Duft von Weihrauch, Rock ’n’ Roll, Schokolade, die Blauen Seerosen von Monet, auf die Personen, die man gern mag (qu’on aime bien), und die orecchiette al pesto, die man sehr gern mag (qu’on aime beaucoup)? Und wen sollte man als Zeugen anrufen? Welche Texte zurate ziehen in der Flut von Werken, epische Romane, elliptische Poesie, Symphonien, Opern oder Liedchen, physiologische Abhandlungen, Tagebücher, Filme, Briefe, Skulpturen, Gemälde oder Fresken – alles, was der Mensch seit jeher erschaffen hat, um die Liebe, ihre Freuden, ihre Qualen, ihren Wahnsinn, ihren Schmerz oder ihre Fallstricke zu besingen, um ihre Illusionen zu zerstören und über ihre Farcen und Täuschungsmanöver zu klagen oder um die Kraft und das Leben zu preisen, die sie jedem Menschen schenkt? Ohne Liebe gibt es keine Menschlichkeit. Alles wird unbegreiflich und diffus, alles spielt sich im Extremen und im Chaos ab, sobald die Liebe ins Spiel kommt – oder eines ihrer falschen Geschwister.

Im Französischen wird ein Paradox der Liebe anhand der Tatsache sichtbar, dass es mit aimer nur ein einziges Verb gibt, um sich gegenseitig die Liebe zu erklären, und dass jeder Versuch, sie in einen anderen sprachlichen Ausdruck zu bringen, ein Verrat an ihr ist. Man kann nicht einmal ein Adverb anhängen. Ein komisches Gesicht würde der geliebte Mensch machen, wenn der oder die Liebende ihm erklärte: je t’aime bien (ich mag dich gern) oder je t’aime beaucoup (ich mag dich sehr gern), je t’aime modérément (ich mag dich in Maßen), à certains égards (in gewisser Hinsicht) … Wenn man wissen will, was Liebe nicht ist, dürfte es da eigentlich nicht auch unsinnig sein, aus bestimmten Alltagsausdrücken den (Un)Sinn aufzulesen, den die Kultur jahrhundertelang darübergelagert hat? Zumal zwischen Liebe und Sprache eine nicht unbedeutende Beziehung besteht. Allerdings, wie Gaston Bachelard zu behaupten, die Liebe sei der Liebesbrief, ist auch nicht richtig. Und Rechtschreibfehler stehen in keinem Verhältnis zu Ungeschicklichkeiten, taktlosen Gesten und Verletzungen in der Liebe. Im Übrigen hat die Liebeserklärung (oder die Trennungsankündigung) per SMS heutzutage sämtliche Verbindungen zwischen dem Gefühl und seiner sprachlichen oder bildlichen Umsetzung verzerrt.

Sag, dass du mich liebst

Als soziales Ereignis ist Liebe nicht von ihrem verbalen, künstlerischen, literarischen und musikalischen Ausdruck zu trennen. Irgendwie ist es ja die Sprache, die die Liebe mit einem ersten schwierigen, bebenden «ich liebe dich» zutage treten lässt. Unvorstellbar, dass Liebe sich nie erklären würde, weder durch ein Wort noch durch eine Geste oder Intention (immer sehr persönlich und manchmal durch soziale Zeichen verstärkt wie das Senden von Blumen oder kleinen herzförmigen Schokoladen zu Festen, die die Liebe feiern). Aber dieses «ich liebe dich» ist merkwürdig. Es besitzt keine Sprachfunktion, weder eine expressive (wenn man eine Information geben will, würde es genügen, sie ein einziges Mal zu sagen) noch eine konative oder referentielle oder metasprachliche und am allerwenigsten eine phatische – obwohl die unaufhörliche Wiederholung (Ich liebe dich – Ich dich auch – Liebst du mich? – Ja, ich liebe dich, und du?) letztlich zuweilen an einen Dialog sozialer Vertrautheit erinnert (Guten Tag, wie geht’s? – Es geht, und Ihnen? – Es geht). Überdies verliert die Sprache der Liebenden – ausgenommen das erste Wort, der erste Kuss – ihren Sinn, wenn sie sich nicht an jemanden richtet, der bereits liebt; von außen vernommen, wirkt der Liebesdialog oft lächerlich, nichtssagend, bestenfalls charmant.

Es kann vorkommen, dass er die Liebesbeziehung verdirbt und das Gefühl in einem Wortstrom ertränkt. Statt die andere Person zu lieben, liebt der Liebende sich selbst, wenn er von Liebe spricht, oder er redet bloß gern von Liebe, er hört auf zu lieben, um zu verführen, wie es eben der hübsche Schwätzer oder der Aufreißer, Don Juan, tut … Da die Liebe über kein eigenes Vokabular verfügt, bedient sie sich der Metaphern, Figuren, Symbole und Allegorien oder treibt die Sprache in ihre Extreme, den Gesang und den Liebesschrei auf der einen Seite, die Stille und das Flüstern auf der anderen. Im einen Fall verdichtet sich das Wort, schwillt an, wird zum Gesang, als wollte es von der ganzen Welt verstanden werden, die es zum Zeugen für die Unermesslichkeit des Gefühls anruft. Im anderen Fall wird es zum flatus vocis und raunt – Schweigsamkeit ist die Sprache der Liebe, meinte der heilige Franz von Sales –, ein unhörbares, heimliches Flüstern, wie um die Beziehung der Liebenden inniger, unübertragbarer und einzigartiger werden zu lassen. Der Sprache gelingt es nicht, die Liebe zu erklären, aber der Liebe gelingt es nicht, ohne Sprache auszukommen.

Ich weiß, dass ich dich liebe

Die Liebe empfindet man, «fühlt» man, noch ehe man sie einander gesteht. Aber weiß man sie? Manchmal zwingt das Bewusstsein das Gefühl zu einer reflektierten Rückkehr zu sich selbst, um ein Wissen um das Gefühl zu schaffen, das Gefahr läuft, eher Wissen als Gefühl zu sein. Die Liebe erwählt sich selbst zum Liebesobjekt und wird, wie Augustinus erkannt hat, zu amor amoris: Was ich liebe, ist nicht so sehr der Andere als die Tatsache zu lieben an sich. Folglich zählt das Liebesobjekt wenig oder ist austauschbar: Der ungetreue Liebhaber kann auch herumspielen, er liebt niemanden außer sich selbst, er liebt nur die Tatsache, sich verliebt zu wissen.

Ich habe meine Zwillingsseele gefunden

Zuweilen ist zu hören: Wir haben uns gefunden, weil wir uns gleichen, weil wir denselben Geschmack, dieselben Abneigungen oder dieselben Ideale haben; wir mögen dieselben Urlaubsorte, dieselbe Musik und dieselben Filme. Empedokles hätte seine Freude daran gehabt: die Anziehung des Gleichen durch Gleiches. Aber ebendas passt nicht zur Liebe, denn den Anderen zu lieben, weil er genau wie ich ist, hieße, eine elementare, quasi biologische und narzisstische Beziehung zu etablieren, die mich nicht auf den Anderen zubewegen lässt, sondern mich zu mir selbst zurücktreibt, wie ein Bumerang. Was ich an dir liebe, ist die Tatsache, dass du ein anderes Ich bist, in dem ich mich wie in einem Spiegel anschauen und bewundern und mich auf diese Weise doppelt lieben kann, in mir und in dir. Liebe ohne Alterität, Liebe ohne Selbstlosigkeit, Liebe, die im Kreis geht, bis zur Erschöpfung.

Wir ergänzen uns

Liebe zu jemandem, der oder die nicht wie ich ist, scheint ein Sieg über die elementare Abneigung zu sein, die durch Unterschied und Unähnlichkeit entsteht. Aber die Anziehung der Gegensätze, ein Lieblingsthema Heraklits, kann ebenfalls eine unechte Form der Liebe zum Ausdruck bringen: Ich suche nach dem Anderen, denn er ist das, was mir fehlt, das, was mir zu meiner Vollständigkeit fehlt – als wollte ich eine verlorene Einheit wiederherstellen, ein vollkommenes Ich, dem nichts fehlt. Infolgedessen ist es das Ich, das vom Ich geliebt wird, nicht der Andere, der bloß als Komplementärwinkel für die Liebe fungiert.

Weißt du, dass du schöne Augen hast

Welche Mutter oder welcher Vater hält ihr bzw. sein Kind nicht für das hübscheste der Welt? Natürlich ist es hübsch, weil seine Eltern es lieben, und niemandem käme in den Sinn zu behaupten, dass sie es lieben, weil es hübsch ist. Die Vorzüge, Talente, Gaben und Fähigkeiten eines Menschen können niemals Ursache für das Gefühl der Liebe sein. Man kann nicht sagen, man liebt jemanden, weil er gut Gitarre spielt oder einen athletischen Körper besitzt, denn das würde ja für den Fall, dass irgendein Unfall die Hand lähmen oder die Zeit seinen Körper welken lassen sollte, das Ende der Liebe bedeuten. Geliebt wird die Person für das, was sie ist, nicht für das, was sie hat – die adjektivischen Qualitäten sind eher Ursache für Bewunderung oder Verehrung. Neigt man dazu, wählerisch zu sein – was ich an dir liebe, sind deine schönen Augen, die Form deiner Hände, der Duft deiner Haut, deine Komik, was ich weniger liebe, ist der Ton deiner Stimme, deine Zerstreutheit, deine Reizbarkeit, dein Mangel an Taktgefühl … –, ist man eher Liebhaber als Liebender, denn Letzterer erwählt den Anderen in seiner Ganzheit.

Aus den Augen, aus dem Sinn

Der Abstand in der Liebe, zeitlich wie räumlich, hat nichts mit dem Abstand in der Freundschaft gemein und auch nichts mit dem Abstand in der Bekanntschaft. Der Abstand in der Freundschaft kennt keine Trennung in der Zeit, so lange diese auch dauern mag; ja man erkennt eine Freundschaft daran, dass sie sich durch Abwesenheit keineswegs verflüchtigt (aus diesem Grund gibt es so viele Jugendfreunde). Freunde finden sich nach langer Abwesenheit wieder und nehmen ihre Gespräche da wieder auf, wo sie aufgehört hatten. Die Bekanntschaft wiederum braucht, damit sie nicht vage bleibt, eine Feinjustierung in der richtigen Brennweite – je nachdem, ob kurzsichtig oder weitsichtig, halte ich die beschriebene Seite näher an meine Augen oder weiter weg, bis alle Buchstaben klar und deutlich lesbar werden. Im Gegensatz zur Freundschaft aber verträgt die Liebe räumliche Distanz oder Abwesenheit nur schlecht, denn der Körper fordert physischen Kontakt ein. Er will liebkost, berührt und umarmt werden, Genuss und Orgasmus empfinden, auch wenn er das für seine reine Existenz nicht braucht – man kann, heißt es, platonisch lieben –; er muss jubeln können, so wie das Herz klopfen und der Kopf entflammen muss. Geliebte Menschen werden geliebt, auch wenn sie aus den Augen sind. Doch die Liebenden fühlen ihre Liebe nachlassen und verkümmern, weil sie den Körper des Anderen nicht zum Beben, zum Orgasmus bringen können, weil sie ihm nicht täglich noch mehr geben können. Daraus folgt, dass der Abstand in der Liebe nie festgelegt ist und keinen festen Rhythmus kennt. Bewirkt er täglich wechselnde Momente intimster Nähe und jäher Klagen (ich habe das Gefühl, du bist so weit weg), so unterliegt der Liebesabstand dabei einer doppelten Gefahr, der Gefahr einer hoffnungslosen Dualität (die kühle Zweisamkeit beim Frühstück, wo man nicht mehr miteinander redet) und der Gefahr der vollkommenen Übereinstimmung (wir sind uns so nahe, dass wir nur noch eins sind); im ersten Fall handelt es sich nämlich um Agonie – noch unterstützt durch die Gewohnheit, zusammen zu sein oder zusammenzuleben –, und im zweiten gibt es kein Subjekt mehr, das liebt, und auch kein Objekt mehr, das geliebt wird.

Wir sind wie geschaffen füreinander

Mag sein, dass nach langem Warten auf den Märchenprinzen tatsächlich noch einer daherkommt – aber er ist kein Prinz, und es ist nicht der, auf den man gewartet hat. Das überraschende Aufeinandertreffen der Liebe kann keiner Erwartung entsprechen und keinem Plan oder Vorsatz; es ist auch auf keine durch das Schicksal oder einen Gott festgelegte Verabredung zurückzuführen. Es hat keine Vergangenheit, ereignet sich wie durch ein Wunder, zwei Flugbahnen, die sich im unendlichen Raum kreuzen. Anders gesagt, niemand ist für jemand anderen gemacht – und wenn plötzlich die Liebe erblüht, werde ich für dich und durch dich sein, auch ohne zu verlangen, dass du für mich und durch mich sein wirst.

Ich liebe dich bis zum Wahnsinn

Liebe hat keinen Gebrauchszweck. Man liebt nicht, um zu … – um jung zu bleiben, um nicht mehr allein zu sein, um Kinder zu zeugen oder abends jemanden zu haben, der auf einen wartet. Die Liebe hat auch keine Vernunft; sie ist verrückt. Daher ist es zwecklos, (sich) zu fragen, weshalb man liebt. Das geringste «weil» ist verletzend – weil du intelligent bist, weil du gut reden kannst, weil du lieb bist –, denn es hieße, dass die Bösen und die, die nicht gut reden können, kein Recht auf Liebe haben. Die Liebe ist keine Würdigung eines Werts, den die Vernunft bemessen kann. Alle verdienen es, geliebt zu werden, einfach weil es ebenso wenig ein Verdienst ist zu lieben, wie geliebt zu werden.

Wir werden uns nie trennen

Liebe ist radikal, sie kennt weder die goldene Mitte noch Halbheit. Es gibt keine Halbliebe, ebenso wenig wie ein Halbvertrauen. Und ebenso wenig kann Liebe zeitlich beschränkt sein, ein Ablaufdatum haben. Wer würde es wagen, dem oder der Geliebten zu sagen, er liebe nur eine gewisse Zeit, bis nächstes Jahr, drei Monate lang oder fünf Jahre? Wenn man liebt, kann man sich ein Scheitern, einen Verfall und ein Ende der Liebe nicht einmal vorstellen – ich werde dich immer lieben, wir werden uns nie trennen. Trotzdem trennt man sich, und es bräuchte ein ganzes Buch für die Aufzählung von Gründen zur Rechtfertigung, dass man es tut. Aber da Liebe unmöglich nur eine gewisse Zeit lieben und, während sie liebt, in Betracht ziehen kann, eines Tages nicht mehr zu lieben, ergibt sich daraus die Schlussfolgerung, dass das, was endet, keine Liebe sein kann. Liebe liegt immer vor uns, ist immer das Kommende. Die Liebenden begegnen sich im wahrsten Sinne des Wortes im Abenteuer der Zukunft – Abenteuer stammt vom lateinischen adventura und bedeutet, was kommen wird, ebenso wie Zukunft auf das zu Kommende verweist.

Ich liebe ihn oder sie, und er oder sie liebt mich

Da Liebe grund- und bedingungslos ist, muss auch die Liebe zum Anderen nur unter der Bedingung, dass der mich ebenfalls lieben soll, ausgeschlossen werden. Ein Geschenk braucht nicht zurückerstattet zu werden, und Liebe erwartet keinerlei Gegenseitigkeit als Lohn. Was aus einem Wunder heraus entsteht und trotzdem jeden Tag wieder eintrifft, ist die Tatsache, dass ich einen Menschen liebe und dass dieser mich ebenfalls liebt – aber ich liebe ihn nicht, weil er mich liebt. Wesentlich ist es zu lieben, aktiv und ohne Einschränkungen oder Grenzen, Gründe und Bedingungen. Liebe folgt nicht der Koppelung von lieben und geliebt werden – ich kann auch jemanden lieben, der von meiner Existenz nicht einmal weiß –, sondern der doppelten Transitivität des Verbs «lieben». Ich liebe dich viel mehr, als du mich liebst, du liebst mich viel mehr, als ich dich liebe, ich liebe dich viel mehr als … Diese Bewegung setzt ein gegenseitiges Überbieten in Gang, die endlose Dialektik der Aktion des Liebens. Darum ist lieben ohne Gegenliebe, die einseitige Liebe, Ausdruck einer authentischen Form der Liebe – allerdings einer unglücklichen Liebe, die nicht durch das Elend des Scheiterns bedroht ist, sondern die verkümmern muss, gerade weil ihr das Überbieten fehlt. In dieser Bewegung zweier nie befriedigter Wünsche liegt eine stete Steigerung; sie befruchtet die Liebe, die man empfindet, durch die Liebe, die man empfängt.

Die Tradition sieht die erotische Skala als mehrstufig. Die niedrigste wäre die Stufe des Instinkts, der dazu drängt, einen Körper besitzen zu wollen, egal welchen, und der sich in der physischen, biologischen Befriedigung erschöpft. Auf einer höheren Ebene fände man etwas, das man «verlieben» nennen kann, hervorgerufen weniger durch die Betrachtung der physischen Schönheit der geliebten Person als vielmehr durch eine Aufwertung oder eine Kristallisation ihrer seelischen und intellektuellen Vorzüge. Darüber käme dann die reine, von jeder Sexualität geläuterte Liebe und beträfe nicht die Person selbst, sondern das, was sie verkörpert, Tugend und Weisheit. Fügte man eine zusätzliche Stufe hinzu, wäre die Liebe eine Gottesliebe oder nähme jedenfalls eine mystische Dimension an. Sobald man in sich die Erschütterung spürt, die durch Liebe zu einer realen Person ausgelöst wird, sieht man, dass solche Unterscheidungen utopisch und weltfern sind. Allerdings ermöglichen sie eine Präzisierung dessen, was Liebe nicht ist. So zeigt sich etwa (von einem Rückfall der Seele in den Körper zu sprechen wäre vergebens), dass Liebe – also gleichzeitig Gefühl, Sensibilität, Sinnlichkeit und Sexualität – nicht der sexuelle Akt ist, der auch ohne Liebe vollzogen, ja sogar käuflich sein kann und der nicht höher und weiter wollen kann als die Lust an sich selbst oder Lust per se. Liebe ist auch nicht Sehnsucht nach Schönheit, denn eine solche Askese würde implizieren, dass man sich von der Materie und dem Körper, in dem wir alle stecken, entfernt hätte, und sie entsteht auch nicht aus dem Strahlen, das die seelischen oder intellektuellen Vorzüge des/der Geliebten bei dem/der Liebenden auslösen würden. Könnte sich die Liebe, die weder vollkommen im Physischen gefangen noch durch eine reine Idee entfacht oder orientiert und ohne Fleisch und Blut ist, in einem Zwischen befinden und unaufhörlich von dem einen zum anderen pendeln, ohne jemals mit dem einen oder dem anderen kongruent zu werden?

Seit Platons Gastmahl weiß man, dass Liebe umtriebig und in Bewegung ist, dass sie ein Vagabund ist, der niemals Ruhe noch Hafen findet, denn es ist das Wesensmerkmal von Liebe und Begehren, keinen Zweck zu haben und niemals Befriedigung zu finden, die sie stillen könnte. Sie ist nicht auf Gott gerichtet und auch nicht auf eine Idee oder ein Ideal, sofern es um die Liebe geht, die eine Person für eine andere empfindet. Und ebenso wenig ist sie auf die ganze Menschheit gerichtet, denn alle zu lieben ist die beste Methode, niemanden zu lieben. Liebe ist unaufhörlich in Bewegung, weil sie auf den Anderen zugeht, ohne mit ihm zu verschmelzen, dann zu sich selbst zurückkehrt, ohne sich vom Anderen zurückzuziehen oder sich ihm zu verschließen, um alleine zu gedeihen und sich selbst anzubeten. Und in ebendieser Bewegung hin zu sich selbst, die zur philautia, zur Eigenliebe, führt, findet sich der Indikator, die falschen Freunde der Liebe geradezu untrüglich zu erkennen: Wenn das Gefühl der Liebe in irgendeiner Weise in Narzissmus umschlägt, wenn sich darin Spuren einer Bevorzugung von sich selbst vor dem Anderen finden, wenn es sich, und sei es auch nur mit einem Hintergedanken, eher um das eigene Wohl als um das Wohl des Anderen kümmert, ist dieses Gefühl keine Liebe. Aber wie kann man sich von sich selbst lösen? Wie kann man das Ich schwächen und leer werden lassen, ohne dabei Gefahr zu laufen, sich als liebendes Subjekt zu verlieren und nichts mehr wovon auch immer zu haben, das man dem Anderen geben könnte?

Noch einmal, Liebe heißt nicht, geliebt zu werden, sondern zu lieben, heißt zu geben und nicht zu empfangen, außer durch eine Gnade, um die man nicht gebeten hat. Wie groß auch die Vielfalt ihrer Definitionen sein mag, Liebe ist immer eine Regung, eine Art, sich zu bewegen, die aus der Spur trägt, sich nach außen tragen lässt zu dem, was nicht man selbst ist. Liebe heißt, seinen Blick und seine Aufmerksamkeit, sein Interesse und seine Sorge auf einen Unterschied, eine Andersartigkeit, irgendetwas Ungreifbares zu richten. In dieser heftigen Bewegung wirkt ein Übermaß an Eigenliebe wie Ballast, wie eine Bürde, die den Schwung zum Anderen hin drosselt. Die Logik der Selbstlosigkeit in der Liebe wird durch den gewöhnlichen Egoismus eines Pseudoliebenden behindert, der nur sich selbst, seine Lust und seine Potenz liebt, der sich zur einsamen Akkumulation verurteilt und es vorzieht, eher unter dem eigenen Druck zu implodieren, als auch nur einen Deut seiner Güter abzugeben. Das heißt nicht, dass er sich auflösen sollte. Aber er sollte sich von seinem Ich lösen und bedingungslos bejahen, dass der Andere zuerst kommt (diese «skandalöse» Behauptung stellt ein Gesetz auf, dessen Einhaltung unmöglich scheint und doch dem Natürlichsten der Welt entspräche, der elterlichen Liebe – welche Mutter dächte angesichts einer tödlichen Gefahrensituation für sich und ihr Kind nicht zuerst an die Rettung des Kindes?). Und er sollte jedes Eigeninteresse, jede Anmaßung, Kontrolle und Selbstgefälligkeit loslassen, die ihn daran hindern, dem Anderen Priorität vor sich selbst einzuräumen und ein wahrhaft Liebender zu werden. Ein Liebender, der jederzeit jene Energie in sich aktiviert, die die geliebte Person zum Leuchten bringt und mit der Stärke belebt, die er ihr gibt, und die das geliebte Wesen schön, gut und richtig werden lässt und ihm Kraft und Vertrauen spendet, ihm seine Ängste nimmt und seine vorhandene Fähigkeit steigert, sich selbst und die Welt zu begreifen.

Ti voglio bene

Ich liebe dich, ich bin dir gut, ich will das Gute für dich. Tatsächlich gibt es keine Liebe, die nicht das Gute für die Person wollte, die man liebt. Annähernd wird das schon durch die päderastische, erotisch-edukative Beziehung veranschaulicht, die im antiken Griechenland den Erastes (den Liebenden, Älteren, Aktiven) mit dem Eromenos (dem Geliebten, Jüngeren, Passiven) verband, und zwar insofern, als diese Beziehung untrennbar gekoppelt war an die Idee der Übermittlung von Tugend und Weisheit, der Weitergabe des sozialen, moralischen, politischen und intellektuellen Erbes an den Geliebten – der mit philia, Dankbarkeit, Zuneigung und Bewunderung, reagierte. Aber diese Zuwendung bedeutet weder Macht über den Anderen noch Selbstaufgabe. Das Wohl zu wollen ist ein schöpferischer Akt, von dem beide profitieren (es geschieht allerdings nicht, um zu profitieren), sowohl das liebende Subjekt als auch die geliebte Person, die ihrerseits denjenigen oder diejenige lieben kann, der oder die sie liebt. Das Gute zu wollen – also Vergnügen, Freude, Reiz für Körper und Geist, Gewahrsein der eigenen wundertätigen Fähigkeiten – bedeutet, dem Anderen freimütig die Möglichkeit zu bieten, all seine Stärken in Tun zu verwandeln, an seine Begabungen zu glauben, ungeahnte Quellen der Befriedigung zu entdecken, Gelegenheiten, seine Willenskraft und seinen Verstand zu schärfen. Insofern ist Liebe wie etwas Göttliches im Menschen. Und insofern führt sie abwechselnd zu Enttäuschungen und zu Begeisterung, ist Qual, Unruhe und Zittern (denn das Wohl, das sie für den Anderen will, ist nie groß genug oder entrinnt ihr immer), geht durch Streit und Nervenkrisen, Verlassen und Rückkehr, Schreien und Geflüster. Liebe ist in ständigen Verhandlungen begriffen, nicht nur mit den Erwartungen und Sehnsüchten, dem Willen oder Unwillen des geliebten Menschen, sondern auch mit ihrer Freiheit und ihrem Streben nach Gerechtigkeit.

Die Schönheit des Körpers lieben? Die Herrlichkeit der Seele lieben? Nun, wenn Liebe bedeutet, für den Anderen das Wohl zu wollen, so kann sie solche Unterscheidungen nicht treffen und vermengt in ihrer «heroischen Leidenschaft» (Giordano Bruno) alles. Da ist kein Lächeln, keine Geste, keine Falte, keine Rundung der Hüfte, keine Schamgegend, keine Narbe im Gesicht, kein schwerer oder leichtfüßiger Gang, kein Seufzer des/der Geliebten, den der/die Geliebte nicht mit einer Bewegung der Seele, mit der Spiegelung, dem Versprechen, dem Echo eines moralischen oder intellektuellen Vermögens oder eines Fehlers in Verbindung bringen könnte. Da ist keine geistige Tugend oder Schwäche, kein Mut, keine Geduld, keine Freude, keine Scham, keine wohltätige oder egoistische Handlung des/der Geliebten, die der/die Geliebte nicht mit einer Bewegung des Körpers in Verbindung bringen könnte, einer Art zu sitzen, in einen Apfel zu beißen, mit den Armen zu schlenkern, zu brüllen, zu flüstern, Nägel zu beißen oder zu rennen, bis man ganz außer Atem ist. Jemanden zu lieben heißt, jemanden als Ganzes zu lieben, Körper und Seele, wie man zu sagen pflegt, es heißt, für ihn das Gute zu wollen und dafür zu sorgen, dass er es will, ihm wohltun mit Herz, Körper, Geist, Intelligenz – und alles dafür zu geben.

… Nietzsche hat sich beißend über den «schauderhaften Unsinn» der altruistischen Liebe mokiert und darüber gelacht, dass sie die Abschaffung des Egoismus, die Reduzierung des aufgeblasenen Egos, den Niedergang und die Enteignung des Ichs einfordere. «Man muss fest auf sich sitzen, man muss tapfer auf seinen beiden Beinen stehn, sonst kann man gar nicht lieben», schreibt er in Ecce homo. Freilich nimmt die Auslöschung des Ich manchmal unerträgliche Formen an, Selbstgeißelung, die Neigung, sich jegliche Schuld zuzuschreiben, selbst die Bescheidenheit, wenn sie den Fall, den das Ich aus sich macht, beseitigt, oder die Demütigung, wenn es sich um Lust an der Erniedrigung handelt … Aber ein Ich, das sich mit sich selbst füllt und aufbläht, ist ebenso scheußlich. Bestenfalls wird es «fest auf sich sitzen», sucht immer mehr Trost, will seine Bequemlichkeiten, und wenn es alles in Reichweite hat, ist es schließlich bewegungsunfähig und mästet sich. Im schlimmeren Fall ist es voller Arroganz, «tapfer auf seinen beiden Beinen» wie ein furchtloser Krieger, der sich seiner Macht bewusst ist; es schlägt kategorisch und hart jegliche Skrupel in den Wind, um seine Herrschaft zu festigen und seine Gründe, seine Neigungen und Launen geltend zu machen, auf Kosten aller und wessen auch immer. In beiden Fällen ist das Ich hoffnungslos allein und kann niemanden lieben. Die Liebe ist zweifelsohne radikal und totalitär. Sie liebt bis zum Äußersten, ohne ihr Ende in Betracht zu ziehen, und liebt an der geliebten Person alles. Aber das Subjekt ist nur ein liebendes, wenn es sich nicht bis zur Erniedrigung selbst beraubt und nicht bis zur Arroganz an sich selbst berauscht. Es geht also nicht darum, ihm einen Platz zum Sitzen zu suchen.

Denn für den Liebenden geht es darum, sich ins Gegenteil hineinzubegeben, sich unaufhörlich zwischen Reichtum und Armut hin- und herzubewegen wie Eros bei Platon, die wertvollsten Güter anzuhäufen, um sie zu geben und, sobald er sie gegeben hat, die Kraft zu finden, wieder neue zu erwerben und wieder zu geben. Der efferente Fluss der Selbstlosigkeit, wie Vladimir Jankélévitch sagt, trägt ihn hin zur geliebten Person, ohne dass jemals der Abstand zwischen beiden aufgehoben wäre, und der Rückfluss der Selbstliebe bringt ihn wieder in die Nähe zu sich selbst. Die Verhinderung spornt die Bemühungen an, erregt, drängt und steigert den Wunsch, sich dem Anderen immer wieder zuzuwenden, der immer gemeint ist und der immer verfehlt wird. Wer liebt, lässt plötzlich den Imperativ des «Ich zuerst» fallen und stellt so eine ethische Forderung auf. Da diese den nur auf sich selbst gerichteten Blick löst, lässt eine gewisse Scham den Menschen fühlen, wenn nicht begreifen, dass eine zweite Person mehr zählt als alles, dass für sie kein Wohl je genügt, aber auch dass niemand per se liebenswürdig ist und dass Liebe jeden befähigt, das moralische Gesetz anzuwenden. Wenn man alle liebt, liebt man niemanden, aber wenn man eine Person liebt, weiß man, dass alle der Liebe würdig sind, dass jeder eine Würde hat, dass niemand in seiner Würde verletzt oder der Rechte beraubt werden darf, die ihn schützen. Liebe führt zu Gerechtigkeit.