Dunkelwärts - Ulf Fildebrandt - E-Book

Dunkelwärts E-Book

Ulf Fildebrandt

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Beschreibung

Eine Seite der Welt liegt immer in der Sonne. Auf der anderen herrschen Kälte und Finsternis. Diese Welt ist die Heimat von Tuoma Leta. Er lebt in der Lanet Republik, in der ewig währenden Dämmerung zwischen brennender Hitze und eisiger Kälte. Er führt eine Expedition Dunkelwärts in die Nacht, um zu erforschen, was sich in der Finsternis des ewigen Eises verbirgt. Bereits die frühesten Legenden berichten von Göttern und Orten, an denen Menschen nicht willkommen sind. Was Tuoma jedoch in der Dunkelheit findet, übersteigt seine kühnsten Phantasien.

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Inhaltsverzeichnis

IM ZWIELICHT

DER ANGRIFF

UNTERWEGS

RECHENWERKE

AM HIMMEL

DIE PROZESSION

FÜR DIE MACHT

DER STURM

DIE VORFÜHRUNG

DIE FREMDEN

IRRGLAUBE

DER HEILIGE KRIEG

EINE ENTDECKUNG

ZUM ENDE DER WELT

ERKENNTNISSE

ZURÜCK AUS DEM EXIL

DIE WUNDER DER TECHNIK

DAS REICH

DER WIDERSTAND

EWIGER VERLUST

NEUE VERBÜNDETE

DER TOD

ALTE BEKANNTEN

ANGRIFF

DIE SUCHE

AUF DER FLUCHT

EIN ANGEBOT

EINSAMKEIT

DIE ENTSCHEIDUNG

DIE RÜCKKEHR IN DIE WELT

UNGEWISSE ZUKUNFT

IN DER HEIMAT

IM ZWIELICHT

Tuoma Leta, Gegenwart

Nur ein schmaler Streifen Licht am Horizont erinnerte an die ewige Sonne. Tuoma und seine Gefährten zogen dunkelwärts und standen kurz davor, die Welt zu verlassen, die sie kannten. Die Welt, in der die Sonne immer schien. Der Rest der Helligkeit reichte kaum aus, die Schlitten aus der Dunkelheit zu reißen.

Im Moment lag Stille über den Zelten. Selbst der stetig gleichbleibende Wind aus der Finsternis war eingeschlafen. Kein Laut störte Tuoma, bis die Hunde außerhalb des Lagers anfingen, zu kläffen.

»Sieh nach, was da los ist«, rief er und sah den Hundeführer an. Roald befand sich ein wenig abseits und hielt die Augen geschlossen. Der Betreuer der Hunde meditierte häufig, denn er glaubte an die heilende Wirkung der inneren Energie. Tuoma erinnerte sich nicht mehr genau an die Einzelheiten. Für ihn zählte, dass Roald die Tiere gut versorgte.

Roald stand auf und schlich davon. Er murmelte ein paar mürrische Worte in seinen schwarzen Vollbart. Die Schritte des Hundeführers verklangen im Schnee, während die anderen sieben Männer am Feuer hungrig auf ihr Essen warteten. Kristian und Hjalmar schlugen die Kragen ihrer Felljacken hoch, um sich vor der Kälte zu schützen, obwohl sie am dichtesten am Feuer saßen. Kristian hatte die Aufgabe, ihr Essen zuzubereiten.

Immer wieder richteten sich ihre sehnsüchtigen Blicke in Richtung der schwindenden Sonne.

»Wie weit ist das Essen?«, fragte Olav.

Kristian beugte sich über den Topf und rührte im Uhrzeigersinn. Tuoma erinnerte sich an die Geschichte, die Kristian ihm bei ihrem ersten Treffen erzählt hatte. Sein Lehrmeister in Illiron hatte ihm diese Eigenart beigebracht. Er stammte aus dem Süden und hatte sein Handwerk dort gelernt.

»Es ist gleich soweit«, sagte Kristian. »Dann ist der Pemmikan fertig.«

Hjalmar und Olav schauten hoch und stöhnten.

»Ich weiß, in Rejkat war es fast so trostlos wie hier«, meinte Kristian frustriert und begutachtete den Inhalt des Topfes. »Die Republik hätte uns zum Abschied ein letztes gutes Essen spendieren können.«

Tuoma erinnerte sich an die bedrückten Gesichter seiner Begleiter bei der Abfahrt. Rejkat lag nicht nur nahe der Finsternis, sondern auch dicht an der Grenze zum Reich Zadorn. Die Einwohner der Stadt fühlten sich gleichzeitig bedroht durch die Natur und die Ausländer jenseits der Grenze. Kein Bürger Lanets war ihnen zum Abschied gefolgt, selbst die Kinder waren nicht neben ihnen hergerannt. Zu tief war die Furcht vor der immerwährenden Finsternis, die sich wie ein dunkles Gewitter am Horizont auftürmte.

Tuoma schmerzte diese Missachtung. Niemand verstand, dass es die Erfüllung seines Traums war, und dass er alles dafür aufgegeben hatte, hier in der Kälte und Stille sein zu dürfen.

Er setzte sich neben den Gaskocher und lauschte den Worten seiner Begleiter. Thorvald stieß ihn an der Schulter an und hielt ihm ein paar Karten hin. Ein Grinsen flog über seine Gesichtszüge. Das Spiel mit den Stovakarten war sein liebster Zeitvertreib. Tuoma streifte die Handschuhe ab und griff nach den Spielkarten.

»Ob es die Stadt in der Dunkelheit wirklich gibt?«, flüsterte Kristian und rührte den Pemmikan über dem Feuer um. Das zerstoßene Fleisch sog das zugefügte Wasser langsam auf. Kristian hatte für den besseren Geschmack noch Zwieback hinzugegeben.

Hjalmar sah den Koch ängstlich an. »Menjalo Deru?«

»Glaubst du an die alten Geschichten?«

Hjalmar richtete seinen Blick auf den Koch. »Es gibt so viele unterschiedliche Sagen. Die meisten sind sich in einem einig. Vor der Zeitenwende herrschten die Götter über die ganze Welt. Sie haben in der Stadt gelebt, bis Elen Mebrahtu die Menschen fortgeführt hat. Und sie hat für die Befreiung bezahlt. Sie soll in der Stadt gefangen sein, ohne jemals freikommen zu können.«

»Du glaubst daran?«

»Mein Großvater hat mir von Wesen aus der Dunkelheit erzählt. Sie sollen Elen Mebrahtu bewachen und dafür sorgen, dass ihr in der Stadt niemand zu nahe kommt. Er hat die Wächter einmal gesehen, als er jung war. Sie hatten Leute aus dem Nachbardorf entführt.«

»Wirklich?«, rief Kristian aus. Der buschige Bart an den Wangen gab ihm etwas Wildes. Er war der Einzige, der seinen Bart in dieser ungewöhnlichen Form trug.

»So wahr ich hier sitze.«

»Vergesst dieses abergläubische Zeug!«, forderte Tuoma aufgebracht. »Hört nicht auf das Geschwätz von alten Männern.«

»Es ist kein Geschwätz«, meinte Hjalmar beleidigt. Seine Gesichtsfarbe glich sich vor Erregung seiner roten Haarfarbe an. »Jeder weiß es.«

Tuoma schüttelte den Kopf. »Nur weil wir in eine Region der Welt gehen, die noch niemals jemand besucht hat, müssen wir nicht alles glauben, was erzählt wird.«

Hjalmar stand auf und deutete aufgeregt auf die Sonne knapp über dem Horizont. »Weißt du, was passiert, wenn die Sonne nicht mehr auf uns scheint? Menschen leben immer im Licht. Es war niemals anders.«

Er ging ein paar Schritte zum rötlichen Horizont. Tuoma ahnte, dass er am liebsten wieder umgekehrt wäre. Zurück nach Kerali. Die Ungewissheit nahe der Dunkelheit versetzte ihn in Angst, und er flüchtete sich in seinen Aberglauben.

»Seid ruhig!« Tuoma blickte besorgt zu seinen beiden Gefährten hinüber. Warum sind sie mitgekommen, wenn sie Angst in der Dunkelheit haben?, fragte sich Tuoma. Die Leitung der Akademie hatte ihm nahegelegt, ihn mitzunehmen. Olav und Thorvald hatten ihn gewarnt, als sie sich noch in Kerali aufgehalten hatten. Jetzt bedauerte Tuoma bereits, dem Druck der Akademie nachgegeben zu haben, aber es ließ sich nicht ändern. Hjalmar schwieg widerwillig.

»Lasst uns spielen!«, meinte Tuoma, um die Gemüter zu beruhigen. Er nahm die Stovakarten, die ihm Thorvald entgegenhielt.

Sie setzten ihr Spiel fort. Immer wieder tauschten sie Karten.

Tuoma wartete nur darauf, dass Thorvald eine entscheidende Karte auf dem Holzkistchen ausspielte. Seine ganzen Spielzüge zuvor hatten ihn verraten. Tuoma hatte diesem Augenblick entgegengefiebert, in dem er die Falle zuschnappen lassen konnte. Sein Aufenthalt in den warmen Ländern war nicht ganz umsonst gewesen. Er hatte gelernt, besser Stova zu spielen als jeder andere dieser Expedition, als die meisten Spieler in der Republik. Langsam nahm er die Karte in die Hand, die ihm den Sieg bringen würde.

Hjalmar kam näher zu ihm und stieß die Kiste um. Es wirkte zufällig, aber Tuoma hatte gesehen, dass Hjalmar kurz vorher nach den Karten geschaut hatte. Soll er seinem Frust Luft machen, dachte Tuoma innerlich vor Wut kochend. Wenn ich es jetzt eskalieren lasse, können wir gleich umkehren.

Thorvald stand auf und ging auf Hjalmar zu. Tuoma hielt ihn an den Schultern zurück. »Lass es gut sein. Er ist gereizt und muss sich abreagieren.«

In Thorvalds altem Gesicht erschien ein verstehendes Lächeln. Er kannte Tuoma seit vielen Zyklen. Sie hatten die Expedition vorbereitet, und daher vertraute er dem Urteil des Jüngeren. Er nickte versöhnlich.

»Ich verstehe ihn ja«, flüsterte Thorvald, sodass nur Tuoma ihn hören konnte. »Du kennst du die Geschichten über die Dunkelheit.«

»Reiß dich zusammen«, raunte Tuoma.

Er musterte seinen alten Bekannten, kam aber zu dem Schluss, dass Thorvald sich im Griff hatte. Er war aus einem anderen Holz geschnitzt als Hjalmar, den bereits die bevorstehende Finsternis ausrasten ließ.

Tuoma lächelte Thorvald aufmunternd an.

Ein lauter Ruf ließ ich aufschrecken. »Tuoma, komm her!«

Der Leiter der Expedition schreckte auf. Das war Roalds Stimme, die von den Hunden zu ihnen klang. Tuoma streifte hektisch seine Handschuhe über. Außerhalb des Lagers würde ihn kein Feuer wärmen. Er näherte sich den Hunden, die aufgeregt hin und her liefen.

Düstere Wolken zogen über den weit entfernten Schimmer der Sonne hinweg. Eine Lampe verbreitete ein schwaches Licht. Keines der Tiere ruhte sich mehr auf dem Boden aus. Sie zerrten wie wild an ihren Leinen, die an Pflöcken im Schnee befestigt waren. Tuoma suchte den Hundepfleger, doch er konnte Roald nicht zwischen den Tieren entdecken. Dort war niemand. Erst ein paar Schritte entfernt entdeckte er ihn im Dämmerlicht. Er kniete neben etwas Dunklem, das auf dem Boden lag.

Kurz zögerte Tuoma, bevor er weiterlief. Als er näher kam, erkannte er im Schatten vor Roald einen der Schlittenhunde, allerdings schrecklich zugerichtet und in seinem eigenen Blut liegend.

»Was ist hier passiert?«

»Ich weiß es nicht«, erklärte Roald. »Ich bin kurz vor dir hier angekommen.«

Der Hundeführer musterte das tote Tier und hob dessen Kopf an. Der Hals bestand nur noch aus ein paar einzelnen Muskelfasern. Knochen und Kehle waren durchtrennt. Dann tastete Roald über den Brustkorb und drückte auf die verletzten Stellen. Das Blut dampfte in der Kälte, und der Geruch von Eisen stieg ihm in die Nase.

Tuoma wusste, dass Roald jeder Hund ans Herz gewachsen war. Er hatte das ganze Rudel selbst auf einem armseligen Hof, der gerade noch knapp im Licht lag, aufgezogen. Die Hunde reichten einem erwachsenen Mann bis zu den Hüften und besaßen dichtes, graues Fell. Tuoma hatte lange mit Roald über die Fähigkeiten der Tiere gesprochen, denn die Geschwindigkeit ihrer Expedition hing größtenteils von ihrer Kraft ab. Roald schwärmte Tuoma immer wieder vor, dass es kein schöneres Geschöpf gab.

»Und?«, fragte Tuoma.

»Der Hund sieht aus, als hätte ihn irgendwas in die Klauen gekriegt.« Mit dem Handschuh deutete er auf eine langgezogene Wunde am Brustkorb. »Von einer Kralle?«

Roald drehte sich um und schaute Tuoma direkt ins Gesicht. »Und aus dem Hals wollte jemand die Hälfte herausbeißen.«

Tuoma nickte zögernd. Sie waren nicht allein in der Dunkelheit. Ihr ungebetener Besucher hatte scheinbar einen Hund im Vorbeigehen getötet.

»Vergrab ihn! Wir wollen das Ding nicht noch einmal anlocken.«

Roald stand auf und ging zurück zu den Schlitten, um eine Schaufel zu holen. Das Knirschen seiner Schritte im Schnee wurde leiser, als er Tuoma bei dem Kadaver zurückließ.

Der Anführer der Expedition musterte die Dunkelheit jenseits des Lichtkreises, den die Lampe bei den Hunden warf. Er glaubte, eine Bewegung im Zwielicht zu sehen. Aber bei näherem Hinsehen konnte er nichts entdecken. Trotzdem rannte er zum Lager zurück. Er traute der Ruhe nicht und wollte kein Risiko eingehen. Roald kam ihm auf halbem Weg entgegen.

»Vergiss den Hund, komm ins Lager.«

Roald starrte Tuoma verwundert an. Er breitete die Arme aus. »Was ist denn los?«

»Komm einfach mit!«

Roald überlegte nicht lange und folgte Tuoma. Als sie das Lager erreichten, ruckten die Köpfe der anderen zu ihnen herum.

»Da ist etwas«, stieß Tuoma hervor. »Ein Hund liegt tot da draußen. Und ich habe etwas gesehen, keine Ahnung was. Jedenfalls sollten wir die Waffen holen.«

Hinter Tuoma hatte sich mittlerweile Roald eingefunden und den letzten Satz gehört. »Was immer das war, hat den Hund regelrecht zerfetzt.«

»Und was kann das gewesen sein?«, fragte Erin, der Wissenschaftler der Expedition. Seine schlanke Nase und die schmalen Augenbrauen wirkten vornehm und elegant. Er trug einen mehr oder weniger anständigen Bart zur Schau, der ihn abenteuerlich aussehen ließ. Tuoma und die anderen glichen eher Bettlern und Dieben.

»Wir werden es nicht fangen«, erwiderte Tuoma bestimmt. »Ich weiß, dass es wissenschaftlich wertvoll wäre, so ein Wesen zu fangen und zu erforschen, aber nicht, wenn es uns vorher umbringt.«

Erin hob abwehrend die Hände. »Ich habe nichts gesagt. Wenn es die einzige Möglichkeit ist, uns zu wehren, schießen wir.«

Tuoma wandte sich vom Wissenschaftler wieder seinen Begleitern zu. »Worauf wartet ihr noch? Holt die Waffen und die Lampen.«

Wie aus einem Traum aufgeschreckt, eilten sie zu den Schlitten und wühlten im Gepäck. Die Waffen waren in Leinensäcken an den Seiten verstaut. Tuoma sah, wie Kristian und Hjalmar nervös jeweils eines der kurzläufigen Gewehre herausholten und es mit einem Magazin luden. Thorvald und Roald verhielten sich ruhiger. Olav näherte sich Tuoma und drückte ihm eine geladene Waffe in die Hand. Ihre Blicke trafen sich. Die unzähligen Falten um Olavs Augen ließen ihn noch älter erscheinen. Tuoma dachte an ihr erstes Treffen im Institut zurück. Der älteste Teilnehmer ihrer Expedition wollte die Finsternis mit derselben Begeisterung wie Tuoma erforschen, aber sicher nicht sterben.

Innerhalb kurzer Zeit standen seine Begleiter bewaffnet vor ihm. Olav hielt eine Lampe in der Hand, und sein Gesicht wirkte bleich in ihrem Lichtschein. »Roald und Thorvald, ihr versteckt euch hinter dem Schlitten.« Tuoma deutete auf den Schlitten auf der anderen Seite des Feuers.

»Erin und Hjalmar, ihr geht zum Schlitten sonnenwärts. Kristian und Jörgen, ihr dunkelwärts. Und wir, Olav, gehen zu dem Schlitten, der den Hunden am nächsten ist.«

Tuoma hob seine eigene Waffe. »Wir stellen die Gewehre auf automatisches Feuer, nicht auf Einzelschuss. Ich will sichergehen, dass wir unseren Gegner wirklich töten. Und wir müssen sehen, auf was wir schießen. Also, ihr stellt die Lampen im Kreis auf, ungefähr zwanzig Meter von den Schlitten entfernt.«

Er verfluchte zum tausendsten Mal, dass um sie herum alles dunkel war. In seinem ganzen Leben hatte es nur Licht gegeben, niemals eine solche Dunkelheit. Was zuerst eine Unannehmlichkeit war und sie beim Vorankommen störte, hatte sich bereits jetzt zu einem Problem entwickelt. Jeder glaubte, Fabelwesen in der Schwärze ausfindig zu machen, und eines der Albtraumgeschöpfe hatte einen Hund getötet.

Tuoma schüttelte den Kopf und klopfte Olav auf die Schulter. »Zum Schlitten gehen, schnell!«

Er nahm die Karbidlampe, entzündete sie und schritt in die Finsternis hinaus. Er hatte die Waffe im Anschlag und ließ die Mündung über die tanzenden Schatten wandern. Langsam kniete er nieder und stellte die Lampe in den Schnee. Nachdem er sie auf volle Leistung hochgeregelt hatte, blickte er über den Lichtschein hinweg in die undurchdringliche Schwärze. Es rührte sich nichts, dennoch fühlte er sich beobachtet. Wahrscheinlich Einbildung.

Schließlich stieß er sich vom Boden ab und kehrte zum Schlitten zurück. Es war ruhig. Er konnte keine Bewegung in der näheren Umgebung wahrnehmen. Selbst die Hunde hatten sich nach der Aufregung wieder hingelegt. Er legte sein Gewehr auf dem Holzgriff des Fahrzeugs ab.

Die beiden Männer lagen bereits einige Zeit auf dem Schlitten, als Olav ihm zuflüsterte: »Ich glaube, ich habe etwas gesehen. Zwischen den Lampen.« Er deutete mit dem Gewehrlauf in die Richtung.

Tuoma richtete die Waffe darauf und konzentrierte sich auf den erleuchteten Bereich der Lampen. Schließlich glaubte Tuoma, eine fließende Bewegung am Rande des Lichtes erkannt zu haben. Aber es könnte auch nur Einbildung sein.

Die Gewehre auf dem Gepäck abgelegt starrten sie in die Schwärze hinter den Lampen. Die Lichtkreise berührten sich, so war der ganze Umkreis um das Lager herum erleuchtet.

»Wie lange warten wir?«, wollte Olav wissen.

»Solange es nötig ist.«

Das einzige Geräusch, das sie hörten, war das leise Rauschen des auffrischenden Windes. Die unbarmherzige Kälte kroch ihnen in die Glieder. Tuoma sah zwischen den Lichtern hindurch in die Finsternis, als sich plötzlich ein Schatten bewegte.

Die Gestalt raste auf die Karbidlampe zu und stieß sie um. Aber das Licht erlosch nicht. Es wurde von einem Wesen verdeckt, das die Helligkeit hinter sich mit seinem Körper abschirmte und auf die Schlitten zurannte. Es war nur ein Schemen.

»Schieß!«, schrie Tuoma und feuerte auf das Wesen.

Er hörte die Schüsse aus Olavs Gewehr neben sich und sah das Mündungsfeuer aus den Augenwinkeln. Inzwischen war ihr Gegner so nah, dass sie ihn nicht verfehlen konnten, aber er brach nicht zusammen. Tuoma überlegte panisch, was er machen sollte. Ihre Kugeln verletzten das Ding offensichtlich nicht. Alles in ihm wollte weglaufen. Er würde niemals entkommen. Ihr Feind war zu schnell. Da konnte er auch hinter dem Schlitten bleiben und weiterfeuern. Mit neuer Entschlossenheit zielte er auf das Tier. Neben ihm zögerte Olav und schaute sich hektisch um.

»Mach weiter!«, befahl Tuoma.

Er bekam nicht mit, ob sein Freund der Aufforderung nachkam. Das Wesen befand sich unmittelbar vor dem Fahrzeug und setzte zum Sprung an. Wie ein gewaltiger Schatten erhob es sich über den Schlitten und flog über die beiden hinweg. Auf der anderen Seite, mitten zwischen ihnen, landete es und verharrte kurz.

Hjalmar und Kristian liefen los und brachten ihre Gewehre in Anschlag. Sie schossen gleichzeitig auf das Ding. Da ertönte ein Dröhnen, wie sie es noch nie gehört hatten. Anscheinend behagten die vielen Kugeln ihrem Gegner nicht. Das Wesen rannte zum Feuer und sprang darüber hinweg. Die Bewegungen schienen mit einem Mal abgehackt, als stolpere das Tier. Der Topf fiel in die Flammen und löschte sie. Schlagartig wurde es dunkler, sodass sie nur noch einen Schemen sahen, der über ein Gefährt sprang und auf die freie Schneefläche hetzte, direkt auf die dahinterliegenden Felsen zu.

Tuoma atmete auf und stützte sich auf seinen Knien ab. Er war froh, mit dem Leben davongekommen zu sein. Kristian und Hjalmar lehnten an ihrem Schlitten und hielten die Gewehre ängstlich umklammert. Thorvald und Jörgen blickten zu allen Seiten.

Neben Tuoma riss Olav seine Waffe in die Luft und schrie freudi: »Wir haben es vertrieben.«

Die anderen fielen in das Geschrei mit ein. Nach einigen Augenblicken legte sich die Aufregung, und Olav trat von einem Fuß auf den anderen, als hätte ihn sein Ausbruch selbst überrascht.

»Das Tier wird wiederkommen«, flüsterte Tuoma zu Olav. »Es ist noch nicht vorbei.«

Inmitten seiner Begleiter stand Tuoma und sah sich fragenden Blicken ausgesetzt. Er wusste nur zu gut, dass er das Problem lösen musste. Dieses Vieh durfte sie nicht weiter stören, wenn sie vorankommen wollten. Anscheinend hatten sie es verletzt. Sie waren nicht wehrlos. Allerdings konnte sich Tuoma tausend schönere Dinge vorstellen, als diesem Monster nachzustellen und es zu töten. Angeschlagene wilde Tiere waren unberechenbar und gefährlich. Bei den Jagdausflügen seines Vaters hatte er das oft genug erlebt. Damals war es ein Spiel für Reiche gewesen, hier war es lebensgefährlicher Ernst.

»Ich werde das Tier verfolgen und ihm den Rest geben«, erklärte Tuoma. Ihm wurde übel angesichts der Gefahr, in die er sich begeben würde. Aber sie hatten es verletzt. Er wusste, dass er das Ding mit seinen Kugeln töten konnte. Auf dem Schlitten suchte er die Munitionspackungen. Er steckte sich so viele davon ein, wie in seine Taschen passten.

»Ich komm mit dir«, hörte er Erins Stimme hinter sich.

Schon der Klang verriet ihm, dass der Wissenschaftler der Gruppe sich nicht abhalten lassen wollte.

»Warum sollte ich dich mitnehmen?«

»Na ja, es könnte doch sein, dass ich die entscheidende Idee habe, wie wir ihn zur Strecke bringen.«

Erins Mut versetzte ihn in Erstaunen. Ein Wissenschaftler, fähig in Biologie, Geologie, Meteorologie und teilweise in Chemie, und gleichzeitig mutig genug, an einer Expedition teilzunehmen, die die bisherige Welt verließ. Anscheinend hatten Olav und Thorvald unrecht, als sie ihn vor der Expedition überzeugen wollten, Erin in Kerali zu lassen.

»Nimm dir genug Munition mit.«

Erin drehte sich um. »Keine Sorge, das werde ich.«

Tuoma verstaute die Magazine in den Seitentaschen seiner Jacke. Danach näherte er sich ihrer ehemaligen Feuerstelle. Die Männer hatten angefangen, den Gaskocher wieder aufzustellen und zu entzünden, um zu retten, was noch zu retten war. Tuoma fühlte, wie es in seinem Magen rumorte, aber dafür hatte er jetzt keine Zeit.

Er dachte zurück an das Essen mit seiner Freundin, bevor sie aufgebrochen waren. Sie hatten über die Gefahren gesprochen, und sie hatte ihn gebeten, nicht zu gehen. Obwohl sich die Gefahren als real erwiesen hatten, war Tuoma froh, hier zu sein, so verrückt es auch war. Er lebte seinen Traum.

Erin trat an Tuoma heran und stieß ihn mit einem Handschuh an. »Wir können los.«

Tuoma nickte und wollte sich gerade umdrehen, als Olav auf ihn zukam.

»Ich möchte euch auch begleiten.«

Einen endlos langen Augenblick musterte Tuoma den älteren Mann. Tuoma fielen die Falten in seinem Gesicht auf. Sie wiesen ihn als ältestes Mitglied der Expedition aus, weit älter als die anderen. Vielleicht wäre ein weiterer Mann bei der Jagd eine gute Idee, aber Olav war zu wichtig für die Expedition.

»Du kannst nicht mitkommen. Wer soll sonst die Führung übernehmen?«

Sein Freund öffnete den Mund, um zu widersprechen, aber anscheinend fiel ihm kein Argument ein. Tuoma hatte Recht. Ohne zu zögern, kam Tuoma näher und umarmte Olav.

»Pass auf dich auf«, hauchte Olav und schlug Tuoma auf die Schulter. Danach entließ er ihn wieder und ging ein paar Schritte zurück zum Feuer.

Danke, dachte Tuoma, ich bin vorsichtig.

Zum Abschied winkte er den Männern am Feuer zu. Müde grüßten sie ihn zurück. Eine weitere Verabschiedung gab es nicht. Seite an Seite schritten Tuoma und Erin über die schneebedeckte Fläche auf den Felsen zu. Der lockere, knietiefe Neuschnee machte das Vorwärtskommen schwierig. Als sie an der Lampe vorbeikamen, die an dieser Ecke des Lagers stand, bückte sich Tuoma und hob sie hoch. In dem unbekannten Land vor ihnen würden sie Licht brauchen.

Erin und Tuoma schwiegen während ihrer kurzen Wanderung zum Felsen. Unter ihren Stiefeln knirschte der Schnee. Auf dem Untergrund zeichneten sich Spuren ab. Tuoma konnte seinen Fuß zweimal in die Abdrücke hineinstellen, so groß waren sie. Er blickte zum Wissenschaftler der Expedition. Niemals zuvor hatte er von einem so großen Tier gehört.

Der Schein der Lampe fiel auf eine schroffe Felsformation. Tuoma fragte sich, wie sie hier das Wesen rechtzeitig erkennen sollten, um sich zu verteidigen. Aber sie mussten etwas unternehmen, wollten sie nicht die ganze Zeit verfolgt und gejagt werden.

»Irgendeine Idee?«

Erin schüttelte den Kopf.

Der Anführer der Expedition umfasste sein Gewehr fester und richtete den Lauf nach vorn. Sie umrundeten die ersten mannshohen Steine, immer den Spuren im Schnee folgend. Ab und zu verloren sich die Abdrücke, aber in einiger Entfernung entdeckten sie die Hinweise wieder. Das Tier musste die Strecke einfach übersprungen haben. Tuoma zitterte.

Ihr Lager erschien immer kleiner, bis es schließlich ganz verschwand. Jenseits des armseligen Lichts ihrer Lampe herrschte Finsternis bis auf den schmalen Schein am Horizont der bekannten Welt. Ein über Felsen kratzendes Geräusch erklang. Tuoma blieb stehen. Erin tat einen Schritt und blickte sich um.

»Was ist?«, fragte er viel zu laut.

Tuoma hob den Arm, der die Lampe hielt, sodass die Helligkeit weiter reichte. Wieder ertönte das Geräusch. Erin deutete nach rechts. Vorsichtig schlichen sie, ihre Waffen im Anschlag, in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Ihr Leben hing davon ab, dass sie schnell genug schossen. Das Gewehr in Tuomas Hand wurde immer schwerer.

»Das Geräusch kommt von dieser Felsspalte«, durchbrach Erin die Anspannung. Er zeigte mit seiner Hand nach oben zu einer Felswand. »Der Wind weht da durch und nimmt immer wieder Schnee und Eis mit.«

Tuoma musterte den Einschnitt im Stein. Sie hatten den Ursprung des Kratzens gefunden. »Also zurück«, entschied Tuoma.

Er wandte sich um und folgte den eigenen Fußspuren bis zu der Stelle, von wo sie den Geräuschen gefolgt waren. Die Abdrücke des Tieres wiesen ihnen den Weg. Der Untergrund wurde steiniger, und nur ab und an gab es freie Schneeflächen, auf denen sie die Spuren entdeckten. Rechts und links von ihnen erhoben sich Felsen, und ihr Pfad wurde schmaler, sodass sie nur noch hintereinander gehen konnten. Tuoma ging voran, Erin direkt hinter sich.

Plötzlich erklang rechts von ihnen ein Fauchen. Tuoma schreckte zusammen und hätte beinahe die Lampe fallen lassen. Er blickte in die Dunkelheit und sah den altbekannten Schatten, wie er auf einem Felsen saß. Ohne lange nachzudenken, richtete er das Gewehr auf das Tier und schoss. Doch nichts passierte. Das Tier bewegte sich, als würde es zum Sprung ansetzen.

Wie eine Gestalt aus einem Alptraum flog es auf Tuoma zu. Der Leiter der Expedition feuerte, so schnell er konnte. Er glaubte, die Schüsse von Erin zu hören, aber er war sich nicht sicher. Die Masse drohte, ihn unter sich zu begraben. Er merkte, dass das Tier etliche Meter vor ihm landen würde. Mit einem unglaublichen Krachen schlug das Ding gegen die Felsen und stürzte wie ein Sack zu Boden. Tuoma traute seinen Augen nicht, als es sich nicht mehr rührte. Sollte eine ihrer Kugeln es getötet haben?

Tuoma machte einen zögerlichen Schritt auf das Tier zu. Jeden Augenblick rechnete er damit, dass es sich wieder aufrichten und ihn anfallen würde. Doch nichts geschah. Er stand vor dem Wesen und stieß mit seiner Stiefelspitze dagegen. Das Licht der Lampe fiel auf die leblose Gestalt, und er konnte zum ersten Mal betrachten, was sie angegriffen hatte.

Das Wesen hatte einen riesigen Schädel mit Zähnen so lang wie Finger. Die Schnauze allein konnte den Kopf eines Menschen mühelos umschließen. Der Körper glich den Dampfwagen, die in den Städten neuerdings durch die Straßen fuhren, und war bedeckt von einem schwarzen Fell, das alles Licht schluckte. Ein gewaltiges Loch klaffte in seinem Schädel. Es sah nicht aus wie die Wunde von einer Gewehrkugel. Tuoma hatte genug Schusswunden gesehen und wusste, dass sie blutige, ausgefranste Verletzungen verursachten. Dieses Loch im Schädel des Tiers war so groß wie seine Faust und vollkommen unblutig, als hätte sich die Wunde sofort wieder verschlossen.

»Wir müssen das untersuchen«, rief Erin und drängte Tuoma zur Seite. Der Leiter der Expedition trat näher heran, um einen Blick auf das Tier zu werfen, aber der Wissenschaftler verstellte ihm den Weg.

Wer hatte dieses gewaltige Tier erschossen?

DER ANGRIFF

Awate Tesfay, Vergangenheit

Awate drehte der Sonne den Rücken zu und schaute in den blauen Himmel. Er warf einen langen Schatten über das Grasland, das sich wie bei Sonnenuntergang vor ihm erstreckte, aber das Zentralgestirn würde niemals untergehen. Die Pflanzen hatten sich an die fortwährende Helligkeit angepasst. Ihre Blätter waren schwarz geworden, um das wenige Licht besser auszunutzen. Die Photosynthese war nicht mehr dem Wechsel von Tag und Nacht unterworfen. Es gab nur noch die ewige Dämmerung.

Seine Schritte führten ihn den Hügel hinauf, und er geriet ins Schwitzen. Die warme Luft strich sanft über sein Gesicht. Der Wind wehte nicht sehr stark, aber immer aus derselben Richtung. Auf der Hügelkuppe blieb Awate stehen. Ein Bach mit kristallklarem Wasser schlängelte sich unter ihm entlang. Bäume wuchsen vereinzelt und spendeten Schatten, in denen Hütten aus Ästen und Zweigen standen. Auf staubigen Wegen liefen ein paar Menschen von einer Behausung zur anderen. Ihre Bekleidung bestand aus einem Lendenschurz.

Sie leben sich ein, erklang Freunds Stimme in Awates Kopf.

Wie weit ist Elen noch entfernt?, fragte Awate.

Für einen Moment hörte er das Rauschen des Windes. Der erdige Geruch des weiten Landes stieg ihm in die Nase. Sein unsichtbarer Begleiter nahm Funkkontakt zum Rechner der Stadt auf und holte Informationen ein.

Elen Mebrahtu wird gleich da sein, sprach die lautlose Stimme.

Der Wind frischte auf und schlug Awate entgegen. Er lächelte. Der Gleiter unter dem Tarnschirm verdrängte die Luft und erzeugte einen Sturm, blieb aber verborgen für die Wilden im Dorf. Sie mussten den aufkommenden Wind für ein Zeichen ihrer Götter halten, das ihre Ankunft ankündigte.

Auf einer Lichtung nahe einer Flussbiegung begann die Luft, zu flimmern. Sie verdichtete sich und erlangte mehr und mehr Substanz. Es bestand aus glänzendem Alasit, einem schwarzen Metall, und wirkte wie ein Schatten, der mitten über dem Boden schwebte. Das schlanke, zylindrische Fluggerät war so groß wie ein dreistöckiges Haus und lief vorne spitz zu. Es besaß Stummelflügel an beiden Seiten, die mehr aus ästhetischen Gründen angebracht waren, anstatt dem Auftrieb zu dienen. Der Antrieb hielt es bewegungslos einen Meter über dem Boden.

Die Menschen des Dorfes verbargen sich ängstlich hinter ihren Hütten. Awate setzte sich in Bewegung und stieg den Hügel hinab. Der Gleiter hing geräuschlos in der Luft.

Awate liebte es, über das herrlich duftende Gras zu laufen. Die Welt, auf die er und seine Gefährten geflüchtet waren, hatte ihre Vorteile. Ihr Exil gestaltete sich nicht so langweilig wie befürchtet, und doch wünschte er sich, in die Zivilisation zurückzukehren. Ihm fehlten die Städte mit ihrem pulsierenden Leben, in dem die Technik alle Aufgaben übernahm. Leider war es nicht mehr sicher für sie auf den anderen Welten. Sie mussten auf diesem Planeten bleiben und sich verbergen. Vielleicht durften sie in einigen Jahrtausenden wieder zurück zu den Sternen, wenn es akzeptiert war, dass sie ewig lebten. Unsterblichkeit erlaubten die anderen Völker nicht.

Der letzte Rest seines Weges führte ihn am rauschenden Bach entlang. Fangkraut wuchs in Windrichtung und fing die Insekten, die am Ufer herumschwirrten. Das Wasser war so klar, dass Awate an jeder Stelle bis auf den Grund schauen konnte. Fische schwammen träge vorbei. Er blieb vor dem Gleiter stehen und wartete. Einen Augenblick später öffnete sich der Ausstieg und gab den Blick auf die Gestalt dahinter frei. Eine Frau lächelte ihn an. Sie war groß und in einen weiten, überwiegend blauen Anzug gekleidet. Schwarze Haare umrahmten ihr außergewöhnlich schönes Gesicht. Ihre Haut hatte einen sanften Braunton und bildete einen harten Kontrast zu ihren himmelblauen Augen, die wie Eiskristalle hervorstachen.

»Herzlich willkommen«, rief Awate.

Eine Rampe fuhr aus der grauen Metallwand des Fluggeräts und erlaubte ihr, auf den Boden hinabzusteigen. Sie näherte sich Awate gemächlich und blieb lächelnd vor ihm stehen.

»Du hast dich nicht verändert«, erklärte sie.

»Es waren ja auch nur hundert Jahre«, erwiderte Awate.

Sie nickte. Nach einem Moment des Zögerns wandte sie sich um und deutete auf ihr Fahrzeug. »Ich habe die neuen Menschen mitgebracht.«

Im Innern des Gleiters entstand Bewegung. Awate schaute genauer hin und sah Roboter, die sargähnliche Kisten vor sich herschoben. Sie bewegten ihre Lasten über die Rampe nach draußen und stellten sie zwischen Gleiter und Bachlauf ab. Die Särge besaßen oben eine durchsichtige Glasscheibe. Jeweils ein unbekleideter Mensch lag darin. Immer mehr Behälter verließen das Fahrzeug, und am Ende zählte Awate zwanzig von ihnen.

»Welche Verbesserungen haben sie?« Awate blickte fragend zu Elen hinüber.

Sie lächelte. »Wir sind ihre Götter.«

Awate musterte sie. Er hatte gewusst, dass die Wissenschaftler in Menjalo Deru an solchen Verbesserungen arbeiteten, aber er verstand den Sinn nicht.

Es ist eine Versicherung, meldete sich Freund zu Wort.

Oder die Möglichkeit, mit ihnen zu spielen, erwiderte Awate.

»Du bist nicht einverstanden?«, wollte Elen wissen.

Awate sah sie unwillig an. »Du weißt, was ich davon halte. Wecken wir sie auf.«

Elen öffnete den Mund, um ihm zu antworten, überlegte es sich dann aber anders. Schweigend ging sie zu dem ersten Behälter und blieb daneben stehen. Awate folgte ihr und betrachtete den Menschen darin. Äußerlich unterschied er sich nicht von ihnen, aber Awate wusste, dass sie grundverschieden waren. Diese Menschen besaßen Körper wie Tiere, die lebten und atmeten und verletzt werden konnten. Und sie alterten. Awates und Elens Körper waren nur eine Projektion ihres Geistes. Sie wirkten wie Menschen, aber ihr Bewusstsein bestimmte ihr Sein.

Ein Tastenfeld am Kopfende leuchtete auf, als Elen nähertrat. Sie tippte auf die Kontrollen, und Augenblicke später öffnete sich der Behälter. Awate glaubte, einen kalten Lufthauch zu spüren, als wären die Körper aufgetaut worden. Der junge Mann mit den blonden Haaren schlug die Augen auf und bewegte den Kopf. Sein Blick blieb erst an Elen und dann an Awate haften. Er zeigte keine Furcht, nur Neugierde.

Plötzlich ertönte lautes Gebrüll. Awate blickte sich hektisch um. Auf dieser Welt konnte ihn nichts töten. Es war mehr die Überraschung, die ihn zusammenfahren ließ.

Was passiert hier?, fragte er Freund.

Fethawi hat ein paar Wilden befohlen, das Dorf zu überfallen, antwortete Freund.

»Was will Fethawi hier?«, rief Elen, um den Lärm zu übertönen.

Awate zuckte die Schultern. Fethawi hielt sich oft in der Zwielichtzone auf und beobachtete die Wilden. Manche Wissenschaftler plädierten bereits dafür, ihn zur Stadt zurückzubeordern. Er überschritt seine Befugnisse und vernachlässigte den wissenschaftlichen Auftrag.

Über das Grasland rannten Wilde auf die Holzhütten zu. Sie waren mit Speeren und Keulen bewaffnet. Die ersten Männer erreichten die Häuser, und Awate sah, wie einer der Angreifer, ein großer, bärtiger Mann, einen anderen erschlug. Inzwischen hatten sich die Bewohner des Dorfes zusammengerottet und griffen ihrerseits zu den Waffen. An den Hütten und auf den Wegen dazwischen entbrannten die Kämpfe. Die Feinde waren in erschreckender Überzahl. Die Dorfleute hatten nicht die geringste Aussicht zu überleben.

Grelles Licht flammte vor einer Hütte auf. Flammen leckten nach dem Holz und setzten es in Brand. Das Feuer verzehrte die Balken innerhalb weniger Augenblicke. Ein weiterer Feuerball explodierte im Dorf und diesmal geriet eine Frau hinein. Ihre Schreie übertönten das Brüllen der Männer, aber nach einigen Atemzügen verstummte sie.

»Hat Fethawi denen Sprengstoff gegeben?«, rief Awate zu Elen, die sich gehetzt zu ihm umwandte. Sie zuckte mit den Schultern.

Zur Antwort gab es einen weiteren Lichtball dicht bei Awate. Die heiße Luft rollte über ihn hinweg und ließ ihn stolpern. Seine Gesichtshaut brannte, und sein Herz schlug schneller.

Auf die Arme gestützt blickte er nach oben. Woher kommen diese Feuerbälle?, fragte er, erhielt aber keine Antwort von Freund. Er richtete sich auf und wandte sich um, um zum Schiff zu fliehen.

Ein Ruf erklang hinter ihm. Ein Mann hatte sich im Gras an ihn herangeschlichen und stürmte auf ihn zu. Awate stolperte einen Schritt zurück. Der Wilde war kräftig, und seine Haut starrte vor Dreck. Er hielt einen Ast in der Hand, holte weit aus. Auf dem Holz glaubte Awate, eine dunkle Flüssigkeit zu entdecken. Das Blut eines Opfers.

Sein Herz schlug bis zum Hals. Endlich überwand Awate seine Erstarrung. Er griff an seine Seite und schaltete die Schutzsphäre ein. Ein unsichtbarer Schild schirmte ihn ab. Der Schlag des Mannes traf auf das Hindernis, und mit schmerzverzerrtem Gesicht ließ er seine Waffe fallen. Er starrte Awate hasserfüllt an.

Was hat Fethawi denen erzählt?, fragte er sich.

Der Mann riss die Arme hoch und stürzte sich auf Awate. Anscheinend wollte er ihn mit bloßen Händen töten. Awate hob eine Hand, um ihn auf Abstand zu halten. Die Faust des Mannes prallte gegen seinen Arm wie gegen eine Mauer. Der Schirm fing jede Kraft ab, ohne dass irgendetwas hindurch kam. Allerdings sah Awate, wie die Knochen des Mannes zerbarsten und durch die Haut stießen. Blut schoss heraus, und der Mann brach auf der Erde zusammen. Voller Wut blickte er zu Awate.

Ein Strahl gleißender Energie umhüllte und betäubte ihn. Verwirrt schaute sich Awate um. Er entdeckte Elen mit einer Waffe in der Hand. Sie hatte auf den Mann geschossen.

Sie wollte dich nur verteidigen, erklärte Freund.

Es ist so sinnlos, meinte Awate. Er schüttelte den Kopf. Er verstand nicht, was Fethawi mit diesem Angriff erreichen wollte.

»Da hinten«, rief Elen und deutete den Bach entlang. Awates Blick folgte ihrem ausgestreckten Arm, und er erkannte einen einzelnen Mann, der am Wasser entlangschritt. Er war nicht in Felle gekleidet, sondern trug dieselbe Kleidung wie sie. Das braungebrannte Gesicht war schmal, und die Nase stach markant hervor. Seine schwarzen Augenbrauen waren scharf geschnitten. Die Gesichtszüge wirkten fein modelliert. Awate hätte sein Bruder sein können, so sehr glichen sie einander. Awate besaß nur ein rundlicheres Gesicht und ließ sich die dunklen Haare länger wachsen.

»Fethawi«, stieß Awate hervor.

Gelassen wanderte der Unsterbliche auf sie zu. Nichts auf der Welt schien ihn aus der Ruhe zu bringen. Als er den Gleiter erreicht hatte, blieb er bei ihnen stehen und musterte sie.

»Was soll das?«, fragte Awate.

Fethawi setzte ein überhebliches Lächeln auf. »Die Bewohner des Dorfes gehörten zur ersten Generation. Sie sind nur sehr schwer zu beeinflussen.«

Awate atmete tief durch. »Und doch hätten wir beobachten können, wie sie sich an das ewige Licht anpassen.«

Fethawi trat auf Awate zu. Er betrachtete ihn herablassend, als verstehe er nicht, um was es ging.

»Was für eine Rolle spielt es denn, ob diese paar Menschen überleben«, meinte Fethawi. »Es gibt bessere Exemplare, und wir sollten diese unzureichenden Menschen aus dem Genpool entfernen.«

Wütend öffnete Awate den Mund, um zu widersprechen.

»Du bist für das Leben?«, wollte Fethawi wissen.

Awate nickte.

»Wie lange leben diese Menschen?«, erwiderte Fethawi. »Vierzig Jahre? Wir leben Millionen von Jahren. Wir verkörpern mehr Leben als Millionen von diesen Menschen zusammen. Warum haben wir dann nicht das Recht, ein paar von ihnen zu töten?«

»Du darfst ...«

»Wir sind ihre Götter«, kam ihm Fethawi zuvor und hob einen Finger. »Wir können alles mit ihnen machen.«

Verärgert drehte sich Awate zum Dorf um. Die Angreifer hatten mittlerweile gesiegt und näherten sich dem Gleiter. Nur noch ein paar Schritte trennten die Männer von den Behältern mit der Generation neuer Menschen. Awate erkannte den großen Mann mit dem Vollbart. Er hielt seine Keule in den Händen und fiel auf die Knie.

»Es ist vollbracht, Herr«, rief er laut aus.

UNTERWEGS

Tuoma Leta, Gegenwart

»Es gibt vielleicht noch mehr von denen«, raunte Erin, über das Tier gebeugt.

Tuoma warf einen argwöhnischen Blick zu seinem Wissenschaftler. Er schwenkte die Karbidlampe, um den Kadaver genauer zu betrachten, aber Erin verstellte jede Sicht auf das tote Tier.

»Dann sollten wir so schnell wie möglich weg von hier?«, fragte Tuoma.

»Auf jeden Fall.« Erin drehte sich um. Im Schein der Lampe erkannte Tuoma die Entschlossenheit in den Augen seines Gegenübers.

»Ich will es noch einmal sehen.«

»Wir sollten wirklich weg hier«, erklärte Erin. »Vielleicht hat es einen Partner.«

Tuoma musste zugeben, dass Erins Gedanke nicht von der Hand zu weisen war. Er nickte zur Bestätigung.

Gemeinsam kehrten sie zum Lager zurück. Dort trieb Tuoma seine Begleiter zur Eile an, und kurze Zeit später waren sie wieder unterwegs.

Es gab keine Anzeichen von weiteren Gefahren, aber der Tod der Bestie ließ ihn nervös werden. Aus dem Dunkel hatte das Tier seine Expedition angegriffen, und wie durch ein Wunder war niemand verletzt worden. Er wollte so viel Entfernung zwischen sich und die sterblichen Überreste des Angreifers bringen wie möglich. Zu seiner Überraschung verkraftete Hjalmar die Fortsetzung ihrer Reise ziemlich gut. Bei all den abergläubischen Geschichten, die er normalerweise von sich gab, hätte Tuoma damit gerechnet, dass er endgültig ausrasten würde. Aber er akzeptierte die Entscheidung.

Die Hunde zogen die vier Schlitten durch die Eiswüste. Hinter ihnen blieb der rötliche Schimmer zurück. Je weiter sie kamen, umso tiefer sank die Sonne und verschwand unter dem Horizont. Um sie herum wurde alles dunkel.

Tuoma sah auf das runde Gerät am Griff des Schlittens. Hinter einer Glasscheibe wies eine Nadel nach schräg rechts oben. In der ganzen Lanet Republik richtete sich diese Nadel immer gleich aus. In der Akademie nannte man die Eigenschaft der Nadel Magnetismus. Normalerweise reichte die Sonne aus, um die Richtung zu bestimmen, aber hier in der Dunkelheit leistete das Instrument gute Dienste.

Tuoma steuerte sein Fahrzeug dunkelwärts. Vor ihm saß Thorvald und ließ sich von den Tieren ziehen, nur begleitet vom Kratzen der Kufen auf dem Eis und dem Keuchen der Hunde. Tuoma hielt die Griffe fest umklammert, wenn er mit einem Fuß den Schlitten ins Gleichgewicht brachte.

Kurze Zeit zuvor waren sie an einem Haufen Steine vorbeigefahren, eindeutig von Forschern aufgetürmt. Ein Metallschild am Fuß der Felsen trug die Namen derjenigen, die so weit in das Unbekannte aufgebrochen waren. Tuoma erinnerte sich nicht, von ihren Vorgängern in einem Geschichtsbuch gelesen zu haben. Die Zeit musste ihre Erinnerung ausgelöscht haben.

Eine Gruppe in der Akademie hatte behauptet, dass einzig und allein Einsamkeit auf ihn warten würde und dass es zu kalt zum Überleben werden würde. Die anderen sahen den Ursprung jeder Sage in der Dunkelheit. Die geflüsterten Legenden sprachen davon, dass die Götter ihre Heimat in der Finsternis hatten und manchmal in die Welt der Menschen kamen. Unsagbare Gestalten wanderten in das Licht und verdarben die Menschen. Jeder kannte jemanden, dessen ferne Verwandten erzählten, dass ihre Freunde verschwunden waren. Allerdings ließen sich diese Märchen niemals bis zu den Wurzeln zurückverfolgen.

Manche Legenden verkündeten aber auch gute Dinge, die in den unbekannten Weiten verborgen lagen. Der Ursprung der Menschen wurde hierher verlegt, und vor endlos langer Zeit zogen die Menschen aus der Finsternis in die Welt des Lichts. Eine andere Geschichte berichtete von der Quelle ewiger Jugend. Unsterbliche Wesen sollten um den Brunnen herum leben und nur auf Glücksritter warten, um das Geschenk mit ihnen zu teilen.

Tuoma kannte diese Mythen. Seit seiner frühesten Jugend hatte er alles gesammelt, was es über die Finsternis zu lesen gab. Von den einfachsten Märchen für Kinder bis zu wissenschaftlichen Abhandlungen über den Grund für die Lichtlosigkeit hatte er alles in sich aufgesogen. Mit dieser Expedition wollte er endlich herausfinden, welche Geschichten der Wahrheit entsprachen.

»Denkst du wieder an die Überlieferungen?«, durchbrach Erins Stimme seine Gedankengänge. Der Wissenschaftler stapfte durch den Schnee und hielt mit den Hunden Schritt.

»Ist auch nicht schwer bei dieser Umgebung«, erwiderte Tuoma. Er blickte zu Erin hinüber und glaubte, ein leichtes Schmunzeln zu erkennen.

Der Wissenschaftler hatte seinen Schal nach unten gezogen, um sich besser unterhalten zu können. »Ich kenne die Ammenmärchen, dass die Götter hier lauern. Glaubst du daran?«

Tuoma wunderte sich, dass Erin gerade jetzt die Götter ins Spiel brachte. Die Götter waren seit der Zeitenwende verschwunden.

Ist das nur Ablenkung?, fragte sich Tuoma.

»Woran ist das Ding gestorben?«, wollte er wissen und wandte sich zu Erin.

»Das weißt du doch. Wir haben es erschossen.«

»Das kannst du mir nicht erzählen. Ich habe den Kadaver gesehen. Es waren keine Gewehrkugeln, die das Tier verwundet haben.«

»Es waren unsere Kugeln.«

Tuoma wartete, dass der Wissenschaftler fortfahren würde, aber nur der Wind strich über die Ebene. Die Hunde hechelten vor Anstrengung. Schweigend wanderten die beiden der Finsternis entgegen.

*

Eine Phase später erteilte Tuoma den Befehl, die Schlitten im Viereck anzuordnen. Nach einiger Zeit hatte Roald die Fahrzeuge so angeordnet, dass sie sich nicht ins Gehege kamen. Er fing an, die Hunde aus dem Geschirr zu nehmen. Der gleichbleibende Luftzug aus der Finsternis säuselte über Menschen und Tiere hinweg.

»Kristian, mach das Feuer an, damit wir essen können«, rief Tuoma. Zustimmendes Gemurmel ertönte von den anderen Expeditionsteilnehmern. Die letzte Zeit war Tuoma die Kälte eisig seine Knochen hinaufgekrochen, und er freute sich auf eine warme Mahlzeit und einen warmen Schlafsack.

Er stand bei seinem Schlitten und wuchtete das Zelt für die Übernachtung herunter. Als es auf dem Boden lag, sah er auf und erblickte Erin am gegenüberliegenden Gespann. Misstrauisch beobachtete Tuoma den Wissenschaftler. Zusammen mit Hjalmar zog Erin das zweite Zelt vom Schlitten und begann, es im Windschatten des Fahrzeugs aufzubauen. Erin, Hjalmar, Kristian und Roald schliefen in einem Zelt, Tuoma, Olav, Jörgen und Thorvald in dem anderen.

Lautes Kläffen verkündete, dass Roald die Hunde fütterte. Ein Magenknurren erinnerte Tuoma an ihr Feuer und dass Kristian mittlerweile sicher den Pemmikan mit Wasser aufgetaut haben sollte.

Zusammen mit Thorvald und Jörgen baute Tuoma ihr Zelt auf. Wieder und wieder verfluchte Tuoma die zwei Handschuhe, die er gegen die Kälte übereinander trug. Es war fast unmöglich, die Seile durch die Ösen zu ziehen, um das Zelt abzuspannen. Das Spitzzelt mit der einen Stange darin war relativ einfach aufzubauen, aber das galt unter normalen Umständen, nicht in klirrender Kälte und mit Handschuhen.

Nachdem sie es endlich aufgestellt hatten, gingen sie zwischen die Schlitten. Hier stieg Tuoma der Geruch von erhitztem Fleisch und Käse in die Nase. Kristian kochte über einem schlichten Feldkocher. Schweigsam ließen sich nach und nach auch Thorvald, Jörgen und Olav am Feuer des Kochers nieder. Etliche Hände reckten sich der Wärme entgegen.

»Wie viele Längen haben wir heute geschafft?«, erkundigte sich Tuoma und sah Jörgen, ihren Navigator, an.

Jörgen zögerte. Er blickte schuldbewusst zu Boden. Tuoma ahnte, dass ihn die Antwort nicht zufriedenstellen würde.

»Was ist passiert?«

Jörgen schüttelte den Kopf. Die schwarzen, lockigen Haare fielen ihm in die Augen. »Der Streckenmesser hat schon so funktioniert wie geplant.«

»Aber?«

»Normalerweise kann ich die Strecke ganz einfach bestimmen, wenn wir direkt dunkelwärts oder sonnenwärts fahren. Der Gradunterschied der Sonne zum Horizont reicht aus.«

Tuoma wurde ungehalten. »Dafür haben wir den Streckenmesser gebaut.«

Jörgen hielt seinem verärgerten Blick stand. »Ich habe die ganze Zeit ein Auge auf den Streckenmesser am Schlitten geworfen. Das Rad hat sich immer wieder vom Boden gelöst, bei jeder Erschütterung.«

Das Gerät ist nicht genau, dachte Tuoma. Das haben wir vorher gewusst. Warum kann er sich nicht mit den Umständen abfinden?

»Was hat es angezeigt?«

»Laut Streckenmesser waren es zehn Längen.«

Tuoma nickte. Es ging gut voran. Bei der Geschwindigkeit würden sie weit in die Dunkelheit hinein gelangen. Je weiter sie kamen, umso größer war die Wahrscheinlichkeit, dass sie etwas entdeckten.

»Du machst deine Sache gut«, sagte Tuoma. »Ich wusste, dass du navigieren kannst.«

Tuoma hatte Jörgen im Hafen von Iskar angeworben. Er hatte als Navigator auf den Schiffen am Salzmeer gearbeitet. Tuoma war klar, dass er auf seiner Expedition jemanden brauchte, der navigieren konnte. Die Orientierung auf dem Meer, ohne Küste in Sichtweite, kam ihrem Unternehmen noch am nächsten. Es war eine ungewöhnliche Wahl, aber die Akademie hatte es genehmigt.

»Meine Mädchen sagen auch, dass ich weiß, wie ich zu ihnen komme«, erwiderte Jörgen mit einem breiten Grinsen.

»Ach, wieder das Märchen mit einer Braut in jedem Hafen«, spottete Thorvald.

Jörgen grinste anzüglich. »Es ist kein Märchen. Ich hatte eine schöne Zeit rund um das Salzmeer.«

»Dir sind die Frauen egal, oder?«, fragte Kristian und hörte auf, den Eintopf umzurühren. Zorn lag in seinen Augen.

Jörgen blickte verwundert zu ihrem Koch. Ein durchtriebenes Lächeln erschien auf seinen Lippen. »Ich mag sie. Sogar sehr gern.«

Kristian schaute auf den Löffel in seiner Hand und rührte im Uhrzeigersinn.

»Ihm fehlt seine Frau«, erklärte Olav. »Er ist unsterblich in ein Mädchen aus Kerali verliebt.«

»Ach«, stieß Jörgen hervor, »wie kann man nur so bescheuert sein? Eine Frau ist wie die andere.«

Der ätzende Spott in der Stimme des ehemaligen Seemannes ließ Tuoma aufhorchen. Die Aggressionen wuchsen. Bisher hatten sich seine Leute beherrscht, aber die Dunkelheit setzte ihnen zu.

Kristian stand auf und schrie aufgebracht: »Solveig ist nicht wie alle anderen.«

Er hob seine Hände und ballte sie zu Fäusten. Blitzschnell sprang er auf Jörgen zu. Tuoma konnte ihn mit Mühe und Not festhalten.

Er hat eine Frau gefunden, die er liebt und die bei ihm bleiben will, dachte Tuoma sehnsüchtig.

»Beruhige dich«, flüsterte er, »er weiß es nicht besser.«

Der Koch musterte Tuoma. Nach einem Augenblick des Nachdenkens nickte er, und sein Körper verlor die Spannung. Er ließ sich an seinem Topf nieder und kümmerte sich um das Essen.

Schweigen kehrte ein. Kristian starrte auf den Brenner, Thorvald und Olav betrachteten ihre Hände, als sähen sie diese zum ersten Mal. Dann griff Kristian zu einem Löffel. In Blechschalen teilte er das Essen aus.

*

Tuoma verließ das Zelt und streckte sich. Die eiskalte Luft schlug ihm ins Gesicht. Er hatte bisher noch keinen Mantel und keine Mütze angezogen, denn für ein paar Augenblicke wollte er die Unbarmherzigkeit ihrer Umgebung spüren. Er führte die Hände vor dem Mund zusammen und blies hinein. Der Atem wärmte seine Finger und bildete Wolken, als sie mit der Außenwelt zusammenstießen. Tuoma trat von einer Stelle auf die andere. Er griff ins Zelt und holte seine restliche Kleidung heraus. Nachdem er Mantel, Mütze und Handschuhe angelegt hatte, fühlte er sich besser.

Aus dem anderen Zelt gegenüber sah er Kristian am Kocher stehen und Eis schmelzen. Hjalmar hockte daneben und schaute zu.

»Seid ihr schon alle wach?«, fragt Tuoma.

Kristian blickte auf. »Erin ist noch im Zelt. Wo Roald ist, weiß ich nicht.«

»Er füttert die Hunde?«

Kristian schüttelte den Kopf. »Nein, das hat er schon gemacht. Keine Ahnung, wo er ist.«

Tuoma riss die Augen auf. Niemand darf sich einzeln absetzen, dachte er. Es ist viel zu gefährlich hier.

»Ihr habt ihn alleine gehen lassen?«

Kristian und Hjalmar warfen sich einen schuldbewussten Blick zu.

»Wir haben ihn nicht vermisst«, erklärte Hjalmar schließlich.

Der Anführer der Expedition beherrschte sich. Sie mussten aufpassen. Wenn sie nicht aufeinander achteten, dann tat es niemand.

»Steht auf und macht euch auf die Suche nach ihm«, befahl Tuoma.

Kristian öffnete den Mund, um zu widersprechen, besann sich jedoch eines besseren. Er erhob sich und zog Hjalmar mit sich. Sie hielten auf eine der Lampen zu und nahmen sie mit sich.

Tuoma wandte sich um und schaute in das Zelt, das er mit Olav, Jörgen und Thorvald teilte. Die Männer lagen noch in ihren Schlafsäcken, waren aber bereits wach. Sie musterten ihn überrascht.

»Wir wissen nicht, wo Roald ist«, meinte Tuoma. »Wir müssen ihn suchen.«

Thorvald richtete sich auf und griff nach seinem Pullover. Jörgen legte die Hände über das Gesicht und rieb über den Bart, um die Müdigkeit zu vertreiben.

»Thorvald, Jörgen, ihr geht gemeinsam«, ordnete Tuoma leise an. »Olav, du kommst mit mir.«

Olav nickte und stand wortlos auf. Schon während des Rauskommens streifte er den Fellmantel über und rückte die Mütze zurecht.

»Wo sollen wir suchen?«, fragte Olav.

Tuoma betrachtete ihre Umgebung. Rund um sie herum türmten sich Eisblöcke auf. Es gab keine Richtung, in der etwas Besonderes lag. Sonnenwärts leuchtete der letzte schwache Schein der Sonne, dunkelwärts drohte die Finsternis. Der Anblick hatte sich seit Beginn ihrer Expedition nicht gewandelt.

»Dorthin sind Jörgen und Kristian gegangen«, sagte Tuoma und deutete grob dunkelwärts. »Dann gehen wir einfach sonnenwärts.«

Olav nickte und straffte den Schal um Kinn und Nase. Wenn sie längere Zeit der Kälte ausgeliefert waren, mussten sie den Körper schützen. Tuoma wandte sich um und ging auf einen der Eisblöcke zu. Als er das Lager verließ, griff er nach einer Lampe. Die Geräusche ihrer Schritte im Schnee klangen laut in seinen Ohren. Der Wind war eingeschlafen, und von den anderen hörte Tuoma nichts.

»Da«, rief Olav aus und deutete nach rechts.

Tuoma blickte hin und erkannte, worauf Olav ihn hinweisen wollte. Es gab Spuren. Ein einzelner Mann war durch den Schnee gelaufen und mit seinen Schuhen eingesunken. Schnurgerade verlief die Fährte am Hügel aus Eis vorbei. Entschlossen folgten sie den Zeichen im Schnee. Tuoma ging um das Eis herum, immer den Spuren hinterher. Plötzlich tauchte im Schein der Lampe ein Schatten auf. Das Licht wurde sonst reflektiert, aber hier existierte ein dunkler Fleck.

Und ich habe keine Waffe dabei, verfluchte Tuoma seinen Leichtsinn. Er hatte nicht daran gedacht, sich zu bewaffnen. Für einen kurzen Augenblick überlegte er, ob er umkehren sollte, um sein Gewehr zu holen, verwarf den Gedanken aber. Wenn das Ding ihnen feindlich gesonnen war, war es längst zu spät.

»Wer ist da?«, rief er.

Der Umriss veränderte sich nicht, und Tuoma beschloss, näher heranzugehen. Er hob die Lampe höher, die Lichtausbeute blieb jedoch gleich. Es waren keine Einzelheiten zu erkennen.

Es ist ein Mensch, dachte Tuoma und atmete auf. Das muss Roald sein.

Erleichtert näherte er sich dem Unbekannten. Als das Licht der Lampe endlich voll auf den Fremden fiel, erkannten sie die Gesichtszüge von Roald. Er hatte die Augen geschlossen und wirkte entrückt, als könne nichts ihn stören.

»Roald?«, rief Olav.

Der Hundeführer rührte sich nicht. Tuoma erinnerte sich an den Hund, der tot im Schnee gelegen hatte. Er entdeckte diesmal jedoch kein Blut, und Roald saß aufrecht. Sein Körper lag nicht leblos auf dem Boden.

Sie hatten sich so weit genähert, dass sie unmittelbar neben ihm standen. Tuoma streckte den Arm aus, um ihn an der Schulter zu fassen, zuckte aber zurück. Es war nicht normal, dass sich ihr Begleiter nicht bewegte.

Endlich überwand sich Tuoma und schüttelte den Mann an der Schulter. Zuerst gab es keine Reaktion, aber dann öffnete Roald die Augen und blickte sie an. Tuoma und Olav wichen zurück. Der Schein der Lampe tanzte über das Eis.

»Was macht ihr hier?«, wollte Roald wissen.

Tuoma stöhnte auf. »Das sollten wir dich fragen. Wieso hast du dich aus dem Lager entfernt?« Empörung klang aus seiner Stimme.

»Ich wollte die Energie an diesem Ort fühlen«, erklärte Roald. »Könnt ihr sie auch spüren?«

Fassungslos starrten Tuoma und Olav den Hundeführer an. Tuoma glaubte, sich verhört zu haben. Er hatte gewusst, dass Roald irgendwelchen Verrücktheiten nachhing, aber er hatte nicht geahnt, dass er ihn irgendwann alleine in der Eiswüste finden würde.

»Was für Energie?«, fragte Tuoma.

Roald stand auf und breitete die Arme aus. »Dieser Ort ist erfüllt von Energie. Wenn man meditiert, kann man Zugang dazu erlangen. Ihr müsst es unbedingt versuchen.«

Olav drehte sich um und ergriff Tuoma am Handgelenk. Er zog den Anführer der Expedition mit sich.

»Lass uns hier verschwinden, bevor ich auch noch verrückt werde«, meinte er, und Tuoma sah, dass sich sein Freund ein Lachen verkniff.

Tuoma blickte zurück und rief: »Du kannst hier nicht alleine bleiben. Es ist zu gefährlich, du musst ins Lager zurückkommen.«

Roald setzte sich wieder und schloss die Augen. Tuoma schüttelte den Kopf. Ich bin nur von Verrückten umgeben, dachte er.

*