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Der Journalist Andreas Staller wurde kaltblütig in seiner Wohnung erschossen. Als die Heidelberger Oberkommissarin Sara März die Ermittlungen aufnimmt, ahnt sie noch nicht, dass sie bald selbst zum Ziel des manipulativen Mörders wird.
Schnell wird ihr klar, dass die omnipräsenten Augmented-Reality-Brillen etwas mit dem Fall zu tun haben. Diese Brillen sind nicht nur visuelle Hilfen, sie verwischen ganz bewusst die Grenzen zwischen Illusion und Wirklichkeit. Doch wer steckt dahinter? Warum werden Menschen beeinflusst und wird es Sara gelingen, den Täter zu schnappen, bevor sie selbst den tödlichen Täuschungen zum Opfer fällt?
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Seitenzahl: 355
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Ulf Fildebrandt
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© 2022 Polarise
Ein Imprint der dpunkt.verlag GmbH
Wieblinger Weg 17
69123 Heidelberg
www.polarise.de
1. Auflage 2022
Autor: Ulf Fildebrandt
Lektorat: Dr. Benjamin Ziech
Copy-Editing: Irina Sehling
Satz: Birgit Bäuerlein
Illustration Cover: Timo Kümmel
ISBN:
978-3-949345-00-5
978-3-949345-01-2
ePub
978-3-949345-02-9
mobi
978-3-949345-03-6
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über www.dnb.de abrufbar.
Ulf Fildebrandt, 1972 in Stadthagen geboren, begann ungefähr zeitgleich mit dem Programmieren von Computern und dem Lesen von Science-Fiction und Fantasy. Da Software einen sicheren Broterwerb versprach, anders als die Schriftstellerei, studierte er Informatik.
Erst in den letzten Jahren fand er zum Schreiben zurück, zunächst mit einem Buch über die Entwicklung von Software. Beflügelt von diesem Erfolg schrieb er den Roman »Dunkelwärts«, der 2014 veröffentlicht wurde. Darauf folgten Romane im Weltenkreis, einer Fantasy-Reihe, und auch etliche Kurzgeschichten in der c’t, EXODUS und anderen Zeitschriften.
PROLOG
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Wer ist da?
Andreas ging den Fußweg entlang und blickte sich immer wieder um.
Ein halbes Dutzend Leute befanden sich außer ihm auf der Brücke über den Neckar, aber niemand sah zu ihm. Am Ufer, nahe der Altstadt, wuchsen Palmen, und der Wind spielte mit den Blättern.
Ein dunkles Auto fuhr neben ihm. Plötzlich wechselte es die Spur, schoss auf ihn zu. Andreas sah das aufgerissene Gesicht des Fahrers, der panisch das Lenkrad umklammerte und herumriss. Er steuerte selbst, nicht mehr das Auto.
Andreas rannte hilfesuchend auf eine der Laternen zu, einen anderen Schutz gab es nicht. Mit lautem Quietschen blieb der Wagen stehen, nur ein paar Meter von Andreas entfernt.
Sein Herz raste. Schon zum zweiten Mal hatte ein Fahrer in seiner Umgebung die Kontrolle über das Fahrzeug verloren. Das konnte kein Zufall mehr sein.
Alle Geräusche erstarben, als hielte die Welt den Atem an. Stille senkte sich wie ein Tuch über die Fahrbahn. Ein alter Mann in elegantem Anzug stieg aus und starrte Andreas mit geweiteten Augen an. »Da … da war ein LKW«, stammelte er und deutete auf die andere Seite, doch dort war niemals ein größeres Fahrzeug gewesen. Andreas ahnte, was passiert war.
Er tat ein paar Schritte, ging dann schneller. So schnell wie möglich wollte er weg von hier. Der Fahrer rief hinter ihm her, aber Andreas reagierte nicht.
Die Passanten auf der Brücke starrten in seine Richtung, ihre Aufmerksamkeit richtete sich jedoch auf das Auto, das halb auf dem Fußweg stand. Texte in winziger grüner Schrift schwebten in der Luft über jeder Person. In Wirklichkeit jedoch wurden sie nur auf seine Brille projiziert. Dort las Andreas, mit welchem Netz die Datenbrillen der Passanten verbunden waren und welche Daten transferiert wurden. Erst vor einigen Tagen hatte Liam diese Funktion für ihn implementiert. Normalerweise besaß niemand Zugriff darauf, aber die Erlebnisse der letzten Zeit zwangen ihn dazu.
Privatsphäre, dachte Andreas frustriert und amüsiert zugleich. Wenn ich in Gefahr bin, interessiert mich das kein Stück.
Die meisten Leute waren mit Augmentum verbunden und ließen sich ihre Sicht von dieser Firma erweitern. Dazu wurden alle Bilder ihrer Umgebung an Augmentum übermittelt.
Permanent, synchron und in Echtzeit.
Nervös wandte sich Andreas nach vorn. Auf der anderen Seite des Flusses hatte er den Eindruck gehabt, dass er beobachtet wurde. Eigentlich wurde er immer beobachtet, seit er mit seinen Recherchen angefangen hatte.
Eine Frau kam auf ihn zu. Sie war jung und in eine pinkfarbene Jacke gekleidet, obwohl es nicht kalt war. Ihr Lippenstift leuchtete ebenfalls in knalligem Pink. Die Haare schimmerten blau. Ihn störte die Datenbrille, die sie wie selbstverständlich trug, ein neues Modell von Augmentum für die junge Generation. Über ihrem Kopf schwebten die Informationen, dass sie mit dem Netzwerk verbunden war.
Am liebsten hätte Andreas ihr das blau glitzernde Ding von der Nase gerissen.
Wieder jemand, der meinen Standort übermittelt und alles, was ich tue.
Seit einigen Jahren trug jeder eine solche Datenbrille. Die Menschen besaßen gefühlt nur noch die Wahl, welches Netz sie benutzen wollten. Augmentum, Telekom oder eines der diversen lokalen Netzwerke. Alle besaßen unterschiedliche Schwerpunkte. Die Leute wählten, welchem Teufel sie ihre Seele verkauften. Die meisten empfanden es als sehr viel angenehmer, nicht vornübergebeugt wie bei einem Handy durch die Gegend zu laufen, sondern auf die Darstellung rund um sie herum zu schauen.
Bis vor einer Woche hatte Andreas auch verschiedene Netze verwendet, je nachdem, was für Daten ihn interessierten. Doch dann hatte er die Logs der Netze verstanden. Die Betreiber spionierten ihn aus.
Seine Wohnung war nicht mehr weit entfernt. Langsam schlich er über die Brücke, und alles schien ruhig. Die Autos fuhren neben ihm, die Passanten liefen vorbei, als wäre nichts geschehen. Das war das Bild, das die großen Unternehmen nur zu gern erschaffen wollten. Doch je genauer er hingeschaut hatte, umso mehr war die Illusion einer privaten Welt zerbrochen.
Die Frau ging vorüber und warf ihm einen kurzen Blick zu, um dann wieder nach vorn zu schauen.
»Beobachtet doch wen anders!«, raunte Andreas wütend.
Sie musterte ihn. Verwirrung lag in ihrer Miene, und sie rückte unmerklich zur Seite.
Sie hält mich für verrückt.
Andreas grinste, und im nächsten Moment fiel ihm ein, dass das den Eindruck eines Verrückten noch verstärken würde.
Ich muss die Wahrheit rausbringen!
Er lief weiter zu seiner Wohnung, um sich dort an seinen Rechner setzen zu können. Die Fakten mussten in eine Struktur gebracht werden, sodass es wirklich eine Geschichte wurde, die die Leute verstanden. Und die Veröffentlichung war der beste Weg, ihn selbst zu schützen. Niemand würde ihn mehr verfolgen, wenn eh alles öffentlich war. Wieder warf er einen Blick zurück, aber dort lief nur die Frau in ihrer pinkfarbenen Jacke.
Er musste seinen Chef noch davon überzeugen, die Story ins Netz zu stellen. Sobald er die Informationen geordnet hatte, würde das kein Problem sein. Die Menschen lebten, ohne die Wahrheit zu kennen, und er konnte die Täuschung aufdecken. Gerade jetzt, kurz vor dem nächsten Update von Augmentum, war die Aufmerksamkeit auf diese Firma gerichtet. Eine Woche noch. Sie warb sogar in der realen Welt mit antiquierten Aufstellern, um jeden Menschen zu erreichen. Der Zeitpunkt war geradezu perfekt.
Inzwischen hatte er die Häuser auf der anderen Neckarseite erreicht. An einem Schreibwarenladen mit nostalgischen Notizbüchern in Rosa und Blau bog er rechts ab und ging zur Uferstraße hinunter. Passanten befanden sich nicht in der Nähe, sodass er ungestört zur Treppe gelangte, die zu seiner Wohnung führte.
Er stieg die Stufen hinauf und steckte den Schlüssel in das Schloss. Wieder überfiel ihn das Gefühl, beobachtet zu werden. Blitzschnell drehte er sich um, aber niemand blickte in seine Richtung. Leise hielt ein Auto ein paar Schritte die Straße entlang. Der Mann im Fahrersitz des selbstfahrenden Wagens trug eine Datenbrille wie jeder andere auch, aber bei ihm zeigte seine Brille nicht an, dass die Daten an ein Netz übertragen wurden. Verstohlen stieg er aus.
Er ist unsichtbar für alle Netze, dachte Andreas alarmiert. Von seinen Aktionen gibt es keine Aufzeichnung. Er soll mich beobachten. Oder aufhalten?
Andreas nahm zwei Stufen mit einem Sprung und rannte zu dem Mann. Unmittelbar vor ihm baute er sich auf.
»Was tun Sie hier?«
Der Unbekannte war ungefähr dreißig, jünger als Andreas, und trug einen Vollbart. Unverständnis und Widerwille erschienen auf seinem Gesicht. »Was willst du von mir?«
Andreas hob die Arme, ballte die Hände zu Fäusten. Wollte er den Fremden wirklich angreifen? Was sollte das bringen?
»Karsten, was will der von dir?« Eine junge Frau stand ein paar Meter entfernt. Sie war in T-Shirt und Leggings gekleidet. Auch sie trug eine Brille ohne Netzwerk.
Der bärtige Mann trat auf Andreas zu. Seine Stimme klang aggressiv, drohend, aber so leise, dass niemand sonst sie hören konnte. »Wenn du ein Freund ihres Freundes bist, sag es besser gleich.«
Überrascht schaute Andreas zu der Frau, die sich nervös umschaute. Ein Mann und eine Frau, deren Treffen nicht auf-gezeichnet werden sollte. Und der Bärtige sprach von einem Freund der Frau.
Sie treffen sich heimlich, schoss es Andreas durch den Kopf. Er unterdrückte ein Lachen.
Langsam trat er einen Schritt zurück, hob entschuldigend die Hände. »Mein Fehler, ich habe mich getäuscht.«
»Idiot!«, zischte der Fremde und ging zu der Frau.
Als die beiden in einem Hauseingang verschwunden waren, lachte Andreas.
Ein Liebespaar, das sich heimlich trifft.
Ohne sich noch weiter aufhalten zu lassen, ging er zur Tür, öffnete sie und stand im kleinen Vorhof. Bis zum Haus waren es nur wenige Meter, und die Mauern um ihn herum schienen näher zu rücken.
Ich muss die Geschichte herausbringen, dachte Andreas und schüttelte den Kopf.
Im gleißenden Sonnenlicht stand der Holztisch, und ein paar Schritte weiter leckten winzige Wellen am Ufer des Strandes. Sara lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und schaute bis zum Grund des Meeres. Fische schienen in der Luft zu fliegen, so klar war das Wasser. Sie kamen näher, drehten sich blitzschnell um und verschwanden in der Tiefe des Ozeans.
Sara erhob sich und ging zur Küchenzeile, die ebenfalls mitten im Sand stand. Ihr Kaffee war fertig, und sie goss sich eine Tasse ein. Sie genoss die stillen Momente in einem Café oder auch nur an ihrem Tisch. Der Geruch nach frischem Kaffee passte nicht zum Inselidyll, dennoch liebte sie das Aroma.
Ihr Blick wanderte zu der Reihe von Palmen, die fast bis zum Sand des Ufers wuchsen. Der Wind ließ die Palmwedel sanft hin und her schwingen.
»Du solltest wirklich hinfliegen«, erklang eine leise, weibliche Stimme.
Sara drehte sich um. Mitten in der Luft flatterte das Abbild einer jungen Frau, kurze, rote Haare und spitze Ohren, allerdings nur so groß wie ein Sperling. Gekleidet war sie in eine beigefarbene Kombination. Durchsichtige Insektenflügel bewegten sich wie in Zeitlupe durch die Luft.
Während ihrer Auszeit vor einem Jahr hatte ihr Psychologe ihr geraten, sich einen virtuellen Engel zu suchen, der sie immer begleitete, auch wenn sie die Datenbrille der Polizei trug. Die Aufgabe der künstlichen Intelligenz bestand darin, sie zu unterstützen, ihr mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Die neuesten Modelle besaßen schon eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem wirklichen Menschen. In normalen Unterhaltungen waren ihre Antworten nicht von denen eines echten Gesprächspartners zu unterscheiden.
»Dort am Strand zu sitzen, wäre ein Traum«, erwiderte Sara versonnen.
»Soll ich herausfinden, wo die Insel liegt?«
Sara schreckte zurück. »Ich soll mich dieser Illusion nicht hingeben.«
»Es bringt aber auch nichts, wenn du Jannik hinterhertrauerst.«
Vor einem Jahr, mit Janniks Betrug, hatte sich ihr Leben schlagartig verändert. Ihr kam alles grau und leblos vor. Diese Bilder von fernen Orten leuchteten jedoch auch damals. Sie fühlten sich realer an als die Häuser und engen Straßen in der Heidelberger Innenstadt, und sie hatte die Farben geliebt.
»Ich weiß. Jeder sagt: Finde Spaß in der realen Welt.« Der Engel seufzte.
Eigentlich sollte ihre virtuelle Begleiterin sie nicht dazu verleiten, etwas zu tun, was gegen den ärztlichen Rat verstieß, aber anscheinend war sie an ein besonderes Exemplar geraten. Sara musste lachen. Manchmal glaubte sie, dass der Name Engel nicht gut gewählt war. Viel eher passte Teufel zu dem projizierten feenartigen Ding neben ihr.
Sara wusste, dass sie ihr Leben selbst in den Griff bekommen musste. Aber wie sollte sie über eine Welt hinwegkommen, die sich fremd und unwirklich anfühlte? Wenn sie sich entschloss, ihren nächsten Urlaub auf der fernen Insel zu verbringen, konnte es kaum so traumhaft sein wie jetzt zu diesem Zeitpunkt, irgendwo zwischen Traum und Wirklichkeit. Wahrscheinlich war das Südseeparadies schon längst vom steigenden Meeresspiegel überflutet. Doch daran wollte sie gerade nicht denken.
Die heile Welt ihrer Wohnung gefiel ihr viel besser. Sie trug ihr Nachthemd, war aufgestanden, und dennoch umgab sie eine wunderbare Insellandschaft. Die Bilder ihrer Datenbrille sprühten vor Details, sodass sie von der Realität nicht zu unterscheiden waren. Nur der Tisch und die Küchenzeile wurden nicht ausgetauscht, sie gab es wirklich in ihrer Wohnung.
»Ich glaube, ich genieße einfach meinen Kaffee.« Langsam nahm Sara einen Schluck und ließ sich vom Zauber der Insel einfangen, bevor ihr Arbeitstag begann.
»Du bist schon seit einem halben Jahr wieder diensttauglich«, meinte der Engel. »Da kannst du dir einen Urlaub gönnen.«
»Es war nur eine Vorsichtsmaßnahme«, verteidigte sich Sara. »Jeder entfernt sich mal ein wenig von der Realität. Vor allen Dingen, wenn sie einem so übel mitspielt.«
Ein Klingeln schreckte sie auf. Worte erschienen mitten in der Luft: Polizeidirektion Heidelberg. Hauptkommissarin Braun.
Mit einem Seufzen wischte sie den Engel zur Seite. In einem Funkenregen verschwand ihre virtuelle Begleiterin. Erst danach akzeptierte sie den Anruf. Von einem Augenblick zum anderen erschien eine Frau vor ihrem Tisch. Sie trug selbst zu dieser frühen Stunde eine rosa Bluse und eine schwarze Hose. Graue Strähnen durchzogen den Zopf ihrer braunen Haare, und die Falten der Nacht waren noch auf der Wange zu sehen.
Ihre Vorgesetzte gehörte einer anderen Generation an, regelkonform, langweilig und nur an ihrer Arbeit interessiert. Sara betrachtete sie und hoffte, dass sie niemals so enden würde.
Ich muss mal wieder raus, dachte sie. Sie überlegte, ob sie ihrer Vorgesetzten Unrecht tat, aber es spielte keine Rolle.
»Guten Morgen«, begrüßte Braun sie mit belegter Stimme.
»Morgen.«
Ein knappes Lächeln huschte über das Gesicht der älteren Frau. »Ich will es kurz machen. Wir haben eine Leiche. Auf der anderen Neckarseite.«
Sara stöhnte innerlich auf. Sie hatte gehofft, den Morgen mit Bürokram verbringen zu können. »Muss ich gleich los?«
Braun nickte. »Die Spurensicherung ist vor Ort, aber es ist eindeutig, dass es Mord war.«
»Schicken Sie mir die Daten, ich mache mich auf den Weg«, erklärte Sara und beendete die Verbindung.
Von einem Moment zum anderen verschwand die Gestalt, die die Idylle gestört hatte, aber die Stimmung war verflogen. Sara seufzte. Ein letzter Blick zum klaren Wasser zeigte ihr zwei Fische, die gerade zu ihr geschwommen waren und sie anstarrten.
Mit einer Geste in der Luft beendete Sara die Simulation. Zu ihrem Tisch und der Küchenzeile gesellte sich der Rest der Küche. Eine weiße Schrankwand, ein Fenster hinaus zur Straße und die Tür zum Flur unterschieden den Raum nicht von allen anderen. Die Fliesen hinter den Herdplatten versperrten Sara den Blick in die Ferne, bis zum weiten Horizont, wo sich Ozean und tiefblauer Himmel trafen.
Voller Enttäuschung nahm sie einen letzten Schluck und stand auf. In den vergangenen Jahren hatte sie die idyllische Landschaft der Karibik schätzen gelernt bei ihren Mahlzeiten. In ihrer Kindheit hatte sie zu oft an einem langweiligen Frühstückstisch gesessen und nun konnte sie sich jederzeit an die schönsten Orte entführen lassen.
Eine Datenbrille erweiterte die reale Welt um den Betrachter herum. Es war die perfekte Erweiterung der Handys, die auf einer winzigen Anzeigefläche alles wie durch ein Guckloch darstellten. Nur Gespräche führte sie immer noch lieber über ihr Handy.
»Du solltest gehen.« Die leise Stimme ihres Engels riss sie aus ihren Gedanken. Die feengleiche Gestalt schwebte neben ihr, die roten Haare glänzten im virtuellen Licht.
Sara atmete tief durch. Ein Fall lag vor ihr. Es war an der Zeit, dass sie sich darauf konzentrierte. Wenn es zu lange dauerte, fiel es schwerer, den Mörder zu finden.
Entschlossen zog sie sich an und machte sie sich auf den Weg.
Die Neuenheimer Straße verlief entlang des Neckars. Zur einen Seite befand sich der Fluss, auf der anderen erhob sich eine Mauer, die bei Hochwasser dazu diente, dass das Wasser nicht bis in die Häuser gelangte. Direkt an der Mauer parkten die Autos, allesamt Luxuskategorie.
Der schwarze Audi vor Sara war noch das preiswerteste Modell. Ein Aufleuchten auf der Innenseite ihrer Datenbrille verriet ihr alles über das Auto.
Die Verbindung mit pnet, dem Netz der Polizei, ermöglichte ihr, auch personenbezogene Daten zu erhalten. Öffentliche Netze wie Telekom oder Augmentum besaßen diesen Zugriff auf persönliche Informationen nicht. Vor drei Jahren hatte die Polizei Datenbrillen für alle Beamten verbindlich eingeführt. Damit gewährten sie einen schnellen Abruf von Daten und, noch viel wichtiger, zeichneten für Beamte auf, was wirklich bei ihren Einsätzen vorfiel. Bodycams waren somit überflüssig geworden.
Sara hätte nur mit einem Auge zwinkern müssen, um Daten wie die Besitzer der vorbeifahrenden Autos einzublenden, aber im Moment interessierte sie noch nicht, wer sich in der Nähe des Tatortes aufhielt.
»Na, willst du auch so eine Luxuslimousine?«, fragte Luca und grinste sie breit an. An diesem kalten Morgen nervte Sara das Gesicht ihres Kollegen. Die letzten Monate über hatten sie sich zusammengerauft. Luca Berner hatte die Ausbildung zum Kommissar abgeschlossen und suchte noch die Abteilung, die ihm gefiel. Gewaltverbrechen schienen ihn zu interessieren.
Bisher hat er noch nicht gewechselt, dachte Sara und seufzte frustriert. Sie würde wohl die nächsten Jahre mit ihm auskommen müssen.
Ihr Anfang war holprig gewesen. Luca war einige Male übermüdet aufgetaucht, und sie hatte überlegt, ob sie mit ihm reden musste, aber er hatte seine Arbeit zufriedenstellend erledigt. Er schien sein Leben ein wenig zu sehr zu genießen.
Luca hatte Übergewicht, und sein breites Gesicht wirkte gewöhnlich, sodass sie überlegte, wie sie es bei einem Phantombild überhaupt beschreiben würde. Am ehesten wie das eines Buchhalters mit kurz geschorenen Haaren.
»Komm, lass mich in Ruhe«, erklärte sie und schob die Hände tiefer in die Taschen ihrer Jacke. Vor ihrem Mund bildete sich Nebel, als sie ausatmete. Der Sommer verabschiedete sich wohl endgültig für dieses Jahr. Die letzten warmen Tage gingen gerade zu Ende.
Sie warf einen flüchtigen Blick auf einen mattglänzenden BMW. Der Wagen sah elegant aus, viel besser als ihr eigener Toyota, aber das Gehalt eines Kommissars erlaubte leider keine großen Sprünge.
Soll der Besitzer glücklich werden damit, dachte sie.
Sie konzentrierte sich auf die Beamten vor der Treppe zum Haus. Zwei Polizisten in blauen Uniformen und schusssicheren Westen kontrollierten, wer eintreten durfte, allerdings gingen sie ihrer Arbeit mit nicht sehr großer Begeisterung nach. Sie lehnten an den rötlichen Steinen der Wand, versperrten den Zugang und musterten jeden, der sich ihnen auf dem Bürgersteig näherte. Ihre Datenbrillen, die schwarzen Standardmodelle der Polizei, nahmen alle Daten auf.
Als Sara bis auf ein paar Schritte herangekommen war, flimmerten die Namen der Kollegen und ihre Funktion über die Projektionsfläche der Datenbrille, geliefert von pnet.
Die beiden musterten sie, und ihre eigenen Brillen zeigten ihnen wohl an, dass Sara berechtigt war, hinaufzugehen. Sie traten zur Seite und gaben den Weg frei.
Mit einem kurzen Nicken drängte sich Sara an ihnen vorbei und stieg die schmale Treppe hinauf. Ihr Partner folgte ihr. Die Stufen waren abgewetzt, und das abgegriffene Eisengeländer wackelte bedenklich.
Nach der letzten Stufe bog sie nach links ab, durch ein Tor, und gelangte in einen kleinen Hof. Der Boden war mit Steinplatten belegt. Die Haustür stand offen, sodass die Kälte des Morgens ins Haus ziehen konnte. Sara ging weiter und betrat das Gebäude.
Niemand erwartete sie im Flur, der mehr einer Designstudie glich mit seinen hellen Wänden und den klaren Linien der Schränke und Türen. Im Gegensatz zu Mauer und Treppe draußen zeigte sich das Innere des Hauses in modernem Weiß. Die Wände waren in derselben Farbe gestrichen, eine Kommode befand sich an der Längsseite des Flurs. Rechts und links gingen Glastüren in die verschiedenen Räume ab. Auf der gegenüberliegenden Seite fiel der Blick auf einen Wintergarten mit ein paar Büschen und Baststühlen.
»Wer hat hier gewohnt?«, fragte Luca staunend.
Sara navigierte in ihrer Datenbrille zu den Informationen über ihren aktuellen Standort. Durch ihre Polizeifreigabe erhielt sie Einblick in die Grundbuchdaten und in die Daten des Einwohnermeldeamtes. pnet gewährte ihr umfassenden Zugriff auf alle Datensätze der Behörden.
»Andreas Staller ist der Besitzer«, erklärte sie. »Unser Opfer.«
»Wo hat er gearbeitet, um sich das alles leisten zu können?« Lucas Stimme klang beeindruckt.
Ohne auch nur ein weiteres Wort zu verlieren, tauchte Sara für einen Moment in die Daten des Grundbuchamtes ab. Nach einigem Scrollen gelangte sie zu den früheren Besitzern des Hauses.
»Der Vorbesitzer hieß ebenfalls Staller«, erklärte sie.
»Ich seh es«, gab Luca zurück. »Sein Vater?«
Eine einzige Anfrage später schwebte eine Geburtsurkunde virtuell vor ihr. Dieselben Namen wie im Grundbuch tauchten vor ihr auf.
»Sieht so aus.«
Für einen Augenblick vertieften sie sich in die Daten, die ihnen angezeigt wurden.
»Er war Journalist.« In Lucas Stimme schwang Verwunderung mit. »Sein Arbeitgeber war die dpa, Zweigstelle Mannheim.«
Sara ging ein paar Schritte und gelangte zum ersten Raum. An der Seite befand sich ein Ledersofa, davor ein Glastisch, auf dem einige Zeitschriften lagen. Sie trat näher, um einen Blick darauf zu werfen. Es war ungewöhnlich, bedrucktes Papier zu sehen. Das Porträt eines Politikers war auf einem Cover abgebildet, aber der Name fiel ihr nicht ein. Er gehörte zu den Grünen, wenn sie sich nicht täuschte. Wirklich interessiert war sie nicht an der Politik.
»Schau mal!«, rief Luca. Er befand sich neben einem in Weiß gehaltenen Schrank und hatte eine der Seitentüren geöffnet. Im ersten Moment erkannte Sara nicht, was dort aufgereiht stand, aber dann dämmerte es ihr.
»Schallplatten?«, fragte sie verwundert.
»Er muss einen Sinn für Antiquitäten gehabt haben.«
Sie trat an den Schrank heran, zog Handschuhe über und griff nach einer der voluminösen Hüllen. Die feste Pappe fühlte sich glatt an. Es gab kein Zeichen von Abnutzung darauf.
»Die sind noch nicht alt«, stellte sie fest.
Fragend blickte Luca sie an. »Was meinst du?«
»Du hast gesagt, dass er einen Sinn für Antiquitäten gehabt haben muss.« Sie reckte die Hülle nach oben. Ein einfaches Motiv war darauf abgebildet, das ihr allerdings nichts sagte. Vor einem schwarzen Hintergrund befand sich ein Prisma in der Mitte, und ein Lichtstrahl wurde in alle Farben aufgefächert. »Das sind aber keine alten Schallplatten, sie wurden erst in den letzten Jahren gepresst.«
Luca zog eine weitere Hülle heraus und betrachtete sie eingehend. »Du hast recht, aber warum sammelte er dann diese Schallplatten?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Irgendwas muss jeder sammeln.«
Langsam schob sie den Tonträger zurück und drehte sich um. Ein halbes Dutzend Pflanzen verteilten sich an den Wänden. Eine kleine Palme, deren Triebe sorgfältig gekürzt waren, ein ausladender Farn, dessen Blätter weit in den Raum ragten.
»Wir sollten die Leiche anschauen«, beschloss Sara. Bei jedem neuen Fall nahm sie sich mehr Zeit, alles über das Opfer zu erfahren, mehr Zeit jedenfalls als ihre Kollegen. Schon zu Beginn ihrer Laufbahn hatte sie sich gesagt, dass sie zuerst das Warum herausfinden musste. Wenn sie wusste, warum jemand getötet wurde, dann ergab sich der Täter meist von selbst. In einem überheblichen Augenblick hatte sie dies für sich Saras Methode genannt.
Mehr über das Opfer zu erfahren, half ihr, das Verbrechen aufzuklären, auch wenn andere sich mehr auf die Verdächtigen fokussierten. Ja, Verdächtige waren wichtig, aber die Hintergründe zu verstehen, ließ sie deutlich seltener in die Irre gehen. Ihre Chefin hatte ihr einen langen Vortrag gehalten, nicht zu sehr abzuschweifen, aber am Ende hatte sie zugegeben, dass sie doch gute Arbeit leistete.
Luca ging in den Flur, blickte sich suchend um und entdeckte eine junge Frau in Uniform. »Waren Sie als Erste hier?«
Überrascht wandte sie sich ihm zu. Sie war klein, trug ihre blauen Haare zu einem Zopf gebunden und nickte zurückhaltend. Sara, die ebenfalls in den Flur getreten war, blinzelte kurz, um ihre Daten auf die Brille zu bekommen. Franziska Geran hatte ihre Ausbildung vor etwas mehr als einem Jahr abgeschlossen.
»Wer hat ihn gefunden?«, fragte Luca.
»Die Putzfrau«, erklärte Franziska und räusperte sich. Zurückhaltend schaute sie zu Sara. Die Datenbrille mit farblich passenden blauen Bügeln, die Franziska trug, hatte ihr anscheinend mitgeteilt, dass Sara die Ranghöhere war. »Sie kommt jeden Mittwoch und hat einen eigenen Schlüssel.«
»Tatverdächtig?«, fragte Sara.
Franziska legte den Kopf schräg. »Sie ist fünfzig Jahre alt und verdient sich ein bisschen was dazu.«
»Ich hätte gerne ihre Daten.«
Die Polizistin rührte sich nicht, nur ihre Augen bewegten sich, um die Datenübertragung in die Wege zu leiten. Nach einem schweigsamen Moment erschien ein Datenprofil in Saras Sichtfeld.
Hanna Kowalczyk, geboren in Warschau, seit drei Jahren wohnhaft in Eppelheim, ausgebildete Altenpflegerin.
»Vielen Dank«, erklärte Sara und trat ein paar Schritte auf die Kommode zu. Darauf standen eine Vase mit blassen Blumenornamenten und eine flache Schale. »Wo ist die Leiche?«
Franziska hob einen Arm und deutete auf die Treppe in das erste Stockwerk. »Geradeaus ist das Schlafzimmer. Die Spurensicherung ist noch bei der Arbeit.«
Sara nickte und hielt wortlos auf die Stufen zu. Ein Stockwerk höher lag das Schlafzimmer direkt vor ihr. Als sie näher kam, erkannte sie Gestalten in weißen Schutzanzügen. Sie standen um ein großes Bett verteilt. Im Raum befanden sich sonst nur eine Spiegelwand und ein Nachtschrank. Alles in Weiß gehalten.
Anscheinend seine Lieblingsfarbe, stellte Sara fest.
Auf der gegenüberliegenden Seite gab es ein bodentiefes Fenster mit Blick auf den Neckar. Die Aussicht zeigte ihr die Heidelberger Innenstadt, die Alte Brücke und darüber, am Beginn des Odenwaldes, das Schloss. Sie glich den vielen Postkartenansichten, die sie immer wieder vorgehalten bekam, wenn sie andere Menschen über Heidelberg reden hörte. Dass nur ganz wenige es sich leisten konnten, hier zu wohnen, erwähnte im Allgemeinen niemand.
Gerade schien die Sonne herein und tauchte alles in einen hellen Schein, den die weißen Farben noch verstärkten. Sara kniff die Augenlider zusammen, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen. Erst allmählich widmete sie sich den anderen Anwesenden.
Ein Beamter der Spurensicherung kniete vor einem Probenkoffer und verpackte etwas in einer Plastiktüte. Ein zweiter kam auf sie zu.
»Oh Mann«, flüsterte Sara. Der Mann hieß Ahmed Can und gehörte schon lange der Spurensicherung an. Seine dunklen Haare trug er nach hinten gekämmt, und ein Dreitagebart zierte seine Wangen.
»Na, willst du seine Einladung nicht doch annehmen?«, fragte Luca von der Seite und grinste sie breit an.
»Ach, halt doch die Klappe!« Sara hatte keine Lust, sich mit zurückgewiesenen Verehrern zu beschäftigen. Als er sie eingeladen hatte, hatte sie gerade mit der Trennung von Jannik zu kämpfen gehabt. Can sollte seine Arbeit erledigen und sie nicht weiter stören.
Luca lachte leise, bevor er sich beruhigte. Sie warf ihm einen verweisenden Blick zu. Wenn sie ihn noch entschiedener zurechtwies, würde er niemals mit seinen Sticheleien aufhören.
Und eigentlich muss ich ja auf Ahmed wütend sein, dachte sie und atmete tief durch, um das Gespräch mit ihm zu beginnen.
»Hallo«, begrüßte sie ihn und schaute ihn auffordernd an.
Ahmed Can betrachtete sie reserviert. »Du hast schon alle Infos über ihn und die Putzfrau?«
Sara nickte stumm.
»Dann erzähle ich dir wohl mal, was wir bisher herausgefunden haben.« Er wandte sich halb um und machte eine einladende Geste, um sie um das Bett herumzuführen. Direkt daneben, nicht sichtbar von der Eingangstür, lag ein Mann, wahrscheinlich fünfzig Jahre, seine Haare waren schon grau, soweit man das erkennen konnte. Ein großes Loch verunstaltete seine Stirn, und Blut hatte sich auf dem dunklen Parkettboden ausgebreitet. Die Gesichtshaut war unnatürlich blass.
»Es war nur ein einziger Schuss, mitten in die Stirn«, erklärte Ahmed. »Er war wohl sofort tot, und es sieht so aus, als wäre der Fundort auch der Tatort. Es gibt keine Spuren, dass er bewegt wurde.«
Ernst betrachtete Luca den Toten. »Er hat seine Sachen noch an. Wann ist es passiert?«
»Auf jeden Fall vor mehr als zwölf Stunden, genauer dann später.«
»Also gestern Abend«, stellte Sara fest. »Er war noch nicht schlafen gegangen.«
Ahmed warf ihr nur einen kurzen Blick zu. Die Selbstverständlichkeiten ließen sich schnell abhandeln. Viel interessanter wurde es bei den Motiven.
»Warum liegt er im Schlafzimmer?«, fragte Sara. Sie hasste es, dieses Gespräch mit ihm zu führen, aber ließ sich nichts anmerken.
»Wenn du fragen willst, ob er irgendwie sexuell aktiv gewesen ist gestern Abend, dann weiß ich das nicht. Wir haben nichts gefunden. Kein Sperma, keine Kondome, nichts. Anscheinend war er einfach nur in seinem Zimmer und wurde erschossen.«
»Hat er sich gewehrt?«
Ahmed schüttelte den Kopf. »Wir haben keine Kratzer oder so was festgestellt. Wir müssen natürlich noch untersuchen, ob er Haare oder Hautpartikel unter den Fingernägeln hat, aber es sieht erst einmal nicht so aus.«
Luca trat näher zum Fenster, blickte hinaus. »Er ist einfach in sein Schlafzimmer gegangen, hat die schöne Aussicht genossen und sich dann erschießen lassen?«
»Ich weiß nicht, ob die Aussicht so toll gewesen ist. Das Einschussloch ist in der Stirn. Der Täter muss die Pistole direkt auf ihn gerichtet haben. Das Letzte, was er gesehen hat, war die Waffe, die auf ihn gerichtet wurde.«
Sara schluckte. Sie konnte sich schlecht vorstellen, dass jemand sich nicht wehrte, wenn ihm der Tod vor Augen stand.
»Eine Hinrichtung?«, sprach sie mit belegter Stimme.
»Es sieht zumindest so aus. Oder er wurde überrascht.«
»Organisiertes Verbrechen?«
Ahmed hob zweifelnd beide Hände. »Das ist dein Gebiet, dazu kann ich nichts sagen. Es deutet zumindest nichts auf Drogen hin. Alles hier ist ordentlich, sauber, nichts Verbotenes.«
Sara warf einen langen Blick auf Andreas Staller. Schon der erste Besuch im Haus vermittelte den Eindruck, dass er sein Leben im Griff gehabt hatte. Es schien keine Probleme gegeben zu haben, zumindest offensichtlich waren sie nicht. Ihr graute davor, tiefer zu bohren. Sie musste die Kontakte des Mannes durchleuchten und herausfinden, wer ein Motiv gehabt hatte. Und bei ihrem Opfer sah es so aus, als würde das nicht so einfach werden.
»Die Beziehung zuerst?«, fragte Luca und riss sie aus ihren Gedanken.
Die meisten Gewaltverbrechen geschahen aus Leidenschaft.
Saras Methode. Die Hintergründe und das Motiv klären.
»Wir schauen uns erst die restlichen Räume an. Vielleicht finden wir ja was heraus.«
Ohne auf seine Reaktion zu warten, winkte sie Ahmed zu, froh, sich nicht mehr weiter mit ihm unterhalten zu müssen, und ging in den Flur hinaus. Dort zögerte sie.
»Den da?«, fragte Luca an ihrer Seite.
In der Wohnung deutete nichts auf irgendwelche Besonderheiten hin. Von daher spielte es keine Rolle, wohin sie sich zuerst wandten. Sie nickte und steuerte auf die Tür zu. Die Polizistin, die immer noch im Flur wartete, betrachtete sie interessiert, aber ließ sie ansonsten in Ruhe. Sara trat in das Zimmer.
Ein Schreibtisch, auf dem ein großer Bildschirm stand, eine Tastatur und einige Notizzettel deuteten auf ein Arbeitszimmer hin. So weit ähnelte es unzähligen anderen Arbeitsplätzen, sogar Saras Platz im Büro sah dieser Anordnung verdächtig ähnlich. Der Monitor deutete, genau wie die Schallplatten, darauf hin, dass der Tote an alten Technologien gehangen hatte. Junge Leute benutzten normalerweise ihre Datenbrillen.
Auf der rechten Seite, neben der Tastatur, lag nicht nur eine Datenbrille, sondern vier. Die meisten Modelle hatten sich mittlerweile zu Modeartikeln entwickelt. Farbeffekte, Formen – die Hersteller überboten sich darin, einen Wiedererkennungseffekt zu erzielen. Augmentum verwendete geschwungene Formen, weich und elegant. Die Exemplare vor ihr sahen unscheinbar aus, schwarze Bügel, Glas, das im Moment vollkommen durchsichtig war. Sie schienen auf ihre Funktion beschränkt zu sein.
Überrascht blickte Sara zu ihrem Kollegen, der auch nur mit den Schultern zuckte.
»Womit hat er sich beschäftigt?«, fragte sie. »Kannst du nachschauen?«
Missmutig verzog Luca das Gesicht, aber schon im nächsten Moment verloren seine Augen sie aus dem Fokus und konzentrierten sich auf das, was seine eigene Brille ihm bot. Seine Augenbewegungen verrieten, dass er sich durch die Optionen navigierte und sie durch ein Blinzeln bestätigte.
Sara widmete sich dem Computer und drückte eine Taste. Der Bildschirm erhellte sich und zeigte ein Login.
War ja zu erwarten, dachte sie frustriert und verfluchte, dass sich ihr Interesse an solchen Geräten in Grenzen hielt. Es machte ihr einfach keinen Spaß, die ganze Zeit mit Maschinen und irgendwelchen Daten beschäftigt zu sein.
Komm zur Polizei, bei uns hast du mit Menschen zu tun!
Der Werbespruch der Polizei hatte vielleicht vor hundert Jahren gepasst, als die Datenverarbeitung eine Geheimwissenschaft ähnlich der Alchemie war. Heutzutage gehörte jeder zu diesen Experten. Zu Beginn ihres Studiums hatten die Ausbilder sie sogar darauf hingewiesen, aber anscheinend hatte sie ihre Warnungen nicht genug gewürdigt.
Sie atmete schicksalsergeben aus und verfasste eine Meldung an die IT-Expertin ihrer Abteilung. Sollte Veronika sich mit diesem Rechner beschäftigen und ihr dann die Ergebnisse mitteilen.
»Er hat keine Artikel veröffentlicht in den letzten Monaten«, erklärte Luca.
»Was?«, stieß Sara irritiert hervor.
»Seine Arbeit«, erinnerte Luca sie. »Er hat nichts geschrieben. Oder besser gesagt, die Datenbanken enthalten keine Hinweise, dass er Artikel geschrieben hat. Vielleicht verbirgt die dpa seine Berichte auch unter Pseudonymen, aber die uns zugänglichen Archive verzeichnen keine Artikel von ihm.«
Schweigend ging Sara wieder zum Computer und starrte den blinkenden Cursor des Logins an.
Es wird kaum so einfach sein, dass wir nur seinen Rechner untersuchen müssen, dachte sie. Wir müssen mehr herausfinden.
»Dann sollten wir uns wohl mit seinem Arbeitgeber unterhalten.« Luca tat ein paar Schritte und musterte die restliche Einrichtung. Ein Bücherregal stand an der Seite, und er strich über die Buchrücken hinweg. Nachdenklich betrachtete er seinen verstaubten Finger. »Jedenfalls dienen die hier wohl nur zur Dekoration und für einen schönen Hintergrund bei Videokonferenzen.«
Ein Lächeln schlich sich auf Saras Lippen, verschwand jedoch sofort wieder. Bei ihren Videoanrufen war meist ihr Wohnzimmer zu sehen, der Fernseher und ihr Couchtisch. Sie gehörte nicht zu denen, die ihr Geld damit verdienten, von zu Hause aus zu arbeiten und ein möglichst professionelles Erscheinungsbild zu pflegen.
Ohne Plan wollte sie nicht weitermachen. In der Wohnung hatten sie sich umgesehen. Die Freunde des Toten würden sie auch noch treffen, aber mit seinem Arbeitsumfeld fortzufahren, erschien ihr vielversprechend. Niemand sammelte mehrere Datenbrillen bei sich zu Hause. Irgendwas musste er damit getan haben.
Sie wollte es herausfinden. Ein Gefühl sagte ihr, dass sich dahinter das Motiv verbarg.
»Lass uns nach Mannheim fahren. Wenn wir uns beeilen, erwischen wir seine Kollegen vielleicht noch vor dem Mittag.«
Das Gebäude hatte auch schon bessere Zeiten gesehen. Seit einigen Jahrzehnten stand es in der Innenstadt von Mannheim und diente wohl ebenso lange der dpa als Niederlassung. Sara legte den Kopf in den Nacken und blickte zu den Fenstern hinauf. Niemand schaute nach draußen, und hinter den Glasscheiben ließ sich nicht erkennen, was dort vor sich ging.
»Gehen wir rein?«, fragte Luca neben ihr.
Der Verkehrslärm machte es schwer, ihn zu verstehen, und die Luft schmeckte verbraucht. Immer noch fuhren Autos mit Verbrennungsmotoren durch die Straßen, obwohl es mehr und mehr Elektroautos gab. Politiker erließen Programme zur Förderung von alternativen Antrieben, aber bisher hatte keiner den Mut gehabt, diese Vorschläge auch mit den entsprechenden Verboten einzubringen.
Sara mochte Mannheim nicht wirklich. Die Stadt war zu groß, und wenn man hinter die Kulissen schaute, gab es eindeutig zu viel Verbrechen. Nicht nur die Dealer, auch Täter in Anzügen gingen ihrer Arbeit in den Quadraten nach. Allerdings war Sara sich nicht sicher, ob sie deren Taten überhaupt verstehen würde. Sie blieb lieber bei den Gewaltverbrechen. Da war es zumindest nicht schwer zu durchschauen, was richtig und was falsch war. Und dies änderte sich nicht je nach Gesetzeslage.
Sie rief sich in Erinnerung, dass sie mehr über Staller erfahren wollte. Erst das Motiv, dann den Täter, überlegte sie, und um die Hintergründe zu verstehen, brauchte sie mehr Informationen. Der erste Schritt dahin bestand darin, dem Arbeitgeber einen Besuch abzustatten.
»Hier zu stehen, bringt uns auch nichts«, erwiderte Sara und ging auf die Eingangstür zu. Ein Metallschild mit der Aufschrift Deutsche Presseagentur neben einer Klingel wirkte verloren an der Wand. Entschlossen drückte Sara auf die Fläche. Nichts passierte.
Einen Augenblick später erklang ein Summer, und die Tür schwang auf. Sara schob die Holztür weiter auf und trat in die Eingangshalle.
Ein junger Mann kam ihnen entgegen. Er trug Jeans und ein blaues Hemd, Businesskleidung. Der anthrazitfarbene Ton der Datenbrille von der Telekom wirkte seriös. Seine Haare waren perfekt nach hinten frisiert. »Was kann ich für Sie tun?«
Sara ging auf ihn zu. »Guten Tag, mein Name ist Sara März, Oberkommissarin der Polizei Heidelberg. Ich würde gerne mit den Kollegen von Andreas Staller reden.«
Der Mann schaute sie überrascht an. »Warten Sie bitte einen Moment.«
Er zog sein Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer. Sara kümmerte es nicht, was er mit der Gegenseite besprach. Ein wenig Zeit würde es brauchen, bis sie mit den richtigen Leuten redeten. Der Mann, der sie empfangen hatte, war anscheinend der Praktikant, der gerade Dienst hatte, wenn es an der Tür klingelte. Ausstaffiert, um einen guten Eindruck zu erwecken.
»Herr Meier wird gleich zu Ihnen kommen«, gab er zurück, steckte das Handy wieder in seine Tasche und verschränkte demonstrativ die Hände übereinander. Er blieb vor ihnen stehen, sagte jedoch nichts mehr.
Sie taten es ihm gleich und warteten. Sara schaute sich interessiert um. Die Wände waren vollkommen weiß, Leuchtstoffröhren verbreiteten ein kaltes Licht, und der Laminatboden zeugte auch nicht gerade von großer Begeisterung für die Innenarchitektur. In einer Ecke an der Decke erkannte sie eine Kamera, aber sie hatte schon damit gerechnet, dass ihre Ankunft aufgezeichnet wurde. Bei einer Agentur, die ihr Geld mit Nachrichten verdiente, war es immer gut, alles zu dokumentieren.
Auf ihrer Datenbrille manifestierte sich eine Aufforderung, sich in das freie Netz der dpa einzuloggen. Nach einem kurzen Zögern akzeptierte Sara. Sofort füllten sich die kahlen Wände mit Livetickern und Bildern von Nachrichten aus aller Welt. Einer Nachrichtenagentur fiel es leicht, ihre Produkte in den eigenen Räumen zu präsentieren. Normalerweise fühlte sich dadurch niemand so gestört wie durch aufdringliche Werbung für irgendwelche Konsumgüter.
Bilder der Expedition zum Mars flackerten über den Bildschirm. Elon Musk leitete SpaceX immer noch und verkaufte die Bilder an alle Nachrichtenorganisationen, um mehr Werbung für sein Raumfahrtprogramm zu machen. Die blassrote Wüstenlandschaft wirkte langweilig, aber Sara faszinierte, dass Menschen in Raumanzügen so weit von der Erde entfernt eine andere Welt erkundeten. Die Astronauten hüpften über die rötlichen Steine, einem düsteren Horizont entgegen.
In einem weiteren Bericht ging es um das bevorstehende Release der Software von Augmentum, dem Marktführer bei Augmented-Reality-Software in Deutschland, noch vor der Telekom. Die neue Version sollte in fünf Tagen berücksichtigen, wie die Benutzer den Alltag erlebten. Die einheitlichen Farben von Autos wurden mit Flammenmustern oder Blumen überdeckt, je nach Vorlieben. Oder in einem Park tauchten Skulpturen auf. Manche Reporter feierten dieses Update schon als die Rückkehr der Kunst in den Alltag, während andere fragten, welchen Vorteil jeder Einzelne davon haben sollte. Die ganzen unendlichen Möglichkeiten, die virtuelle Realitäten boten, wanderten langsam in die reale Welt. Für manche Experten markierte dieses Update einen Meilenstein in der Synergie, den andere nicht einmal als solchen verstanden.
Der Sprecher von Augmentum, Deniz Ikay, gab eine Pressekonferenz und erklärte, was das Unternehmen plante. Seine Aussagen erschienen als Untertitel, sodass Sara sie auch ohne Ton mitbekam. Gerade sprach er von einem der brillantesten Köpfe des Unternehmens. Michael Brinn war lange in der Wissenschaft tätig gewesen und beschäftigte sich mit dem Einfluss von Informationen auf die Entscheidungen eines Menschen und damit, dass Kunst im Alltag zu vielfältigen Überlegungen führte.
Da näherte sich ein Mann in den Vierzigern, Jeans, auf der Nase eine geschäftsmäßige Datenbrille, sein Haar grau, aber dennoch entsprach er nicht ganz Saras Erwartungen. Er trug ein Superhelden-T-Shirt. Anscheinend ein Fan alter Filme. Die Gestalt auf dem Shirt hüllte sich in eine rötliche Rüstung mit gelbgoldenen Verzierungen und einen Helm mit leuchtenden Augenschlitzen. Sara erinnerte sich, dass sie die Filme mit dieser Figur als Teenager auch gesehen hatte. Jannik war auch geradezu verrückt danach gewesen. Damals. Ansonsten hatte er sich immer ein wenig zurückgezogen und Sachen für sich behalten, aber dafür konnte er sich begeistern und war sogar auf Comic-Cons gegangen. Sie unterdrückte ein wehmütiges Lächeln und wandte sich wieder ihrem Gegenüber zu.
Ein Journalist, der sich für Helden begeistert, dachte sie. Vielleicht hält er sich selbst für einen Helden. Der Mann, der die Wahrheit ans Licht bringt.
Im ersten Moment amüsierte sie sich, aber gleich darauf fiel ihr ein, dass sie Polizistin war. Sie glaubte auch daran, dass sie die Welt besser machen konnte durch ihre Arbeit.
Wenigstens ein kleines bisschen.
Er gefiel ihr auf jeden Fall besser als der junge Mann in seiner Businesskleidung, der sie empfangen hatte.
»Bertram Meier«, stellte er sich vor. »Ich bin der Leiter der Zweigstelle Mannheim. Was kann ich für Sie tun?«
Der Mitarbeiter der dpa setzte ein geschäftsmäßiges Lächeln auf.
»Wir kommen wegen Andreas Staller«, erklärte Sara. »Können wir uns vielleicht irgendwo unterhalten?«
Verwundert wanderte Meiers Blick von Sara zu Luca, doch schließlich drehte er sich um und setzte sich in Bewegung. »Natürlich, wir haben Räume, die wir für Meetings benutzen können.«
Er trat durch eine Tür, und ein großer Büroraum schloss sich an, immer wieder aufgelockert durch Büsche und Sitzecken. Bei einer davon stand eine Kaffeemaschine. Dort befanden sich drei jüngere Mitarbeiter, darunter der Praktikant, der sie empfangen hatte. Er warf ihnen einen verunsicherten Blick zu, konzentrierte sich dann jedoch sichtlich bemüht auf seine Gesprächspartner.
Meier hielt auf einen durch Milchglaswände abgetrennten Raum zu. Er schob die Tür zur Seite und ging hinein. Die Einrichtung war funktional und schlicht, ein Tisch mit weißer Oberfläche und vier Stühle. Die Wand war frei geblieben, um von Bildern der Augmented Reality bedeckt werden zu können. Durch ein Fenster auf der gegenüberliegenden Seite sah man den Wasserturm in der Mannheimer Innenstadt.
Ihr Gastgeber setzte sich und deutete auf die anderen Sitzgelegenheiten. Sara und Luca folgten ihm, Luca schloss die Tür, und sie nahmen Platz.
»Was ist so wichtig, dass Sie mit mir hier reden wollen?« Mit einer Geste umfasste Meier den gesamten Raum.
»Ihr Mitarbeiter Andreas Staller ist ermordet worden.«
Im ersten Moment zeigte Meier keine Reaktion. Er starrte Sara nur verständnislos an. Dann fing er sich, und Bewegung geriet in ihn. Er lehnte sich zurück, legte die Hände auf die Tischfläche, um sie gleich darauf wieder zu heben und sie sich an der Hose abzuwischen. Schließlich fiel ihm ein, dass er wohl eine Antwort geben sollte. »Wieso ermordet?«