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Grönland - Kalaallit Nunaat, oder: Land der Menschen, sagenumwobene größte Insel der Erde. 80% der Landmasse sind begraben unter einem bis zu 3000 Meter dicken Eispanzer. An den Küsten bieten zum größten Teil eisfreie, bis zu 200 km breite Landstreifen der arktischen Flora und Fauna Lebensraum. Auf Höhe des nördlichen Polarkreises führt einer der nördlichsten Wanderwege, der Arctic Circle Trail, von der Küstenstadt Sisimiut im Südwesten der Insel über circa 170 km durch den eisfreien Küstenstreifen rüber nach Kangerlussuaq im Inland. Diese ehemalige amerikanische Militärbasis mit internationalem Flughafen liegt gut 30 km vor dem Inlandeis, dem gewaltigen, alles bedeckenden Eisschild. Vater und Sohn erleben eine Reise in eine ferne Welt mit faszinierenden Landschaften und ebensolchen Menschen. Knapp 2 Wochen auf dem Trail und einige Tage auf Erkundung der näheren Umgebung von Kangerlussuaq inklusive Eisschild und Russells Gletscher sorgten für interessante und anregende Begegnungen, sowohl mit Wanderern aus aller Herren Länder als auch mit Einheimischen. Dieses Buch ist KEIN Reiseführer, sondern ein ganz subjektiver Bericht über eine nicht alltägliche Reise: eine spätsommerliche Trekkingtour mit vollem Gepäck durch eine urwüchsige Landschaft. Dennoch erhält der Leser eine Menge sachlicher Informationen über den Erlebnisbericht hinaus.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Life is all, all is life!
Hivshu
Die größte Entfernung im Dasein des Menschen
ist weder von hier nach dort
noch von dort nach hier.
Nein, die größte Entfernung im Dasein des Menschen
ist von seinem Verstand zu seinem Herzen.
Nur, indem er diese Distanz überwindet,
lernt er, wie ein Adler zu segeln
und seine innere Unermesslichkeit wahrzunehmen.
Angaangaq Angakkorsuaq
Sassuma Arnaa
Tasama naqqaniippoq
taanna Sassuma Arnaa
assassui aa
inuaali sumippat
nujarsui ilattut
qamani uummammini
naalliuutimisut
Taanna tamaniippoq
anaanani paniinilu
anniaat nalunartoq
artornartoq
ilatsinneqartoq
nunap perujuinit mingunnit
inuuneranik
nutsutsisoq ammut
toqussaanut allaat.
Meeresmutter
Dort unten ist sie
die Meeresmutter
mit großen Händen und abgehackten Fingern
das Haar verfilzt
von Herzflussschmerzen
sie wohnt in allen Schwestern
und Müttern
ihre unbekannten Sorgen
so schwer, so verklebt
vom schwarzen Dreck der Erde
unser Leben belastet
von ihrem Tod.
Jessie Kleemann
Klaus Niklas
17./18. August – Anreise + Nasaasaaq
Sightseeing Sisimiut
Sisimiut bis Pass am Qerrortusup Majoriaa
Pass am Qerrortusup Majoriaa bis Kangerluarsuk Tulleq
Tagestour auf den Aappilattorsuaq
Kangerluarsuk Tulleq bis Qaarajuttoq
Qaarajuttoq bis Nerumaq-Hütte
Ruhetag
Nerumaq-Hütte bis Innajuattoq-II-Hütte
Innajuattoq II-Hütte bis schöner(?) Zeltplatz
Schöner(!) Zeltplatz bis Eqalugaarniarfik-Hütte
Eqalugaarniarfik-Hütte bis hinter Ole’s Lakseelv
Hinter Ole’s Lakseelv – Kanucenter
Kanucenter bis Katiffik-Hütte
Katiffik-Hütte bis kurz vor Kelly Ville
Kurz vor Kelly Ville bis Kangerlussuaq
Überblick Arctic Circle Trail
Sightseeing Kangerlussuaq
Ice Cap und Russells Gletscher
Fossilsletten
Lake Ferguson
Wasserfall
8./9. September – Rückflug
Nachlese
Anhang I
ACT - Hütten und Entfernungen
Anhang II
Tipps für Einsteiger
Tipp: Planung
Tipp: Körperliche Vorbereitung
Tipp: Proviant beschaffen
Tipp: Proviant aufpeppen
Tipp: Proviant Zusammenstellung
Tipp: Proviant verpacken
Tipp: Proviant komprimieren
Tipp: Proviant vorausschicken
Tipp: Medikamente
Tipp: Seil
Tipp: Blasenprophylaxe – Zehen / Ferse
Tipp: Blasenbehandlung
Tipp: Waschzeug
Tipp: Klopapier
Tipp: Ganzkörperwaschung
Tipp: Pinkeln und das Andere
Tipp: Waten
Tipp: Feuer
Tipp: Mückenabwehrmittelchen
Tipp: Mückendichte Socken
Tipp: Ruhe bewahren beim Mückenangriff
Tipp: Weitergehen trotz Mückenwolke
Tipp: Mücken im Zelt
Tipp: Mückennetz (für den Kopf)
Tipp: Mücken und Stuhlgang
Tipp: Mücken und Stillhalten
Tipp: Was der Same empfiehlt…
Tipp: Navigation
Tipp: Ausrüstung
Tipp: Bargeld
Tipp: Zelt einpacken
Tipp: Ersatzkleidung
Tipp: Spiritus transportieren
Tipp: Küchenutensilien – Schneebesen
Tipp: Töpfe spülen
Register
Warum eigentlich dieses Mal nicht nach Lappland?
Ich weiß gar nicht mehr, welcher Auslöser mich dazu verleitet hat, Grönland als Wanderziel ins Auge zu fassen. Dennoch ist die Antwort auf die Eingangsfrage leicht zu geben. Zum einen unterliege auch ich dem zeitlichen Verfall alles Irdischen mit stetig abnehmender körperlicher Leistungsfähigkeit: Das heißt: Wenn nicht jetzt, wann dann? Zum anderen steht zu befürchten, dass die grandiosen Naturschauspiele Grönlands eher über kurz als über lang unwiderruflich dem Klimawandel zum Opfer gefallen sein werden.
Grönland ist mein bisher exotischstes Reiseziel; die Gegend um den Polarkreis aber nicht das nördlichste. Dem Namen der größten Insel unseres Globus haftet schon etwas Urwüchsiges, und wegen des fast alles bedeckenden Eisschilds (ca. 80% der Landmasse) auch Lebensfeindliches an. Der Eisschild ist maximal bis zu 3400 und durchschnittlich bis zu 2000 Meer mächtig. Die Insel ist 2650 km lang, maximal 1200 km breit und besitzt somit knapp ein Drittel der Fläche Australiens.
Ich bin gespannt, was mich erwartet. Ein wenig verspüre ich Entdeckergefühle wie weiland Erik der Rote vor 1000 Jahren. Im Jahre 982 hatte der Isländer Eirikur Thorvaldsson, genannt Erik der Rote, Dreck am Stecken und musste seine Heimat Island als Geächteter für drei Jahre verlassen. In dieser Zeit erkundete er die Westküste und den Süden Grönlands. Das Land mit seinen saftigen Wiesen für Rinder und Schafe, fischreichen Flüssen und genug Platz für den Bau von Höfen mit reichlich Treibholz entsprach genau den Vorstellungen der isländischen Bauern. Im Jahre 985, nach Aufhebung seines Banns, überzeugte Erik 300-400 seiner Landsleute, ihm ins „grüne Land“ zu folgen. Die Klimaverhältnisse waren im 10. Jahrhundert wesentlich besser als heutzutage. Allerdings wusste man damals nicht, dass gerade eine Warmzeit herrschte, die nur wenige Jahrhunderte anhielt.
Etwa im Jahr 1000, lange vor Kolumbus, entdeckte Eriks Sohn Leif, also Leif Eriksson, die nordamerikanische Ostküste
Um 1300 veränderte sich das Klima. Die Temperaturen fielen um etwa 2° Celsius, was die durchschnittliche Zahl der Regentage pro Jahr ansteigen und die Winter ungleich schneereicher werden ließ. Heuernten verregneten, was sich auf die Viehhaltung auswirkte. Im Zuge all dieser Veränderungen brach auch der Handel zum übrigen Europa ab. Schließlich sorgte der Klimawandel dafür, dass die Nordmänner ab dem 15. Jahrhundert entweder nach Island oder vielleicht sogar nach Amerika auswanderten.
Welche Witterungsbedingungen und geografische Besonderheiten werden wir vorfinden und mit welchen Gefahren – auch in der heutigen Zeit – müssen wir rechnen? Wie steht es mit blutrünstigen Wildtieren – außer der Mücken? Muss man sich vielleicht bewaffnen?
Wildtiere
Eisbär (Nanoq) - Es gibt seit Jahrzehnten keine Aufzeichnungen über Menschen, die von Eisbären getötet wurden. Wenn aber ein Eisbär angreift und du keine Mittel hast, um dich zu schützen, sind deine Überlebenschancen gering.
Grönländischer Schlittenhund (Qimmeq) - Schlittenhunde sind Wildtiere mit Raubtierinstinkt. Deshalb sind sie immer angebunden, wenn sie nicht arbeiten – besser nicht einfach berühren.
Moschusochse (Umimmak) - Moschusochsen sind wie riesige Ziegen, aber wenn sie heiß sind, können sie ziemlich aggressiv werden. Ihr Verhalten kann unvorhersehbar sein. Moschusochsen sind häufig in der Umgebung von Kangerlussuaq anzutreffen.
Walross (Aaveq) - Männliche Walrosse können sich wie große, böse Bullen verhalten, wenn man ihr Territorium betritt und sie belästigt. Sie können kleine offene Boote angreifen und möglicherweise den Rumpf durchbohren.
Polarwolf (Amaroq) - Rudel von arktischen Wölfen sind in Grönland extrem selten und leben meist in den abgelegenen nördlichen und nordöstlichen Teilen Grönlands.
Rentier (Tuttu) - Rentiere haben im Allgemeinen große Angst vor dem Menschen.
Sie sind in Westgrönland weit verbreitet.
Außerdem: Schneehase (Ukaleq), Adler (Nattoralik), Polarfuchs (Qaqortaq).
Je mehr ich mich mit dem Thema Grönland befasste, desto faszinierter wurde ich. Ich merkte bald, dass es vornehmlich der (fast) alles bedeckende Eisschild war, der letztlich den Ausschlag gab und auf dem ich mit eigenen Füßen stehen wollte. Das sollte der Höhepunkt der Reise werden und der Besuch des Eisschilds folglich an einem der letzten Tage stattfinden.
Die Zeit davor soll dem Arctic Circle Trail (kurz: ACT) gewidmet werden, ein Wanderweg, der in der eisfreien Zone an der Westküste zwischen der Küstenstadt Sisimiut und dem ehemaligen amerikanischen Militärstützpunkt Kangerlussuaq im Inland über ca. 170 km nahe des nördlichen Polarkreises verläuft. Der ACT verläuft relativ geradlinig in Ost-West-Ausrichtung und wird vom Großteil der Wanderer auch so gelaufen: von Kangerlussuaq im Landesinneren nach Sisimiut an der Küste. Das ist vermutlich dem Umstand geschuldet, dass die Touristen auf internationalen Flügen anreisen, die die größere Landebahn in Kangerlussuaq benötigen. Damit unser Plan mit dem Eisschild aufgeht, wollen wir entgegengesetzt der üblichen Gehrichtung laufen. Das bedeutet, in Kangerlussuaq innerhalb einer Stunde noch einmal in eine kleinere Propellermaschine mit etwa 40 Plätzen umzusteigen und zur Küste weiterzufliegen.
Der ACT selbst stellt keine besonderen Anforderungen an den Wanderer: die niedrigste Höhe ist NN (Meereshöhe), die höchste Höhe ca. 500 m über NN. Dazwischen gibt es natürlich ein ewiges Auf-und-Ab. Die längste und steilste Steigung bietet die östliche Begrenzung von Ole’s Laksedalen mit ca. 300 Höhenmetern auf nur 1000 Streckenmeter. Das ist rauf wie runter gleich kräftezehrend und wird nur verstärkt durch die auf dem Rücken mitgeführte Zuladung (vgl. Höhenprofil der Gesamtstrecke auf S. →).
Es gibt eine Handvoll Hütten entlang des Pfades (Liste am Ende des Buches im Anhang). Allerdings ist es wegen der relativ großen Abstände dazwischen (i.d.R. 20+ km) nicht empfehlenswert, die Route als reine Hüttentour zu begehen. Die meisten Hütten sind ziemlich klein (3-6 Schlafplätze) und in keiner gibt es Kocher-Hardware wie man es vielleicht aus Skandinavien kennt. Eine kleine Kochecke ja, aber Kocher und Brennstoff muss man selbst beisteuern. Im größeren Kanucenter und der Innajuattoq-Hütte zum Beispiel, kann der Innenraum theoretisch mit einem Petroleumofen erwärmt werden. Vorausgesetzt, es ist entsprechender Brennstoff vorhanden – worauf man sich nicht verlassen sollte – und man kommt mit der Handhabung klar. Es sollen schon Hütten durch unsachgemäßes Anblasen eines solchen Ofens ein Raub der Flammen geworden sein.
Das Zelt zuhause zu lassen ist demnach die einzige effektive Möglichkeit zur Gewichtersparnis. Diese erkauft man sich allerdings mit dem Verzicht auf Flexibilität zu spontanen Übernachtungen an schönen Plätzen oder eingeschobenen, lastbefreiten Ausflügen außerhalb der nahen Hüttenumgebung; etwa auf erreichbare Berggipfel am Wegesrand.
Das Publikum auf dem ACT zieht sich durch alle Generationen. Zwischen 17 und 70 Jahren ist uns alles begegnet: die 4-köpfige Girlie-Group aus Berlin, der Mittvierziger aus Irland, der Stuttgarter in den Fünfzigern, der Ami Anfang dreißig aus Washington DC, der kanadische Salamispender Ende zwanzig und die geführte Horde aus Skandinavien mit einem geschätzten Durchschnittsalter von 55 Jahren. Kohorten, Kleingruppen, Zweiergespanne und Einzelwanderer mit Gleichverteilung der (klassischen) Geschlechter – es war alles dabei.
Aus der erwarteten Einsamkeit wie wir sie aus dem menschenleeren SAREK Nationalpark in Schwedisch-Lappland kennen und schätzen, wurde hier nichts. Dort hatten wir 5 Sichtungen auf Menschen in 20 Tagen, während es hier ca. 45 Begegnungen in 13 Tagen werden sollten. Das entspricht einer Steigerung des arithmetischen Mittels von 0,25 Menschen/Tag auf 3,45 Menschen/Tag. Mit einem Wort: total überlaufen.
Nichtsdestotrotz waren die kurzen Pläusche am Wegesrand und die längeren Konversationen an und in den Hütten durchweg immer amüsant.
Während die Pinguin-Frage auf der nördlichen Halbkugel keine Rolle spielt, drängt sich hier dafür das Eisbär-Thema in den Vordergrund. Immerhin sind die Kerls hier zuhause. Allerdings treiben sich die Weißpelze viel lieber noch weiter nördlich herum. Hier unten im Südwesten, in Polarkreisnähe, soll die Wahrscheinlichkeit einem Eisbären zu begegnen, gegen Null gehen. Falls es wider Erwarten doch zu einer unheimlichen Begegnung mit der weißbepelzten Art kommt, bietet „VisitGreenland“, die nationale grönländische Tourismusbehörde, auf ihrer Homepage Verhaltensregeln an. Je nachdem in welche Situation man gerät, lernt man hier am grünen Tisch erprobte(?) Verhaltensweise kennen (s. nächste Seite).
Eisbären
Nanoq, der weiße Eisbär, ist das größte Landraubtier der Welt und schmückt Grönlands Wappen als Symbol für Stärke und für ein weites Land.
Wie wahrscheinlich ist es, einem Eisbären beim Wandern in Grönland zu begegnen? Im Allgemeinen findet ein Zusammentreffen selten bis gar nicht statt. In Grönland leben die Eisbären im nördlichsten Bereich von Westgrönland und in Nordostgrönland.
Statistische Untersuchungen über Begegnungen zwischen Eisbär und Mensch unterscheiden zwischen „Angriff (Attack)“ und „Annäherung (Charge)“ mit den folgenden Definitionen.
Ein Angriff ist, wenn ein Eisbär physischen Kontakt mit einer Person aufnimmt.
Eine Annäherung ist, wenn sich ein Eisbär bewusst auf einen Menschen zubewegt, um ihn anzugreifen.
Im Gegensatz zu anderen Bären geben Eisbären keine Warnzeichen, um Menschen abzuschrecken. Im Zeitraum von 2012-2017 wurden 16 Eisbär-Annäherungen und 2 Eisbär-Angriffe registriert, bei denen Menschen verletzt, aber nicht getötet wurden. In den letzten 25 Jahren gab es keine Todesfälle durch einen Eisbär-Angriff in Grönland.
(www.visitgreenland.com)
(Quelle: visitgreenland.com)
Na, dann kann es ja losgehen. Die Jahreszeit ist mit Spätsommer ideal, was das Wetter betrifft. Damit einher gehen leider auch andere Dinge (Stich(!)wort: Mücken) – aber einen Tod muss man letztlich sterben. Wir reisen am 17. August aus Düsseldorf ab und werden am 9. September dort wieder landen.
Niklas und ich freuen uns wie Bolle auf die Reise und ich bin stolz und glücklich darüber, dieses nicht alltägliche Vater-Sohn-Ding zu machen.
| Flughafen Kopenhagen | 7-Eleven | Flughafen Kangerlussuaq | | Flughafen Sisimiut | Vandrehjem | Nasaasaaq | Mückenschwärme |
Flughafen Kopenhagen, 4 Uhr morgens. Es kommt wieder Leben in die Bude. Unablässig werden Trolley-Koffer von hier nach dort und wieder zurück über die glatten 50x50-cm-Fliesen der Abflughalle gerollt. Davon unbeeindruckt pennen die, die auf verschiedenen unbequemen Sitz-Varianten in der Halle tatsächlich in Schlaf gesunken sind, einfach weiter. Der Rest des bunten und vermutlich internationalen Publikums hat sich so wie wir durch die Nacht gequält und hofft auf etwas Erholung während der nächsten Flugetappe.
Dabei hatte alles gut angefangen. Die Frauen haben uns gestern so rechtzeitig nach Düsseldorf verfrachtet, dass wir Zeit satthatten, um entspannt einzuchecken. Was auch relativ problemlos vonstattenging. Die Rucksäcke bewegten sich deutlich unter der 20-kg-Marke und die mehr oder minder voluminösen Handgepäckstücke wurden kaum beachtet.
Ein wenig Unsicherheit gab es nur, als der apathische Gepäckabfertiger sich irgendwie vertan und einen der beiden Rucksäcke möglicherweise mit einem durch seine vorherige Computermanipulation falschen Etikett aufs Gepäckband entlassen hatte. Hin-und-her-löschen und neu erfassen der Daten als der Rucksack schon gar nicht mehr in Sichtweite war, ließen doch leisen Zweifel daran aufkommen, ob er nicht vielleicht doch durch Erdteile von uns getrennt irgendwo anders landen würde.
„Alles ist gut!“ Der treue Dackelblick versprüht innere Gelassenheit und Zuversicht, die ansteckend wirkt. Wird schon werden!
Wir haben noch reichlich Zeit und können gemütlich zum Security-Check schlendern. Ist auch recht übersichtlich hier. Keinerlei Gedränge, wenig Reisende. Es folgt die übliche Prozedur: Taschen leeren, Schuhe ausziehen (wegen der Metallösen für die Schnürsenkel), Leibesvisitation. Dann direkt in den Flieger, bei gutem Wetter abheben und gleich bis über die Wolken kommen. Die Sonne bescheint einen 1-stündigen, ereignislosen Flug. Wenn man von der widerspenstigen Tüte Mandeln absieht, die trotz meines übervorsichtigen Öffnungsversuchs komplett aufreißt und fast ihren gesamten Inhalt über meinen Schoß ergießt. Brauner Mandelstaub überall – das habe ich jetzt nicht wirklich gebraucht. Die planmäßige Landung in Kopenhagen erfolgt um 20:05 Uhr. Wir versuchen, die etwas unsichere Gepäckfrage an den Schaltern von SAS und Greenland-Air zu klären. Mit den erhaltenen spärlichen Informationen können wir nur hoffen, dass die Rucksäcke wie geplant in Kangerlussuaq landen werden.
Mittlerweile ist es fast 21:30 h. Um diese Uhrzeit herrscht auf dem dänischen Hauptstadt-Flughafen reges Treiben. Wir möchten für die Dauer unseres 14-stündigen Aufenthaltes hier unser Handgepäck sicher unterbringen. Bislang hat es noch keinen Hinweis auf Schließfächer gegeben, in die wir das Gepäck einlagern können. Ein freundliches Mitglied der Putzkolonne weist uns auf Nachfrage den Weg dorthin – quer durch den Flughafen bis ins Parkhaus Nr. 4. Dort sollen sie sich befinden.
Wir schaffen es, von den elektronisch gesteuerten Fächern eins zu mieten und können uns nun freier bewegen. Mittlerweile ist es schon nach 22 h und an den Ticketautomaten für den örtlichen ÖPNV herrscht immenser Andrang. Deshalb geben wir den Plan auf, in die City zu fahren. Stattdessen versorgen wir uns im 7-Eleven – ein ziemlich großer Kioskladen – mit Mineralwasser und einigen Dosen Cidre. Positive Nachricht: Der Laden macht nie zu!
Wir haben uns spontan auf eine gerade verwaiste Sitzbank eingeschworen – leider eine der etwas kürzeren Art, aber ohne diese Armlehnen. Alle anderen waren im wahrsten Wortsinne schon belegt. Wie der müde Körper ziemlich schnell herausfindet, ist die Sitzfläche nicht eben, sondern leicht konkav gebogen (also mit Mulde). Darauf kann man nicht wirklich entspannen. Die Folge ist, dass zum einen Schlaf sich letztlich überhaupt nicht einstellt und zum anderen der 7-Eleven mehrfach für Ess- und Trinkbares aufgesucht wird.
So vegetieren wir bis etwa 4 h morgens dahin. Dann belebt sich das Bild, denn nun beginnt der Flugbetrieb wieder und die ersten Maschinen landen. Da wir uns in der Ankunftshalle befinden, bekommen wir das live und in Farbe mit. Unser Flieger hebt erst um 11 Uhr ab – somit haben wir noch immer reichlich Zeit, die quälend langsam dahinschleicht.
Ab 7 h öffnet der erste Degustationsstand und offeriert Frühstück. Es gibt wenig Auswahl: Rührei mit Speck oder Sandwich. Das Rührei ist so lala, aber füllt den Bauch. Wir schlagen die Zeit tot bis das Boarding beginnt.
Die Maschine ist groß: Es ist ein Airbus A-370 mit ca. 280 Plätzen in drei Reihen. Die Sitzaufteilung ist 2-4-2 pro Reihe. Wir sitzen in Reihe 36, Mittelblock, linke Hälfte. Beinfreiheit? Braucht kein Mensch. Hinter uns eine Mutter mit drei Kleinkindern, die eine unangenehme, permanente Geräuschkulisse erzeugen und dauernd an den Sitzen rütteln und vor die Lehnen treten. Gut, dass der Flug nur etwas über 4 Stunden dauert.
Wir überfliegen 4 Zeitzonen Richtung Westen und damit 4 Stunden in der Zeit zurück: Start um 11:00 h, Landung um 11:40 h – jeweils Ortszeit. In die Rückenlehnen der Sitze sind kleine Monitore eingebaut, die regelmäßig Basisdaten wie Flughöhe (30.000 Fuß), Geschwindigkeit (800 km/h), Außentemperatur (-70° C) und die jeweilige Ortszeit anzeigen.
Da weder Stürme aufziehen noch Meteoriten die Tragflächen perforieren oder sonstige Katastrophenszenarien akut werden, kommen wir planmäßig in Kangerlussuaq an. Der Morgen ist freundlich, sonnig und relativ warm. Da wir dummerweise das Gepäck nicht gleich bis an unseren Zielort Sisimiut haben umleiten lassen, müssen wir es persönlich vom Gepäckband (es gibt hier tatsächlich eins) abholen und für den sich anschließenden Inlandsflug neu einchecken. Es geht aber alles gut und stressfrei vonstatten.
Für die knapp 200 km von hier bis Sisimiut an der Westküste setzt Greenland Air eine Propellermaschine ein, die etwa 40 Plätze vorweist. Davon sind mit uns nur etwa 20 besetzt.
Die Maschine hebt ab und steigt über dem Kangerlussaq-Fjord auf. Das sedimentreiche Wasser des Watson-River wälzt sich auf einer Strecke von etwa 5 km über Treibsandgebiet bis es sich in das offene Meer ergießt. Von oben sieht es aus, als würde hier ewig Ebbe herrschen.
Eine Handvoll Schiffe ankert scheinbar planlos in der Nähe des Fjordendes. Waren- und Menschentransporte per Schiff werden hauptsächlich über Sisimiut abgewickelt.
Die Flughöhe ist relativ niedrig, sodass wir während des knapp halbstündigen Fluges die ersten landschaftlichen Eindrücke beim Blick aus den Kabinenfenstern erhaschen können. Zahllose kleine Seen ziehen unter uns dahin. Das Landschaftsbild mutet sehr ähnlich dem im lappländischen Fjäll an. Es ist aber insgesamt felsiger und es gibt überhaupt keinen Wald. Nicht nur keinen Wald, es gibt einfach überhaupt keine Bäume hier. Die einzigen wenigen Exemplare sind ein paar experimentell gepflanzte Nadelbäume entlang der Schotterpiste von Kangerlussuaq zum Inlandeis. Dass dieses Experiment, auf Grönland Bäume anzusiedeln, gescheitert ist, führen die letzten dahin siechenden, kümmerlichen Fichten deutlich vor Augen.
Wir sind am Ziel! Landung in Sisimiut kurz nach 13 h bei eitel Sonnenschein. Das (einzige) Flughafengebäude vereinigt in sich Tower, Ankunfts- und Abflug“halle“ und ist eher schnuckelig zu nennen.
Ankunft in Sisimiut
Immerhin: die Grönlandflagge weht am Mast und vor den Toren, d.h. vor dem Maschendrahtzaun, wo schon die örtlichen Taxis warten, um Fluggäste, die nicht von Verwandten oder Freunden abgeholt werden, in den etwa 5 km entfernten Ort zu bringen. Wir teilen uns ein Taxi zum Vandrehjem mit Tobias aus Aachen. Dort habe ich ein Zimmer für 2 Übernachtungen übers Internet gebucht. Tobias will gleich auf den ACT starten und verabschiedet sich gleich nach der Taxifahrt.
Wir sind zum Einchecken zu früh, aber Henrik, der Herbergsvater, ist vor Ort und wir können unsere Klamotten im hinteren Bereich irgendwo abstellen.
Entgegen des ursprünglichen Plans hat Niklas vorgeschlagen, bei dem herrlichen Wetter schon heute die Bergtour auf den Nasaasaaq, den Hausberg von Sisimiut, zu machen. Henrik bestärkt uns in dem Vorhaben, weil das Wetter morgen voraussichtlich schlechter werden würde. Er gibt uns schon einen Schlüssel mit, falls wir erst spät zurückkommen sollten.
In einem Wanderführer ist die Tour mit ca. 5 Stunden bergauf und 3 Stunden zurück angesetzt. Jetzt ist es 14 Uhr – plus 8 Stunden wäre dann 22 Uhr: passend zum Sonnenuntergang.
Wir folgen der Wegbeschreibung, die Henrik uns gegeben hat und stiefeln das erste Mal durch eine grönländische Stadt. Die Atmosphäre in Sisimiut ist – entspannt. Von Hektik ist nichts zu spüren. Die Menschen sind freundlich und grüßen regelmäßig.
Die Hauptstraße, der wir folgen, endet in einer Sackgasse. Hier geht es hinter einer Absperrung auf einer Schotterpiste weiter, die sich noch gut 1,5 Kilometer über leicht welligen Boden windet. Eine Gruppe angebundener Schlittenhunde vor einem einsam gelegenen Haus heult uns an.
Bald hebt sich der Nasaasaaq abrupt aus der Ebene. Wir stehen plötzlich vor einer steinernen Wand. Ein Wegweiser verkündet, dass es hier herauf zum Gipfel des Nasaasaaq und links herum auf dem ACT weitergeht. Ein schmaler Trampelpfad führt in die Höhe.
Der Himmel ist mittlerweile komplett blau. Die Sonne brennt erbarmungslos und im Verein mit völliger Windstille schafft sie eine Treibhausatmosphäre, die ich so nicht erwartet hätte.
Satte 17° C (das sind mindestens 25° in der Sonne) rufen Mücken, Mücken und Mücken auf den Plan. Es sind die kleinen Kriebelmücken, die ständig wie Sputniks um den Kopf kreisen und gerne und häufig die feuchtwarmen Augenwinkel ansteuern.
Nicht nur der Weg quält sich in Serpentinen nach oben. Er ist häufig steinig, oftmals auch verschwunden – es gibt nur wenige Markierungen oder Steinmännchen. Wir sind schon einigermaßen erschöpft als wir glauben, oben angekommen zu sein. Es ist aber nur ein Sattel, über dessen langgezogenen Rücken es die letzten 200 Höhenmeter hinaufgeht.
Dann sind wir nach 3 Stunden Aufstieg fast „on top“ auf einem breiten Grat! Ein fetter Steinmann heißt uns willkommen, dem Niklas ein weiteres Steinchen aufs Haupt legt. Die letzte Spitze der „Weiberkapuze“ – so die Übersetzung des Namens Nasaasaaq – haben wir ausgelassen. Nach dem überlangen Tag und bei den tropischen Witterungsbedingungen sind wir nun doch erschöpft und wollen mit der Kraxelei über Seilpassagen auf den letzten Pin nicht gleich am ersten Tag irgendwelche Risiken eingehen.
Im Nachhinein sind wir froh, heute noch hier hochgestiefelt zu sein. Die Aussicht ist in alle Richtungen grandios. Berge nach Norden und Osten, Meer nach Westen und Süden. Kanadas Küste nur 2-3 Steinwürfe – also etwa 300 km – entfernt, versteckt sich aber etwas im Dunst. Der Blick nach Süden entlang der zerklüfteten grönländischen Westküste ist malerisch. Direkt zu unseren Füßen liegt der Amerloq-Fjord, der sich knapp 40 km weit ins Landesinnere erstreckt.
Nasaasaaq
Nasaasaaq ist ein 784 Meter hoher markanter Berg in der Kommune Qeqqata in Westgrönland. Er befindet sich auf dem grönländischen Festland, unmittelbar südöstlich von Sisimiut an der Nordküste des Amerloq Fjords, einem Nebenfluss der Davisstraße. Der Name bedeutet übersetzt so etwas wie „Weiberkapuze“.
Das Bergmassiv erstreckt sich über 6 Kilometer in West-Ost-Richtung und bildet den Endpunkt einer langen Gebirgskette, die sich von der Pingu-Berggruppe auf halbem Weg zwischen der Davisstraße und dem grönländischen Eisschild erstreckt. Der Nasaasaaq-Rücken hat mehrere Gipfel. Der Hauptgipfel ist der markanteste und erhebt sich über den Rest des Grates in einem hohen 150 m hohen Kegel auf 784 m. Der Grat endet in einem 611 m langen Trabant mit Blick auf Sisimiut.
Im Osten fällt der Grat allmählich auf fast 300 m ab, bevor er sich nach Osten-Nordosten zum Aappilattorsuaq-Massiv wendet. Die Südwand des Nasaasaaq fällt direkt in den Amerloq-Fjord.
Der Blick auf Sisimiut ist klar und weit. Die zwei kleinen Seen in direkter Nachbarschaft der Stadt, die teilweise zur Trinkwassergewinnung benutzt werden, schimmern im Sonnenlicht. Die bunten Farben der Häuser leuchten weithin. Wir laben uns an diesem Panorama.
Der Abstieg droht. Meine Beine fühlen sich etwas müde an, meine Füße wie Tartar in den Schuhen. Aber hier oben bleiben können wir nicht. Auf dem Rückweg sind die spärlich vorhandenen Steinmännchen nicht immer gut auszumachen oder fehlen ganz einfach. Auf dem felsigen Untergrund ist ein getretener Pfad nicht immer erkennbar und manches Mal landen wir dann doch in einer Sackgasse an einem unpassierbar steil abfallenden Stück.
Schließlich erreichen wir wieder den bekannten Bachlauf vom Aufstieg. Ab hier ist der weitere Weg gut überschaubar. Das Bachufer ist steinig und sandig. Das ist in Verbindung mit schlappen Füßen keine gute Kombination. Einmal stolpere ich und stürze. Ich rolle mich ab, um mir nicht die Knochen zu verrenken. Das ist ja grade nochmal gut gegangen.
Nasaasaaq
Blick vom Nasaasaaq auf Sisimiut
Geschafft! Wir sind wieder unten. Jetzt sind es noch etwa 2 Kilometer bis zum Vandrehjem – gut die Hälfte davon über die Schotterpiste, die wir schon kennen und der Rest durch die Stadt.
Auf dem Stück entlang der Hauptstraße passieren wir einen kleinen Supermarkt mit Öffnungszeiten 7x24 – also immer offen. Das ist jetzt auch der Fall. Die Chance wird genutzt, um Zutaten für ein einfaches Abendessen zu beschaffen. Aus dem begrenzten Sortiment wählen wir profane Spaghetti, Nudelsauce, Hackfleisch und etwas Trinkbares zum Nachspülen.