Architekten der Arbeit - Sven Rahner - E-Book

Architekten der Arbeit E-Book

Sven Rahner

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Beschreibung

Die Frage, wie wir in Zukunft arbeiten werden, beschäftigt wohl jeden, der Arbeit nicht nur als Broterwerb begreift. Arbeit dient längst nicht mehr nur dem Lebensunterhalt, sie ist auch Teil der eigenen Identität. Arbeit soll sich wieder lohnen, Erfüllung bieten und den eigenen Wohlstand ebenso wie den des Landes mehren - ein hoher Anspruch, allzu selten eingelöst. Prekäre und entwürdigende Arbeitsverhältnisse sind auch in Deutschland keine Seltenheit. Das digitale Zeitalter verändert die Arbeitswelt radikal, schafft neue Freiheiten ebenso wie neue Zwänge: Burnout ist auch die Krankheit einer Gesellschaft, in der immer alles möglich sein muss. Sven Rahner wagt mit 18 Gesprächspartnern einen Blick in die Zukunft der Arbeit. Er hat die Architekten einer neuen Arbeitswelt getroffen, die beobachten, planen und gestalten, wie sich unsere Arbeit verändern wird: Vordenker aus dem In- und Ausland - wie Richard Sennett, Mercedes Bunz und Matthias Horx -, Praktiker - wie Thomas Sattelberger, Henning Kagermann und Detlef Wetzel - sowie Spitzenpolitiker aller Parteien stellen ihre Entwürfe der neuen Arbeitswelt vor. Der Wettbewerb um die besten Ideen ist eröffnet!

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Für Eva

Arbeit in Deutschland, Europa und der Welt

Richard Sennett:Über neue Organisationsmodelle im flexiblen Kapitalismus

Richard Sennett ist einer der bekanntesten und einflussreichsten Theoretiker der modernen Arbeits- und Lebenswelt. Die Bandbreite seiner Forschungsgebiete und Betätigungsfelder ist beeindruckend: Sennett sprengt mit seinem vielfältigen Wirken die traditionellen Grenzen der Fachdisziplinen. Der viel gefragte Intellektuelle und Kosmopolit bewegt sich dabei elegant zwischen der Soziologie, Philosophie, Geschichts- und Kulturwissenschaft.

Die Geschichte und Zukunft der Arbeit im »neuen Kapitalismus« bildet dabei seit mehr als 30 Jahren eines seiner Hauptthemen. Mit seinem Befund, dass an die Stelle der planbaren, kontinuierlichen Lebens- und Arbeitsbiografie der »flexible Mensch« tritt, hat er bereits Ende der 1990er Jahre eine der herausragenden Debatten der letzten Jahre angestoßen, die bis heute anhält. Richard Sennetts besonderes Talent zur Zuspitzung aktueller Themen und sein anschaulicher, essayistischer Schreibstil ließen ihn zu einem Bestsellerautor mit Weltruhm avancieren, dessen Sozial- und Gesellschaftsanalysen weit über die eigene Fachgemeinde hinausstrahlen und von einer breiten Öffentlichkeit rezipiert werden. Die Titel seiner Veröffentlichungen wurden in diesem Zuge häufig zu Schlagwörtern in der öffentlichen Diskussion.

Richard Sennett wurde 1943 in Chicago geboren und studierte zunächst Musikwissenschaften und Violoncello, anschließend Soziologie und Geschichte, u.a. bei Talcott Parsons und Hannah Arendt. Heute lehrt er Soziologie und Geschichte sowie Sozial- und Kulturtheorie sowohl an der New York University als auch an der London School of Economics. Seine letzten viel beachteten Werke sind »Zusammenarbeit« (2012) und »Handwerk« (2008). Auch noch im fortgeschrittenen Alter treiben ihn die Fragen nach der Zukunft der Arbeit und einer humanen Vision für eine bessere Welt jenseits sozialer Schranken um. Wir treffen uns in unseren jeweiligen Wohnzimmern zum digitalen Video-Interview.

Rahner: Welche entscheidenden Entwicklungen prägen den europäischen Arbeitsmarkt, und welche zentralen Herausforderungen werden sich daraus ergeben?

Sennett: Die drängendste Herausforderung für Europa ist, dass es auf absehbare Zeit schlicht und einfach mehr Arbeitsuchende als Arbeit geben wird. Und das nicht, weil die meisten Leute auf Anhieb Familien mit zwölf oder 14 Kindern gründen. Die Frage ist also, wie wir die vorhandene Arbeit organisieren, um den Bürgern zumindest eine Teilzeitarbeit anbieten zu können. Meiner Auffassung nach wäre die Einführung eines existenzsichernden Grundeinkommens eine Erfolg versprechende Herangehensweise, die genau an diesem Punkt ansetzt. Man versucht, die vorhandene Arbeit zu bestimmen, um sie dann unter zwei oder drei Leuten zu verteilen. Diese werden als Teilzeitkräfte bezahlt. Der Staat gibt ihnen dann zusätzlich ein Grundeinkommen, um den Unterschied auszugleichen.

Ich denke, wir haben es in Europa weniger mit zyklischer Arbeitslosigkeit als mit einem strukturellen Mangel an Arbeit zu tun. In den 1980er und 1990er Jahren exportierten wir eine ganze Menge Arbeit in die Entwicklungsländer, und diese machten etwas aus relativ gering qualifizierten Arbeitskräften. Sie entwickelten die Arbeit weiter und machten sie anspruchsvoller. Diese werden sie uns aber nicht wieder zurückgeben. Nun gibt es die Wunschvorstellung, dass wir die guten Jobs behalten und die ganz schlechten exportieren können. Aber so funktioniert der Arbeitsmarkt einfach nicht. Das ist eine selbst zugefügte Wunde, und das Resultat ist der strukturelle Arbeitsmangel in Europa. Ich glaube, was wir jetzt brauchen, um mit diesem Problem fertigzuwerden, ist eine ziemlich starke Medizin.

Rahner: Welche Art der Medizin könnte das sein? Oder anders ausgedrückt: Wie können wir den Wert der Arbeit in einer flexiblen und dynamischen Arbeitswelt erneuern?

Sennett: Die Menschen brauchen institutionalisierte Formen der Unterstützung, die es ihnen ermöglichen, elementares Fachwissen aufzubauen. Ich glaube nicht, dass man ein permanentes Glück am Arbeitsplatz empfinden kann. Aber ich bin davon überzeugt, dass sich das Gefühl einer grundlegenden Zufriedenheit einstellt, wenn man das Gefühl hat, seine Sache gut zu machen. Um das zu erreichen, müssen Menschen die Möglichkeit haben, über einen Zeitraum von 10.000 bis 12.000 Stunden hinweg gleiche oder sehr ähnliche Aufgaben zu bearbeiten. Das würde rund zwei bis drei Jahre dauern und gäbe ihnen die Chance, zentrale Kompetenzen aufzubauen. Das Flexibilitätspostulat im Personalmanagement der letzten Jahre steht dieser Erkenntnis diametral gegenüber: Die Leute werden permanent von einer Aufgabe zur anderen geschoben, um sie ständig auf einem Niveau der Einarbeitung und Unsicherheit zu halten. Damit wird letztlich das Gefühl der Genugtuung, das sich nach einer erfolgreich erledigten Aufgabe einstellt, zerstört. Genau hier liegt die Krux. Was wir also dringend benötigen, sind alternative Managementmodelle, die auf die kontinuierliche (Weiter-)Entwicklung der Menschen setzen. Das müssen nicht notwendigerweise Routinen sein.

Rahner: Die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 hat gezeigt, dass Deutschland in der Lage ist, sehr schnell und effektiv Reformen umzusetzen, wenn alle relevanten politischen und gesellschaftlichen Akteure koordiniert vorgehen. Verhandlungen zwischen Unternehmensleitungen und Betriebsräten haben in Kombination mit der staatlichen Förderung von Kurzarbeit entscheidend zum im Ausland viel bestaunten »German Jobwunder« (The Economist) beigetragen. Die von Kurzarbeit betroffenen Beschäftigten konnten sich, durch staatliche Maßnahmen gefördert, weiterbilden und dadurch ihre Qualifikationen erneuern und erweitern. Als die Konjunktur sich erholte, waren sie wieder schnell in ihren Betrieben und Unternehmen einsetzbar. Kann das sozialpartnerschaftlich ausgerichtete deutsche Wirtschafts- und Sozialmodell auch auf andere Staaten Europas übertragen werden?

Sennett: Das deutsche Wirtschafts- und Sozialmodell kann von den anderen Staaten Europas nicht ohne Weiteres nachgeahmt werden, weil seine Kooperationsformen bereits in seinem hochentwickelten Ausbildungssystem angelegt sind. In Italien gibt es z.B. zwar ein gut entwickeltes Ausbildungssystem in sehr kleinen Fachbetrieben, es ist jedoch sehr schlecht in der Bauindustrie und im verarbeitenden Gewerbe entwickelt. Was in Deutschland eine Art Norm ist, d.h. Kooperation und insbesondere die sehr gute Ausbildung von Facharbeitern, ist im übrigen Europa viel weniger ausgeprägt.

Es gibt eine Vielzahl von Problemen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: In Großbritannien existiert eine Vielzahl von Plänen für Kooperationen zwischen Arbeiterschaft und Kapitalgebern und zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern. Diese scheinen aber bloße Erfindungen zu sein. Obwohl das Ausbildungsprogramm auf dem Papier riesig aussieht, ist es in Wirklichkeit winzig.

Wir brauchen also in erster Linie nicht mehr Konzepte. Wir brauchen vielmehr Wege, um das zu ermöglichen, was wir mit den Gesetzen nicht erreichen können. Italien hat z.B. theoretisch ein hervorragendes System für die Kooperation zwischen Gewerkschaften und Management. Es wurde aber nie implementiert. Wir haben in Bezug auf den Arbeitsmarkt offensichtlich keine einheitlichen sozialen Standards in Europa. Auf der einen Seite gibt es Deutschland und seine nordeuropäischen Nachbarn, auf der anderen die restlichen Länder, vor allem im Süden.

Rahner: Welche Chancen auf gute Arbeitsbedingungen, eine flexible Arbeitszeitgestaltung und beruflichen Aufstieg kann der Strukturwandel der Arbeit zukünftig für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland und Europa bieten?

Sennett: Ich mache mir keine großen Sorgen über das, was in Deutschland passieren wird. Ich mache mir viel größere Sorgen über das, was in Spanien, Italien, Griechenland und in Großbritannien außerhalb von London passieren wird. Natürlich gibt es auch Schwierigkeiten auf dem deutschen Arbeitsmarkt, aber das deutsche und die nordischen Wirtschafts- und Sozialsysteme haben sehr erfolgreiche und bewährte Methoden, mit denen man Arbeit klug organisieren kann. Dennoch lässt sich das deutsche Modell der sozialen Marktwirtschaft nicht als Universalmedizin auf die anderen Länder Europas anwenden, die deutlich stärker von den Krisen getroffen wurden.

Wenn es um Ideen wie ein Grundeinkommen oder Möglichkeiten der flexiblen Arbeitszeitgestaltung geht, ist die unbeantwortete Frage, ob Nationalstaaten wie Spanien und Frankreich überhaupt in der Lage wären, diese zu finanzieren. Nun bin ich kein Wirtschaftswissenschaftler, aber Wirtschaftswissenschaftler, die ein Grundeinkommen befürworten, haben mich darauf hingewiesen, dass gewisse Formen von sozialer Umverteilung höchst komplexe Wirkungen haben können. Das bedeutet, dass die angesprochenen Staaten, Spanien und Frankreich, bei der Einführung von durchaus sinnvollen arbeitsmarktpolitischen Instrumenten gegebenenfalls auch negative Nebenwirkungen in Kauf nehmen müssten, also beispielsweise die Arbeitslosenversicherung in ihrer derzeitigen Form abschaffen oder aber das Renteneintrittsalter auf 70 Jahre anheben müssen. Solche komplexen Rückwirkungen sind, je nachdem, wie die finanziellen Spielräume und Kontexte in den einzelnen Staaten beschaffen sind, sehr unterschiedlich und daher unbedingt zu berücksichtigen.

Rahner: Wie beeinflusst die Verwischung der Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben die Arbeitsbedingungen der arbeitenden Bevölkerung in OECD-Ländern wie Deutschland, Großbritannien oder Frankreich?

Sennett: Es gibt die Illusion, dass längere Arbeitsstunden für eine hochproduktive Gesellschaft notwendig sind. Meiner Meinung nach ist das der Versuch, ein neues System, neue Formen des Kapitalismus zu etablieren. Die Ideologie, die derzeit vorherrscht, suggeriert den Menschen, dass nur außergewöhnliche Anstrengungen sie in diesem System am Leben halten. Manche Menschen sagen, »Nein, ich lehne diese Anstrengungen ab, das ist nicht akzeptabel«. Momentan funktioniert das System so, dass es das Maximum verlangt und dieses als Norm für die Arbeitnehmerdisziplinierung einführt. Das ist natürlich unethisch, denn Menschen haben ein Recht darauf, z.B. nur acht Stunden am Tag zu arbeiten bzw. nur zehn Monate im Jahr. Sie werden allerdings immer Menschen finden, die bereit sind, das Maximum als Norm zu betrachten. Aber das werden keine guten Arbeiternehmer sein, denn sie sind auf Dauer nicht belastbar – überdies weder loyal noch verlässlich.

Ich glaube, wir brauchen daher einen Vertrag, in dem die Arbeitgeber für eine Kontinuität und Nachhaltigkeit am Arbeitsplatz bereit sind anzuerkennen, dass es soziale Normen gibt, die mit dem Maximum an Arbeitszeiteinsatz nicht vereinbar sind. Das strukturelle Problem ist nicht neu, jedoch die Tatsache, dass manche Arbeitgeber glauben, dass nur das Maximum akzeptabel und zielführend ist. Ich habe das an der Universität gesehen. Zurzeit erwarten Hochschulen in Großbritannien, dass ihre Angestellten zwischen zehn und zwölf Stunden am Tag arbeiten. Sie müssen alle möglichen Aufgaben erledigen, die genau genommen mit ihrer eigentlichen Tätigkeit nichts zu tun haben. Unter diesen Bedingungen leidet die Produktivität. Die Leute gehen nicht gerne zur Arbeit, und entsprechend sind ihre Arbeitsergebnisse. Wir verhandeln im Arbeitskontext viel zu selten Fragen der Lebensqualität. Insbesondere in Bezug darauf, dass Zeit eine zentrale Frage der Lebensqualität darstellt. Ich würde gerne viel mehr darüber diskutieren, wie man an diesem Punkt weiterkommen könnte. Ich glaube, es sollte im Interesse der Arbeitgeber liegen, dieses Thema voranzutreiben, denn die Arbeitsqualität, die man von Leuten bekommt, die zu viel arbeiten, ist niedrig. Das lässt sich statistisch nachweisen.

Rahner: Gibt es eine Vision für die Zukunft der Arbeit, die Sie als wünschenswert erachten?

Sennett: Natürlich (lacht). Mehr Sozialismus, mehr Mitbestimmung, kleinere Firmen, die Schwächung des Finanzkapitals zugunsten produktiver Arbeit. Ich habe keine große eigene Vision, aber ich weiß, dass das Problem, mit dem wir es im modernen Kapitalismus zu tun haben, die Manipulation der Zeit ist. In anderen Worten: Die Menschen werden von Zeitstrukturen dominiert, die ihre Fähigkeit reduzieren, Arbeit als Genugtuung zu erleben. Ich bin der Meinung, dass das ein Thema ist, das man zwar angehen, aber nicht in Gänze lösen kann. Unser System hat ganz offensichtlich eine sehr unrealistische Sicht auf die Art und Weise, wie Menschen an ihrem Arbeitsplatz Zeit erleben. Das ist es auch, worauf ich mich derzeit in meinen Forschungen besonders fokussiere.

Richard B. Freeman:Über soziale Ungleichheit und Mitarbeiterbeteiligung

Richard B. Freeman ist ein Phänomen: Sein Lebenslauf ist 58 Seiten lang und weist rund 40 Monografien und herausgegebene Bücher sowie über 300 Aufsätze in Fachzeitschriften auf. Man fragt sich unmittelbar, wann um Himmels willen macht er das nur alles? Die Themenpalette reicht von international vergleichenden Studien über die Auswirkungen der Globalisierung und Fragen der sozialen Ungleichheit bis hin zur Entwicklung des Wohlfahrtsstaates und zur Rolle und Verantwortung von Gewerkschaften auf dem Arbeitsmarkt. Der Harvard-Professor, dessen Markenzeichen das Tragen eines Hutes ist, zählt damit seit über drei Jahrzehnten zu den produktivsten Arbeitsökonomen weltweit. Dabei verlässt er gern bekannte Pfade und übt sich im Vor- und Querdenken.

Neben seinem beeindruckenden ökonomischen Sachverstand ist es somit die Originalität seiner Ideen und Politikempfehlungen, die seinen Thesen oftmals den Weg in die öffentliche und politische Diskussion ebnen. In vielfältiger Weise wirkt Freeman als wirtschaftspolitischer Berater: So war er in unterschiedlichen Funktionen für die Weltbank, die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) und die Europäische Union tätig. Darüber hinaus prägte er beispielsweise die Arbeitsmarktreformen in Südafrika und setzte wichtige Akzente in der US-amerikanischen Steuerpolitik.

Richard B. Freeman wurde 1943 im Bundesstaat New York geboren. Er ist Wirtschaftsprofessor an der Harvard-Universität, Visiting Professor an der London School of Economics sowie Forschungsdirektor am National Bureau of Economic Research (NBER) der USA. 2006 wurde Freeman für sein Lebenswerk in der Arbeitsmarktforschung mit dem Mincer-Preis ausgezeichnet. 2007 wurde ihm zudem der renommierte Preis für Arbeitsökonomie des Bonner Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) verliehen. Zuletzt erschien von ihm und zwei Fachkollegen das von der »New York Times« hochgelobte Buch »The Citizen’s Share: Putting Ownership Back into Democracy« (2013). Derzeit arbeitet er an einem neuen Buch mit dem Titel »Making Europe Work«.

Bleibt die Frage, wie der Star-Ökonom alle seine wissenschaftlichen und politikberatenden Tätigkeiten sprichwörtlich »unter seinen Hut« bekommt. Mit einem Augenzwinkern verrät er, dass er gerne in wolkiger Höhe im Flugzeug fernab von Telefonen und E-Mail-Postfächern nachdenkt und schreibt. Ich erreiche Freeman zwischen zwei Terminen in Oslo und Peking bei einer Zwischenlandung in seinem Arbeitszimmer an der Harvard-Universität zum Video-Interview. Im Gespräch gibt er Einblicke in globale Arbeitsmarkttrends, diskutiert innovative Arbeitszeitmodelle und schlägt mit der Einführung von grundlegenden Formen der Mitarbeiterbeteiligung an den Unternehmenswerten zugleich einen radikalen wirtschaftspolitischen Kurswechsel vor.

Rahner: Welche entscheidenden Entwicklungen und Zusammenhänge werden Ihrer Auffassung nach die Zukunft der Arbeit im Wesentlichen bestimmen?

Freeman: Zuallererst möchte ich die Globalisierung und deren Auswirkung auf China, Indien und die 75 Prozent der Staaten der Welt nennen, die nicht zu den industrialisierten westlichen Ländern zählen. Die Entwicklungen in den bevölkerungsreichen und sich rasant verändernden Ländern wie China und Indien werden einen wesentlichen Einfluss auf die globale Entwicklung haben. Ein zweiter entscheidender Trend wird der wissenschaftliche und technologische Fortschritt sein: Wie werden wir diesen innerhalb unserer Wirtschaftssysteme einsetzen, und wer wird diesen Einsatz kontrollieren und beeinflussen? Es wird von entscheidender Bedeutung sein, ob eine kleine Gruppe von Milliardären die Kontrolle übernimmt oder ob der Umgang mit den wissenschaftlichen und technologischen Errungenschaften der Zukunft von einer größeren Gruppe beeinflusst wird.

Rahner: Welchen Einfluss hat die demografische Entwicklung auf den Arbeitsmarkt und die Arbeitsbedingungen in den USA?

Freeman: Es gibt im Großen und Ganzen drei demografische Entwicklungen, die hier von Bedeutung sind. Dies sind zunächst der steigende Bedarf sowie die verbesserte Stellung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Frauen, die über 50 Prozent der Bevölkerung stellen, übernehmen heutzutage mehr und mehr Aufgaben in der Erwerbsarbeit, und dies oftmals in Vollzeit. Sie stellen zudem inzwischen die Mehrheit der Universitätsabsolventen. In den USA schließen aktuell etwa 40 Prozent mehr Frauen als Männer ihr Studium mit dem Bachelor ab. In Deutschland sind es etwas mehr Frauen als Männer, aber es sind keine 40 Prozent wie hierzulande. Diese Entwicklung hat natürlich einen immensen Einfluss auf den gegenwärtigen und zukünftigen Arbeitsmarkt sowie die Arbeitsbedingungen.

Die zweite Entwicklung in den Vereinigten Staaten betrifft die Einwanderung. Bisher kamen hauptsächlich einfach qualifizierte Menschen aus Mexiko und Lateinamerika in die USA, was zu einem Niedriglohnsektor geführt hat, den es in dieser Form sonst nicht gegeben hätte. Inzwischen nehmen jedoch viele Immigranten an Doktorandenprogrammen teil oder arbeiten als Professoren. Aktuell sind unter ihnen viele chinesische Staatsbürger. Die USA werden also vor allem im universitären Bildungswesen und im Bereich der Hochqualifizierten über einen längeren Zeitraum hinweg keinen Fachkräftemangel haben. Sie werden langfristig sogar die attraktiveren und lukrativeren Jobs anbieten können als Indien oder China.

Als dritte Entwicklung können wir eine sich wandelnde ethnische Zusammensetzung der amerikanischen Arbeitnehmerschaft feststellen. Früher stellten Weiße europäischer Herkunft die überwältigende Mehrheit. Wir wissen, dass in der jüngeren Bevölkerung die Anzahl der Weißen zurückgeht. Stattdessen setzt sich die junge Arbeitnehmerschaft vermehrt aus Latein- und Afroamerikanern, Asiaten sowie weiteren ethnischen Gruppen zusammen. Diese Entwicklung hat sowohl Einfluss auf den Arbeitsmarkt als auch auf die Arbeitsbedingungen und stellt daher ein konfliktreiches politisches Thema dar.

Rahner: Sind Sie der Meinung, dass liberale Marktwirtschaften wie die USA gut aufgestellt sind, um die bevorstehenden Herausforderungen in der Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik zu meistern? In Bezug auf welche arbeitsmarktbezogenen Aspekte sind die USA erfolgreicher als kooperative Marktwirtschaften wie die deutsche?

Freeman: In einigen Aspekten hat das sozioökonomische Modell der Vereinigten Staaten gute Arbeit geleistet: Frauen konnten ziemlich reibungslos in Arbeit kommen und sich eine eigenständige Existenz aufbauen, im Fast-Food-Sektor wurden viele Arbeitsplätze geschaffen, und ungelernte Migranten konnten z.B. als Putzfrauen, Tagesmütter oder Erzieherinnen eine Vielzahl von Jobs finden. Zudem haben sich die Arbeitsmärkte als sehr aufnahmefähig erwiesen, als die Türen für chinesische, indische und andere Immigranten geöffnet wurden, die als Wissenschaftler und Ingenieure auf den US-amerikanischen Arbeitsmarkt geströmt sind.

Auf einem anderen Gebiet hat sich der neoliberale Arbeitsmarkt der Vereinigten Staaten allerdings als nicht sehr erfolgreich erwiesen, denn wir haben keine ausreichend starken Gewerkschaften, die die Menschen an der Spitze der Gesellschaft daran hindern, der Bevölkerungsmehrheit einen immer größeren Anteil des Einkommens wegzunehmen – eine klare institutionelle Schwäche unseres Arbeitsmarktes. Wir haben keine Instrumente, mit denen man gegen die Macht der Reichen opponieren könnte. Es wird umso leichter, den Lohn zu drücken, wenn mehr und mehr Migranten ins Land strömen und Arbeit suchen. Es hat eine ganze Weile gedauert, bevor die Gewerkschaften zu Fürsprechern der Migranten wurden. Jetzt, da sie es sind, haben sie einen noch zu geringen Einfluss. Neoliberale Arbeitsmärkte haben ihre Stärken bei der Schaffung neuer Jobs, aber sie sind sehr schwach, wenn es um die Einkommensverteilung geht oder darum, die Macht von Arbeitgebern und Arbeiternehmern auszubalancieren, indem faire Regeln für den Arbeitsmarkt aufgestellt werden. Dies ist der Bereich, in dem das amerikanische System grundlegenden Nachholbedarf hat.

Diese Defizite wurden während der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise offensichtlich: Die amerikanischen Unternehmen entließen ihre Mitarbeiter viel schneller, als sie es jemals zuvor in der amerikanischen Geschichte getan hatten. Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wurden einfach auf die Straße gesetzt. Durch die rasche Senkung der Personalkosten konnten viele Unternehmen ihre Geschäftsbilanzen sehr schnell aufbessern. Die Unternehmen verloren zwar zunächst Kapital, weil die Aktienkurse fielen. In der Zwischenzeit hat sich aber der Aktienmarkt wieder erholt.

Außerhalb der USA setzte man verstärkt auf den Erhalt von Arbeitsplätzen und auf verschiedene Sparprogramme. Es ist jedoch Fakt, dass die Vereinigten Staaten 2009 das schnellste Produktivitätswachstum im produzierenden Gewerbe in ihrer Geschichte verzeichneten. Die Kehrseite des wirtschaftlichen Erfolges liegt in den sozialen Auswirkungen: Ein Großteil der US-amerikanischen Unternehmen versagte dabei, für eine sozialverträgliche Reaktion auf die Wirtschafts- und Finanzkrise zu sorgen. Das Kernproblem liegt darin, dass unser Wirtschaftssystem nicht über die notwendigen institutionellen Kontrollinstanzen und -mechanismen verfügt, die die Arbeitgeber dazu veranlassen würden, dass sie sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln bemühen, während einer Rezession Stellen zu retten.

Das ist vielleicht kein Problem für die einzelnen Firmen. Sie steigern die Produktivität und machen größere Profite. Aber dabei übersieht man die soziale Komponente, und die wird sich über kurz oder lang bemerkbar machen. In einigen Firmen – und sogar Wal-Mart hat sich darüber beklagt – werden die Arbeiterinnen und Arbeiter so schlecht bezahlt, dass sie sich selbst die eigenen Produkte nicht leisten können. Deshalb hat sich Wal-Mart für Anhebungen des Mindestlohns stark gemacht. Das ist äußerst bemerkenswert. Dies liegt nicht an der besonderen Arbeitnehmerfreundlichkeit des Managements, sondern daran, dass Wal-Mart seine Produkte natürlich verkaufen möchte.

Rahner: Werfen wir einen Blick auf Deutschland: Welche Chancen sehen Sie in Deutschlands koordinierter Marktwirtschaft für die Kooperation zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, um drängende arbeitsökonomische Fragen wie z.B. den sich abzeichnenden Fachkräftemangel sozialpartnerschaftlich anzugehen?

Freeman: