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Arjan, geboren im Jahre 973 n.Chr. in Winaam in der Provinz Fryslân, wird vom Göttervater Odin eine Prophezeiung in Form eines Orakels in die Wiege gelegt. Arjan wird dazu bestimmt, die Provinz Fryslân zu erhalten als auch die von Kaiser Karl dem Großen an die tapferen Friesen verliehene "Friesische Freiheit" zu stärken und zu bewahren, damit beides noch in tausend Jahren Bestand haben soll. In Shiran, einer entführten Byzantinerin, findet Arjan nicht nur eine Seelenverwandte, sondern seine einzig große Liebe. Beide kämpfen Seite an Seite gemeinsam mit den Menschen aus der Provinz Fryslân für Frieden und Freiheit. Thyra, eine Nichte des norwegischen Königs Olav Tryggvason, will aus Neid und Machtgier die Erfüllung des Orakels unter allen Umständen verhindern.
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Seitenzahl: 886
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Arjan
Das Orakel von Fryslân
Band 1
Monique Lhoir
Das Orakel von Fryslân
Band 1
Historischer Roman
aus der Provinz Fryslân
Impressum
Texte: © 2024 Copyright by Monique Lhoir
Umschlag: © 2024 Copyright by Monique Lhoir
Verantwortlich
für den Inhalt: Monique Lhoir
21395 Tespe OT Bütlingen
Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH,
Berlin
Einleitung
Frieden und Freiheit sind hohe Ideale, die die gesamte Menschheit seit vielen hundert Jahren anstreben, sich stets wünschen, dafür leben und vor allem dafür sterben –doch bislang ist noch niemand auf eine Ideallösung gekommen. Die Menschen leben weiterhin in Abhängigkeit, in Sklaverei und im Krieg.
In meinen zwei Bänden „Das Orakel von Fryslân“ und „Die friesische Freiheit“ gehe ich in leichter und lockerer Form auf diese Themen ein. Dem Knaben Arjan, geboren um 973 in Winaam in der Provinz Fryslân wird „Das goldene Orakel von Fryslân“ in die Wiege gelegt, das besagt: „Eine Frau mit goldenen Haaren wird dir ewige Liebe, deinem Land ewigen Frieden und Freiheit schenken. Hüte sie stets gut und lass sie niemals aus den Augen, denn kriegerische Mächte aus dem Norden wollen dir dein Glück streitig machen. Handele weise und überlegt, lass dich nicht durch Walküren blenden, denn sonst trittst du als Einherjer durch das Totentor in Odins Reich ein und dein Volk ist verloren. Doch nimm dich in Acht. Bevor du die Liebe der Frau mit den goldenen Haaren erringen kannst, wird dich der Dolch der Habgier und des Neides tödlich treffen. Einzig die Kraft der Liebe dieser Frau wird dein Leben retten.“
Ich nahm das Thema „friesische Freiheit“ (Fryske frijheid) auf, weil es nach wie vor aktuell ist. Angeblich hat dieses Recht Karl der Große den Friesen verliehen, nachdem sie im 9. Jahrhundert vollkommen und unerwartet für ihren König Karl die Römer besiegten. Karl war so begeistert, dass er seine tapferen friesischen Krieger mit dem höchsten Gut belohnte: Freiheit. Um diese „Friesische Freiheit“ ranken sich viele Legenden. Es ist nicht nachgewiesen, dass sie tatsächlich von Karl dem Großen verliehen wurde, aber es wurde hartnäckig daran festgehalten. In der Blütezeit umfasste sie 17 Küren und 24 Landrechte, die stets erweitert wurden, z.B. aus weiteren 145 Kapiteln sowie Auszüge des Emsiger Pfennigschulbuches, weiteren 298 Kapiteln um Verwandtschaft, Adoption, Ehe- und Erbrecht, Testamenten, Näherkauf und Landheuer und schließlich noch einmal 123 Kapitel über Bußtaxen und weiteren Rechten. Bei dieser Betrachtungsweise waren die Küren wohl der Vorreiter unserer heutigen umfassenden Gesetzgebung.
Meine historische Liebesgeschichte agiert in den Jahren 1001-1010 in der Provinz Fryslân. Das goldene Orakel von Fryslân spielt darin eine zentrale Rolle, rund um die friesische Freiheit, um Frieden und um den Deichbau, denn das Wasser war und ist der größte Feind der friesischen Länder.
Weiterhin stammen meine zentralen Figuren einerseits aus der Provinz Fryslân im Norden und andererseits aus Konstantinopel, dem damaligen Byzanz, heute Istanbul in der Türkei. Gerade im Zeitraum um 1000 herum gab es nicht nur landschaftlich, sondern insbesondere kulturell und wirtschaftlich große Unterschiede. Gleichzeitig fand in diesem Zeitraum die Christianisierung im deutsch-römischen Reich statt.
Noch heute finden wir Spuren der friesischen Freiheit, insbesondere in Ostfriesland mit der Thingstätte Upstalsboom, aber auch in der Provinz Fryslân, allein schon mit der Tatsache, dass der alte friesische Name Fryslân offiziell anerkannt sowie auch die friesische Sprache weitestgehend erhalten geblieben ist und praktiziert wird.
In meinem Roman vermische ich fiktive mit realistischen historischen Personen wie König Æthelred von England, König Sven Gabelbart von Dänemark, König Olav Tryggvason von Norwegen, Kaiserin Theophanu, die mit Otto dem II., römisch-deutscher Kaiser, verheiratet war. Ihr Sohn Otto III. wiederum sollte Zoé, Tochter des byzantinischen Kaisers Konstantin, heiraten. Otto der III. starb allerdings kurz vorher. Ferner spielt Karl der Große eine wesentliche Rolle in der Friesischen Freiheit, die er angeblich den siegreichen Friesen verliehen hat. Ebenfalls werden kleinere geschichtliche Begebenheiten aus den Jahren 1001-1010 angesprochen, in denen meine Protagonisten und Antagonisten agieren.
Nicht zuletzt spielt die Liebe eine wesentliche Rolle, sowie der Glaube an die damaligen Götter, denn erst um diese Zeit begann die Christianisierung.
Mit Absicht habe ich meine Protagonisten aus dem Heiligen Römischen Reich, das sich besonders unter den Ottonen gebildet hatte, und aus dem Oströmischen Reich unter Kaiser Basileios genommen, da ich hier enorme kulturelle Unterschiede beschreiben konnte.
Nichtsdestotrotz stellte ich fest, dass sich in mehr als eintausend Jahren im Prinzip nichts geändert hat, was Frieden und Freiheit anbelangt. Gerade jetzt kriselt und brodelt es überall um uns herum und nicht einmal im eigenen Land herrschen Frieden und Freiheit. Auch die Kriege sind nicht weniger geworden, nur grausamer.
So bleibt uns allen nur, uns Frieden und Freiheit zu wünschen, so, wie es Arjan von Fryslân im Jahre 973 n.Chr. in einem Orakel vom Göttervater Odin in die Wiege gelegt wurde.
Ich bedanke mich bei Arjan van der Cingel aus der Provinz Fryslân in den Niederlanden, der mir seit vielen Jahren bei umfangreichen Recherchen behilflich gewesen ist.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung7
Oktober 1001 Entführung von Byzanz nach Fryslân17
Mitte Februar 1002 im Hafen von Harlinga35
Arjan von Fryslân45
Shiran von Ophir70
Meister Eilert80
Das Orakel von Fryslân84
Ende Februar 1002 Ragund der Däne115
Seekampf144
Arjan von Fryslân darf nicht sterben155
Mitte April 1002 – Arjan und Shiran206
Das goldene Orakel von Fryslân234
Mai 1002 – Abschied von Fryslân317
Upstalsboom337
Oktober 1002 auf Ophir372
Reise nach Fryslân und Invasion Sven Gabelbart407
Rückkehr nach Fryslân448
Heirat in Fryslân469
Krieg gegen die Angelsachsen507
Arjan in englischer Gefangenschaft517
Tod durch das Beil539
Ende Oktober 1003 Sturmflut554
Shiran, Tochter des Ostkaisers Basileios II.568
Januar 1004 Geburt von Arjan Konstantin574
Upstalsboom und Thyra Tryggvason585
November 1004 Große Sturmflut604
Thyra Tryggvason628
April 1005 Sturmflut und Entführung675
Shiran in Thyras Gewalt721
Shiran lebt774
Shirans Befreiung820
Shiran segelt nach Byzanz853
Personen864
Orte874
Begriffe883
Inhalt
Mon Desir
(Meine Sehnsucht)
Du bist wie ein sanfter Hauch,
wie eine zärtliche Berührung,
kaum wahrnehmbar im Universum.
Du bist wie ein sachter Wind im Sommer,
unausweichlich spürbar.
Du bist wie ein intensives Leben,
von dem man glaubt,
dass es heut' nicht mehr vorhanden sei.
Und doch ist es da!
Wenn ich die Augen schließe,
dem beruhigenden Flüstern der Wellen lausche,
die stillen, nachdrücklichen Gefühle spüre,
dein Verstehen auf dem Meer genieße -
dann weiß ich, was es heißt zu leben.
(© Arjan H. van der Cingel)
Oktober 1001 Entführung von Byzanz nach Fryslân
„Bei den Göttern, was geht hier vor?“ Die zwanzigjährige Byzantinerin Shiran Eudokia eilte die Stufen des Palastes hinunter, die in die weiträumige, vom Sonnenlicht durchflutete Halle mündeten. An die dreißig Krieger der kleinen Mittelmeerinsel Ophir hatten sich bereits darin versammelt. Wortreich diskutierten die Männer und rannten aufgeregt hin und her. Edelknappen sowie Schildträger reichten den Kämpfern Schwerter, Dolche und Streitäxte. Die harten Metalle schepperten aneinander und verursachten einen ohrenbetäubenden Lärm.
Shiran blieb auf der vorletzten Stufe stehen und suchte nach Pedros Theodosios, ihrem Ehemann. Als sie ihn erspähte, bahnte sie sich einen Weg durch die gestikulierenden Männer, die Shiran im Gegensatz zu sonst kaum wahrnahmen. Bevor sie Pedros erreicht hatte, rief sie erbost: „Was hat dieser Aufstand zu bedeuten?“ Herrisch wies sie mit dem Arm über die Männerschar.
„Fremdländische Schiffe ankern vor Ophir. Sie rudern in kleinen Schaluppen auf die Insel zu und sind mit reichlich Männern besetzt.“ Auf Pedros Stirn bildeten sich tiefe Falten.
Instinktiv fühlte Shiran, dass ihr Mann sich große Sorgen machte. „Gäste?“, fragte sie leise. Beschämt über ihren unbeherrschten Ausbruch senkte sie demütig den Kopf.
„Offensichtlich keine Freunde. Sie sind bis zur Halskrause bewaffnet.“ Pedros sah seine junge Frau lange mit einem eigenartigen Ausdruck an, sodass Shiran ein kalter Schauer über den Rücken lief. „Bleib mit den Frauen im Palast, verriegelt alle Türen!“, befahl er mit harter Stimme. Sanft küsste er sie zum Abschied auf die Stirn. Abrupt wandte er sich um, als ob er sich für diese Sentimentalität vor seinen Männern schämte, nickte seinen Kriegern entschlossen zu und stürmte hinaus.
Wütend stampfte Shiran mit dem Fuß auf. Sie hasste es, wenn ihr jemand Befehle erteilte. Auch Pedros Theodosios durfte sich das nicht erlauben. Trotzig warf sie den Kopf in den Nacken, raffte die Röcke und rannte zum Turm, anschließend die ausgetretenen Steinstufen hinauf, um das gerade Gehörte von den Zinnen des Palastes aus in Augenschein zu nehmen. Mira, ihre Zofe und engste Vertraute, lief ihr über den Weg. „Pedros befiehlt, dass du dich mit den anderen Frauen einschließen sollst!“, rief Shiran ihr über die Schulter zu.
„Und Ihr, Herrin!“ Mira eilte hinter Shiran her.
„Tue, wie dir geheißen.“ Shiran fixierte das Mädchen streng aus den Augenwinkeln und hastete weiter. Oben angekommen schnaufte sie kräftig durch und blickte über die Zinnen. Ein klobiges Schiff mit gerafften Segeln ankerte wie eine Bedrohung in der kleinen Bucht, die normalerweise wegen ihres hellblauen, klaren Wassers eher zum Träumen einlud. Seltsam vermummte Gestalten zogen in diesem Moment kleine Kriegsboote auf den leuchtend gelben Sandstrand, der kurz vor den Außenmauern des Palastes mündete. Mit Schwertern und Streitäxten bewaffnete Männer stürmten den felsigen Weg hinauf, geradewegs auf das breite, ungesicherte Palasttor zu.
‚Pedros hatte Recht‘, gab Shiran kleinlaut zu, ‚wie Freunde sahen diese Kerle tatsächlich nicht aus.‘ Ein ungutes Gefühl beschlich sie, als ob sich jeden Moment die Welt ins Umgekehrte wenden und Shiran in einen tiefen Abgrund stürzen würde. Sie begann trotz der flirrenden Hitze zu frieren, war kaum in der Lage, sich zu bewegen. Angst! Sie hatte schreckliche Angst, weil sie unweigerlich spürte, dass etwas Unheilvolles auf sie zukam.
‚Barbaren, schoss es Shiran durch den Kopf, bei diesen hoch gewachsenen Männern handelte es sich eindeutig um die von ihrem Volk gefürchteten Barbaren oder gar um Wikinger aus dem fernen Norden. Von ihrem Vater hatte sie viel über diese heidnischen Wilden gehört, nie aber selbst welche zu Gesicht bekommen.
Wie hypnotisiert beobachtete Shiran das Geschehen. Pedros und seine Krieger verließen gerade das Hauptgebäude und betraten den inneren Hof des Palastes. Der gegenüber den Barbaren fast zierlich wirkende Herrscher von Ophir blieb breitbeinig vor dem Portal stehen, als ob er mit seinem Körper die Festung und damit sein Reich schützen könnte. „Halt!“, rief er laut über den Vorplatz, sodass es von den Steinwänden widerhallte, „wer seid Ihr und was wollt Ihr.“
Shiran meinte, statt einer Antwort ein hämisches Lachen aus den rauen Kehlen der groben Männer zu vernehmen.
„Ihr befindet Euch auf der kleinen Insel Ophir des byzantinischen Reiches. Wir sind ein friedliches Volk. Ich, Pedros Theodosios von Ophir, Vertreter unseres mächtigen Kaisers Basileios, heiße Euch in seinem Namen herzlich willkommen.“
Neugierig beugte sich Shiran weiter vor, um besser sehen zu können. Sonnenstrahlen trafen auf ihr Haupt. Ihre hellen Haare blitzten wie pures Gold auf. Die Ankömmlinge blieben abrupt stehen, hielten ihre Hände wie einen Schirm über die Augen, als ob sie geblendet würden, und schauten zu ihr hinauf. Erschrocken sprang Shiran einen Schritt zurück.
„Ich bin Rolof von Wuxalia, Vertreter der westfriesischen Küste des Heiligen Römischen Reiches und im Auftrag meines Herrn, Arjan von Fryslân, unterwegs“, dröhnte die Stimme eines Mannes von gewaltiger Größe, offenbar der Anführer der Horde, zu Shiran hinauf. Die junge Frau wunderte sich, dass der Krieger, wenn auch gebrochen, in ihrer Sprache antwortete. Während er redete, wandte er seinen Blick nicht von Shiran ab. Sie meinte, sogar ein bewunderndes Funkeln in seinen Augen zu erkennen. Fast unmerklich nickte er anerkennend, gleichzeitig umspielte ein amüsiertes Lächeln seine Lippen.
„Arjan von Fryslân?“, fragte Pedros. „Ist er einer der Westkönige?“ Pedros wusste, dass der letzte Westkaiser, Otto der Dritte, erst kürzlich von aufständischen Rebellen aus Rom vertrieben worden und weiter nach Norden gezogen war.
Rolof von Wuxalia lachte aus vollem Halse. „Du kennst meinen Herrn nicht?“
„Aus welcher Provinz kommt Ihr?“, fragte Pedros betont ruhig. „Dies scheint kein Freundschaftsbesuch zu sein.“ Der Herrscher von Ophir deutete mit dem Kopf auf die bewaffneten Männer.
„Das liegt an dir.“ Rolof von Wuxalia trat einen Schritt vor. „Wir entstammen dem Volk der freien Friesen und unterliegen nicht den Weisungen des Heiligen Römischen Kaisers.“
Pedros ließ sich nicht beirren und fragte in ruhigem Ton weiter: „Welches Anliegen führt Euch auf unsere kleine Insel?“
„Wir wollen uns den Schatz des Königs Salomon holen, der sich auf Ophir befinden soll.“ Rolof trat einen weiteren Schritt vor. „Wo ist er?“
„Mein Land besitzt keine Schätze.“ Pedros kreuzte die Arme vor der Brust.
„In den nordischen Ländern wird erzählt, dass in Ophir die Flüsse Gold tragen, in den Bergen edle Steine versteckt sind und hier der Schatz der Königin von Saba vergraben sein soll. Ragund, ein weiser dänischer Seefahrer, berichtete uns darüber.“ Rolof nahm sein Schwert wie zum Angriff hoch. Seine Mannen taten es ihm gleich. Mit einer Handbewegung gebot der Barbar seinen Kriegern, hinter ihm zu bleiben. „Wir werden dich und deine Leute nicht angreifen, wenn ihr uns freiwillig den Weg weist.“
„Ich sagte bereits, dass wir keine Schätze besitzen. Unsere Insel ist klein. Wir leben von dem, was wir selbst erwirtschaften. Das Ophir Eures Seefahrers liegt hinter dem großen Meer, weit im Inneren eines heißen Landes, das wir nie betreten haben. Auch ich habe von diesem sagenhaften Schatz gehört.“
„Du lügst!“ Rolof verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Ragund hat uns den genauen Weg aufgezeichnet.“
„Der Seefahrer irrt. Ihr müsst durchs Rote Meer nach Ägypten, zum Hafen Ezjon-Geber. Von dort aus reitet weiter übers Land bis Ophir. Vielleicht werdet Ihr an diesem Ort die Schätze finden, die Ihr sucht.“ Pedros machte eine einladende Bewegung. „Lasst Euch in meinem Haus bewirten. Überzeugt Euch selbst, dass ich Recht habe. Unsere Ratgeber werden Euch bei der weiteren Reise behilflich sein.“ Pedros neigte ehrerbietig sein Haupt und wandte sich zum Palasttor, um zurückzugehen.
„Nein! Pedros! Tue es nicht. Lass diese Männer nicht in den Palast. Sie werden dich töten!“, schrie Shiran von der Zinne. „Ich weiß es. Ich sehe Tod und Kummer über unser Volk hereinbrechen – und über die Nordvölker ebenfalls.“
Im gleichen Moment flog ein Speer durch die Luft. Einer von Pedros Männern sackte stöhnend zusammen. Überrascht zog der Herrscher Ophirs sein Schwert, doch ehe er richtig begriff, was um ihn herum vorging, war Rolof von Wuxalia bei Pedros Theodosios und stieß ihm einen Dolch in den Leib.
Shiran schrie gellend auf, raffte die Röcke und rannte die Stufen des Turmes hinunter. Als sie durch das Palasttor trat, lagen die Krieger ihrer Insel in ihrem Blut. Sie waren durch die Angreifer rücksichtslos niedergemetzelt worden. Suchend schweifte Shirans Blick über das Schlachtfeld. Überall Blut und schreiende Männer, die im Sterben lagen.
„Shiran.“ Pedros richtete mühsam den Oberkörper auf. „Bring dich in Sicherheit. Ich könnte es nicht ertragen ...“
Shiran bahnte sich einen Weg durch die sterbenden Leiber, rannte zu ihm und bettete seinen Kopf in ihren Schoß. „Bei den Göttern, was haben diese Wilden, diese Barbaren angerichtet? Warum dieses Massaker? Ich verstehe nicht.“ Mit zittrigen Fingern strich sie sanft über Pedros Gesicht und seine schweißfeuchten Haare.
„Shiran, versprich mir ...“ Pedros Stimme erstarb zu einem Flüstern, „... versprich mir, sei gut zu den Menschen, schütze und liebe sie, so, wie es unser Volk verlangt, so, wie wir es uns immer gewünscht haben.“ Pedros Stimme wurde leiser. „Deine Kraft, Shiran, deine Kraft der Liebe ...“, er atmete schwer, „... ist der Schatz der Insel Ophir.“
„Ich verspreche es, Pedros“, wisperte sie an seinem Ohr. „Aber mit deinem Tod wird es keinen Schatz von Ophir mehr geben. Meine Kräfte und meine Liebe sterben mit dir.“ Tränen rannen ihr über die Wangen und benetzten Pedros Lippen. „Wie gerne hätte ich dir einen Sohn geschenkt, der mit dem Namen Theodosios dem byzantinischen Reich zu Ruhm und Ehre verholfen hätte“, flüsterte Shiran an seinem Gesicht. Eine Wolke schob sich vor die Sonne und verdunkelte den Innenhof des Palastes. In diesem Moment brachen Pedros Augen und starrten leblos in den Himmel.
„Steh auf!“ Aus den Augenwinkeln erkannte Shiran Rolof von Wuxalia, der neben ihr stand. Sie rührte sich nicht, sondern streichelte gleichmäßig, wie in Trance, über Pedros Antlitz.
„Steh auf, sage ich. Du siehst doch, dass er tot ist.“ Rolof zerrte an Shirans Arm.
Sie schüttelte seine Hand ab. „Fasst mich nicht an“, sagte sie voller Hass. „Ihr habt kein Recht, mich zu berühren“, fauchte sie wie eine wilde Katze. Langsam richtete sie sich auf. Shiran war mindestens einen Kopf kleiner als Rolof. Mit erhobenem Haupt sah sie ihm gebieterisch in die Augen. „Warum habt Ihr das getan?“, fragte sie herablassend, „ist das die Art, Eure Stärke zu beweisen? Wie armselig ihr Barbaren doch seid.“ Verächtlich spuckte sie auf den Boden.
„Schweig!“ Rolof zog seinen Dolch.
„Nur zu. Tötet mich“, sagte Shiran gleichgültig. „Ich hänge nicht mehr an diesem Leben.“
Rolof steckte den Dolch langsam in seinen Hosenbund. „Das sagst du jetzt. Morgen sieht alles anders aus. Du bist jung und schön, sogar eine sehr seltene Schönheit, wie ich sie noch nie zuvor sah. Und wie ich gerade hörte, bist du der Schatz von Ophir.“ Rolof fasste Shiran in die Haare und ließ eine Strähne genüsslich durch seine Finger gleiten.
Shiran trat einige Schritte zurück. „Ihr hättet Pedros Glauben schenken können. Mein Reich besitzt keine Schätze der Art, wie Ihr sie erwartet habt. Schickt Eure Männer aus und lasst alles durchsuchen. Überzeugt Euch selbst.“ Sie wandte sich um und ging mit gesenktem Kopf zum Palasttor zurück.
„Du bleibst hier!“, herrschte Rolof sie an.
„Was wollt Ihr noch? Unsere Flüsse tragen kein Gold, in unseren Bergen gibt es keine Edelsteine und den Schatz der Königin von Saba werdet Ihr auf dieser Insel nicht finden.“ Shiran straffte den Rücken und warf ihre langen Haare in den Nacken. „Sucht Euer Glück woanders. Hier findet Ihr keine Reichtümer.“
Rolof schlenderte langsam auf sie zu. „Du bist eine außerordentlich begehrenswerte Frau.“ Er strich ihr erneut über die Haare. „Niemals zuvor habe ich eine solche Farbe gesehen“, sagte er leise. „In der Sonne blitzt es wie gesponnenes Gold.“
„Der Glanz meiner Haare ist mit Pedros Tod für immer verblasst.“ Sie schlug seine Hand weg und blickte ihm lange durchdringend ins Gesicht. Plötzlich wich sie erschauernd einen Schritt zurück.
„Was ist?“, fragte Rolof verunsichert.
Shiran ließ ihn nicht aus den Augen. Langsam senkte sie die Lider. „Ich sehe Tod und Trauer“, sagte sie leise. „Auch Euer Leben und das Leben Eurer Landsleute wird nicht mehr lange währen. Euer Land fällt eines Tages dem Meer zum Opfer und verschwindet für immer in den Fluten.“
„Wer oder was bist du?“ Rolof, der gerade auf Shiran zugehen wollte, hielt in seinem Schritt inne. „Eine Hexe?“
„Hexe?“ Shiran sah ihn forschend an. „Was ist Hexe? Ich kenne das Wort nicht.“ Sie drehte sich erneut um.
„Du bleibst.“ Rolof griff nach ihrem Arm. „Wenn meine Männer keinen Schatz finden, werden wir dich und deine Mädchen mit in unser Land nehmen. Arjan von Fryslân wird mich und meine Leute verachten, wenn wir erfolglos zurückkommen.“
„Euer Herrscher wird keine Freude an Eurer Beute haben.“ Shiran reckte stolz den Kopf. „Wir sind es nicht gewohnt, Befehle entgegenzunehmen. Die Frauen meiner Insel werden von ihren Männern geliebt, nicht benutzt.“
Rolof von Wuxalia zog Shiran an sich und umschlang sie. „Wer bist du?“, flüsterte er an ihrem Ohr. „Eine Königin, eine Priesterin oder eine Göttin, dass du so redest?“
„Lasst mich.“ Shiran presste ihre Hände gegen seine Brust. „Ich bin weder das eine noch das andere. Ich bin Byzantinerin. Ich werde niemals Euer Eigentum.“
„Das will ich erleben.“ Rolof von Wuxalia lachte lauthals. „Du gefällst mir ausgesprochen gut. Ich liebe Kämpfe und widerspenstige, schöne Weiber, die ich auf dem Lager bezwingen muss.“
* * *
„Durchsucht die Burg!“, befahl Rolof von Wuxalia seinen Kriegern. „Wir nehmen zwanzig Mädchen dieses Aussehens mit in die Provinz Fryslân.“ Er drehte Shiran den Arm auf den Rücken und gab sie somit den Männern preis. „Ich freue mich auf den Moment, wenn ich mit ihr auf meinem Lager kämpfen kann!“, rief er laut über den Innenhof, legte seine Wange an ihr Gesicht und strich flüchtig mit dem Finger über ihren Mund. Shirans Atem beschleunigte sich, als seine Lippen fast die ihren berührten. Im letzten Moment lockerte er seinen Griff, richtete sich auf und zischte für seine Mannen unverständlich: „Ich bringe dich jetzt auf die Toner.“
Stahlhart umfasste er ihr Handgelenk, zog sie durch das äußere Palasttor, dann rasch die Felsen hinunter zur Bucht. Mehrere kleine Schaluppen lagen auf dem Sand. Rolof zwang Shiran, in eines der Boote einzusteigen, und sprang anschließend selbst hinein. Zwei Männer ruderten auf das offene Meer zu, wo die Toner vor Anker lag.
Traurig schaute Shiran zur Küste, die steinige Anhöhe hinauf, die mit bunten, blühenden Sträuchern bewachsen war, weiter zum Burginnenhof, in dem Petros und die toten Männer lagen. Mit Schaudern sah sie, wie der Palast, ihr Zuhause, kleiner und kleiner wurde. Erst, als sie die Toner erreichten, wendete sie den Blick ab. Das schwere und unförmige, aus Eichenholz gebaute Schiff machte seinem Namen alle Ehre – eine große „Seezunge“ bei schwerem Unwetter.
Rolof von Wuxalia gebot Shiran, vor ihm die Hanfleiter hochzuklettern. Ein an Bord gebliebener Krieger half ihr aufs Schiff. „Dort hinunter.“ Rolof packte Shiran am Oberarm und zerrte sie hinter sich her. „Die anderen Mädchen werden später folgen.“ Er schob sie in einen dunklen, nach Salz, Fisch und vermodertem Holz riechenden niedrigen Lagerraum unter dem Deck. „Eigentlich schade, dich hier einzusperren“, flüsterte er an ihrem Hals, „aber ich kann dich wegen der Männer nicht oben lassen, wenn ich die Toner heil nach Fryslân bringen will.“ Mit einer Sanftheit, die Shiran diesem Grobian, der Pedros ohne mit der Wimper zu zucken getötet hatte, nicht zutraute, strich er ihr mit dem Zeigefinger über die Lippen. Bevor sie zubeißen konnte, wandte er sich laut lachend ab, sprang die wenigen Stufen hinauf und verriegelte die Ladeluke.
Unschlüssig blieb Shiran gebückt in dem stinkenden Rumpf des Schiffes stehen, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Vorsichtig tastete sie mit den Füßen über den glitschigen Boden. Sie erreichte die Bootswand, lehnte den Rücken an das feuchte Holz und rutschte langsam daran hinunter.
Mit beiden Armen umschlang sie die Knie, legte den Kopf darauf und begann zu weinen. Erst jetzt drang die gesamte Tragweite des Geschehens in ihr Bewusstsein. Pedros war tot, die Krieger von Ophir dahin gemetzelt und sie selbst in der Hand dieses Barbaren. Viele der Mädchen würden ihr folgen und damit nicht nur ihre Freiheit, sondern auch ihre Geliebten, Freunde und ihre Heimat verlieren – ein Leben in Sklaverei.
Die Zeit schien ihr endlos, bis sie plötzlich vernahm, dass offenbar weitere Boote anlegten. Das Weinen und Schreien der Frauen ihrer Insel tat ihr in den Ohren weh. Ohnmächtig vor Wut trommelte Shiran wild mit den Fäusten auf den Boden der Toner.
Die Luke wurde geöffnet. Sonnenlicht schien herein und blendete sie. Krieger schoben brutal die sich wehrenden Frauen durch die schmale Öffnung. Ein paar von ihnen stolperten und fielen Shiran direkt vor die Beine. Wie Vieh pferchte man sie in den Laderaum unter Deck ein, bevor die Luke mit einem Knallen geschlossen wurde. Laute Befehle, hektisches Getrampel und das Ankerholen kündigten das bevorstehende Auslaufen des Schiffes an.
„Beruhigt euch“, sagte Shiran in besänftigendem Ton, der trotzdem das Gejammer der Frauen übertönte. „Noch ist nicht alles verloren. Wir werden in unsere Heimat zurückkehren.“
Shiran glaubte selbst nicht an ihre Worte, aber das Weinen der Mädchen wurde leiser, bis sie ab und zu nur noch ein Aufschluchzen vernahm.
Eine Hand berührte Shirans Arm. Undeutlich erkannte sie Miras Gesicht dicht neben sich.
„Was werden sie mit uns machen?” Die junge Dienerin riss Shiran aus ihren Gedanken.
„Ich weiß es nicht.“ Sie streichelte Mira sanft über die tränenfeuchten Wangen. Das Mädchen zitterte am ganzen Körper.
„Werden sie uns töten?“, bangte ein anderes Mädchen.
„Das werden sie nicht wagen“, sagte Shiran fest.
„Warum schleppen sie uns fort? Und wohin bringen sie uns?“, bohrte das Mädchen weiter.
Shiran biss sich auf die Lippen und gab keine Antwort. Sie ahnte, was passieren würde. Pedros hatte oft von nördlichen Heiden und ihrer Rohheit erzählt und sie vor allzu viel Leichtsinn gewarnt. Ihr Vater kämpfte seit Jahren gegen die Bulgaren und Slawen, weil sie immer wieder in Byzanz einfielen. Barbarische Seefahrer und rücksichtslose Wikinger raubten die Frauen und Mädchen ihrer Heimat und brachten sie als Sklavinnen in nördliche Länder. Dort wurden sie für immer gebrandmarkt, indem man ihnen ein glühendes Eisen auf die Haut drückte. Bei dem Gedanken lief Shiran eine Gänsehaut über den Rücken.
„Warum sagt Ihr nichts, Herrin“, erinnerte das Mädchen Shiran daran, dass sie ihr eine Antwort schuldig war.
„Ich weiß nicht, wohin sie segeln. Aber sie werden uns bestimmt nicht töten“, versicherte Shiran, denn sie wollte dem jungen Mädchen nicht alle Hoffnungen nehmen. Wenn sie Glück hatten, würden sie an reiche Herren in Fürstentümern verkauft, im schlimmsten Falle gezwungen werden, in Freudenhäusern als Huren den Männern zur Verfügung zu stehen und deren Wünsche zu erfüllen. Doch daran wollte Shiran jetzt nicht denken. Das Mittelmeer war salzig von den Tränen solcher Frachten, wie sie es waren, überlegte sie traurig, getränkt vom Leid und dem Seufzen der Verzweifelten, von Heimweh und Trauer um die Getöteten zu Hause. Frauen als Handelsware barbarischer Seefahrer.
Inzwischen war ihr auch das gleichgültig. An Flucht zu denken war aussichtslos. Mitten auf dem Meer, ohne Schiff, ohne Waffen und Nahrung würde niemand von ihnen überleben. Also beschloss sie, die endlose Zeit zu nutzen, um Pedros Tod zu betrauern.
Das Meer wurde unruhiger. Die Toner schleuderte hin und her, ächzte in den Balken, brach tosend die Wellen. Viele Frauen mussten sich übergeben oder bekamen Durchfall. Niemand kam, um zu reinigen, niemand reichte frisches Wasser. Der Gestank nach Fäkalien und Urin wurde von Tag zu Tag beißender, war am Ende kaum noch zu ertragen. Doch auch das war Shiran gleichgültig geworden. Wenn sie nur sterben könnte, so wie Pedros, dann wäre sie im Reich der Götter glücklich mit ihm vereint.
Aber sie starb nicht. Schließlich wusste sie nicht einmal mehr, wie lange sie schon gesegelt waren. Stunden, Tage, Wochen? Ab und zu schob einer der Männer Nahrung durch die Luke und warf grobe Hanfdecken gegen die Kälte in den Laderaum. Dann verschloss er den Deckel rasch wieder, wohl aus Angst, von einer Seuche heimgesucht oder von wütenden Dämonen geschnappt zu werden.
Eines Tages, nach einer Ewigkeit, öffnete sich erneut die Luke und ließ Licht in den Rumpf. Gespannt sah Shiran in die Helligkeit. Rolof von Wuxalia stieg die paar Stufen hinunter und betrat geduckt den Bauch der Toner. Er musste den ätzenden Gestank unweigerlich riechen, aber er schien völlig unbeeindruckt. Kein Muskel in seinem Gesicht bewegte sich, kein Verziehen des Mundes zeigte seinen Ekel an. „Wir laufen bald in Harlinga ein. Macht euch bereit!“, befahl er.
Shiran stand langsam auf. Ihre Glieder schmerzten. Wie eine hölzerne Puppe ging sie zögernd auf Rolof zu. „Wo werdet Ihr uns hinbringen?“ Sie musste, obwohl er gebückt stand, zu ihm aufsehen. Es ärgerte sie, in diesem schmutzigen, entwürdigenden Zustand klein und unscheinbar vor ihm zu stehen. Sollte sie irgendwann in ihrem Leben noch einmal eine Gelegenheit finden, so würde sie sich für diese Demütigungen fürchterlich rächen, dass schwor sie bei den Göttern, im Namen Pedros und bei der Ehre des byzantinischen Volkes.
„Direkt nach Winaam, dem Sitz Arjan von Fryslân. Heute Abend findet ein Fest zu Ehren meiner erfolgreichen Rückkehr statt. Dort könnt ihr euch reinigen.“ Rolof betonte den letzten Satz. Ein amüsiertes Blitzen in seinen Augen zeigte an, dass er sowohl den Gestank bemerkt hatte, aber auch die miserablen Zustände, in denen sich die Frauen befanden. „Warme Kleider und edles Geschmeide liegen bereit.“ Er grinste unverschämt.
Wütend stampfte Shiran mit den Fuß auf. „Wozu benötigen wir Kleider und Geschmeide? Eine Magd putzt sich nicht heraus. Allenfalls eine Hure.“
Rolof lachte dröhnend. „Da ich nicht den Schatz von Ophir erbeutet habe, will ich wenigstens den besten Preis für meine Ladung erzielen. Die Männer von Fryslân werden sich schon hinreichend für deine Mädchen interessieren.“
„Barbar!“ Shiran wollte auf ihn losgehen, doch Rolof wich mit einem Sprung zur Seite aus und hielt ihr Handgelenk fest. „Keine Sorge, Prinzessin“, sagte er spöttisch, „dich werde ich selbstverständlich als meinen Lohn beanspruchen.“ Abrupt ließ er sie los und verschwand auf Deck. Sein Lachen dröhnte ihm noch eine Zeitlang hinterher.
„Zum Dämon mit diesem Ungeheuer“, zischte Shiran, „niemals werde ich diesem Barbaren zu Willen sein.“ Sie spürte, dass die Toner an Fahrt verlor und gemächlich durchs Wasser glitt. Die Unruhe auf dem Deck zeigte die Nähe eines Hafens an. Taue sirrten durch die Luft, laute Rufe ertönten, dann ein Ruck – sie waren am Ziel.
Mitte Februar 1002 im Hafen von Harlinga
Shiran vernahm laute Anweisungen und eiliges Trampeln von Männern, das nach und nach abebbte, bis irgendwann nichts mehr zu hören war. Eine Grabesstille, wenn nicht das leise Plätschern der Wellen unter dem Rumpf des Schiffes gewesen wäre. Hatte Rolof von Wuxalia etwa seine kostbare Ladung vergessen? Die Mädchen und Frauen waren aufgestanden. Gebückt, mit schmerzenden Gliedern scharrten sie sich stumm um Shiran, in den Augen die bange Frage: Was wird mit uns geschehen?
Es erschien Shiran wie eine Ewigkeit, fast wollte sie bereits der Mut verlassen, als endlich die Luke geöffnet wurde. Helles Tageslicht schien herein. Sie kniff die Augen zusammen, um nach der langen Zeit der Dunkelheit etwas erkennen zu können. Rolof stand breitbeinig in der Öffnung. „Wenn ich dich bitten darf.“ Er deutete eine leichte Verbeugung an. „Entschuldige das lange Warten, wir mussten erst die Karren holen.“
„Karren? Was habt Ihr mit uns vor?“ Shiran unterdrückte ein aufkommendes Zittern der Stimme, als sie entschlossen vor ihre Mädchen trat.
„Wir bringen dich und deine Dienerinnen nach Winaam. Erwähnte ich das nicht bereits?“ Er ging die Stufen in den Rumpf der Toner hinunter. Inzwischen hatte er seine Kleidung getauscht. Statt des groben Leinens trug er ein enges Beinkleid, darüber eine kurze Tunika sowie einen mit Pelz und Borten verzierten langen Mantel. Shiran empfand ihn in dieser Aufmachung als nicht mehr so bedrohlich. Fast besaß er die Würde eines Edelmannes. Er war rasiert, hatte die langen, dunklen Haare ordentlich nach hinten gekämmt und zu einem Zopf zusammengebunden. Sein Gesicht war scharf, aber ebenmäßig geschnitten. Wären nicht die Härte in seinen Augen und die tiefen Furchen um seine Mundwinkel gewesen, hätte Shiran sein Gesicht als klassisch schön bezeichnet.
„Leg dir das über.“ Er reichte Shiran einen Umhang aus grober Wolle. Sie warf den Kopf in den Nacken und übersah geflissentlich seinen ausgestreckten Arm. „In Fryslân ist es nicht so warm wie in deinem Land“, erklärte er ruhig, dabei blickte er auf Shirans Füße, die zwar in kunstvoll bestickten, aber inzwischen zerfetzten und mit Kot beschmierten Stoffschuhen steckten. „Zieht das an!“, befahl er und verteilte weitere breite Schals an die Mädchen, „sonst werdet ihr euch den Tod holen – und dann seid ihr nichts mehr wert.“ Er lachte schallend.
„Besser tot als Eure Hure. Ich brauche das nicht.“ Shiran schlug ihm das Cape aus der Hand.
„Du wirst mich noch auf Knien darum bitten.“ Rolof von Wuxalias Augen verengten sich zu Schlitzen und begannen gefährlich zu funkeln. „Bringt die Mädchen auf die Karren!“, befahl er seinen Männern, die abwartend auf der Toner standen. Shiran zuckte bei seinem scharfen Ton zusammen. Sie war ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Er begehrte sie, das war offensichtlich. Sie hatte es bereits auf Ophir gespürt. Es gab kein Entrinnen. Doch sie wollte ihm niemals zu Willen sein, das hatte sie bei den Göttern geschworen. Entweder würde sie diesen Dämon oder sich selbst umbringen.
Rolof von Wuxalia ließ die Mädchen vorgehen, dann packte er Shiran unsanft am Arm und schob sie vor sich her. Als sie an Deck kam, schlug ihr frostige Kälte entgegen. Das Land und die Dächer der niedrigen Hütten im Hafen waren von einem weißen Pulver bedeckt. Scharfe Windböen bliesen dicke Flocken in ihr Gesicht. Erschrocken blieb sie stehen. „Was ist das?“
„Snästoof (Schneetreiben).“ Amüsiert betrachtete Rolof die junge Frau. Seine Lippen kräuselten sich spöttisch. „In Fryslân schneit es im Winter“, erklärt er belehrend.
„Snä?“ Shiran erinnerte sich nicht, Ähnliches in ihrer Heimat gesehen zu haben. Als ihre Füße das weiße Pulver berührten, wurde es zu Wasser. „Ein Zauber“, murmelte sie. „Diese Barbaren tarnen ihr Land mit einem weißen Pulver, um ihr Reich für andere unsichtbar zu machen.“
„An so etwas glaubst du?“ Rolof lachte laut auf.
„Wozu soll es sonst gut sein?“, fragte Shiran unwillig. Sie ärgerte sich darüber, dass dieser Wilde sie offenbar für dumm hielt.
„Denk, was du willst.“ Er legte einen Arm um ihre Schultern. „Ich trage dich auf den Wagen.“ Bevor Shiran protestieren konnte, nahm er sie hoch, lief mit ihr über die Holzmole und setzte sie auf weiche Felle. Fürsorglich legte er ihr den Umhang über und wickelte die nackten Beine in grobe Wolle. Er gab dem Kutscher Anweisung loszufahren. Rolof bestieg ein Pferd. Schweigsam ritt er neben dem Karren her, den Blick stur geradeaus gerichtet.
Der Leiterwagen rumpelte mit seinen unförmigen Rädern über einen matschigen Weg, holperte durch Schlaglöcher, Unebenheiten sowie liegengebliebenen knorrigen Ästen, sodass Shiran unsanft von einer Ecke in die andere geschleudert wurde. Bang spähte sie nach allen Seiten, wohin Rolof sie wohl bringen würde. Sie sah nichts weiter als kahle, weiße Einöde, in der keine Menschenseele zu leben schien. Ab und zu lugten vertrocknete Gräser und Schilf aus dem Schnee hervor. Manchmal meinte sie einen See zu erblicken, der wie ein Spiegel in der Sonne glänzte, aber merkwürdig glatt und künstlich anmutete.
Shiran atmete die kalte Luft tief ein, pustete sie wieder aus und sah den Nebelwölkchen nach, die sich vor ihrem Mund bildeten. In ihrem Land war es warm. Man musste sich nicht wie ein wildes Tier in Felle hüllen. Auf grünen Hügeln blühte es in allen Farben, die Wälder spendeten angenehmen Schatten. Von den Weiden und Feldern wehte der Wind die verschiedensten Düfte nach Kräutern und Blumen in die Orte. Wenn die Sonne auf die hohen, steinigen Berge schien, erstrahlten die Felsen in unterschiedlichen Gelb- und Rottönen, ein geradezu überwältigender Kontrast zum vielfältigen Blau des Meeres.
Nie würde sie sich mit diesem kalten, öden Land, das mit weißem Pulver überdeckt war, anfreunden können. Welches Schicksal stand ihr bevor? Shiran seufzte abgrundtief. Wie sollte sie zurück in ihre Heimat gelangen? Auch wenn ihr die Flucht gelingen sollte, müsste sie ein Schiff kapern, um über die Meere zurück nach Ophir oder Konstantinopel zu kommen. Pedros hatte ihr zwar das Kämpfen mit dem Schwert beigebracht und auch das Steuern eines Bootes, sie war sogar zu einer seiner besten Kämpferinnen geworden, doch für die Rückkehr brauchte sie eine Mannschaft und kräftige Männer. Die wenigen Frauen, die dieser Barbar ihr gelassen hatte, würden für eine Flucht nicht ausreichen.
Es ging nur langsam voran. Als sich der Wagen einem Wall näherte, der gut drei Mann hoch und zusätzlich mit spitzen, hölzernen Palisaden gesichert war, dämmerte es bereits. Rolof gab dem Pferd die Sporen, beschleunigte das Tempo und ritt ein Stück voraus. Shiran schaute neugierig hinter ihm her. Ein paar Krieger standen auf einem hölzernen Wachturm rechts neben der Durchfahrt.
„Ich bringe den letzten Wagen!“, rief er hinauf. Männer nickten und strafften respektvoll ihre Haltung. Der Karren durfte passieren. Er rumpelte über grobe Holzbohlen an länglichen Hütten vorbei, die Shiran in dieser Bauweise noch niemals zuvor gesehen hatte. Dazwischen befanden sich kleine, fast winzige viereckige Katen, deren Dächer mit Stroh bedeckt waren.
Der Wagen fuhr in die Mitte des Ortes. Hier befand sich ein Haus, das wohl mindestens dreißig Pferdelängen maß und die Form eines umgedrehten, riesigen Schiffsrumpfes besaß. Es war größer als die anderen Hütten ringsherum. Shiran schätzte es auf vier bis fünf Mann hoch und war auf dicken Feldsteinen gebaut. Der Wagen hielt davor an.
Rolof von Wuxalia stieg von seinem Pferd und übergab die Zügel einem Bediensteten, der herangeeilt war. Dann ging er auf Shirans Karren zu und reichte ihr die Hand. „Willkommen in Winaam, dem Sitz Arjan von Fryslân.“
Sie zauderte und drückte sich tiefer in die Felle. „Ich trage dich hinein, damit du keine kalten Füße bekommst“, meinte er. Der ironische Unterton war nicht zu überhören. Ohne eine Antwort abzuwarten, umfasste er ihre Taille. Wie ein kleines Kind trug er sie durch einen zwar breiten, aber niedrigen Eingang ins Innere des Gebäudes. Langsam ließ er sie auf den steinigen Boden gleiten. In dem Raum war es kalt und finster, nur durch winzige Schlitze, die als Fenster dienten, drang spärlich Resttageslicht hinein. Die Flamme einer Kerze auf einem groben Holztisch flackerte in der zugigen Luft.
Langsam gewöhnten sich Shirans Augen an das gespenstische Licht, das hier und da lodernde Schatten warf. Schemenhaft erkannte sie eine Art Saal, jedenfalls ließen Größe und Anordnung mehrerer wuchtiger, grober Holztische und Bänke darauf schließen. Das dunkle Mobiliar ließ die Örtlichkeit noch unheimlicher erscheinen, als sie ohnehin schon war.
Die Hallen im Palast auf Ophir waren dagegen hell, sonnendurchflutet und nur von Säulen umgeben. Von jeder Seite, von jeder Stelle aus konnte man sofort hinaus ins Freie. Ständig wehte ein warmer Wind durch die Räume, der die Düfte von Kräutern und Blumen hineinblies.
Angewidert rümpfte Shiran die Nase. In diesem Land und in dem Raum stank alles muffig und verfault.
„Ich bringe dich in deine inzwischen vorbereitete Kammer.“ Rolof fasste sie am Ellenbogen.
Shiran entriss ihm den Arm. „Wo sind meine Dienerinnen?“, fragte sie. „Ich will sie um mich haben.“
„Ich nehme an, man hat sie in den umliegenden Arbeitshäusern untergebracht.“
„Was habt Ihr mit ihnen vor?“
„Jetzt ist keine Zeit zum Plaudern. Komm!“ Rolof ergriff Shirans Hand und zog sie bis zum Absatz einer schmalen Holzstiege. „Nach oben!“, befahl er. Widerwillig kletterte sie vor ihm bis zum oberen Stockwerk hinauf, anschließend schob er sie über einen schmalen, niedrigen Gang und öffnete eine schwere, kleine Eichentür. „Dein Gemach!“ Er machte eine einladende Handbewegung. „Ich schicke Gudrun. Sie wird dir behilflich sein.“
„Ich will keine Hilfe.“ Sie blieb im Türrahmen stehen.
„Oh doch“, gab Rolof zur Antwort und zog sie in die Kammer. „In diesem Land befehle ich, Prinzessin.“
„Dann bringt mir Mira, meine Vertraute.“
„Habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt?“ Rolof von Wuxalia kam ihr gefährlich nahe. „Gudrun wird dir behilflich sein.“
Shiran schwieg. Instinktiv spürte sie, dass sie den Barbaren im Moment besser nicht provozieren sollte. „Dann schickt mir eben Eure Gudrun“, gab sie patzig zur Antwort.
„So ist es recht.“ Er strich ihr über die Wange. Mit einem lauten Lachen und einer übertriebenen Verbeugung verließ er den Raum und knallte geräuschvoll die Tür ins Schloss.
Einen Moment hielt sie erschrocken inne, dann tastete sie sich zur Tür vor und drückte die schwere Klinke hinunter. „Verschlossen!“, fluchte sie. „Zu den Dämonen mit diesem verdammten Barbaren.“
Shiran kniff die Augen zusammen und versuchte, in der Dunkelheit des Raumes mehr zu erkennen. Durch ein winziges, mit Holzläden verschlossenes schmales Fenster drang zwischen den brüchigen Spalten spärlich das Abendlicht herein. Sie eilte hinüber, nestelte an der Verriegelung und drückte die Lade weit auf. Sofort blies eisiger Wind dicke Schneeflocken in ihr Gesicht.
Shiran zog den wollenen Umhang enger um die Schultern. Zitternd sah sie sich in der Kammer um. Ein großes Lager mit Decken, Fellen und Kissen nahm fast den gesamten Raum ein. Ein niedriger Durchgang führte in einen weiteren winzigen Kabuff, das dürftig mit Tisch und Bank eingerichtet war.
‚Nicht einmal der gemeinste Knecht in meinem Palast wohnt derart primitiv’, dachte sie wütend und trat gegen das Tischbein. ‚Was für ein armseliger Herrscher ist doch dieser Arjan von Fryslân. ’
Enttäuscht lief sie zum Fenster zurück. Sie streckte den Kopf weit hinaus. Inzwischen war es fast dunkel geworden. Unter ihr lagen eng aneinandergereiht die länglichen Hütten, ähnlich wie die, die sie bereits schon auf der Hinfahrt vereinzelt gesehen hatte. Von hier oben aus konnte sie über den Wall und die Palisaden blicken, die das Dorf umgaben. Darüber hinweg war weiter nichts als kahle Einöde zu erkennen. Nirgendwo zeigte sich das geringste Grün, ganz zu schweigen vom tiefen Blau des heimatlichen Mittelmeeres. Die gesamte Umgebung mutete ihr wie mit weißem Puderzucker überzogen an.
Als sie ein paar Schritte vom Fenster zurücktrat, spürte sie die Tränen, die ihr wie Eisperlen die Wange hinunterrollten. Shiran wickelte den Umhang enger um ihren Körper und starrte das riesige Lager an, ohne sich auch nur einen Schritt vorwärtszubewegen. Sie fühlte sich schrecklich allein in dieser geisterhaften, unwirtlichen fremden Welt.
Arjan von Fryslân
Geräusche an der Tür schreckten Shiran aus ihrer Trostlosigkeit. Verängstigt schaute sie hoch. Vier Mägde schleppten Wassertröge und brachten sie in eine von dicken Teppichen versteckte Nische des Raumes, die sie vorher nicht bemerkt hatte. Eine ältere Frau in einem groben Kleid folgte ihnen. „Ich bin Gudrun.“ Sie ging auf Shiran zu und neigte demütig den Kopf. „Ich werde Euch beim Umkleiden behilflich sein.“ Ihr Tonfall war leise, ruhig und bedächtig, fast monoton ohne jegliche Emotionen, als ob sie Shiran überhaupt nicht wahrgenommen hätte. Sie legte ein paar Kleidungsstücke auf das Lager.
„Wieso erledigen meine eigenen Mädchen diese Arbeit nicht?“ Shiran wies auf die Mägde, die gerade das Zimmer verließen.
Gudrun stutzte und sah auf. „Ihr sprecht unsere Sprache?“, fragte sie.
„Warum sollte ich das nicht“, erwiderte Shiran schnippisch. „Hattest du gedacht, ich wäre ein wildes Tier?“
„Herr von Wuxalia meinte …“
„Was Herr von Wuxalia meint, interessiert mich nicht. Du hast meine Frage nicht beantwortet.“ Shiran baute sich vor Gudrun auf.
„Herr von Fryslân ließ die Frauen in den Arbeitshäusern und in der Herberge unterbringen“, erwiderte Gudrun ungerührt.
„Dann hole sie her. Ich brauche deine Hilfe nicht.“ Shiran warf stolz den Kopf in den Nacken.
„Arjan von Fryslân befahl ...“
„Zum Teufel mit diesem Herrn von Fryslân. Es ist mir egal, was dein Herr befahl. Ich verfüge über ausreichend Dienerinnen und bin es nicht gewohnt, Befehle entgegenzunehmen. Also spute dich.“
„Mevrouw ...“
„Ich will meine eigenen Dienerinnen um mich haben.“ Shiran trat zornig mit dem Fuß auf. „Auf der Stelle!“
„Arjan von Fryslân befahl ...“
„Geh und schicke deinen Herrn zu mir.“ Mit verschränkten Armen blieb Shiran vor der alten Frau stehen.
„Mevrouw, Eure Mädchen sind müde und erschöpft. Ihr solltet Euch fügen und tun, was Arjan von Fryslân sagt“, erwiderte Gudrun leise. „Widersetzt Euch nicht seinen Anweisungen. Er ist nicht Euer Feind.“
„Nicht mein Feind?“ Shiran lachte erbost auf. „Warum ließ er dann meinen Mann und unsere Krieger töten? Warum entführte er mich und meine Mädchen?“
„Fragt ihn nachher selbst“, wich Gudrun aus.
„Nachher?“ Shiran kniff die Augen zusammen.
„Deshalb werde ich Euch jetzt behilflich sein. Ihr müsst Euch nach der langen Reise reinigen und umkleiden, denn es findet heute Abend ein Fest statt.“
„Was für ein Fest? Etwa ein Schlachtfest? Ich gehe dort nicht hin!“, stieß Shiran höhnisch aus.
„Kommt“, besänftigte Gudrun sie. „Lasst Euch von mir auskleiden. In diesem Haus ist nicht genügend Platz für alle Eure Mädchen.“ Sie bog den Teppich beiseite, der die Nische vom Schlafgemach abtrennte und machte eine einladende Handbewegung. „Der Bottich ist mit warmem Wasser gefüllt. Nach dem Bad werdet Ihr Euch wohler fühlen.“ Sie ging Shiran voraus. „Herr von Fryslân ließ das Gefäß in Eure Räume stellen, damit Ihr Euch nicht bei den Knechten und Mägden im Gesindehaus waschen müsst.“ Shiran war erstaunt. Jedenfalls schien dieser barbarische Herr ein zivilisiertes Benehmen zu besitzen.
„Warum bin ich nicht mit den anderen Mädchen in den Arbeitshäusern untergebracht?“, wollte Shiran wissen.
„Rolof von Wuxalia berichtete, dass Ihr eine edle Vrouw seid.“ Gudrun zündete eine Dochtlampe an. Shiran betrachtete sie. Die Frau hatte ihre grauen Haare zu einem dicken Zopf geflochten, der ihr bis zur Taille reichte. Ihr Rücken war gebeugt, die Hände verarbeitet. Mit von Gicht gekrümmten Fingern breitete sie Tücher um den Holztrog aus und prüfte anschließend das Wasser. „Es ist wohltemperiert“, sagte sie. „Darf ich?“ Sie zeigte auf Shirans Gewand.
Shiran nickte. Sie konnte der alten Gudrun nicht ernstlich böse sein, denn die Frau tat nur das, was ihr Herr befohlen hatte. Unterschwellig erinnerte Gudrun sie sogar an ihre Amme aus Konstantinopel. Shiran hatte ein untrügliches Gefühl, dass sie der alten Frau vertrauen konnte.
Gudrun löste das Gürtelband von Shirans Gewand und streifte ihr das Kleid über den Kopf. „Was ist das für ein Gewebe?“, fragte sie erstaunt und hielt es mit spitzen Fingern von sich ab. „Es ist leicht wie eine Feder, dabei kühl und glatt wie Eis.“ Sie strich vorsichtig mit der rauen Hand darüber, als ob sie Angst hätte, es zu zerstören.
„Seide“, antwortete Shiran überrascht. „Unsere Frauen und Mädchen tragen solche Gewänder, weil in meinem Land große Hitze herrscht. Seide erfrischt die Haut.“
„Woraus wird der Stoff gemacht?“ Gudrun legte das Kleid behutsam über einen Schemel und half Shiran ins Bad.
„Raupen erzeugen die Fäden“, erläuterte die junge Byzantinerin bereitwillig und ließ sich ins warme Wasser gleiten. Wohlig umspülte es ihren Körper. Sie seufzte genüsslich. „Anschließend weben unsere Mädchen daraus Stoffe“, erklärte sie weiter.
„Die Raupen in diesem Land erzeugen kein Garn. Allenfalls fressen sie sämtliche Blätter von den Bäumen.“
„Es sind besondere Raupen. Persische Mönche schmuggelten sie vor vielen, vielen Jahren aus China nach Byzanz, meiner Heimat. Mein Vater besitzt ...“. Erschrocken hielt sich Shiran die Hand vor den Mund und schwieg. Sie ärgerte sich über ihre Unbedachtsamkeit, ihre Familie zu erwähnen.
Gudrun schien nichts bemerkt zu haben, denn sie lugte über die Schulter zum Schemel. „Ich kenne diese Länder nicht“, sagte sie unverbindlich und zeigte interessiert auf das Kleid. „Ob man es wohl wieder sauber bekommt?“
Erst jetzt fiel Shiran auf, wie verschmutzt das Gewand tatsächlich war. Eine solch zarte Bekleidung ist denkbar ungeeignet für eine lange Seereise, stellte sie amüsiert fest, als Gudrun die Seide erneut behutsam berührte.
Aber auch Shiran fühlte sich schmutzig und befleckt. Auf Ophir badete sie täglich in den klaren Quellen, die aus den Bergen kamen, oder im warmen Meer. Zusätzlich gab es einen großen, mit Mosaiken geschmückten Baderaum im Palast, der von Eunuchen geführt und bewacht wurde. Niemand durfte ihn ohne deren Zustimmung betreten.
Gudrun reichte Shiran eine Seife. Als die junge Frau diese ins Wasser tauchte, färbte es sich milchig. Sie rümpfte die Nase. Es roch talgig. Auf Ophir wusch man nur grobe Leinenkleidung in Laugen. Angeekelt rubbelte sie mit der Seife ihren Körper ab. In byzantinischen Badehäusern duftete es nach Blumen und Kräutern, aus denen Essenzen gewonnen und zu Ölen verarbeitet wurden, die die Haut weich und geschmeidig machten.
Gudrun hielt Shiran ein grobes Leinentuch hin, um sie abzutrocknen. Anschließend rieb sie die Haut der jungen Frau mit einem Fett ein, deren Geruch Shiran unbekannt war, herb, aber nicht unangenehm. Auf Ophir braute sie gemeinsam mit den anderen Frauen aus Blumen und Hölzern wohlriechende Balsame, zusätzlich Tinkturen und Heilgetränke für die Kranken. Die Rezepte dafür brachten Reisende aus China und Indien mit. Schon ihre Mutter hatte diese sorgfältig notiert. Als sie starb, führte Shiran die Aufzeichnungen akribisch fort. So war sie zu einer der besten Heilerinnen des byzantinischen Reiches geworden.
Gudrun führte Shiran zurück ins Schlafgemach und zog ihr ein Unterkleid aus gebleichtem Linnen an. Darüber stülpte sie eine grüne, lange Tunika, die übermäßig mit Borten verziert war.
Shiran schaute an sich herunter. Ihre zierliche Figur wurde von dem schweren Stoff unförmig verhüllt, statt sanft betont, wie sie es in ihrer Heimat gewohnt war. Unter der Last des Kleides brach sie fast zusammen. Als sie sich bewegte, kratzte der Stoff auf ihrer Haut, die sofort zu jucken begann. Shiran erschauerte. „Ich will dieses Ding nicht anziehen!“, fauchte sie und zerrte an der Tunika.
„Es ist ein Festgewand“, erklärte Gudrun freundlich, die selbst einen ungebleichten, derben Kittel aus Hanf trug.
„Zieh es mir wieder aus!“, befahl Shiran.
„Euer eigenes Gewand ist schmutzig“, erklärte Gudrun ruhig. „Außerdem würdet Ihr frieren, wir haben Winter. Bitte.“ Ohne auf Shirans Protest einzugehen, führte sie die junge Frau zu einem Schemel. Dann begann sie mit einer groben Bürste ihre Haare zu kämmen. „Noch nie sah ich Haar von dieser Farbe“, sagte sie bewundernd. „Es glänzt wie Gold und fühlt sich an wie die Seide Eures Kleides.“
„Es war einstmals schön. Mit der Ermordung meines Mannes durch euch Barbaren hat es seinen Glanz verloren.“ Shiran verschränkte die Arme vor der Brust.
Gudrun fasste schweigsam das lange Haar im Nacken zusammen und begann, es zu einem Zopf zu flechten. Plötzlich hielt sie inne. „Einen Moment“, sagte sie aufgeregt, verschwand aus dem Raum, um nach einer Minute zurückzukommen. Emsig bürstete sie erneut das inzwischen fast trockene Haar und steckte es anschließend an den Seiten hoch, sodass es Shiran wie ein Mantel aus Gold umhüllte. Vorsichtig setzte sie einen Kranz aus bunten Bändern auf ihr Haupt.
„Nun das noch“, murmelte Gudrun, ganz in ihre Arbeit vertieft. Sie reichte Shiran eine mit Goldfäden durchwirkte Kordel. „Bindet das um Eure Taille. Es wird Eure Zierlichkeit betonen.“ Zufrieden betrachtete sie ihr Werk. „Wie eine römische Prinzessin seht Ihr aus“, sagte sie andächtig.
„Ich bin eine ...“ Shiran biss sich auf die Lippen.
„Natürlich. Ihr seid seine Prinzessin. Er wird Euch zu Füßen liegen und Euch bald zu seiner Königin machen.“ Gudruns Augen leuchteten.
„Dieser Wilde vom Schiff?“, fauchte Shiran. „Die Götter mögen mich davor bewahren. Lieber will ich sterben.“
„Ich meine unseren Herrn, Arjan von Fryslân.“ Gudrun holte Shirans seidenes Kleid aus dem Nebenraum, legte es sich vorsichtig über den Arm und ging zur Tür. „Ich lass Euch jetzt allein.“ Sanft strich sie über den zarten Stoff. „Ich werde es waschen und Euch zurückbringen.“ Die alte Frau schloss die schwere Tür hinter sich ab.
Arjan von Fryslân! Shiran stampfte wütend mit dem Fuß auf. Dieser Barbar, der den Nordländer beauftragt hatte, ihr Land zu überfallen, Pedros zu ermorden und sie und ihre Mädchen zu entführen. Sie würde sich rächen, sie würde ununterbrochen nach einer Gelegenheit suchen und sie mit Bestimmtheit finden, um ihn anschließend zu töten. Erst dann würde sie in Ruhe und Frieden leben können.
Shiran ballte die Hände zu Fäusten und reckte sie zur Decke. „Ich schwöre bei den Göttern, Arjan von Fryslân, du wirst noch aufs Tiefste bereuen, mein Land überfallen und mich entführt zu haben!“
Shiran hatte das Gefühl, jeden Moment zu ersticken. Erneut öffnete sie die Fensterlade, lehnte sich weit hinaus und atmete tief durch. Inzwischen war es stockfinster geworden, aber es schneite nicht mehr.
„Du solltest die Fenster geschlossen halten.“
Erschrocken drehte sich Shiran um.
Rolof von Wuxalia lehnte lässig im geöffneten Türrahmen. „Die Räume in der Provinz Fryslân lassen sich im Winter schwer beheizen.“ Er kam langsam auf Shiran zu. Wiederum hatte er seine Kleidung gewechselt und gegen ein farbenprächtiges Kostüm ausgetauscht. Die engen Beinkleider betonten seine kraftvollen Oberschenkel.
„Mevrouw, oder soll ich besser Shiran sagen?“
„Sagt, was Ihr wollt.“ Shiran zuckte die Schultern und wandte sich betont teilnahmslos dem Fenster zu, ohne seinen Hinweis zu berücksichtigen.
„Die Feier beginnt. Arjan von Fryslân möchte seine Beute begutachten.” Rolof zog Shiran vom Fenster und schloss nachdrücklich die Lade.
„Will er das?“ Shiran sah Rolof gelangweilt an. „Dann solltet Ihr ihn nicht warten lassen“, sagte sie mit hocherhobenem Kopf und reichte ihm übertrieben formell die Hand.
„Du bist weitaus schöner, als ich dich in Erinnerung hatte“, raunte er in ihr Ohr. Beinahe zärtlich fasste er sie am Ellenbogen. „Ein wahres Juwel aus Byzanz.“
„Ich glaube kaum, dass Euer Herr mit der Beute, die Ihr ihm jetzt präsentieren wollt, zufrieden sein wird.“ Shiran drehte angewidert den Kopf weg. „Er erwartet den Schatz aus Ophir, Gold und Diamanten der Königin von Saba. Leider kann ich damit nicht dienen.“
„Du könntest ihm das Versteck verraten. Vielleicht lässt er dich anschließend frei.“ Rolofs Stimme wurde härter. „Bis dahin wirst du allerdings in meiner Obhut bleiben.“ Er geleitete Shiran die schmale Holzstufe in die große Halle hinunter, die jetzt durch viele Fackeln und Kerzen beleuchtet war. Festlich gekleidete Frauen und Männer standen darin herum und tuschelten miteinander.
Rolof führte Shiran in eine abseits gelegene Ecke. Sofort erkannte sie ihre Dienerinnen, die, wie sie selbst, in schwere Gewänder gehüllt waren.
„Mira!“ Erfreut eilte Shiran auf ihre Vertraute zu. Das Mädchen zitterte am ganzen Körper.
„Was haben sie mit uns vor?“, fragte Mira ängstlich.
Shiran legte beruhigend den Arm um ihre Schulter. „Wir werden einen Weg finden, in unsere Heimat zurückzukehren“, flüsterte sie ihr zu. „Sobald Kaiser Basileios erfährt, was uns widerfahren ist, wird er seine Krieger ausschicken und diese Barbaren vernichten.“
„Wie will er uns finden?“ Die anderen Mädchen scharrten sich um Shiran.
„Er wird uns finden“, erklärte Shiran überzeugt.
Miras Mut schien zurückgekehrt zu sein, als sie vorwitzig in die Runde rief: „Natürlich wird er uns finden, weil Shiran nämlich seine ...“
„Schweig!“, zischte Shiran und stieß Mira den Ellenbogen so fest in die Seite, dass sich das Mädchen verschluckte. Dann beugte sich Shiran zu Mira und tuschelte ihr ins Ohr. „Du weißt, dass niemand erfahren darf, wer ich bin.“ Nachdrücklich betonte sie: „Nicht nur mein Leben wäre damit in Gefahr, sondern ebenfalls deines und das der anderen Frauen obendrein. Das willst du doch wohl nicht?“
Mira senkte betreten den Kopf.
„Wir werden in unsere Heimat zurückkehren“, erklärte Shiran laut den Mädchen, die offenbar von Miras unüberlegtem Ausbruch nichts mitbekommen hatten.
„Aber Herrin, du bist ebenfalls eine Gefangene“, wandte Farah ein, „wie sollen wir diesen heidnischen Dämonen ohne Hilfe entkommen? Wir besitzen weder Schiff noch Waffen.“
„Ich schwöre, ich bringe euch nach Ophir zurück. Ich habe nicht vor, in diesem kalten Land zu erfrieren“, betonte Shiran und warf den Kopf in den Nacken, sodass die bunten Bänder mit ihren langen Haaren um die Wette wirbelten.
„Keine Angst, ich werde dich schon wärmen.“ Rolof grinste sie an.
Plötzlich verstummte das Gemurmel der Gäste. Rolof ließ die Mädchen allein und drängelte sich durch die wartenden Männer und Frauen. Neugierig versuchte Shiran etwas zu erkennen, aber die Menschen versperrten ihr die Sicht auf das Geschehen.
„Rolof von Wuxalia, schön dich gesund und unversehrt zu sehen“, hallte es durch die Halle. „Ich hoffe, deine Reise war erfolgreich?“ Shiran meinte, Ironie aus der Stimme des Redners herauszuhören.
„Wenn du damit den Schatz der Königin von Saba aus Abessinien meinst, so muss ich dich enttäuschen“, antwortete Rolof. Auch seine Worte klangen sarkastisch.
„Du kommst also leer zurück?“
„Nicht ganz. Du müsstest mich kennen.“ Der Wuxalier lachte rau. Dann sprach er weiter: „Ragund wies uns einen falschen Weg. Statt nach Abessinien zu gelangen, führte er uns nach Byzanz auf die kleine Insel Ophir.“
„Ragund der Däne irrt nicht.“
„Er hat uns entweder belogen oder falsche Aufzeichnungen gemacht. Meine Männer durchsuchten die Insel. Es gibt dort weder Flüsse, die Gold tragen, noch die Edelsteine der Königin von Saba.“
„Was hast du uns stattdessen mitgebracht?“
„Die Schätze der Insel Ophir sind ganz besonderer Art.“ Shiran meinte, eine flüchtige Unsicherheit in Rolofs Stimme zu erkennen. „Die Insel besitzt Frauen von einzigartiger Schönheit, wie du sie noch nie zuvor gesehen hast.“
„Frauen?“ Der Redner verstummte für einen Moment, während ein Raunen durch die Menge ging. „Seit wann lässt sich ein Rolof von Wuxalia von Weibern in die Irre führen?“ Der Redner schien amüsiert. Leises Gelächter der Anwesenden war zu vernehmen, die anschließend eifrig miteinander diskutierten.
„Überzeuge dich selbst“, sprach Rolof weiter, „die Frauen und Mädchen der Insel Ophir sind von unvergleichlichem Liebreiz, ihre Haut schimmert wie Alabaster, ihre Bewegungen sind anmutig wie die von Gazellen. Ragund der Däne ließ sich von ihnen verwirren, nicht ich.“
„Mein Freund“, der Redner schien seinem Gegenüber auf die Schulter zu klopfen, „Weiber besitzen wir selbst. Nicht Ragund war damals verwirrt, sondern offenbar du heute. Es ist wohl an der Zeit, dass du ausruhst.“
„Nein, Arjan“, Rolofs Stimme wurde lauter, „solche Weiber besitzen wir nicht. Sie sind für Kaiser, Könige und Edelmänner erschaffen worden. Eine von ihnen ist ein besonderes Juwel. Ihr Haar glänzt wie gesponnenes Gold, wenn die Sonne darauf scheint.“
Shiran zog überrascht eine Augenbraue hoch. Wie geschickt dieser Rolof taktieren konnte, um seine Ware feilzubieten. Offensichtlich wollte er mit allen Mitteln seine Beute zu Gold machen.
Sie schrak aus ihren Gedanken auf, als er plötzlich neben ihr war. „Mevrouw“, raunte er an ihrem Ohr, ergriff ihre Hand und verneigte sich übertrieben. In seinen Augen blitzte es gefährlich. „Darf ich dir Arjan von Fryslân vorstellen?“ Er fasste ihre Hand und zog sie aus dem Versteck. „Deine Mädchen sollen uns folgen!“, befahl er.
Die Menge trat sofort zurück und bildete eine Gasse. Rolof führte Shiran, im Schlepptau ihre Dienerinnen, über den Mittelgang durch die schmale Halle. Die neugierigen Blicke der Anwesenden brannten auf ihrer Haut. Von allen Seiten drang Gemurmel zu ihr hinüber, dazwischen bewunderndes „Oh“ und „Ah“.
Shiran schämte sich, wie ein Gaul auf dem Jahrmarkt diesem Arjan von Fryslân vorgeführt zu werden. Wer war er denn schon? Nicht einmal ein König des deutsch-römischen Reiches. Sie hingegen war die Tochter eines in Purpur geborenen byzantinischen Kaisers, wenn auch nicht legitim, aber immerhin.
Shiran hielt den Kopf gesenkt, um nicht in die hämischen Gesichter der anwesenden Gäste sehen zu müssen. Ungeheure Wut auf den Mann, der sie entführt, aber noch mehr Wut auf den Barbaren, der diese Freveltat befohlen hatte, machte sich in ihrem Magen breit. Sie atmete heftig durch. Die Schmach, vor den Anwesenden zusammenzubrechen, wollte sie nicht in Kauf nehmen. Unter größter Anstrengung beherrschte sie die verlockende Versuchung, sich loszureißen und der Meute die Augen auszukratzen.
„Mein Freund“, Rolof von Wuxalias Stimme triumphierte, „Shiran aus Byzanz, die Fürstin der Insel Ophir, mit ihrem Gefolge.“
Aus den Augenwinkeln bemerkte Shiran Rolofs höhnische Verbeugung vor dem Herrscher der nordischen Barbaren. In Shirans Körper spannte sich jeder Muskel. Sie straffte den Rücken und reckte stolz den Kopf empor, sodass ihre langen Haare über die Schultern flogen und sie wie einen schützenden Mantel bis zur Taille hinunter umhüllten. Trotzig sah sie ihrem Todfeind ins Gesicht.
Eine geraume Weile betrachtete Arjan von Fryslân die junge Byzantinerin, ohne seinen Blick abzuwenden. Unmerklich zuckten seine Mundwinkel. Langsam, wie in Trance, stand er auf und ging auf sie zu. Dabei ließ er sie nicht aus den Augen.
„Edle Vrouw von Ophir“, sagte er leise und streckte ihr die Hand entgegen, „ich heiße Euch in meinem Land als mein Gast herzlich willkommen. Rolof von Wuxalia hat, was Eure Schönheit anbelangt, nicht zu viel versprochen.“ Er neigte achtungsvoll sein Haupt.
Shiran übersah geflissentlich seine Hand. „Ich bin nicht Euer Gast, sondern Eure Gefangene“, sprach sie laut und deutlich. „Ihr habt meinen Mann, Pedros Theodosios von Ophir, gleichwohl unsere Krieger, durch diesen Barbaren“, Shiran zeigte mit spitzen Fingern auf Rolof, „niedermetzeln sowie mich und meine Frauen entführen lassen.“
„Schweig!“, zischte Rolof von Wuxalia. Dann stutzte er. „Seit wann sprichst du unsere Sprache so gut?“, wollte er leiser wissen.
„Seit Kindesbeinen an“, triumphierte Shiran.
„Aber wieso …“ Rolof schüttelte ungläubig den Kopf.
„Wieso ich eure Sprache beherrsche, hat nicht zu interessieren. Aber ich will wissen, weshalb Ihr meinen Mann Pedros Theodosios von Ophir habt umbringen lassen“, wandte sich Shiran erneut an Arjan.
Der junge Herrscher der Provinz Fryslân fixierte erst den Wuxalier, anschließend Shiran.
„Ich gab Rolof von Wuxalia keinen Auftrag, eine byzantinische Insel zu überfallen.“ Er machte eine Pause und sprach bedächtig weiter: „Sicherlich gab es einen Grund, den Kampf aufzunehmen.“ Er räusperte sich. „Rolof, mein Jugendfreund und langjähriger Weggefährte, war immer ein guter, besonnener Krieger. Wir beide“, er zeigte auf Rolof, „sowie alle Menschen in der Provinz Fryslân sind keine Meuchelmörder, sondern dem byzantinischen Reich seit der Zeit der deutsch-römischen Kaiserin Theophanu tief verbunden. Ihr, Mevrouw“, erneut deutete Arjan von Fryslân eine Verbeugung an, „übertrefft offensichtlich bei weitem deren legendäre Anmut und Schönheit.“
„Oh nein!“ Shiran machte aufgebracht einen Schritt auf Arjan zu. „Ihr könnt mich nicht mit falschen Worten in die Irre leiten. Denn während Pedros Theodosios Euren Männern höflich entgegenkam und Gastfreundschaft anbot, durchbohrte ein barbarischer Speer einen unserer Krieger. Dieser hier“, erneut wies sie auf Rolof, „stieß eigenhändig seinen Dolch in den Leib meines Mannes, bevor Pedros überhaupt seine Waffe ziehen konnte. Es war ein hinterhältiger Überfall und muss gebührend bestraft werden.“
Shiran richtete sich zur vollen Größe auf, sodass sie Arjan von Fryslân auf gleicher Höhe in die Augen sehen konnte. Jetzt erst bemerkte sie, dass der Graf jung war. Überrascht hielt sie inne, denn sie hatte einen alten Fürsten erwartet. Der hier war von schlanker Gestalt, seine Bewegungen waren kraftvoll und elegant – vor allem trug er keinen Bart. Shiran hasste Männer mit Bärten. „Euer Freund und Weggefährte“, sagte sie ruhiger, „ist ein heimtückischer Mörder und habgieriger Schuft.“
Rolof riss Shiran zurück. „Die Frau ist von der langen Reise müde und redet unklar, verzeih ihr“, erklärte er in beherrschtem Tonfall. „Die See war unruhig. Ich werde sie zukünftig zu bändigen wissen.“