Architektur in Deutschland im 20. Jahrhundert - Winfried Nerdinger - E-Book

Architektur in Deutschland im 20. Jahrhundert E-Book

Winfried Nerdinger

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Beschreibung

Mit diesem Buch legt Winfried Nerdinger, renommierter und vielfach ausgezeichneter Architekturhistoriker, einen umfassenden Überblick zur Architektur in Deutschland im 20. Jahrhundert vor. Es sind 100 prägende Jahre, von Peter Behrens bis Günter Behnisch, vom Völkerschlachtdenkmal und Faguswerk bis zur Stalinallee und dem neuen Bundestag – 100 Jahre, in denen sich Deutschlands städtebauliches Bild prägend herausbildet. Erstmals werden hier Architektur und Städtebau im Zusammenhang der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technischen Entwicklungen vorgestellt. Der Schwerpunkt dieser Geschichte der Architektur in Deutschland liegt auf dem Zeitraum 1890 bis 1990 – vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung. Die Umbrüche 1918/19, 1933 und 1945 verändern jeweils die äußeren Rahmenbedingungen, ab 1945 spaltet sich das Bauwesen in die Besatzungszonen auf und nach der Gründung von BRD und DDR 1949 werden die Entwicklungen in Ost und West von Konkurrenz und Konvergenz bestimmt. Mit der politischen Einigung verbinden sich die verschiedenen Architekturstränge wieder, das Jahr 1990 bildet daher eine wichtige Zäsur. Ein Ausblick auf die Zeit nach 1990 beschließt diese facettenreiche Sozial-, Wirtschafts-, Institutionen- und Technikgeschichte der Architektur.

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Winfried Nerdinger

Architektur in Deutschland im 20. Jahrhundert

Geschichte, Gesellschaft, Funktionen

C.H.Beck

Historische Bibliothek der GERDA HENKELSTIFTUNG

Die Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung wurde gemeinsam mit dem Verlag C.H.Beck gegründet. Ihr Ziel ist es, ausgewiesenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Möglichkeit zu geben, grundlegende Erkenntnisse aus dem Bereich der Historischen Geisteswissenschaften einer interessierten Öffentlichkeit näherzubringen. Die Stiftung unterstreicht damit ihr Anliegen, herausragende geisteswissenschaftliche Forschungsleistungen zu fördern – in diesem Fall in Form eines Buches, das höchsten Ansprüchen genügt und eine große Leserschaft findet.

Zuletzt erschienen:

Frank Rexroth: Fröhliche Scholastik

Die Wissenschaftsrevolution des Mittelalters

Hartmut Leppin: Die frühen Christen

Von den Anfängen bis Konstantin

Dieter Langewiesche: Der gewaltsame Lehrer

Europas Kriege in der Moderne

Mischa Meier: Geschichte der Völkerwanderung

Europa, Asien und Afrika vom 3. bis zum 8. Jahrhundert n. Chr.

Jill Lepore: Diese Wahrheiten

Eine Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika

Klaus Mühlhahn: Geschichte des modernen China

Von der Qing-Dynastie bis zur Gegenwart

Gudrun Krämer: Der Architekt des Islamismus

Hasan al-Banna und die Muslimbrüder

Thomas O. Höllmann: China und die Seidenstraße

Kultur und Geschichte

Zum Buch

Mit diesem Buch legt Winfried Nerdinger, renommierter und vielfach ausgezeichneter Architekturhistoriker, einen umfassenden Überblick zur Architektur in Deutschland im 20. Jahrhundert vor. Es sind 100 prägende Jahre, von Peter Behrens bis Günter Behnisch, vom Völkerschlachtdenkmal und Faguswerk bis zur Stalinallee und dem neuen Bundestag – 100 Jahre, in denen sich Deutschlands städtebauliches Bild prägend herausbildet.

Der Schwerpunkt dieser Geschichte der Architektur in Deutschland liegt auf dem Zeitraum 1890 bis 1990 – vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung. Die Umbrüche 1918/19, 1933 und 1945 verändern jeweils die äußeren Rahmenbedingungen, ab 1945 spaltet sich das Bauwesen in die Besatzungszonen auf und nach der Gründung von BRD und DDR. 1949 werden die Entwicklungen in Ost und West von Konkurrenz und Konvergenz bestimmt. Mit der politischen Einigung verbinden sich die verschiedenen Architekturstränge wieder, das Jahr 1990 bildet daher eine wichtige Zäsur. Ein Ausblick auf die Zeit nach 1990 beschließt diese facettenreiche Sozial-, Wirtschafts-, Institutionen- und Technikgeschichte der Architektur.

Aus lizenzrechtlichen Gründen darf die Abb. 151 in diesem eBook nicht wiedergegeben werden.

Über den Autor

Winfried Nerdinger war Professor für Architekturgeschichte und Direktor des Architekturmuseums der TU München sowie Gründungsdirektor des NS-Dokumentationszentrums München. Seit 2019 ist er Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Zuletzt sind von ihm bei C.H.Beck erschienen: Das Bauhaus. Werkstatt der Moderne (42023) und Walter Gropius. Architekt der Moderne (2019).

Inhalt

Einführung

1. Kaiserreich 1890–1918

1.1 Bauwirtschaft, Baupolitik, Berufsstand

Wirtschaftliche Entwicklung des Bauwesens

Rechtliche Rahmenbedingungen, Grundstücksmarkt

Bautechnik, Stahl und Stahlbeton

Baubetrieb und Ausbildung

Berufliche Organisation

1.2  Monarchische und nationale Repräsentation – Legitimation aus der Geschichte

Kaiserpfalzen in Straßburg und Goslar

Berliner Dom und Siegesallee

Neoromanik als Kaiserstil

Residenzschloss und Kolonialisierung in Posen

Kaisermaskerade und Imperator-Technik: Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen

Denkmäler und Nationalisiserung der Massen

1.3  Bürgerliches Bauen – Daseinsvorsorge und urbane Kultur

Bautätigkeit des Reiches: Reichstagsgebäude

Bautätigkeit der Bundesstaaten: Regierungs- und Justizgebäude als Zeugnisse der Verwaltungsmacht, Kulturbauten für das Bildungsbürgertum

Bautätigkeit der Kommunen für Stadthygiene, Stadttechnik und Daseinsvorsorge

Die Macht der Stadtbauräte

1.4 Die Suche nach einem neuen Stil

Abwendung von der Geschichte: Lebensreform und Jugendstil

Impulse von Otto Wagner und Henry van de Velde

Mathildenhöhe Darmstadt: neue deutsche Kunst

Maschinenästhetik mit nationalem Anspruch: der Deutsche Werkbund

Von der AEG-Turbinenhalle zur Jahrhunderthalle: Technikform wird monumentale Kunstform

1.5  Heimatschutz, Denkmalpflege und Erfindung von Tradition

Bodenreform- und Heimatschutzbewegung

Denkmalschutz zur Hebung des Nationalsinns

Konservieren nicht Restaurieren: Das Denkmal wird Geschichtsdokument

Heimatmuseen und Heimatschutz als Erzieher

Die Erfindung von Heimat

Schutz von Ensembles und Gesetze gegen Verunstaltung

1.6 Von der hygienischen Stadt zur Wohnreform

Bauordnungen und Bebauungspläne als Machtinstrumente

Stadthygiene

Wohnungsbau als Spekulation

Hygiene und Genossenschaften als Hebel zur Wohnungsreform

Von der Großstadtkritik zum künstlerischen Städtebau

Gartenstädte als Heilmittel

Das Lob der Großstadt

1.7 Architektur für Krieg und Frieden

Panzerfortifikationen und Marinebauten

Miltarismus von Architektur und Architektenschaft

Bauen und Planen für den Krieg

Zerstörung im Westen und Rekonstruktion in Ostpreußen

Der Krieg als Förderer von Normierung, Typisierung und Kriegerheimstätten

Architektur für den Frieden und die Friedensstadt

Bruno Tauts Friedensmanifeste gegen den Krieg

2.  Weimarer Republik 1919–1933

2.1 Bauwirtschaft, Baupolitik, Berufsstand

Wirtschaftliche Entwicklung, Erzberger’sche Finanzreform und die Reichsschuldenverwaltung

Hauszinssteuer als Motor des Wohnungsbaus

Baurecht und Bauverwaltung

Weltwirtschaftskrise und der Baumarkt

Reform des Architekturunterrichts und Baupraxis

Freie gegen beamtete Architekten

2.2 Nationale vs. internationale Architektur

Reformphantasien im Zeichen der Gotik

Der «Schrei nach dem Turmhaus»

Expressiver Aufbruch: Hans Poelzig und Erich Mendelsohn

De Stijl, das Bauhaus und eine Internationale Architektur ohne Ornament

Parallelitäten: Siedlung Am Weißenhof, Ausstellung GeSoLei Düsseldorf, Tannenberg-Nationaldenkmal

Polarisierung der Architekten: «Block» gegen «Ring»

Nivellierte Moderne – formale Konvergenzen

Deutscher Pavillon in Barcelona vs. Das deutsche Haus

2.3  Neues Bauen für den Neuen Menschen in der Neuen Zeit

Der Neue Mensch, Blick nach vorn ohne Geschichte

Erziehung durch genossenschaftliches Bauen: Die Hufeisensiedlung

Ernst May und Das Neue Frankfurt

Das Neue Bauen als Erzieher: Bauhaus Dessau, ADGB-Bundesschule Bernau, Haus der Jugend Altona

Gebaute Reformpädagogik von Fritz Karsen und Bruno Taut

2.4 Rationalisierung und neue Wohnformen

Amerikanismus und Fordismus

Die Neue Bauwirtschaft in Dessau-Törten und Frankfurt am Main

Versuchssiedlungen der Reichsforschungsgesellschaft

Befreites Wohnen und die Wohnung für das Existenzminimum

Weltwirtschaftskrise: Behelfsbauten und Luxuswohnungen

2.5 Stadtumbau und Landesplanung

Kritik an der Stadt

Beginn der Raumplanung

Auflockerung der Stadt und Trennung der Funktionen

Fritz Schumacher: Planungen für Hamburg und Köln

Siedlungsverbände

Städtebau als Wissenschaft und Vision

Die Stadtbauräte und die Stadtplanungen

Konrad Adenauer und Adolf Abel: Umbau von Köln

Planungen für Groß-Berlin

3.  Nationalsozialismus 1933–1945

3.1 Bauwirtschaft, Baupolitik, Berufsstand

Kriegswirtschaft im Frieden

Bauen für die Rüstungsprogramme

Autarkieprogramm und Vierjahresplan

Steuerung der Rüstungsproduktion

Gleichschaltung der Hochschulen und Selbstmobilisierung der Professoren

Regulierung und Organisation des Berufsstands

3.2 Gleichschaltung zur «deutschen Baukunst»

Kampf gegen internationale Architektur und «Baubolschewismus»

Paul Schmitthenner als Vorbild und Vorkämpfer

Was ist «Deutsche Baukunst»?

Versuche zur Nationalisierung des Neuen Bauens

Vorgaben von Hitler und Troost

Von Troost zu Albert Speer

Propagandaausstellungen zur Vermittlung «deutscher Baukunst»

3.3 Bauen für den Krieg

Mitarbeit am Rüstungsprogramm

Neuaufbau der Luftwaffe, Produktionsstätten für Munition und Panzer

Funktionale Industriearchitektur

Bauten für Forschung und Erziehung

Bauen im Krieg: Typisierung, Baracken und Lager

Häftlinge, Zwangsarbeit und Rüstungsbauten

3.4  Architektur und Städtebau für die «Volksgemeinschaft»

Großbauten zur psychologischen Stärkung

Inszenierung von Opfer- und Totenkult

Reichsparteitagsgelände in Nürnberg

Planungen für «Führer- und Gauhauptstädte»

Zusammenarbeit von SS und Speer

«Entschandelung» der Städte und neue Reichskanzlei

Planen und Bauen im Krieg

3.5 Raumordnung und «Lebensraum»

Entwicklung einer rassistischen «Raumpolitik»

Reichsstelle für Raumordnung: Instrument rassistischer Ordnung

Umsiedlung und «Eindeutschung» von Landschaft und Städten in Polen

Planungen im «Reichsgau» Wartheland und im Generalgouvernement

Planungen in der «Westmark»

Das Reichskommissariat Himmlers und der «Generalplan Ost»

4. Nachkrieg 1945–1949

4.1 Verdrängung, Visionen, Realität

Entnazifizierung und Persilscheine

Ruinen und Enttrümmerung

Wiederaufbau als «Chance»

Wiederaufbau und Moral: Goethehaus und Paulskirche

Legendenbildung: «Zuflucht im Industriebau»

Baupolitik in der französischen Zone

Die Grindelhochhäuser in der britischen Zone

Bodenreform und Baukontrolle in der sowjetischen Besatzungszone

Vielfalt der Wiederaufbaukonzepte in den Städten der Trizone

Umlegungen und Neustrukturierungen

5.  Systemkonkurrenz: BRD und DDR 1949–1990

5.1 Bauwirtschaft, Baupolitik, Berufsstand in Ost und West

Systemkonkurrenz

Wohnungsbau als Instrument der Sozialpolitik in der BRD

Dirigismus und Zentralismus in der DDR

Konjunkturen und Krisen der Bauwirtschaft in der BRD

Bauwirtschaft in der DDR von Ulbricht zu Honecker

Der Architekt in der DDR

Der Architekt in der Bundesrepublik

Ausbildung in Berlin-Weißensee, Weimar und Dresden

Ausbildung an den Technischen Hochschulen der BRD

5.2  Internationalisierung vs. Nationale Bautradition

Cold War Confrontation und Zwei-Kulturen-Lehre

Nationale Bautradition als politisches Instrument

Kehrtwende vom Bauhaus zur Schinkeltradition: die Stalinallee

Vorbild USA, amerikanische Einflüsse

Kontinuitäten und Brüche in der westdeutschen Architektenschaft

Das Darmstädter Gespräch und der Streit um eine andere Moderne

Kritik am Wiederaufbau

5.3  Ökonomisierung und Industrialisierung des Bauens

Kurswechsel von der «nationalen» Architektur zum industriellen Bauen

Folgen der «Wende im Bauwesen»

Interbau Berlin: architektonische Demonstration des «freien Westens»

Weiträumige Ensembles und ein sozialistisches Zentrum für Berlin

Ökonomisierung und Wohlstandsarchitektur

Städtebau zur Mobilisierung: die autogerechte Stadt

Urbanität durch Dichte, Zentren und Verflechtung

Präfabrikation und Bausysteme

Ästhetisierung des Sichtbetons: Brutalismus

Architektonische Zeichen des Fortschrittsglaubens

5.4 Reflexive Moderne und Planwirtschaft

Komplexität gegen Internationalismus: Kritik an der Moderne

Grenzen des Wachstums und Reflexion der Grundlagen der Moderne

Denkmalschutz und Stadtreparatur

Kontroversen um die Postmoderne

Postmoderne vs. «Projekt Moderne»

«Einheit von Wirtschaft und Sozialpolitik»: Plattenbau als Motor zu sozialistischer Egalität

5.5 Städtebau in Ost und West

Adaption der Instrumente und Begriffe der Raumplanung

Zerstörung als «Chance» für den Bau «gesunder» Städte

Bilanz des Wiederaufbaus: geschichtsfern aber verkehrsgerecht

Kommerzialisierung, «Entdichtung» und Großsiedlungen

Kritik an der Stadtzerstörung von Jane Jacobs bis «Profitopolis»

Denkmalschutz und neue Konzepte für die Stadt

IBA Berlin und Neue Heimat

Neue sozialistische Städte für die Energieversorgung der DDR

Bildzeichenarchitektur

Großsiedlungen mit der Wohnungsbauserie 70 und die Adaption der Platte

5.6 Traditionen und Brüche

Formen der Wiederherstellungen im Sakral- und Profanbau der BRD

Pro und Contra Geschichte

Reparaturen städtischer Identität in der BRD

Selektion der Tradition in der DDR

Mahn- und Gedenkstätten in BRD und DDR: Indienstnahme der Geschichte

Denkmalpflege in der DDR

5.7  Repräsentation, Bildung, Kultur – Ost und West

Stadtumbau für politische Repräsentation in der DDR

Kulturhäuser für sozialistische Erziehung und Kollektivierung

Kultur- und Bildungsbauten in der BRD

«Meisterbauten» in Darmstadt und die gebaute Pädagogik von Scharoun

Kulturbauten als Repräsentationsersatz in der BRD und in Westberlin

Regierungsbauten in Bonn und Westberlin

Architektonische Repräsentation der BRD auf internationalen Ausstellungen und im Kanzlerbungalow

«Swinging Germany»: Montreal ’67, München ’72 und ein neuer gläserner Bundestag

Wiedervereinigung und Ausblick

Abkürzungen

Bibliographie

Anmerkungen

Einführung

1. Kaiserreich 1890–1918

2. Weimarer Republik 1919–1933

3. Nationalsozialismus 1933–1945

4. Nachkrieg 1945–1949

5. Systemkonkurrenz: BRD und DDR 1949–1990

Wiedervereinigung und Ausblick

Bildnachweis

Personenregister

Ortsregister

Einführung

Dass kein einziger Zustand der Menschen und Dinge

Aufmerksamkeit verdient an sich, sondern nur im Zusammenhange

mit dem vorhergehenden und folgenden Dasein;

dass die Resultate an sich nichts sind, alles nur die Kräfte,

die sie hervorbringen, und die aus ihnen entspringen.

Wilhelm von Humboldt[1]

Industrialisierung, Verstädterung und Urbanisierung basieren – wie kapitalistische Wirtschaft, bürokratische Ordnung und technisch-wissenschaftliche Rationalisierung – auf der von Max Weber aufgezeigten Entfaltung des okzidentalen Rationalismus. Die Prozesse lösten traditionelle Bindungen auf und bewirkten Verunsicherungen, auf die künstlerische, gesellschaftliche und wissenschaftliche Antworten erfolgten. Eine Zusammenfassung der Reaktionen geschah zuerst im Bereich der Kunst gegen Ende des 19. Jahrhunderts in dem substantivierten Begriff «die Moderne». Da der Begriff «durch das Selbstverständnis der avantgardistischen Kunst geprägt ist»[2], behielt er eine «ästhetische Kernbedeutung». Für die meisten Künstler und Architekten ist «modern» beziehungsweise «die Moderne» bis heute positiv besetzt, die Begriffe transportieren für sie die darin eingelassenen Interessen und Leitideen wie zeitgemäß, Abwendung von historischen Formen, fortschrittlich, innovativ sowie implizit auch eine moralische Wertung. Als der Herausgeber der Zeitschrift «Baukunst und Werkform», Alfons Leitl, 1948 erklärte, ein «guter Architekt» sei «immer ein moderner Architekt»[3], fällte er nicht nur ein pauschales Qualitätsurteil, sondern er bediente sich auch einer seit über einem halben Jahrhundert mit «modern» verknüpften moralischen Konnotation, die er zur Exkulpation derjenigen verwendete, die während des Nationalsozialismus «modern» gebaut hatten, während umgekehrt «unmodern» zur Kennzeichnung der NS-Zeit diente – beides verfälschte historische Fakten. Eine Geschichte der Architektur in Deutschland im 20. Jahrhundert ist auch eine Geschichte der Moderne – Begriffe, Selbstverständnis, Werke und Werte müssen deshalb hinterfragt und in den gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Zusammenhängen dargestellt werden, um die mit der «Moderne» transportierten Vorstellungen einzuordnen.[4]

Schon Max Weber verwies auf die Antinomien beziehungsweise Paradoxien der Rationalisierung, die strukturell zur Moderne gehören. Wie die Antworten so liegen auch die Probleme in den Entwicklungspotenzialen der Moderne selbst, im Industriekapitalismus, in der Bürokratisierung, in sozialtechnischen Integrationsstrategien, im Hegemonialanspruch von Technik und Wissenschaft sowie in der angeblichen Sachgesetzlichkeit der Rationalisierung.[5] Die kapitalistische Wirtschaft ist verbunden mit Leistungssteigerung wie auch den Zwängen eines Social Engineering, der Zuwachs an Ordnung und Rationalität erzeugt auch eine Kolonialisierung der Lebenswelt und Ausbrüche in die Barbarei.[6] Der «modernen Architektur» sind die Antinomien der Moderne konstitutiv eingeschrieben. Auf die Massengesellschaft, die Verdichtung der Städte und deren hygienische und soziale Zustände sowie auf die Trennung von der Natur antwortete die architektonische Moderne mit urbanistischen und sozialen Konzepten wie der Garten-, Trabanten- oder Bandstadt, mit Auflockerung, Durchgrünung und Trennung der urbanen Funktionen, mit Zeilenbau und neuen Wohnformen. Die Kehrseite waren Auflösung von Urbanität, Verlust von identitätsstiftender Tradition, soziale Segregation sowie Behausung des Menschen entsprechend den ökonomisch begründeten Prinzipien maschineller Produktion. Von ihren Protagonisten wurde die moderne Architektur als Befreiung des Menschen vom Ballast der Historie, als Rettung aus kranken Städten und ungesunden Mietskasernen sowie als Weg zu egalitären Räumen in einer neuen Gesellschaft gepriesen. Die Entwicklungsgeschichte der Moderne war jedoch «keine Einbahnstraße zur Freiheit»[7]. Die Modernisierungsprozesse sind an gesellschaftliche Strukturen gebunden, sie finden in Demokratien wie auch in Diktaturen statt und können deshalb auf ganz unterschiedliche gesellschaftliche und politische Ziele ausgerichtet sein. Rationalisierung und «moderne» Architektur sind für nahezu jeden Zweck und jede Gesellschaftsform verwendbar.

Die «dunkle» Seite der Moderne beziehungsweise das «Doppelgesicht»[8] der modernen Architektur blieb lange von den positiven Konnotationen überlagert. Um immanente Ambivalenzen und Paradoxien der Moderne nach den Erfahrungen der 1930er- und 1940er-Jahre besser zum Ausdruck zu bringen, ersetzten Sozial- und Geschichtswissenschaften den Epochenbegriff durch eine von der Rationalisierung entkoppelte «Modernisierung»[9]. Das Ende des Fortschrittsglaubens und die Erkenntnis von Grenzen des Wachstums in den 1970er-Jahren führten zum begrifflichen Modell einer «reflexiven Moderniserung»[10], in der die bisherigen Vorstellungen von der Moderne selbst zum Thema wurden. In der Folge wurde «die Moderne» zunehmend pluralisiert, und in den Untersuchungen über «Multiple Modernities»[11] erfolgte eine Differenzierung hinsichtlich der global unterschiedlichen Entwicklungen sowie eine Historisierung der verschiedenen Moderne-Diskurse.

Im Bereich der Architektur wandte sich eine als «Postmoderne» bezeichnete Bewegung seit den 1960er-Jahren gegen die von den Rationalisierungsidealen geprägte moderne Architektur, die als «klassische» oder «erste» Moderne in die Geschichte verabschiedet werden sollte. Die postmoderne Architektur charakterisierte sich durch Bezüge auf die Historie, wandte sich gegen internationale Gleichform und anonyme Räume, verknüpfte sich mit dem konkreten Ort und spielte mit Bildern, Widersprüchen und Zitaten. Die Entwicklung der postmodernen Architektur führte jedoch nicht zu einer Revision der Grundlagen der modernen Architektur, sondern mit der Aufgabe der Totalisierung bildeten sich plurale Architekturbereiche aus.[12] Die neuen postmodernen Architekturformen passten sich in die ökonomischen Prozesse ein, zudem wurde die «klassische Moderne» rückblickend in verschiedene Kategorien wie «andere», «heroische», «konservative», «konsequente», «moderate» oder «sanfte» Moderne aufgeteilt, um mittels einer größeren Bandbreite verschiedene Entwicklungsstränge in die Gegenwart leiten zu können. Dies konterkarierte allerdings die Reformanliegen der sozial engagierten Vertreter moderner Architektur, die sich um eine Umsetzung eines von aufklärerischen Idealen getragenen «Projekt Moderne»[13] bemühten.

Die in den Begriff «moderne Architektur» ein- und festgeschriebenen positiven Konnotationen können nicht mehr aufgehoben werden, die Darstellung der Geschichte der Architektur des 20. Jahrhunderts berücksichtigt die Ambivalenzen der Moderne, indem die Planungen und Bauten in politische, ökonomische und soziale Zusammenhänge eingebettet und die Begriffe soweit möglich reflexiv verwendet werden.[14] Wird der Blick auf «die Moderne» fokussiert, werden Entwicklungslinien und Bedeutungen konstruiert, die das Baugeschehen nicht adäquat abbilden und historische Zusammenhänge ausblenden. Es geht also darum, die Entwicklung der Architektur sowohl in ihrer Vielfalt als auch in historischen Prozessen zu verfolgen. Nicht Betrachtungen von einzelnen Bauten und Planungen, sondern die vielfältigen Bedingungen der Bau- und Planungstätigkeit und deren architektonische Ausformung im Wechselspiel der Kräfte stehen deshalb im Vordergrund, um die Wege von 100 Jahren Architektur in Deutschland zu erhellen.

Die Untersuchung setzt um 1890 ein,[15] da in der folgenden Dekade mehrere ineinandergreifende, auch für die Architektur konstitutive Ereignisse wirksam werden: Die Entlassung Otto von Bismarcks im März 1890 und die folgende Herrschaft Wilhelms II. markieren einen politischen Epochenwechsel, der zum Ersten Weltkrieg führt[16] sowie wilhelminischen Pomp und monumentale Repräsentation verstärkt. Das Ende der Sozialistengesetze 1890 kennzeichnet den Beginn einschneidender gesellschaftlicher und sozialer Entwicklungen über verstärkte Arbeiterorganisationen sowie genossenschaftliche Baubetriebe, die sich aufgrund neuer Hypothekengesetze entfalten können. In wirtschaftlicher Hinsicht setzt nach einer Depression in der zweiten Hälfte der 1880er-Jahre ein Aufschwung ein, der mit kleinen Abschwächungen bis 1914 anhält. Für das Bauwesen beginnt mit dem Mitte der 1880er-Jahre patentierten Moniersystem für Eisen- beziehungsweise Stahlbeton und dem 1892 eingeführten monolithen Plattenbalken nach dem System Hennebique eine Epoche völlig neuer konstruktiver und räumlicher Gestaltungsmöglichkeiten. Das zug- und druckfeste, nahezu beliebig formbare Verbundmaterial wird zur Grundlage einer neuen Architektur. Durch Camillo Sittes 1889 erschienenes Werk Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen wird die bislang übliche städtebauliche Planung nach geometrischen Grundmustern revolutioniert. Während Sitte Städtebau als horizontale Blickführung durch Straßen und Plätze erläutert und Raum als erleb- und modellierbare geistige Form präsentiert,[17] wird im gleichen Jahr der Eiffelturm in Paris errichtet, das Jahrhundert-Manifest der Technik, das den Blick in die Höhe zieht und den Glauben an den Fortschritt buchstäblich in den Himmel hebt. 1890 liefert Julius Langbehns Bestseller Rembrandt als Erzieher Leitbegriffe sowohl für die Heimatschutzbewegung als auch für die Suche nach einem Nationalstil. In Folge einer seit längerem artikulierten Kritik am Historismus entsteht um 1890 die vielfach facettierte Lebensreformbewegung und damit eine Abwendung von der Historie als Leitmotiv der Lebensgestaltung. Der Belgier Henry van de Velde propagiert seit 1890 mit seinen Arbeiten und Schriften eine neue Lebensform, die als «Jugendstil» alle Lebens- und Gestaltungsweisen durchdringt und das Design in Deutschland radikal verändert. Gleichzeitig wird der Ausdruck «die Moderne» im deutschsprachigen Raum gängig und avanciert «zu einem wichtigen Begriff der kollektiven Selbstverständigung»[18], den Hugo von Hofmannsthal «das Merkwort der Epoche» nennt. Infolge von August Schmarsows Untersuchung über Das Wesen der architektonischen Schöpfung von 1894 wird «Raum» in kurzer Zeit zum neuen Leitbegriff und -prinzip für architektonisches Gestalten. Mit Otto Wagners Programmschrift Moderne Architektur von 1896 erhält eine anti-historische, konstruktive und strikt gegenwartsbezogene Architekturform ein erstes Manifest. Mit Ebenezer Howards 1898 erstmals vorgelegter Vision für Gartenstädte – To-Morrow, A Peaceful Path to Real Reform – finden Architektur, Städtebau, Ökologie und soziale Programmatik ein übergreifendes Leitbild, und ein Leitmotiv des 20. Jahrhunderts – die Verknüpfung von Stadt und Land – wird angeschlagen. Im gleichen Jahr gründet Adolf Damaschke den Bund Deutscher Bodenreformer, über den Grundbesitz als soziale Verpflichtung und die «Überwindung der sozialen Not» durch genossenschaftliches Wohneigentum breitenwirksam und mit poltitischen Folgen thematisiert werden. In der Gemengelage dieser Umbruchsdekade werden nahezu alle Grundlagen, Prinzipien und Leitbegriffe einer Architektur geschaffen beziehungsweise formuliert, die dann als «modern» bezeichnet wird und deren bauliche Ausformung in den nächsten Jahrzehnten erfolgt. Der Umbruch bezeichnet somit ein von vielen Kräften bewirktes «Take off», das nicht an einem einzelnen Faktor, einer Person, einem Werk oder einem Zeitpunkt festgemacht werden kann und an dem Kräfte mitwirkten, die später aufgrund unterschiedlicher Zielsetzungen stark divergierten.[19]

Die sozialen, wirtschaftlichen und technischen Entwicklungen sind verknüpft mit den kulturellen «Ideen», die jene «Weltbilder» schaffen, die als Weichensteller die Bahnen bestimmen, in denen nach Max Weber «die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte»[20]. Es geht bei der vorliegenden Darstellung der Architektur in Deutschland im 20. Jahrhundert somit um eine integrale Untersuchung und Darstellung der wichtigsten Ideen, Kräfte und Prozesse des Baugeschehens, aus deren Zusammenwirken die architektonischen und städtebaulichen Planungen entstehen, wobei sich die soziale Raumproduktion wieder mit der räumlichen Prägung sozialer Praxis verschränkt.[21] Einzelne Bauten, Positionen und Personen wurden als herausgehobene Beispiele für Maßgaben und Bauprozesse ausgewählt, manches ließe sich auch durch andere Exempla belegen, manche Linien und Nebenlinien des Geschehens bleiben im Dickicht der Bauwelt. Leitlinie der Untersuchung war, die Gründe für bauliche Entwicklungen und Gestaltungen aufzuzeigen und die wechselnden individuellen oder kollektiven Formen der Gestaltung in den Rahmen wirtschaftlicher, technischer, gesellschaftlicher und politischer Bedingungen und Kräfte einzuordnen. Architektur folgt Vorschriften und Gesetzen, sie basiert auf Bauleitplanungen, Raumprogrammen, Finanzplänen und DIN-Vorgaben, aber sie ist auch eingebunden in Traditionen, Diskurse und Moden, die wiederum Wahrnehmungs-, Deutungs- und Gestaltungsmuster produzieren.[22] Dass es sich bei den jeweils aktuellen architektonischen Leitmotiven häufig auch um Instrumente von wirtschaftlichen, politischen und medialen Interessen handelt, und dass auch formale «Innovationen» Produkte des Marktes sind, wird im gesellschaftlichen Diskurs zumeist nicht hinterfragt.[23] Eine Einordnung der Architektur des 20. Jahrhunderts in Deutschland in das Geflecht historischer Bedingungen und Möglichkeiten könnte somit mithelfen, einen kritischen Reflexionsprozess auch zum Bauen der Gegenwart anzuregen.

Die Untersuchung ist nach politischen Epochen gegliedert, denn mit den Umbrüchen 1918/19, 1933 und 1945 beziehungsweise 1949 veränderten sich auch jeweils die gesetzlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des Bauens gravierend. Da die Kapitel jeweils zentrale Themen einer Epoche umkreisen, ergeben sich zwangsläufig auch Überschneidungen, die jedoch Zusammenhänge von verschiedenen Seiten beleuchten. Nach 1945 spaltete sich das Bauwesen in den Besatzungszonen auf, nach der Gründung von BRD und DDR 1949 werden die Entwicklungen in Ost und West im Zusammenhang von Konkurrenz und Konvergenz der Systeme verfolgt. Mit der politischen Einigung 1990 verbinden sich auch die verschiedenen Architekturstränge wieder, auf die folgende Zeit wird nur noch ein Ausblick gegeben.

1. Kaiserreich 1890–1918

1  | Peter Behrens, AEG Turbinenhalle in Berlin, 1908–1909

1.1 Bauwirtschaft, Baupolitik, Berufsstand

Wirtschaftliche Entwicklung des Bauwesens

Die industrielle Revolution setzte in Deutschland in den 1840er-Jahren ein und kam nach der politischen Revolution von 1848/49 in die von Wirtschaftshistorikern als «Take-off-Phase»[1] bezeichnete Entwicklung, die bis zum großen Gründerzeitbankrott im Herbst 1873 andauerte. Während die Industrieproduktion anschließend für einige Jahre auf der erreichten Höhe stagnierte, um ab Mitte der 1880er-Jahre bis zum Weltkrieg immer steiler anzusteigen,[2] verlief die Kurve der Bauproduktion in zyklischen Bewegungen, aber insgesamt dem Industrieindex angepasst. Der Baumarkt überhitzte sich relativ schnell durch Überproduktion, die zu einem jähen Absturz führte, um dann wieder anzusteigen. So erreichte die Bauproduktion um 1870, 1890, 1900 und 1910 jeweils einen Höhepunkt, dazwischen lagen Konjunkturabschwünge.[3] Eine extreme Hochphase wurde in der Gründerzeit zwischen 1868 und 1873 erreicht, als die Bauproduktion parallel zur Urbanisierungswelle enorm anstieg.[4] Das Städtewachstum war nach wirtschaftshistorischen Untersuchungen zu etwa 80 Prozent eine Folge der Binnenwanderung,[5] die Push-Faktoren (agrarische Überschussbevölkerung) und Pull-Faktoren (Industriearbeitsplätze und soziale Aufstiegsschleusen) bewirkten.[6] In diesem Zusammenhang entwickelten sich besonders der städtische Wohnungsbau und seit den 1890er-Jahren der Kommunalbau zu neuen bedeutsamen Investitionsbereichen im Bausektor. So steigerten sich die jährlichen Investitionen für öffentliche Gebäude von 150 Millionen 1890 auf einen Vorkriegshöhepunkt von 410 Millionen Mark im Jahr 1909.[7]

Dementsprechend stiegen die Beschäftigungszahlen im Baugewerbe kontinuierlich bis 1914. Während das Baugewerbe 1875 mit circa 530.000 Beschäftigten noch an fünfter Stelle der Wirtschaftsgruppen im Deutschen Reich stand, erreichte es bis 1913 mit 1,6 Millilonen Beschäftigten und 15,6 Prozent am Gesamtanteil die dritte Stelle.[8] Das Baugewerbe wurde damit nach der Metallverarbeitung und fast gleichauf mit dem Handelsgewerbe zu einem wichtigen Leitsektor des Wirtschaftswachstums – «der achte Teil der Bevölkerung lebt vom Bauen»[9], stellte der Wirtschaftspolitiker Friedrich Naumann in einer Untersuchung über Neudeutsche Wirtschaftspolitik fest. Allerdings waren noch 1907 bei etwa zwei Drittel der Baubetriebe nicht mehr als fünf Personen beschäftigt.[10] Im Gegensatz zu den meisten anderen Wirtschaftszweigen verblieb das Baugewerbe insgesamt noch Jahrzehnte in weitgehend handwerklicher Produktionsweise. Die Berechnung des PS-Aufkommens pro Arbeitskraft, der Indikator für den Stand der Technisierung, erweist das Baugewerbe als Schlusslicht der Entwicklung vom Handwerk zur industrialisierten Produktion.[11] Baumaterial waren überwiegend Ziegelsteine, die per Hand versetzt wurden. Allein im Jahr 1905 lieferten beispielsweise 227 Ziegeleien rund um Berlin 1775 Millionen Ziegel in die Hauptstadt. Für den Bau einer mittleren Mietskaserne benötigte man etwa 1,5 Millionen Ziegel, für den Anhalter Bahnhof wurden 16 Millionen versetzt.[12] Die Ziegelträger gehörten bis in die 1930er-Jahre zum Baualltag. Die Arbeit der «Mörtelweiber», die Baumaterialien schleppten und knapp 10 Prozent der Beschäftigten im Bauhauptgewerbe ausmachten, wurde 1912 mit einer Novelle der Gewerbeordnung untersagt. Der Anteil von Frauen im Baugewerbe betrug anschließend weniger als ein Prozent.[13] Dieses Beschäftigungsverbot für Frauen wurde in den beiden Weltkriegen aufgehoben, aber in der Bundesrepublik 1955 erneuert und galt dort bis 1994. In der DDR gab es kein derartiges Beschäftigungsverbot, dort sollten entsprechende Vorschriften für den Gesundheitsschutz von Frauen sorgen.[14]

Rechtliche Rahmenbedingungen, Grundstücksmarkt

Entscheidende Determinanten der Bautätigkeit sind das Bau- und Bodenrecht. Das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten (ALR) von 1794 betonte das nahezu unbegrenzte Recht am Eigentum und die damit verbundene Baufreiheit: «In der Regel ist jeder Eigentümer, seinen Grund und Boden mit Gebäuden zu besetzen oder sein Gebäude zu verändern, wohl befugt» (ALR, I/8, § 65).[15] Einschränkungen galten nur im Hinblick auf öffentliche Sicherheit bezüglich einer tragfähigen Konstruktion und Feuerschutz sowie auf eine eher vage formulierte «Verunstaltung der Städte und öffentlichen Plätze». Die Ablösung der jahrhundertealten ständischen Besitzordnung durch die Agrar-, Land- und Gesellschaftsreformen der napoleonischen Zeit, die einsetzende Industrialisierung sowie neue Formen der Geldanlage führten zu einer Umstrukturierung der Besitzverhältnisse sowie des Bauwesens. Die von Napoleon bereits 1801 eingeleiteten Landvermessungen und Eintragungen in Katasterpläne wurden in den folgenden Jahrzehnten schrittweise in allen Bundesländern verbindlich, regelten und sicherten den Grundbesitz und ermöglichten eine Besteuerung. Mit dem Wegfall hoheitlicher Bindungen und dem Aufkommen eines vom Kapital gesteuerten Bau- und Bodenmarkts wurden Boden und Bauten als Waren den Bedingungen von Kapital und Spekulation unterworfen.[16] Die Ablösungsgelder aus den Agrarreformen für den Adel sowie die in den 1840er-Jahren anlaufende Industrialisierung führten zu einer enormen Mobilisierung des Kapitals, das über Banken, Sparkassen und Aktiengesellschaften – letztere eine der Schlüsselinnovationen des 19. Jahrhunderts – besonders zu Investitionen in Grundstücken und Bauwerken genutzt wurde. Die neuen Eisenbahnlinien bahnten dabei buchstäblich den Boden. Nachdem der Motor der Industrialisierung angeworfen worden war, benötigte er als Treibstoff zirkulierendes Kapital, das die Aktien- und Börsengeschäfte sowie die Bauspekulationen des Adels, der neureichen Industriebarone, der privaten Bankiers und Hoffaktoren sowie der zu Besitz aufgestiegenen Bürger lieferten.[17]

Schon in den 1840er-Jahren setzte eine spekulative Vermarktung des Grund- und Immobilienbesitzes ein. Die Entwicklung zeigte sich zuerst in den Großstädten: In Hamburg wurde nach dem großen Brand 1842 die Stadt durch Kontor- und Bankhäuser mit Etagenwohnungen verdichtet.[18] In München begann Freiherr von Eichthal, Gründer der Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank, große Flächen am damaligen Stadtrand aufzukaufen und zu bebauen.[19] In Berlin übernahmen Terraingesellschaften den Baumarkt fast vollständig. Die schon 1847 von Victor Aimé Huber und Carl Wilhelm Hoffmann ausdrücklich gegen Bauspekulantentum gegründete Berliner gemeinnützige Baugesellschaft konnte nichts dagegen bewirken.[20] Die endgültige Abschaffung des Zunftwesens und die Einführung der Gewerbefreiheit durch die neue Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund von 1869 beziehungsweise das Gewerbegesetz für Bayern vom 30. Januar 1868 öffneten der Vermarktung von Grund und Boden vollends Tür und Tor und führten in der Gründerzeit zu einer endgültigen Umstrukturierung und Kommerzialisierung des Bauwesens nach Kapital- und Marktgesetzen.[21] Durch die Gewerbefreiheit konnte jeder nach erfolgter Anmeldung ein Baugewerbe betreiben und Häuser errichten,[22] Bauen diente zunehmend nicht mehr der Repräsentation oder der Bedarfsdeckung, sondern als Mittel spekulativer Investition: das Haus wurde wie jeder Gegenstand im Kapitalismus zur Ware. Die privaten Auftraggeber übernahmen den Wohnungsmarkt und ließen Gebäude in billiger Bauweise in Serie und auf Vorrat errichten. Um 1900 entstanden 90 Prozent aller privaten Gebäude nach Vorlagen von Absolventen der Baugewerkschulen, also von nicht akademisch ausgebildeten Personen.[23] Eine wichtige Grundlage für die Dominanz der privaten Bauträger bildete die allmähliche Übernahme der Planungshoheit durch die Kommunen, in denen die Grund- und Eigentumsbesitzer durch das Wahlrecht eine privilegierte Position besaßen und ihre Privatinteressen dementsprechend baurechtlich verfestigen konnten.

Zwar hatte die Stein-Hardenberg’sche Städteordnung den preußischen Gemeinden in einigen Bereichen die Selbstverwaltung gegeben, aber erst das preußische Gesetz über die Polizeiverwaltung 1850 und der anschließende Ministerialerlass von 1855 ermöglichten die «Aufstellung und Ausführung städtischer Bau- und Retablissements-Pläne» durch die Kommunen.[24] Diese durften nun in Eigeninitiative das «Alignement» festlegen, also Straßen- und Fluchtlinienpläne aufstellen. Die Kontrolle blieb jedoch noch beim Staat. Als einige preußische Kommunen wünschten, die Bebauungspläne nicht offenzulegen, um Spekulationen zu vermeiden, wurde dies vom Ministerium abgelehnt, da die «überwiegende Rücksichtnahme auf das Eigentum der Beteiligten»[25] dies erfordere.

1858 beauftragte das preußische Innenministerium das Berliner Polizeipräsidium mit der Erarbeitung einer Konzeption für die Straßenführung sowie die Erweiterung von Berlin. Die 1862 verabschiedete Planung des Regierungsbaumeisters James Hobrecht war ein reiner Fluchtlinienplan, der zusammen mit der bereits 1853 erlassenen Polizeiverordnung das Wachstum Berlins in den folgenden Jahrzehnten regelte und eine starke Verdichtung mit Mietskasernen ermöglichte.[26] Diese Planungskompetenz ging nach und nach auf die Gemeinden über, zuerst mit dem Ortsstraßengesetz in Baden von 1868, es folgten 1872 die württembergische Allgemeine Bauordnung und am 2. Juli 1875 das preußische «Gesetz zur Feststellung von Bebauungsplänen», das den Gemeinden erlaubte, in Abstimmung mit der Baupolizei Straßen- und Bebauungspläne aufzustellen, die für jedermann offengelegt werden mussten. Die Übertragung der Planungsrechte auf die Gemeinden bestärkte zum einen die kommunale Selbstverwaltung, beförderte aber zum anderen eine «exzessive Ausweitung und Verdichtung der Baugebiete»[27], denn nun legten die Besitzenden und Grundeigentümer, die entsprechend dem an Grundbesitz, Gewerbebetrieb oder Steuerleistung gebundenen Bürgerrecht in den Gemeindevertretungen die Mehrheit besaßen – in Preußen als «Hausbesitzerprivileg»[28] bezeichnet –, ihre eigenen Gewinnmöglichkeiten fest.

Die von den Städten selbst aufgestellten Bebauungspläne dienten direkt der Geldvermehrung, denn die Grundbesitzer nutzten die großflächigen Alignements zur fast uneingeschränkten maximalen Überbauung ihrer Grundstücke.[29] Es entwickelte sich jener verhängnisvolle Kreislauf, der mutatis mutandis bis heute das Baugeschehen bestimmt: Banken, Terraingesellschaften und Vermögende kaufen das städtische Umland systematisch auf, die expandierenden Städte sind durch einen «Gürtel der Spekulation»[30] eingeschnürt, die Bodenbesitzer bestimmen die Preise, und dies wiederholt sich beim nächsten Wachstumsschub. Eine Änderung wäre nur durch eine Einschränkung der Eigentumsrechte, durch Abschöpfung der Bodengewinne beziehungsweise durch eine Bodenreform möglich gewesen. In der Nachfolge von Henry George, der 1879 in seiner Schrift Progress and Poverty dafür plädierte, den Wertzuwachs beim Boden über eine Grundrente komplett für soziale Aufgaben einzusetzen, entstanden verschiedene Bodenreformbewegungen, darunter der 1898 von Adolf Damaschke gegründete Bund Deutscher Bodenreformer. Deren Bemühungen führten aber erst 1919 mit dem Artikel 155 der Weimarer Verfassung – «Die Verteilung und Nutzung des Bodens wird von Staats wegen in einer Weise überwacht, die Mißbrauch verhütet und dem Ziele zustrebt, jedem Deutschen eine gesunde Wohnung […] zu sichern» – sowie dem Reichsheimstättengesetz zu kleinen Erfolgen.

Mit der Baufreiheit und dem liberalistischen Baumarkt griff der «Bauschwindel», die Betrügerei im Bauwesen, um sich. Eine amtliche Erhebung stellte 1912 fest, dass von den 1307 Bauunternehmungen im Großraum Berlin 907 unzuverlässig waren.[31] Auf einer Liste des Berliner Polizeipräsidiums waren 1913 über 1000 Betriebe zur Überwachung aufgeführt, 58 Betriebe wurden geschlossen, gegen 34 Klage erhoben. Bei Bankrott der Baufirmen erhielten die Handwerker kein Geld, dagegen wurde 1913 in der preußischen Abgeordnetenkammer eine Klage eingebracht, aber kein Bundesland entschloss sich, ein «Bausicherungsgesetz» zur Hilfe der Bauarbeiter in Kraft zu setzen.[32] Die mangelnde fachliche Qualifikation der Bauunternehmer und weithin fehlende baupolizeiliche Vorschriften führten darüber hinaus zu zahllosen Bauunfällen und Baueinstürzen. Erst in den 1890er-Jahren entwickelte sich eine Arbeiterschutzgesetzgebung, erst 1904 wurde in Bayern ein Gesetz zum Bauarbeiterschutz und zur Unfallverhütung verabschiedet.[33]

Eine einheitliche Baugesetzgebung fehlte im Deutschen Kaiserreich. Für die Bautätigkeit des Reiches waren anfangs die preußische Bauverwaltung und die Akademie des Bauwesens zuständig, erst allmählich entstanden eigene Bauverwaltungen für Reichspost, Reichsbank und Reichsbahn.[34] Das Reichsstrafgesetz von 1871 und das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) von 1900 gaben zwar einige Rahmenbedingungen vor, aber im Wesentlichen wurde das Bauen durch Landesgesetze und Bauordnungen der Kommunen geregelt. So galten vor 1914 in Hamburg das Baupolizeigesetz von 1882 (novelliert 1893), in Sachsen das Allgemeine Baugesetz vom 1. Juli 1900, in Bayern – mit Ausnahme von München – die Bauordnung vom 17. Februar 1901 und in Württemberg die Landbauordnung vom 28. Juni 1910.[35] In Preußen fehlte eine übergreifende Bauordnung, es galt das ALR von 1794, das erst 1900 durch das BGB abgelöst wurde. Geregelt wurde das Bauen durch über 300 verschiedene provinziale und örtliche Bauordnungen.[36] Zwar schlug Reinhard Baumeister, der erste bedeutende Städtebautheoretiker in Deutschland, schon 1880 eine einheitliche «Normale Bauordnung» vor, und 1899 überreichte der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege dem Reichskanzleramt einen «Entwurf reichsgesetzlicher Vorschriften zum Schutze des gesunden Wohnens», aber erst die Einheitsbauordnung von 1919, die allerdings nur als Musterbauordnung diente und noch keine Gesetzeskraft hatte, führte in den 1920er-Jahren allmählich zu einer gewissen Vereinheitlichung der Bauvorschriften in Deutschland.[37]

Die kontinuierlichen Ergänzungen und Änderungen der Bauverordnungen oder Baupolizeigesetze bis 1914 sind ein Spiegel für das zumeist mit erheblicher Verzögerung erfolgte Reagieren auf bauliche und hygienische Missstände oder auf Konstruktionsfehler und Feuerkatastrophen. Mit den Bauordnungen konnte das Bauen in Bezirken und einzelnen Orten durch die Baupolizei enger kontrolliert werden. Organisation und institutionelle Zuordnung der Baupolizei waren in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich. Während beispielsweise in Berlin der Oberbürgermeister Träger der Baupolizei war, die unter seiner Anleitung den Vorsitz in den Bezirksämtern ausübte, waren in anderen Städten die Instanzen vielfach über- und nebeneinander geordnet, so dass die Dauer der Genehmigungsverfahren mitunter als «bauhemmend»[38] bezeichnet wurde.

Mit der Liberalisierung des Baumarkts verschwanden auch die Verordnungen gegen Verunstaltung, erst im Zuge der Verbreitung des Heimatschutzgedankens setzten sich nach 1900 allmählich gestalterische Bestimmungen durch.[39] Im BGB von 1900 war das Eigentumsrecht noch ähnlich rigoros formuliert wie im ALR: «Der Eigentümer einer Sache kann, soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen, mit der Sache nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen» (§ 903). Eine Möglichkeit der Enteignung brachte erstmals das Allgemeine Baurecht von Sachsen vom 1. Juli 1900, das zur zwangsweisen Durchführung von Umlegungen und Grenzberichtigungen sowie zur Baulandenteignung zum Zweck von Verkehrserschließung oder zur Schließung von Baulücken ermächtigte.[40] Eine generelle Einschränkung des Eigentums erfolgte erst in der Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919 (Weimarer Reichsverfassung) mit Art. 153 Abs. 2,3: «Enteignung kann nur zum Wohle der Allgemeinheit und auf gesetzlicher Grundlage vorgenommen werden. […] Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das Gemeine Beste.» Diese wohlklingende, aber letztlich ziemlich unverbindliche Formulierung ging in modifizierter Form auch in das Grundgesetz der Bundesrepublik (GG Art. 14.2) sowie in die Verfassung der DDR (Artikel 22–24) ein, in letzterer war die Sozialbindung etwas deutlicher formuliert.

Bautechnik, Stahl und Stahlbeton

Motor der Industrialisierung waren Eisenproduktion und -verarbeitung. In Deutschland stieg die Roheisenerzeugung zwischen 1800 und 1914 von 100.000 auf 20 Millionen Tonnen. Dies war am Vorabend des Ersten Weltkriegs fast ein Viertel der Weltproduktion und doppelt so viel, wie in Großbritannien, dem Ursprungsland der Industrialisierung, hergestellt wurde.[41] Mit der Eisenproduktion direkt verknüpft war der Ausbau der Eisenbahnen, der Zugpferde der Industrialisierung. Über die Bahn konnte Eisen schnell überall eingesetzt werden, und Eisenbahningenieure wirkten häufig an neuen Baukonstruktionen mit.[42] Obwohl schon seit den 1840er-Jahren über einen kommenden «Eisenstil»[43] spekuliert wurde, lehnten viele Architekten den Eisenbau ab, da die von Bauingenieuren berechneten dünnen Metallstäbe zu einer «Entmaterialisierung» führten. Den Londoner Crystal Palace nannte Gottfried Semper deshalb ein «glasbedecktes Vacuum»[44], und Richard Lucae sprach von «in eine Form gegossene Luft»[45]. Für Semper tendierte die Eisenkonstruktion zu immer dünneren Stäben, sie entzog sich dem Auge und damit der Wirkung auf den Menschen. Die Baukunst dürfe deshalb «mit diesem gleichsam unsichtbaren Stoffe sich nicht einlassen», Metall sei «bloß in Blechform für die schöne Baukunst anwendbar»[46]. Diese Auffassung Sempers von der «Körperlosigkeit» der Eisenkonstruktion beherrschte – vermittelt über einflussreiche Architekturlehrer wie Carl Schäfer, Theodor Fischer und Peter Behrens – bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts große Teile der deutschen Architektenschaft.[47]

Wenn Eisen verwendet wurde, sollte es im Sinne Sempers durch Bleche, Kombination mit massiven Bauteilen oder Zusammenfassung des Stabwerks zu Gitterkonstruktionen «Masse» erhalten.[48] Entsprechend den aus dem Massivbau entwickelten ästhetischen Vorstellungen gab demnach der Architekt den technischen Konstruktionen «Körperlichkeit». Große Ingenieurleistungen wie die Firth of Forth Bridge oder der Eiffelturm galten dagegen vielfach als «häßlich»[49]. Wettbewerbe, Preisschriften und Publikationen kreisten bis zum Ersten Weltkrieg um die Frage, wie aus der «dürren unverarbeiteten Nützlichkeitsform»[50] durch künstlerische Gestaltung eine «geistige Schönheitsform» geschaffen werden könnte. Aus der Sicht der Ingenieure wurde Architektur dadurch zu dem, was man eigentlich weglassen konnte. Sie plädierten deshalb für eine Veränderung der «Statik des Gefühls»[51], für neue Bewertungskriterien und eine «Erziehung zur Eisenarchitektur»[52]. Diese Bemühungen um eine Valorisierung der berechneten Ingenieurskonstruktion standen in Parallele zu den Versuchen, eine Maschinenästhetik zu entwickeln. Die maschinell und massenhaft hergestellten Produkte der Maschine sollten durch eine «geistige» Formgebung veredelt werden und einen kulturellen Wert erhalten, eine Haltung, die dann das Programm des 1907 gegründeten Deutschen Werkbunds bestimmte (s. Kapitel 1.4).

Da Eisenkonstruktionen aufgrund der sich allmählich verschärfenden Brandschutzvorschriften verkleidet werden mussten, gewann das Bauen mit Beton und Stahlbeton zunehmend an Bedeutung. Das neue Material Eisenbeton, seit einer Übereinkunft 1924 in Deutschland als Stahlbeton bezeichnet,[53] verdrängte nicht nur seit der Jahrhundertwende immer mehr sichtbare Eisenkonstruktionen im Hochbau, sondern eröffnete auch, wie Fritz Schumacher später resümierte, mit seinen konstruktiven und raumschaffenden Möglichkeiten eine «neue Epoche in der Architektur»[54]. Basis für den Stahlbetonbau war der von dem englischen Erfinder Joseph Aspdin 1824 patentierte «Portlandzement»[55], ein hydraulisches Bindemittel aus einer gesinterten und anschließend zermahlenen Mischung aus Ton (Aluminiumsilikat) und Kalk, das mit Wasser steinartig erhärtete. In Deutschland entstand erst 1855 durch Hermann Bleibtreu in Züllchow bei Stettin die erste Portland-Zementfabrik,[56] aber schon um die Jahrhundertwende übernahmen die inzwischen 29 deutschen Zementfabriken mit einer Jahresproduktion von fast 5 Millionen Tonnen die führende Weltmarktposition. Entscheidend für diese Entwicklung waren der frühzeitige Zusammenschluss der deutschen Zementproduzenten, die Entwicklung des Drehofens zum Sintern bei der Herstellung, die kontinuierliche Prüfung und Normierung des Materials sowie die ständig steigende Nachfrage nach Beton.

Die Entwicklung des Stahlbetons setzte 1867 mit dem Patent für bewehrte Betonkübel des französischen Gärtners Joseph Monier ein. Das 1878 auf armierte Platten erweiterte Monierpatent erwarben 1880 Freytag & Heydenschuch für Süddeutschland und 1885 Gustav Wayss für Norddeutschland. Schon ein Jahr später legte Wayss mit Das System Monier eine für den Stahlbetonbau grundlegende Schrift zur Berechnung und statischen Wirkung vor, in der er auch die Anwendungsmöglichkeiten des Stahlbetons «in gleicher Weise für den Schönbau wie den Ingenieurbau»[57] betonte. Der Verein deutscher Zement-Fabrikanten stellte 1878 Normen für die einheitliche Prüfung der Zug- und seit 1886 der Druckfestigkeit eines 28 Tage alten Betonprobewürfels auf.[58] Diese Normen und Prüfmethoden, die bald auch andere Länder übernahmen, wurden in der Regel durch staatliche Materialprüfämter entwickelt und von diesen kontrolliert.[59] Indem die Prüfämter systematisch alle Belastungsfälle sämtlicher Konstruktionsarten experimentell erprobten und soweit möglich auch berechneten, ermöglichten sie die baupolizeiliche Anerkennung des Verbundmaterials und damit die Verbreitung der Konstruktion und den «Siegeslauf des Eisenbetonbaus»[60]. Von besonderer Bedeutung waren dann die 1888 vom Direktor der bayerischen Materialprüfungsanstalt, Johann Bauschinger, vorgelegten Prüfergebnisse über das sich ergänzende Materialverhalten von Zement und Eisen sowie über die Feuersicherheit des Verbundmaterials. Ein letzter Schritt war schließlich 1892 die Patentierung des von François Hennebique entwickelten Plattenbalkens sowie die von ihm vorgelegte Theorie über den monolithischen Charakter des Verbundmaterials Stahlbeton. Das «System Hennebique»[61], für das Eduard Züblin 1898 die Patentrechte für Süddeutschland erwarb, blieb in den folgenden Jahrzehnten für den sich mit enormer Geschwindigkeit in der ganzen Welt verbreitenden Stahlbetonbau bestimmend.

Entscheidend für diesen Erfolg waren die fast unbegrenzte Formbarkeit des zug- und druckfesten Verbundmaterials sowie die große Feuersicherheit.[62] In den wenigen Jahren bis zum Weltkrieg setzte sich der Stahlbeton für Decken-, Treppen- und Tragkonstruktionen, insbesondere bei öffentlichen Räumen, fast generell durch. Bei Fabrik- und einfachen Wohnbauten wurde der Beton auch offen gezeigt, Architekten verwendeten ihn hingegen zumeist in Kombination mit einer traditionellen Formensprache, so dass das Material nicht direkt in Erscheinung trat. Die neuen Möglichkeiten des Stahlbetons zur Raumbildung wurden häufig bei Markthallen – Breslau (Heinrich Küster/Richard Plüddemann, 1906–09),[63] München (Richard Schachner, 1910–12)[64], Stuttgart (Martin Elsaesser, 1911–14)[65] – erprobt. Nach anfänglichem Widerstand setzte sich Stahlbeton auch bei repräsentativen Bauaufgaben durch, so zeigten Max Littmann beim Anatomiegebäude in München und Theodor Fischer bei der Ulmer Garnisonkirche offen die Betonkonstruktion. Die bedeutendste Stahlbetonkonstruktion vor dem Ersten Weltkrieg entstand 1912/13 mit der Jahrhunderthalle in Breslau nach dem Entwurf des dortigen Stadtbaurats Max Berg.

Baubetrieb und Ausbildung

Den Zuständen im Baubetrieb entsprach die ökonomische Situation der Bauarbeiter. Vor 1870 betrug die Arbeitszeit für Maurer zwölf Stunden und mehr am Tag, bei sechs Arbeitstagen in der Woche. Eine Arbeitszeit von 6 Uhr morgens bis 7 oder 8 Uhr abends – eingeschlossen ein bis zwei unbezahlte Stunden für Essen – war bis in die 1870er-Jahre allgemein üblich. In den Großstädten war die Situation etwas besser, so wurde in Berlin 1871 der 11-Stundentag und 1885 der 10-Stundentag erreicht. Während in der Hauptstadt und vier weiteren Städten der Arbeitstag bis 1900 auf 9 Stunden sank, blieb in den meisten übrigen Orten die Arbeitszeit bis zum Ersten Weltkrieg bei 10 bis 11 Stunden, also durchschnittlich bei 60 Wochenstunden,[66] obwohl die Gewerkschaften den 8-Stundentag forderten. Bei über 300 Arbeitstagen im Jahr existierte kein Urlaub, und die Kündigungsfrist betrug bestenfalls 14 Tage. Erst in der Weimarer Republik wurde die 48-Stundenwoche – zumindest teilweise – erreicht.[67]

Diese kontinuierliche Arbeitszeitverkürzung vom Kaiserreich bis zum Ende der Weimarer Republik bei gleichzeitiger Lohnerhöhung als Ausgleich war das Ergebnis eines jahrzehntelangen, teilweise erbitterten Arbeitskampfes, bei dem in den 1890er-Jahren jährlich über 150.000 Arbeiter durch die wilhelminische Justiz verurteilt wurden.[68] Seit den 1880er-Jahren organisierten sich die Bauarbeiter in Berufsverbänden, nach dem Ende der Sozialistengesetze dann in zentralen Verbänden und Gewerkschaften.[69] Allein zwischen 1891 und 1900 führte der Maurerverband 2500 Streiks durch.[70] Die Bauarbeiter bildeten auch die zweitstärkste Mitgliedergruppe in den Freien Gewerkschaften,[71] und dementsprechend spielte das Baugewerbe, das auf Grund der Saisonarbeit die höchste Arbeitslosenzahl aufwies, mit über einem Drittel sämtlicher durchgeführter Streiks eine Vorreiterrolle im Arbeitskampf. Als Gegenmaßnahme gründeten die Arbeitgeber 1899 einen Deutschen Arbeitgeberbund für das Baugewerbe, über den sie 1910 eine reichsweite Massenaussperrung bei Streiks organisierten, worauf sich 1913 ein Deutscher Bauarbeiterverband konstituierte, der dann allerdings mit dem Krieg bereits 1914 lahmgelegt war.[72]

Die soziale Hierarchie auf der Baustelle entwickelte sich vom Burschen über Arbeiter und Geselle zum Polier, der etwa doppelt so viel verdiente wie der ungelernte Bursche.[73] Darüber stand der Bauführer oder Baugewerksmeister, der seine theoretische Ausbildung während der Wintermonate an einer Bau- oder Baugewerkschule erhielt, von denen 1913 in Deutschland 67 (davon in Preußen 25 und in Bayern 8) mit bis zu 1000 Studenten im Jahresdurchschnitt existierten.[74] Da mit der Reichsgewerbeordnung 1870 die Bauhandwerksmeister ihr Privileg zur Bauausführung verloren hatten, wurden Bauunternehmer nur noch über die Baupolizei kontrolliert, was Bauschäden und Bauschwindel zusätzlich vermehrte.[75]

Die Ausbildung der Architekten erfuhr in den 1860er- und 1870er-Jahren unter dem Druck der Industrialisierung eine einschneidende Veränderung. Industrie und Wirtschaft forderten und förderten massiv den Bau und die Einrichtung neuer Polytechnischer Schulen beziehungsweise Technischer Hochschulen zur Ausbildung wissenschaftlich qualifizierter Ingenieure.[76] Nach dem baulichen und organisatorischen Vorbild der von Gottfried Semper in Zürich errichteten Polytechnischen Schule (heute ETH), die wie ein mächtiger Tempel der Wissenschaft in Schlossbauformen[77] über der Stadt thronte und die neue Bedeutung der Technik architektonisch symbolisierte, entstanden in kurzer Folge die neuen Polytechniken beziehungsweise Technischen Hochschulen in Stuttgart (1862), München (1868), Aachen (1874), Dresden (1875), Hannover (1875, im umgebauten Welfenschloss), Braunschweig (1877) und Charlottenburg (1879). Gleichzeitig wurden die älteren technischen Bildungsanstalten in Karlsruhe und Darmstadt erweitert und umstrukturiert. Zu diesen neun Technischen Hochschulen kamen um die Jahrhundertwende, als «Bollwerke deutschen Geistes» gegen den Osten, die Hochschulen in Danzig und Breslau hinzu. Die wachsende Bedeutung der Technischen Hochschulen zeigte sich auch daran, dass sie 1899 von Wilhelm II., gegen den Widerstand der alten Universitäten, das Promotionsrecht zum Dr.-Ing. erhielten. Bei einer Rede in der Berliner TH erklärte Wilhelm II. deshalb 1913: «Ich hätte die Erfolge in meinem Leben nicht erreichen können ohne die Technischen Hochschulen, die der technischen Forschung Schwung verliehen und mir das Menschenmaterial ausgebildet und zur Verfügung gestellt haben, das mir zur Erreichung meiner Ziele notwendig war.»[78]

Zu den Gründungsfakultäten der Technischen Hochschulen gehörte immer auch die Architektur. Die Architektenausbildung wechselte in den 1860er- und 1870er-Jahren weitgehend von den Akademien, wo sie erst Ende des 18. Jahrhunderts etabliert worden war, zu den Ingenieuren.[79] Obwohl nun zu den künstlerischen Fächern in den Lehrplänen eine Reihe von naturwissenschaftlichen Pflichtfächern trat, konnte die bereits vollzogene Trennung zwischen Architekten und Bauingenieuren nicht mehr revidiert werden, da sich das technisch-mathematische Wissen kontinuierlich enorm erweiterte. Im Gegenteil, der Architekt geriet zunehmend in einen Bereich, in dem er weder als Künstler noch als Ingenieur qualifiziert war.[80] Der Architekt und preußische Baubeamte Hermann Muthesius forderte deshalb die «Rückgabe der Architektur an die Kunst»[81] und erklärte 1907, an den Hochschulen werde man «Architekt ohne Künstler zu werden» und trete als «genau derselbe künstlerische Barbar» wieder ins Leben hinaus, als der man an die Hochschule gekommen sei.[82] Für den Kunstkritiker Karl Scheffler rottete «die Hochschule den Baukünstler aus, um an seine Stelle den Gelehrten, den Bureaukraten zu setzen»[83]. In der Abkehr vom Baukünstler sah er die größten Probleme der Zeit begründet, der Architekt wurde für ihn zum Erfüllungsgehilfen des Bauherrn, der dem «Spekulanten die Schundarchitektur stilistisch auffrisieren muß». Bereits vor dem Ersten Weltkrieg finden sich Klagen, dass im Zuge einer «Industrialisierung der Architektur»[84] der Architekt zur «Hypothekenbeschaffung» degradiert und zum «Dinergänger» wurde, um Aufträge zu erhalten.

Die Zahl der Architekturstudenten wuchs an den Technischen Hochschulen sprunghaft an. Studierten 1890 im ganzen Deutschen Reich 506 Personen Architektur (ausschließlich Männer), so stieg diese Zahl bis 1910 auf 2050.[85] Zumeist führte die TH Charlottenburg diese Statistik an, so studierten im Wintersemester 1889/90 in Berlin 210, in München 76, in Stuttgart 58, in Karlsruhe 48, in Dresden 33, in Hannover 29 und in Darmstadt 26 Studenten Architektur. Nach der Jahrhundertwende überholte München Berlin bei den Studierendenzahlen. Im Wintersemester 1910/11 waren in München 482, in Berlin 376, in Darmstadt 272, in Stuttgart 194, in Dresden 190, in Hannover 176 und in Karlsruhe 164 Architekturstudenten immatrikuliert, Aachen und Braunschweig verzeichneten die kleinsten Zahlen.[86] Frauen erhielten in Bayern 1905, in Preußen erst 1908 eine Zulassung zum Architekturstudium, aber im Sommersemester 1913 gab es insgesamt erst 16 Architekturstudentinnen in Deutschland.[87]

Die Ausbildung konzentrierte sich in den ersten Semestern auf naturwissenschaftliche Grundlagenfächer sowie auf das Erlernen der darstellerischen Fähigkeiten.[88] Die zweite Studienhälfte war bestimmt vom Entwerfen, zumeist geteilt in «Civilbau», der das bürgerliche Bauen vom Wohnungsbau bis zu landwirtschaftlichen Anlagen sowie Baukonstruktion umfasste, und in «Höhere Baukunst», die sich auf alle größeren, sogenannten monumentalen Bauaufgaben bezog. Häufig vertraten die höhere Baukunst zwei Professoren, die jeweils eine bestimmte Stilrichtung lehrten beziehungsweise eine eigene Schule mit einer ergebenen Schülerschar schufen, die dann die Stilrichtung des Lehrers fortführte.[89] Die bekannteste Architekturschule bildeten die Schüler Schinkels, die nach dessen Tod das Bauen in Preußen mit einer Rundbogen-Backsteinarchitektur in Nachfolge der Bauakademie bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts dominierten.[90] Die Schinkelschule verlor jedoch an Einfluss, als an der TH Charlottenburg mit Hermann Ende (1878–1907), Julius C. Raschdorff (1878–1914) und Fritz Wolff (1886–1921) Architekturlehrer ohne eine streng festgelegte stilistische Ausrichtung wirkten. Das Pendant zur Technischen Hochschule bildete die Preußische Akademie der Künste, dort lehrte Johannes Otzen von 1885 bis 1911 mittelalterliche Baukunst. Noch in einem Nachruf hieß es, er habe eine «frisierte und parfümierte Gotik» vertreten und die Arbeiten seiner Schüler seien von einer «gewissen Gleichförmigkeit»[91] gekennzeichnet gewesen. In Hannover vertrat Conrad Wilhelm Hase über mehrere Jahrzehnte bis 1902 dogmatisch eine Neogotik, die er selbst mit mehreren hundert Bauwerken in diesem Stil verbreitete, dem wiederum zahllose Schüler folgten. Sein Gegenstück bildete Hubert Stier, der von 1883 bis 1907 den Rundbogenstil bei Entwürfen einforderte. In München lehrte Friedrich von Thiersch bis 1921 italienische Renaissancearchitektur und parallel dazu Heinrich von Schmidt bis 1928 Entwerfen in mittelalterlichen Bauformen. In Karlsruhe unterrichtete Carl Schäfer bis 1908 eine dezidiert neogotische Architektur, sein Pendant Josef Durm vertrat bis 1919 ausschließlich Neorenaissance. Die Aufteilung der Lehre nach Stilrichtungen spaltete die Studenten, so berichtete Karl Gruber: «Bei Durm zu entwerfen, galt bei den Schäferschülern als charakterlos.»[92] Auch Schäfers Nachfolger in Karlsruhe, Friedrich Ostendorf, wirkte mit seiner Theorie, aus historischen Vorbildern einfachste Formen zu finden, schulbildend.[93] An der TH Aachen unterrichtete von 1875 bis 1921 Karl Henrici, der ein Entwerfen in den Formen der deutschen Renaissance vertrat und im Laufe der Jahrzehnte eine große Schülerschar auf diese Stilrichtung festlegte.

Nach der Jahrhundertwende kamen neben diesen Stilschulen auch Richtungen auf, die ein Entwerfen nach regionalen Bauformen bevorzugten, wie etwa die Stuttgarter Schule in der Nachfolge von Theodor Fischer, der dort 1901 bis 1908 lehrte, oder die von Carl Hocheder bevorzugte «heimische Bauweise» beziehungsweise der bayerische Neobarock an der Münchner TH.[94] Durch die häufig jahrzehntelange Lehrtätigkeit dominanter Professoren verfestigte sich die Ausrichtung auf bestimmte Stilrichtungen und deren Verbreitung an einzelnen Hochschulen. Der Historismus, die Orientierung an den Stilformen historischer Epochen, beherrschte bis zum Ersten Weltkrieg die Architektenausbildung. Das Schwergewicht der Lehre lag beim Darstellen und Entwerfen, ein direkter Praxisbezug bestand während der Ausbildung vom Lehrplan her nicht, die Studenten lernten die Baupraxis zumeist erst über die Mitarbeit im Büro ihrer Professoren kennen. Erst 1918 führte die TH Stuttgart ein von Theodor Fischer schon länger gefordertes Baupraktikum verpflichtend ein. Diejenigen, die in den Staatsdienst treten wollten, mussten nach dem Diplom eine dreijährige Ausbildung in der Praxis mit Bauleitung, Kostenanschlägen und Abrechnungen sowie anschließender Prüfung zum königlichen Regierungsbaumeister absolvieren.[95]

Berufliche Organisation

Seit Anfang der 1850er-Jahre organisierten sich Architekten und Ingenieure in gemeinsamen Vereinen. 1868 verabschiedete die 15. Versammlung der «Deutschen Architekten und Ingenieure» in Hamburg die ersten «Grundsätze für das Verfahren bei öffentlichen Konkurrenzen»[96] und versuchte damit Maßstäbe zu setzen, wie die bislang völlig willkürlich vom Auslober organisierten Wettbewerbe in Zukunft kontrolliert und die Urteile veröffentlicht werden sollten, nicht zuletzt, um die beteiligten Architekten, die Geld und Zeit investierten, vor Missbrauch ihrer Arbeit zu schützen. Die Grundsätze wurden in der Folge mehrmals modifiziert, ihre Einhaltung angemahnt und den Mitgliedern der Verbände die Ehrenpflicht auferlegt, sich an die Vorgaben zu halten – Erfolge stellten sich allerdings nur langsam ein, die Bauzeitschriften berichteten über viele Klagen. Über die Gesamtzahl der im Deutschen Reich tätigen Architekten liegen keine umfassenden Statistiken vor, die weitaus größte Gruppe waren die beamteten Architekten im Staats- und Kommunaldienst. Der 1871 gegründete Verein deutscher Architekten und Ingenieure, der alle älteren Architektenvereine zusammenfasste und 1890 etwa 6000 Mitglieder zählte, vertrat hauptsächlich die beamteten Architekten (und Ingenieure), die vielfach auch Privataufträge ausführten.[97] Um sich gegen die mächtigen Baubeamten zu wehren, organisierten sich 1879 die Berliner Privatarchitekten in der Vereinigung Berliner Architekten. Nach und nach folgten auch in anderen Städten entsprechende Interessenvertretungen. Aus diesen Bemühungen entwickelte sich seit den 1890er-Jahren allmählich der Berufsstand des freien Architekten, der sich gegenüber den Baugewerksmeistern durch künstlerische Qualifikation abgrenzen wollte.[98]

Diese Distanzierung betonte der 1903 gegründete Bund Deutscher Architekten (BDA), der «jede Art Unternehmertum»[99] ausschloss, nur «ihren Beruf als Künstler ausübende deutsche Architekten»[100] aufnahm und dabei eine Qualitätskontrolle durchführte. Versuche des BDA, das Wettbewerbswesen zu reformieren – «90 Prozent unserer Kunst bleibt im Papier stecken»[101] – blieben erfolglos. 1905 waren 3698 Baubeamte im Staatsdienst und 1586 im kommunalen Bereich tätig, ihnen standen 2674 freiberufliche Architekten gegenüber, von denen nur etwa 250 Mitglieder des BDA waren.[102] Diese Zahl erhöhte sich bis 1914 auf 1000. Insgesamt dürften somit vor dem Ersten Weltkrieg circa 10.000 Architekten im Deutschen Reich tätig gewesen sein.[103] Ein Hauptanliegen der freien Architekten, die Berufsbezeichnung gegenüber Baugewerksmeistern zu schützen und ein Planvorlagerecht über Architektenkammern zu kontrollieren, gelang allerdings weder vor dem Ersten Weltkrieg noch in der Weimarer Republik. Erst 1933 wurden die Architekten innerhalb der Reichskulturkammer zusammen mit den Künstlern in der Reichskammer der bildenden Künste organisiert, und erst 1950 entstand in Rheinland-Pfalz die erste Architektenkammer in der Bundesrepublik. In der DDR sollte eine systematische Verdrängung des freien Architekten zugunsten einer staatlich kontrollierten und organisierten Architektenschaft erfolgen.

1.2 Monarchische und nationale Repräsentation – Legitimation aus der Geschichte

Nach Max Weber war die Reichsgründung von 1871 ein «Jugendstreich, den die Nation auf ihre alten Tage beging und […] besser unterlassen hätte, wenn sie der Abschluß und nicht der Ausgangspunkt einer deutschen Weltmachtpolitik sein sollte»[104]. Das Konstrukt des Deutschen Reiches bestand zu zwei Dritteln aus Preußen sowie drei weiteren Königreichen (Bayern, Sachsen, Württemberg), 18 Herzog- und Fürstentümern, dem Reichsland Elsass-Lothringen und drei Stadtstaaten. Es verfügte über große wirtschaftliche und militärische Macht, besaß aber gleichzeitig ein deutliches Defizit an innerem Zusammenhalt und Rechtsstaatsverständnis – es fehlte nach Weber «die politische Erziehungsarbeit eines Jahrhunderts»[105] sowie eine identitätsstiftende symbolische Kultur.[106] Die 1871 eingeführte schwarz-weiß-rote Fahne war ein Kunstprodukt, eine Nationalhymne gab es ebensowenig wie einen Nationalfeiertag,[107] und die neue Kaiserkrone war eine Erfindung des Hofheraldikers.[108] Auch wenn sich im 19. Jahrhundert in fast allen europäischen Ländern Versuche finden, den Nationalstaat durch nationale Traditionen, Feiern oder Monumente «mit Legitimität auszustaffieren»[109], so war doch in Deutschland, dem «autoritär verformten Nationalstaat»[110], die Suche nach Verankerung der Macht in der Geschichte sowie in einer Staats- und Machtsymbolik, die als «Fiktion des Faktischen»[111] verbindend und gleichzeitig verklärend wirken sollte, besonders stark ausgeprägt.

Die politisch intendierte Konstruktion einer identitätsstiftenden Kultur vollzog sich im Bereich der Architektur und Skulptur im zweiten Deutschen Kaiserreich in zwei Phasen. In die erste unter Wilhelm I. und Bismarck fiel zunächst noch die Vollendung einiger Monumente und Denkmäler, die aus der Nationalbewegung der Freiheitskriege erwachsen waren,[112] wie beispielsweise 1875 das Hermannsdenkmal bei Detmold von Ernst von Bandel und 1880 der Kölner Dom. Gleichzeitig entwickelte sich aus der Sieges- und Siegerverherrlichung auch schon eine neue Form militärisch nationaler Symbolik. Für die alljährlichen Sedanfeiern am 2. September zum Sieg über Frankreich wurde 1873 in Berlin die Siegessäule errichtet, in deren Kanneluren erbeutete und vergoldete Geschützrohre eingestellt waren,[113] ab 1877 begann der Umbau des Berliner Zeughauses in eine Ruhmeshalle für Preußen und die Hohenzollern[114] und 1883 weihte Wilhelm I. das Niederwalddenkmal ein. Diese erste ebenso monumentale wie plumpe Germania als Symbolfigur des neuen Reiches verspottete Aby Warburg später als «kostümierte Köchin»[115]. Die zweite Phase setzte 1888 mit Wilhelm II. ein und war gekennzeichnet durch eine ausufernde «Denkmalmanie»[116] sowie durch ein neudeutsches nationales Pathos,[117] das seit den 1890er-Jahren immer stärker hervortrat und in der Errichtung des gewaltigen Leipziger Völkerschlachtdenkmals kulminierte.

Kaiserpfalzen in Straßburg und Goslar

Die beiden wichtigsten Unternehmungen in der Zeit Wilhelms I. und Bismarcks zur architektonischen und künstlerischen Legitimierung der neuen Machtstellung waren der Bau einer «Kaiserpfalz» beziehungsweise eines Kaiserforums in Straßburg (Abb. 2) sowie die Wiederherstellung und Ausmalung der mittelalterlichen Kaiserpfalz in Goslar, deren beider Vollendung in die Regierungszeit Wilhelms II. fiel. Mit dem Bautenensemble der im Zuge der Entfestigung neu geschaffenen Kaiserpfalz in Straßburg sollte der protestantische Kaiser im katholischen, 1871 einverleibten Reichsland Elsass-Lothringen, am westlichen Rand des Reiches, eine Residenz und ein architektonisches Machtzentrum erhalten, «als Symbol und Ausdruck einerseits des den Süden und Norden […] gleichmäßig umfassenden nationalen Gedankens, andererseits des unbeugsamen Willens an den Besitzstand des Reichslandes nicht rühren zu lassen»[118]. Das Rückgrat der architektonischen Machtdemonstration monumentaler Bauten bildete eine 500 Meter lange Achse, an deren einem Ende sich der Kaiserpalast und am anderen die Universität befand. Der von Hermann Eggert, einem Architekten aus der Berliner Schinkelschule, 1883 bis 1889 errichtete Kaiserpalast (Abb. 3) sollte «den erheblichsten und nachhaltigsten Eindruck auf die Stimmung der Bevölkerung ausüben und von derselben als das untrügliche Wahrzeichen, daß die Deutschen nicht wieder fortgehen, empfunden werden»[119]. Der aufwendig ausgestattete Bau mit einer Kuppel über dem Audienzsaal zum Kaiserplatz, in dem einmal jährlich Wilhelm II. residierte, vermittelte durch eine über die gesamte Fassade geführte Rustizierung in der Art des Palazzo Pitti einen wehrhaft massiven Eindruck. Dem Kaiserpalast genau gegenüber befand sich das von dem Karlsruher Architekturprofessor Otto Warth bis 1884 errichtete gewaltige Kollegiengebäude der neuen Deutschen «Kaiser-Wilhelm-Universität»[120], mit der als Ersatz für die fehlende politische Kontinuität eine geistige im Elsass demonstriert und nach dem Motto «Wer die Schule hat, hat das Land»[121] deutsche Sprache und Kultur im Elsass gefestigt werden sollten. Bei der Eröffnung fasste der Rektor die politisch-militärische Rolle der Universität zusammen: «Bringe hervor an deutscher Grenzmark […] ein deutsch gesinntes, ein männlich kräftiges Geschlecht.»[122]

2 | Blick vom Kaiserpalast in Straßburg zum Gebäude der Universität (Mitte)von Otto Warth, um 1910

3 | Hermann Eggert, Kaiserpalast in Straßburg, 1883–1889

Um diese beiden Pole entstand am Kaiserplatz mit dem Gebäude für den Landesausschuss, der Universitäts- und Landesbibliothek sowie zwei Ministerialgebäuden die «erste Kaiserpfalz im neuen Reich», eines der größten neuen baulichen Ensembles der Kaiserzeit zur architektonischen Repräsentation des deutschen Kaisers und des Deutschtums im neuen Reichsland. Stilistisch handelte es sich bei den Bauten am Kaiserforum um ein Gemisch aus Formen der deutschen, französischen und italienischen Renaissance sowie barocker Schlossarchitektur. Zwar gab es noch von einigen Parlamentariern die Forderung, zu «zeigen, was deutscher Baustyl sei»[123], aber das Straßburger Münster – spätestens seit Goethes Hymnus 1773 das Exempel für «deutsche» Architektur schlechthin – wirkte ohnehin über Sichtachsen auf die Kaiserpfalz und inzwischen hatten sich nach den jahrzehntelangen Diskussionen um den «richtigen Stil»[124] die dogmatischen Positionen etwas aufgelöst. Bevorzugt wurde seit 1871 die «deutsche Renaissance», und am Kollegiengebäude wurde italienische Renaissance als Audruck für eine Universität akzeptiert. Den direkten Bezug zur deutschen Geschichte lieferte an allen Bauten der üppige heraldische und genealogische Bauschmuck.[125] 1919 kehrte das Elsass zu Frankreich zurück, nach abermaliger Besetzung 1940 kam es bis 1944 zu einer kurzfristigen Reaktivierung der ehemaligen Kaiserpfalz durch die Nationalsozialisten als «Reichsuniversität Straßburg»[126].

Das zweite Großprojekt nationaler Selbstdarstellung der Bismarck-Wilhelm-I.-Zeit bildete der Ausbau der Goslarer Kaiserpfalz.[127] In Parallele zur Wiederherstellung des Reiches wurde mit finanzieller Unterstützung von Wilhelm I. das Kaiserhaus der Salierkaiser des 11. Jahrhunderts rekonstruiert und anschließend bis 1897 durch Hermann Wislicenus, Professor für Historienmalerei an der Düsseldorfer Akademie, aufwendig ausgestattet. Ein 53-teiliger Gemäldezyklus zum Barbarossa-Mythos[128] verherrlichte den Reichsgründer Wilhelm I. als Reinkarnation Barbarossas und konstruierte Zusammenhänge zwischen Hohenstaufern und Hohenzollern.[129] Die Nachfolge der mittelalterlichen Kaiser durch die Hohenzollern wurde auch buchstäblich konkretisiert, indem man zur Eröffnung des ersten Reichstags den Goslarer Kaiserstuhl nach Berlin brachte, damit Wilhelm I. auch auf dem Thron Barbarossas präsidierte.[130] In Übertragung einer genealogisch dynastischen Denkweise legitimierte sich das zweite Reich durch vielfache, zumeist inszenierte inhaltliche Verflechtungen mit dem alten Reich.

Die in Goslar schon einsetzende Glorifizierung Wilhelms I. und des Hauses Hohenzollern trat ab 1888 mit Wilhelm II. in eine neue Phase. Hatte sich Wilhelm I. zu seinen Lebzeiten noch Denkmäler verbeten, so setzte nun, gefördert von seinem Enkel, ein wahrer Personenkult ein. Es entstanden Kaiser-Wilhelm-Ruhmeshallen, -Türme, -Gedächtniskirchen und -Stiftungen, eine Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und der Kaiser-Wilhelm-Kanal sowie etwa 400 Kaiser-Wilhelm-Denkmäler.[131] Mit der Mythisierung seines Großvaters wandte sich Wilhelm II. auch gegen den in den 1890er-Jahren einsetzenden Bismarckkult,[132] der über 700 Bismarck-Denkmäler produzierte und dem er eine Inszenierung des Hauses Hohenzollern entgegensetzte. Letztlich zielten Wilhelms Bemühungen auf eine Verankerung des Reiches und seiner Herrschaft in einer monarchisch-dynastischen Sinngebung.[133]

Berliner Dom und Siegesallee

An den meisten von Wilhelm II. selbst initiierten Projekten lassen sich sowohl seine Vorliebe für dekorierte, monumental inszenierte Geschichte, sein antimodern-konservativer Geschmack als auch sein Streben nach einer dynastischen Legitimierung belegen. Schon 1888 griff er den seit Andreas Schlüter immer wieder diskutierten Plan zu einem Domneubau auf und beauftragte den Professor für Baukunst an der TH Charlottenburg, Julius C. Raschdorff, mit der Ausführung (Abb. 4). Am Berliner Lustgarten entstand bis 1905 ein reines Hohenzollern-Denkmal, ein «protestantischer St. Peter in des Reiches Hauptstadt», die «dekorative Festkirche des Kaiserhauses»[134]. Über der Hohenzollern-Gruft erhebt sich ein überkuppelter Zentralbau, und ein eigenes kaiserliches Stiegenhaus führt wie in einem Hoftheater zur Kaiserloge. Die enormen Kosten von 11,5 Millionen Mark – der Dom war nach dem Reichstag der teuerste Hochbau im Kaiserreich – mussten weitgehend vom Preußischen Landtag aufgebracht werden.[135] Für Max Weber war der «elende Dom […] ein solches Monument banalen Pseudomonumentalismus, daß man mit Schaudern an das Geschmacksurteil der Nachwelt über dies Menschenalter deutscher Geschichte und mit Scham an eine Künstlergeneration denkt, die sich dafür hergegeben hat und an ein Publikum, welches dem nicht entgegentrat»[136]. Der Dom drückte für viele Kritiker exemplarisch aus, was dann als «wilhelminische Architektur»[137] in die Architekturgeschichte einging: ein auftrumpfendes, pompöses und mit Dekor überladenes Erscheinungsbild. «Die dekorative Neigung des Kaisers greift immer gerade nach den lautesten Künstlern»[138], schrieb Karl Scheffler 1908. Erst aus dem städtebaulichen Kontext erschließt sich jedoch die besondere Bedeutung des Doms. Mit der monumentalen Kuppel knüpften Wilhelm II. und Raschdorff sowohl architektonisch als auch inhaltlich an die Kuppel am benachbarten Berliner Schloss an, die Friedrich Wilhelm IV. nach der Niederschlagung der Revolution von 1848 durch Friedrich A. Stüler als architektonische Demonstration seines Gottesgnadentums hatte errichten lassen.[139] Diesen Zusammenhang erfassten auch kritische Zeitgenossen, Karl Scheffler bezeichnete den Dom deshalb als «eine riesenhafte Staatsreklame für einen Gedanken der Staatsdisziplin und dynastischen Machtentfaltung»[140].

4 | Julius C. Raschdorff, Berliner Dom am Lustgarten, 1894–1905

Das Pendant zum Dom im Bereich der Skulptur war die von 1895 bis 1901 mit einer Kette von Denkmälern und Denkmalbänken ausgestattete, von Wilhelm II. angeordnete Siegesallee, die eine Adelsabfolge, einen dreidimensionalen Hohenzollern-Gotha, vorführte. Die 500 Meter lange Siegesalle führte direkt auf die Siegessäule am Königsplatz vor dem Reichstagsgebäude und war damit eine «Manifestation dynastischen Denkens, […] ein monarchisches Veto gegen die im Reichstag sich verkörpernde Volks- und Parteienherrschaft»[141]. Gegen die von ihm verachtete «Schwatzbude» mit ihren – aus seiner Sicht – nur gewählten Volksvertretern setzte Wilhelm sein dynastisches Legitimationsprinzip, die Ableitung der Herrschaft aus der Abfolge der Adelsgeschlechter. Bei der Eröffnung 1901 hielt er eine später berühmt-berüchtigte Rede gegen die naturalistische Kunst, die für ihn nicht erhebend wirkte, sondern «in den Rinnstein niedersteigt»[142