Die Tote aus dem Runzelgraben - Monique Lhoir - E-Book

Die Tote aus dem Runzelgraben E-Book

Monique Lhoir

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Beschreibung

In einem kleinen, verträumten Dorf in der Elbmarsch wird im Runzelgraben eine weibliche Leiche gefunden. Ausgerechnet auf dem Grundstück der pensionierten Kriminalbeamtin Marthe Walther, die gerade dorthin gezogen ist. Marthe wird von ihrer Dienststelle für diesen Fall wieder eingesetzt und recherchiert gemeinsam mit ihrem ehemaligen Kollegen Andreas Cornelsen. Dabei stößt sie auf viele Vorurteile und wird schließlich selbst zum Opfer. Doch wer war die Tote aus dem Runzelgraben, wer war ihr Mörder und warum wurde die Frau ermordet?

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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1

Monique Lhoir

Die Tote aus dem

Runzelgraben

Regionalkrimi aus der Elbmarsch

Impressum

Texte: © 2023 Copyright by Monique Lhoir

Umschlag: © 2023 Copyright by Monique Lhoir

Foto: Hauptkanal Ilau-Schneegraben zwischen

Bütlingen und Tespe

Verantwortlich

für den Inhalt: Monique Lhoir

21395 Tespe OT Bütlingen

[email protected]

www.monique-lhoir.de

Druck:

epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Ich bin in meiner neuen Heimat

zu einer Art enfant terrible geworden, weil ich nicht imstande bin,

alles schweigend zu schlucken,

was sich zuträgt.

(Albert Einstein)

1

„So eine Schweinerei. Dass die Elbmarscher es nicht schaffen, ihren Müll zur Deponie nach Drage zu bringen. Stattdessen werfen sie ihn in die Entwässerungsgräben und verstopfen hier alles.“

Marthe Walther öffnete neugierig geworden die Wintergartentür und schaute hinaus. Herr Schneider vom Gartenbauunternehmen schaltete den Bagger aus und sprang auf einen Lehmhaufen. Er gesellte sich zu seinem Kollegen. Beide stierten gemeinsam in die Tiefe.

Marthe lief über den Rasen bis zum Graben, der ihr Grundstück begrenzte. „Gibt es ein Problem?“, fragte sie und schaute ebenfalls hinunter.

„Das wissen wir nicht genau.“ Herr Schneider zeigte auf einen Kleiderhaufen. In der Vertiefung dümpelte kaum Wasser, eher schlängelte sich dort eine dicke Schicht moorähnlicher Schlamm durchs hohe Gras. „Was meinen Sie, was das sein könnte?“

Marthe blickte genauer hin. „Sieht tatsächlich so aus, als ob jemand hier Kleidung entsorgt hätte.“ Sie beugte sich ein weiteres Stück vor und rümpfte die Nase. Modriger Gestank kam ihr entgegen. „Merkwürdig“, flüsterte sie, „in den Klamotten scheint was drin zu stecken.“ Ihr geschultes Auge witterte einen Verdacht. „Bitte berühren Sie jetzt nichts mehr“, sagte sie in ruhigem Ton. Sie kramte ihr Handy aus der Hosentasche hervor. „Ich rufe die Polizei.“

Herr Schneider und sein Geselle traten einen Schritt zurück. Ungläubig starrten sie Marthe an, als sie mit dem Ordnungsamt sprach und die Situation darlegte. „Ich vermute, dass in den gefundenen Kleidungsstücken eine Person steckt“, fügte sie erklärend hinzu. „Danke.“ Marthe drückte die Austaste.

„Kommen Sie auf die Terrasse. Ich habe gerade Kaffee gekocht“, wandte sie sich an die beiden Männer. Hier warteten sie, bis die Beamten eintrafen. Marthe führte die Herren zum Fundort. Sie erläuterte kurz ihre Annahme.

Zwei Polizisten hangelten sich die rutschige Böschung hinunter. Knapp vor der Schlammmasse stoppten sie und suchten einen sicheren Halt. Mit einer Stange hantierten sie im Matsch herum und bewegten die Kleidungsstücke vorsichtig hin und her.

„Scheiße“, fluchte einer laut. „Otto, ruf die Kripo. Hier packe ich nichts an.“ Er krabbelte wieder nach oben. „Sie hatten Recht“, richtete er sein Wort an Marthe. „Da steckt ein Mensch in den Klamotten.“

„Ich ruf einen ehemaligen Kollegen aus Lüneburg an“, sagte Marthe. „Ach herrje. Und das auf meinem Grundstück.“

„Sind Sie Polizistin?“, fragte Ottos Begleiter.

„Nicht ganz, pensionierte Kripobeamtin. Ich bin seit zwei Jahren im Ruhestand.“

„Ach so.“ Er tippte an seine Mütze. „Hancke“, stellte er sich vor. „Aber hierfür ist der Landkreis Harburg zuständig.“

„Den müssen Sie natürlich verständigen. Kriminalhauptkommissar Andreas Cornelsen aus Lüneburg kennt sich bestens mit Mordfällen aus. Er ist mein Nachfolger, Leiter der Kripo, Sonderkommission für Kapitalverbrechen. Ich hätte ihn gern dabei, zumal die Leiche so gut wie in meinem Garten liegt.“

„Verstehe. Muss ja nicht gleich Mord sein, kann sich auch um einen Unfall handeln.“ Die beiden Polizisten begannen langsam Marthes Grundstück weiträumig abzusperren. Nach und nach trafen die Kripo, die Spurensicherung sowie weitere Beamte ein. Sie sicherten den leblosen Körper. Marthe warf kurz einen Blick darauf. Sie erkannte unter der Schlammkruste eine Frau. Dann wurde der tote Körper in den Sarg gelegt und zum Leichenwagen transportiert.

Herr Schneider und sein Geselle saßen in der geschützten Sitzecke auf der Terrasse, diskutierten und tranken dabei Kaffee. „Das war es erst einmal mit dem Abholzen“, meinte er, als der Polizist Otto zu ihnen kam. Die Männer kannten sich von der Freiwilligen Feuerwehr im Ort und hatten schon so manches Glas miteinander getrunken. „Heute ist Dienstag. Diese Woche haben wir keine Termine mehr frei, um hier weiterzubuddeln. Da muss die gute Frau wohl ne Weile warten, bis wir die Arbeiten abschließen können. Aber den Arbeitstag stelle ich komplett in Rechnung.“

„Wolfgang“, unterbrach Otto den Redeschwall beschwichtigend, „wir geben dir Bescheid, wenn du weitermachen kannst. Halte dich einfach zur Verfügung. Außerdem könnten noch Befragungen auf euch zukommen. Immerhin habt ihr die arme Frau entdeckt.“

„Klar, gerne. Wir finden ja nicht jeden Tag eine Leiche in der Elbmarsch.“ Er grinste.

Marthe, die das Gespräch verfolgt hatte, verzog unwillig den Mund, atmete tief durch und schüttelte den Kopf. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, dass so ein Leichenfund in der Elbmarsch eine willkommene Abwechslung im langweiligen Arbeitsalltag der beiden Männer war. Wohl nicht nur für die beiden Anwesenden, sondern für eine Menge mehr Sensationslustiger. Da würde noch einiges an Getratsche auf sie als Zugezogene zukommen. Wahrscheinlich würde es besser sein, in der nächsten Zeit nach Hamburg zum Einkaufen zu fahren statt nach Tespe.

Marthe entschuldigte sich bei den Männern, ging in den Wintergarten und rief ihren ehemaligen Kollegen Andreas Cornelsen an. Gott sei Dank erreichte sie ihn sofort. Kurz erläuterte sie ihm den Fund. Sie schlug ihm vor, sich mit dem Landkreis Harburg in Verbindung zu setzen. „Bitte, komm so schnell wie möglich vorbei,“ bat sie ihn abschließend.

2

Der Fall ließ Marthe keine Ruhe. Warum wurde gerade auf ihrem Grundstück eine Tote gefunden? Beim besten Willen konnte sie sich nicht erklären, wie die Person dahingelangt war. Vielleicht lag sie bereits länger dort? Marthe lief es eiskalt den Rücken hinunter, obwohl sie in ihrem Arbeitsleben oft mit Leichenfunden konfrontiert worden war. Jedenfalls musste rasch eine Obduktion klären, wie lange die Frau schon dort gelegen hatte.

Marthe schaute durch die Verglasung des Wintergartens über den Rasen bis hin zum Graben. Vorher war das sumpfige Gewässer durch dichtes Strauchwerk verdeckt gewesen. Inzwischen hatte der Gartenbaubetrieb das Gehölz teilweise beseitigt. Marthe konnte sich nicht vorstellen, wie von der Gartenseite her eine Leiche durch das Gestrüpp unbemerkt in den Abwassergraben transportiert worden war. Wie und wann war die Frau dahingekommen?

In Gedanken versunkten räumte sie das schmutzige Kaffeegeschirr von der Terrasse in die Küche und wusch die Kaffeebecher ab. In ihrem Kopf rotierte es. Eine Autopsie würde gewisse Zeit in Anspruch nehmen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten. Karl-Ludwig, ihre bessere Hälfte, war noch nicht zurück. Früh am Morgen war er zum Baumarkt nach Adendorf gefahren, weil er einen Sack Zement benötigte. Eine solch schwierige Besorgung dauerte in der Regel lange und sie rechnete nicht so bald mit der Rückkehr ihres Mannes.

Die Spurensicherung suchte Marthes Garten ab und nahm Proben aus dem Schlammwasser. Das hohe Gras war an einigen Stellen niedergedrückt. Allerdings konnte es auch durch die Gartenarbeiten beschädigt worden sein. Der Bagger der Firma Schneider stand verlassen auf dem Hof. Die beiden Gärtner waren abgerückt, nachdem ihre Befragung beendet war.

Eine Nachbarin, die auf der anderen Seite wohnte, lugte gespannt herüber und beobachtete die Aktivitäten der Beamten. Um ihr Haus herum wuchs eine fast zwei Meter hohe Hecke. Ob sie etwas Auffälliges gesehen hatte? Eher unwahrscheinlich. Oder vielleicht doch? Neugierig wie sie war, konnte alles möglich sein.

Marthe ging in den Garten und winkte ihr zu. „Frau Müller, dürfen die Herren gleich mal zu Ihnen kommen?“, rief sie hinüber.

„Was gibt es denn?“, fragte sie zurück.

„Das werden Ihnen die Polizisten erklären“, erwiderte Marthe. Es war Frau Müller an der Nasenspitze anzusehen, dass sie vor Neugierde kurz vor dem Platzen stand.

Am späten Nachmittag schlossen die Beamten ihre ersten Ermittlungsarbeiten ab. Inzwischen war auch Karl-Ludwig vom Baumarkt zurück. Er zeigte sich wenig begeistert, da die Ordnungshüter erheblich seinen stets vorgeplanten Tag beeinträchtigten und er sich in seiner Freiheit eingeengt fühlte. Mürrisch verschlang er sein Abendessen und verzog sich frühzeitig ins Bett. Marthe kam nicht zur Ruhe. Sie grübelte und grübelte, ob sie in den letzten Tagen irgendetwas Ungewöhnliches erspäht hatte.

Am Mittwochnachmittag rief Andreas Cornelsen seine frühere Vorgesetzte an. „Ich habe vorhin mit dem zuständigen Kommissariat des Landkreises gesprochen. Sie arbeiten mit uns unter meiner Federführung zusammen.“

„Das klingt gut. Mir kullert ein Felsbrocken vom Herzen“, gab Marthe kurz zur Antwort.

„Aber nicht in deinen Graben. Der ist noch nicht freigegeben.“ Andreas lachte laut.

„Spinner.“ Marthe war erst einmal sprachlos, musste aber schließlich schmunzeln. Andreas war unverbesserlich.

„Danke für das Kompliment. Aus deinem Munde ist das wie eine Streicheleinheit.“ Er amüsierte sich erneut. „Spaß beiseite. Bei der Leiche handelt es sich um eine weibliche Person,“ erläuterte Andreas sachlich. „Die Frau lag zirka drei Tage im Schlamm. Tod durch Ertrinken ist auszuschließen. Nach den bisherigen Ermittlungen wurde sie hinterrücks erschlagen. Wahrscheinlich mit einem großen Stein. Der Fundort ist nicht der Tatort. Die Spurensicherung hat Abdrücke im Schilf gefunden. Identische Grasflecke befanden sich an ihrer Kleidung. Es ist anzunehmen, dass sie von der kleinen Brücke aus in den Graben geworfen oder gerollt wurde.“

„Gott sei Dank wurde sie nicht in meinem Garten ermordet.“ Martha pustete erleichtert die Luft aus. „Habt ihr inzwischen etwas über die Identität der Person in Erfahrung bringen können?“

„Die Frau ist Anfang sechzig, hat blond gefärbtes, langes Haar, zirka ein Meter fünfundsiebzig groß, Gewicht knapp fünfundsechzig Kilo. Sie hatte nichts bei sich. Weder Handtasche noch Papiere. Die Jackentaschen waren ebenfalls leer.“

„Raubmord? Vergewaltigung?“, fragte Marthe.

„Dafür gibt es keinerlei Hinweise. Keine Kampfspuren oder andere Verletzungen.“

„Heißt das, jemand hat die Frau von hinten erschlagen und sie anschließend bei mir im Abwassergraben entsorgt?“

„Sieht fast so aus.“ Marthe hörte, wie Andreas am anderen Ende der Leitung seine Luft anhielt, um nicht laut herauszuprusten.

„Finde ich überhaupt nicht witzig“, fauchte Marthe. „Was werden die Nachbarn von uns denken? Wir sind gerade erst in die Elbmarsch gezogen.“

„Was willst du mehr? Die einen haben Leichen im Keller, du hast eine im Graben, und schon bist du überall bekannt und gehörst zu ihnen. Damit ersparst du dir deine Vorstellung bei den Nachbarn und einen Haufen Geld für Kaffee und Kuchen.“

„Hat dich letztes Wochenende dein Hamster geküsst oder was ist mit dir los?“, fragte Marthe bissig.

„Okay“, warf Andreas gedehnt ein, „jetzt ohne Humor. Deine dir so wichtigen Nachbarn von gegenüber und in der näheren Umgebung haben weder etwas gesehen noch gehört. Nach Auskunft der Behörden liegt im Landkreis Harburg oder im engeren Umkreis keine Vermisstenmeldung vor, die passen könnte.“

„Wäre zu einfach gewesen.“ Marthe grübelte. „Habt ihr Zahnabdrücke machen lassen?“

„Jawoll Chefin.“ Andreas lachte. „Die Fachabteilung kontaktiert gerade alle umliegenden Zahnärzte.“

„Wann kann ich meinen Garten wieder benutzen?“, fragte Marthe angesäuert.

„Du hast im Moment doch was Besseres zu tun, als in der Erde rumzubuddeln.“ Andreas pfiff ins Telefon.

„Was? Ich bin im Ruhestand“, fauchte Marthe.

„Okay. Ich melde mich sofort, wenn dein Garten wieder freigegeben wird, damit du deine Blumenzwiebeln pflanzen kannst.“

Marthe legte auf. Andreas Cornelsen war zu ihrer aktiven Zeit ein Superkollege mit einem scharfen Verstand. Aber manchmal fiel ihr seine schnoddrige Art auf die Nerven. Besonders heute.

3

Marthe kochte sich einen Cappuccino und setzte sich in die Küche. Sie sah Karl-Ludwig durch das Küchenfenster zu, wie er die Treppe zum Hauseingang ausbesserte. Karl-Ludwig ließ sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen. Weibliche Leichen interessierten ihn schon lange nicht mehr. In den fast vierzig Jahren ihrer Ehe hatte er sich längst damit abgefunden, ständig mit unbekannten Toten zu leben. Genau das sollte sich nach ihrer Pensionierung endlich ändern.

Marthe gestand sich ein, dass sie vor gut zwei Jahren nicht einmal genau wusste, was die Elbmarsch ist, wo genau sie lag und wie die Menschen dort auf dem Land tickten. Sie kannte die Samtgemeinde lediglich von wenigen unbedeutenden Einsätzen. Dass sie später dort wohnen würde, war ihr als Stadtmensch niemals in den Sinn gekommen. Eine pensionierte Landpomeranze? Undenkbar.

Karl-Ludwig machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Eines Abends legte er ihr das Exposee eines freistehenden Hauses mit großem Garten direkt am See vor die Nase. Er war völlig begeistert, wie schon lange nicht mehr. In den letzten zehn Jahren neigte er eher zum Couch-Potato. Wieso er sich plötzlich für Gartenbau und Viehzucht interessierte, blieb Marthe ein Rätsel. Aber gut, das Dorf war nicht weit von ihrer derzeitigen Wohnung entfernt, nur auf der anderen Elbseite, fast gegenüber von Geesthacht, wo sie zu dem Zeitpunkt wohnten.

An einem Sonntagmorgen im Dezember fuhr Marthe mit Karl-Ludwig los, um das Anwesen zu besichtigen. Sie tippte die Adresse ins Navi ein und startete. Über die Elbbrücke lief der Verkehr reibungslos. Zu Stoßzeiten im Berufsverkehr stand sie hier oft im Stau, wenn sie zu ihrer Dienststelle nach Lüneburg fuhr. Heute nicht. Die Fahrbahn war frei, obwohl es einen Tag zuvor ordentlich geschneit hatte.

Gleich hinter der Brücke bog sie in Rönne Richtung Marschacht ab, durchfuhr Nieder- und Obermarschacht, wie an vielen Tagen in ihrem aktiven Berufsleben. Am Ortseingangsschild Tespe sah sie auf das Navigationsgerät. „Ups, wir sollen noch sechs Kilometer fahren. Mir war nie bewusst, dass der Ort so groß ist.“ Links, auf der anderen Seite der Elbe befand sich das stillgelegte Kernkraftwerk Krümmel. „Guck mal, wie hässlich das von dieser Seite aussieht. Es verschandelt total diese schöne Landschaft“, murmelte sie. Vorher hatte sie das Ungetüm noch nie bewusst wahrgenommen.

Weisungsgemäß lenkte sie den Wagen rechts in die Lüneburger Straße. Ein riesiger Weihnachtsbaum stand an der Ecke. Wunderschön geschmückt. Er machte gute Laune, trotz des grieseligen Wetters.

Entlang des Fahrwegs muteten adventlich dekorierte Häuser heimelig an. Kleine zusammengefegte Schneehäufchen zeigten, dass es auch in Tespe geschneit hatte.

Rasch hatte Marthe den Ort durchquert und erreichte den Ortsausgang. Am Kreisel folgte sie der Kreisstraße Richtung Brietlingen und Lüneburg. Oft war sie die Straße schon langgefahren, aber selten hatte sie den Weg bewusst wahrgenommen.

Aus den Augenwinkeln sah sie kahle, schneebedeckte Felder rechts und links der Fahrbahn. Sonst nichts. Nebel waberte über die Äcker, sodass kaum der Horizont zu erkennen war.

„Bütlingen Ortsteil Tespe“, sagte Karl-Ludwig ernüchtert und wies auf das Ortsschild. Das Navi war der Meinung, dass sie gleich das Ziel erreicht hätten.

„Mein Gott.“ Marthe schnaufte durch die Nase und wandte sich an Karl-Ludwig. „Was hast du uns denn da eingebrockt? Das ist tiefstes Hinterland.“

Sie durchfuhren das Dorf, gesäumt von alten, teilweise ehemaligen Bauernhäusern. Im Sommer sah es hier bestimmt freundlich aus, aber bei diesem scheußlichen Wetter? Flugs waren sie durch den winzigen Ort hindurch und kamen am anderen Ende wieder an. „Links abbiegen“, befahl die Dame des Navis.

„Weiß ich, blöde Kuh“, fauchte Marthe. Langsam tuckerte sie die Straße, eher den überteerten einspurigen Feldweg, entlang. „Ziel erreicht.“ Endlich schwieg die säuselnde Stimme, vollkommen unbeeindruckt von Marthes vorheriger Beschimpfung.

Sie parkte den Wagen auf dem schneebedeckten Seitenstreifen. Beide stiegen aus. „Siehst du einen See?“, fragte Marthe angriffslustig.

„Der muss hier sein. Sieht alles aus, wie auf dem Foto.“ Karl-Ludwig wies auf ein Haus, das weiter rücklings lag. Davor befand sich ein riesiger, gepflasterter Hof, der für acht Autos reichlich Platz bot.

„Zu verkaufen.“ Marthe zeigte auf das Plakat im Garten. Sie blickte sich um. „Sehr abseits, die Gegend“, stellte sie sachlich fest. „Hast du im Ort ein Geschäft oder einen Bäcker gesehen? Ich jedenfalls nicht.“

„Darauf habe ich nicht geachtet“, erwiderte Karl-Ludwig unwirsch. Er schaute ein wenig schuldbewusst drein.

„Von der Stadt ans Ende der Welt zu ziehen, mutet mir eher wie ein Abenteuer und nicht wie wohlverdienter Ruhestand an. Soll ich mein Mittagessen etwa selbst angeln? Wo befindet sich überhaupt dieser vielgepriesene See?“

„Vielleicht ein Stück weiter in die Feldmark?“ Sie gingen ein paar Schritte den verrotteten Feldweg entlang. Rechts und links standen einige Gebäude. Ein erheblicher Abstand trennte die Häuser jeweils voneinander. Mal eben „Guten Tag“ sagen, ging nicht. Da musste man schon schreien oder ein Megafon benutzen.

Schon bald kamen sie bis zum Schluss der notdürftig asphaltierten Straße, danach folgte ein Weg, nur für landwirtschaftlichen Verkehr frei. So sah er auch aus, denn eine gefrorene Pfütze reihte sich an die andere. Ein Paradies für Kinder, um kleine Eisbahnen zu bauen.

„Da ist so etwas wie ein See!“, rief Marthe und zeigte auf eine Unmenge von hochgewachsenem Schilf und noch mehr Gräsern, die alle von einer weiß schimmernden Eisschicht überzogen waren. Dazwischen glänzte es silbern. „Ich hatte mir einen Badesee vorgestellt,“ stieß Marthe ungläubig aus, ohne die Schönheit dieses Augenblicks wahrzunehmen. Die feuchte Kälte kroch in ihr hoch. „Lass uns heimfahren“, wisperte sie niedergedrückt. Sie hatte jetzt keine Lust mehr auf Landleben, See und Abgeschiedenheit. Sie war frustriert.

Am Ende gab Marthe dem Wunsch von Karl-Ludwig nach und sie kauften das Grundstück. Irgendwie hatte es etwas Besonderes. Was genau, würde sich vielleicht später herausstellen.

Immerhin konnte sie in ihrem Ruhestand die Annehmlichkeiten zweier naheliegender Kleinstädte sowie die Stille des Landlebens genießen. Geesthacht und Lüneburg lagen in der Nähe. Das war für Marthe Bedingung, um die notwendige Versorgung sicherzustellen. Wer weiß, wie lange sie oder Karl-Ludwig im Alter mobil waren. Es gab auf dem Land wenig Alternativen zum Auto, sodass das kulturelle Leben sehr eingeschränkt werden musste oder kaum noch wahrzunehmen war. Wie sah es zum Beispiel mit der ärztlichen Versorgung aus? Viele Gedanken schossen Marthe durch den Kopf.

Im Frühjahr sah die Welt schon ein ganz klein wenig besser aus. Während Marthe und Karl-Ludwig das Haus renovierten, entdeckten sie auch positive Seiten. Die acht Zimmer waren geräumig und ebenerdig. Im Garten blühte es in den herrlichsten Farben, kein wabernder Nebel über kahle Felder wie im Dezember. Im Gegenteil, der Raps zeigte seine ganze Schönheit.

„Auf jeden Fall haben wir hier viel Ruhe“, tröstete sich Marthe und schenkte auf der Terrasse den ersten Kaffee im neuen Haus ein. Sie war gerade, nach mehr als vierzig Dienstjahren bei der Kriminalpolizei, in den Ruhestand gegangen. „Keine Morde, keine Straftaten, keine Betrügereien, keine Kriminalität. Nichts. Eben Elbmarsch hinterm Deich – oder Elbmarsch am Ende der Welt.“ Sie drückte Karl-Ludwigs Hand und legte ihm ein Stück Torte auf den Teller.

„Es sei denn, deine zugereisten Katzen bringen einheimische Mäuse um.“ Karl-Ludwig lachte verschmitzt. In Kürze würden zwei kleine Kätzchen, Resultat einer ungewollten Schwangerschaft, mit ins Haus ziehen. Max und Marie. Ein traumhaftes Ich-bin-in-Pension-Paradies inklusive Tierfamilie inmitten herrlicher Natur.

Zwei Jahre später entschloss sich Marthe, den lästigen wildwüchsigen Knick am Graben auf ihrem Grundstück abholzen zu lassen. Er galt vor mehr als hundert Jahren als Feldmarkbegrenzung. Der Boden war mit der Zeit sauer und unbrauchbar. Es wuchsen kaum Blumen und die Erde war stark durchwurzelt, sodass man sie nicht umgraben konnte. Zudem nahm ein riesiger, wilder Kirschbaum das Sonnenlicht weg. Die Hausmauer war ständig feucht.

Marthe beauftragte einen heimischen Gartenbaubetrieb. Bereits im Februar wurde der Knick komplett abgeholzt. Das Buschwerk stapelte der Betrieb auf Marthes Grundstück entlang des Entwässerungsgrabens. Anfang April wurde schweres Gerät aufgestellt, um die Wurzeln zu entfernen sowie das abgelagerte Holz vor Ort zu häckseln. Bis zu den Pfingstfeiertagen wäre alles wieder schön und mit bienenfreundlichen bunten Stauden bepflanzt, versprach der Gartenbaubetrieb. Genauso hatte es sich Marthe auch vorgestellt. Sie sollte eines Besseren belehrt werden.

4

Und jetzt lag eine weibliche Leiche im Entwässerungsgraben unterhalb des alten Knicks. Wie kam die Frau übers Wochenende unbemerkt dahin? Sie und Karl-Ludwig waren die ganze Zeit zu Hause gewesen, da es ununterbrochen in Strömen geregnet hatte. Zumindest hätten sie etwas hören müssen. Marthe zuckte resignierend die Achseln.

Sie verließ das Haus und ging den gepflasterten Fußweg am Gebäude entlang. Anschließend überquerte sie den großen Garagenhof mit der Einfahrt zur Straße hin. Von dieser Seite war der gesamte hintere Gartenbereich nicht einsehbar. Riesige Koniferen versperrten den Blick.

Marthe untersuchte die kleine Brücke, die über den Graben führte. Der Übergang war weder rechts noch links abgesichert. Ein unaufmerksamer Autofahrer konnte rasch im schilfbewachsenen Abhang landen. Bei Dunkelheit hätte hier unbeobachtet ein Fahrzeug halten können, um sich der Leiche zu entledigen, da es genau an dieser Stelle keine Straßenbeleuchtung gab. Der notdürftig geflickte Feldweg wurde fast nur von Anliegern befahren. Um diese Jahreszeit, insbesondere in der Abenddämmerung und Nachtzeit, benutzten nur wenige Leute die Straße. Spaziergänger oder Radfahrer erkundeten erst in den wärmeren Sommermonaten die nähere Umgebung.

Marthe fröstelte. Obwohl es nicht mehr regnete, war es Anfang April noch recht kühl. Sie schlenderte zurück in die Wohnung. Der plötzliche Vorfall hatte ihren Tagesablauf völlig über den Haufen geworfen, zumal sie im Garten nichts tun durfte. So begann sie, die Küchenschränke auszuwaschen. Auf jeden Fall musste sie sich beschäftigen, um nicht ständig zu grübeln.

Vier Katzen streunten um Marthes Beine. Die damaligen kleinen Kätzchen Max und Marie waren inzwischen zu stattlichen Stubentigern herangewachsen. Im letzten Jahr rettete Marthe weitere zwei wildgeborene Kitten vor dem sicheren Hungertod. Auch sie zogen bei ihr ein. Mittlerweile ließen sie sich ausschließlich von Marthe streicheln, ohne sie anzufauchen. Jeder andere tat gut daran, nicht die Hände nach ihnen auszustrecken. Marthe liebte Tom und Jerry, wie sie die beiden Wilden genannt hatte, die zu wunderschönen Katerchen herangewachsen waren.

Nachdem die Schrankregale geputzt waren, schälte Marthe die Möhren fürs Abendessen, die sie von einem einheimischen Bio-Bauernhof gekauft hatte. Das Klingeln des Telefons im Arbeitszimmer riss sie aus der Tätigkeit. Andreas Cornelsen aus Lüneburg war am Apparat. „Das ging schneller, als wir dachten“, sagte er. „Anhand der Zahnabdrücke konnten wir die Identität der toten Frau feststellen.“

„Wer ist sie?“, fragte Marthe interessiert und wischte sich die Hände an der Hose ab.

„Es handelt sich um Elena Bartsch. Zweiundsechzig Jahre, wohnhaft in Drennhausen, also eine Elbmarscherin. Verheiratet, eine erwachsene Tochter, die in New-York lebt. Ihren Ehemann haben wir nicht erreicht. Nachbarn vermuten, dass er seit zirka einer Woche verreist sei. Frau Bartsch wurde vorigen Donnerstag oder Freitag zuletzt an ihrem Haus gesehen.“

„Also kurz vor dem vermeintlichen Todeszeitpunkt?“

„Scheint so. Wir überprüfen gerade diese Aussagen“, erwiderte Andreas. „Ihr Auto parkte verschlossen auf der Garageneinfahrt. Eine Hausdurchsuchung ist inzwischen angeordnet.“

„Hm“, überlegte Marthe, „der Name kommt mir bekannt vor. Ich weiß nur nicht woher.“ Sie legte den Zeigefinger an die Wange. Das tat sie stets, wenn sie nachdachte.

„Aus einem deiner Fälle?“, wollte Andreas ihr auf die Sprünge helfen.

„Eher nicht. Diese Personen kann ich mir immer merken. Ich werde darüber nachdenken.“

„Ich komme morgen Vormittag bei dir vorbei“, unterbrach Andreas sie. „Vielleicht ist es dir bis dahin eingefallen. Könnte interessant für die weiteren Ermittlungen sein. Außerdem können wir mal wieder, wie in früheren Zeiten, bei einer Tasse Kaffee fachsimpeln.“

„Das ist eine gute Idee“, gab Marthe erfreut zurück. „Ich überlege derweil.“

Karl-Ludwig war noch unterwegs. Er war zwischendurch schnell zum Baumarkt gefahren, um noch fehlenden Zement für die Treppe einzukaufen. Das würde also dauern.

Marthe kramte eine alte Mappe aus dem Schrank hervor. Darin bewahrte sie Unterlagen von Ausstellungen oder sonst für sie wichtige Informationen auf, die ihr neuestes Hobby Garten, Haus und Kunst betrafen. Sie blätterte die Prospekte und Flyer durch.

„Hier“, sagte Marthe laut und schlug ein Heftchen auf. Es handelte sich um eine Kunstausstellung mit Handwerkermarkt im Landkreis Harburg, in der Elena Bartsch als Ausstellerin vorgestellt wurde. Marthe schaute auf das Deckblatt. Aus Frühjahr zweitausendsechzehn. „Schon länger her“, stellte sie fest. Warum lag die Broschüre in dem Ordner? Sie überschaute die Fotografien. „Ach ja“, erinnerte sie sich. „Das Gemälde gefiel mir damals.“ Es zeigte ein Bild in Blautönen, eine Mischung aus van Gogh und den Mosaiken von Antoni Gaudi. Marthe hatte es verwahrt, weil sie ein Jahr zuvor die Kunstwerke von Gaudi auf einer Urlaubsreise in Barcelona bewundern durfte.

Marthe ließ den Prospekt auf ihrem Schreibtisch liegen. Zumindest ließ er ein paar wenige Hinweise auf das Hobby von Elena Bartsch zu.

Marthe machte das Abendessen fertig. Karl-Ludwig war inzwischen mit Zementsäcken, Holzlatten, Schrauben und offenbar wichtigen Steckdosen nach Hause gekommen. Er verstaute das Material im Schuppen, bevor er sich an den Tisch setzte.

„Was macht deine Tote?“, fragte er und löffelte die Möhrensuppe.

„Wieso meine Tote?“, fragte Marthe in aggressivem Ton zurück.

„Weil du dich schon wieder um Dinge kümmerst, die dich nichts angehen“, erklärte Karl-Ludwig ruhig. „Du bist pensioniert und es ist nicht dein Fall.“

„Meinst du, dass es mir Spaß macht, in meinem Graben eine Leiche zu finden? Du kannst mir glauben, dass ich lieber Fortschritte im Garten gesehen hätte.“ Marthe warf klirrend den Löffel in den Teller, sodass Suppe auf den Tisch spritzte. „Ich habe keinen Hunger.“ Sie stand auf und ging ins Arbeitszimmer.

Marthe stützte den Kopf in die Hände. Karl-Ludwig war alt geworden. Er beschäftigte sich lieber mit Nägeln, Zement, Holzbrettern, statt eine Diskussion zu führen oder über Probleme nachzudenken. Sie konnte ihn verstehen, aber dieses einfache Holz- und Zementleben reichte ihr nicht. Es musste nicht gerade eine Leiche im Garten sein, aber ein paar Gespräche und Diskussionen, etwas mehr Kunst oder Kultur oder Ausflüge konnten nicht schaden. Doch Karl-Ludwig zeigte dafür in der letzten Zeit wenig bis gar kein Interesse. Marthe seufzte. Sie ging ins Bad, schminkte sich ab und machte sich bettfein. Morgen war auch noch ein Tag.

5

In aller Herrgottsfrühe räumte Marthe am Donnerstagmorgen die Küche auf und kochte einen starken Kaffee. Aus ihrer aktiven Zeit wusste sie, dass Andreas am Morgen meistens Anlaufschwierigkeiten hatte.

Andreas Cornelsen erschien gegen neun Uhr. Seine leicht gewellten, dunklen Haare standen in alle Richtungen ab. Das Gesicht zierte ein Dreitagebart. Wie immer trug er die abgewetzte Lederjacke. Andreas, wie er leibt und lebte.

„Ich freue mich, dich wiederzusehen“, sagte sie herzlich und führte ihn ins Arbeitszimmer. „Kaffee ist fertig.“ Sie brachte ihm den Pott. „Schwarz, ohne Milch und Zucker.“

„Ich bin begeistert, dass du dich noch an meinem Kaffee erinnerst.“ Er trank einen großen Schluck. „Schicken Garten hast du. Besonders die rot-weißen Bänder gefallen mir.“ Andreas grinste unverschämt.

Marthe verdrehte theatralisch die Augen. „Wann wirst du endlich erwachsen?“, erwiderte sie.

„Hat Zeit.“ Er stellte den Becher ab. „Ich bin gerade mal knapp vierzig.“

„Ich dachte, nach meinem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst einen würdigen Nachfolger gefunden zu haben.“ Sie zwinkerte ihm zu. Sie wusste, welch scharfen Verstand er besaß und ihn durch seine schlaksige Art geschickt verdeckte, insbesondere bei den Verhören.

„Ich bin ein würdiger Nachfolger. Ich tätige sogar Hausbesuche, wie du siehst. Mache ich nicht bei jedem“, betonte er gönnerhaft.

„Jetzt wird es ernst“, sagte Marthe im lehrerhaften Ton. „Ich fand Unterlagen über Elena Bartsch.“ Sie reichte ihm die Broschüre zu.

„Willst du mich auf den Arm nehmen? Das ist ein Flyer über eine Kunsthandwerkerausstellung auf dem Land, die zudem noch vor mehr als fünf Jahren stattfand.“ Er wedelte mit dem Papier hin und her, als wenn er es jeden Moment wegwerfen wollte.

„Hast du etwas gegen Kunsthandwerker?“, fragte Marthe spitz und griff nach dem Flyer.

„Seit wann bist du so humorlos?“, fragte Andreas irritiert. „Ich habe absolut nichts gegen Kunst oder auch nichts gegen Handwerker. Wie du weiß, bin ich völlig untalentiert und krieg nicht mal den Nagel für ein Bild in die Wand.“

„Schon gut“, erwiderte Marthe friedlicher. „Mir geht die Frau nicht aus dem Kopf. Ich habe fast das Gefühl, als kenne ich sie schon seit vielen Jahren.“ Marthe schlug den Flyer auf. „Als du mir gestern am Telefon ihren Namen sagtest, bemerkte ich lediglich, dass er mir bekannt vorkam.“ Marthe senkte den Kopf und sprach leise weiter. „Jedenfalls war sie künstlerisch aktiv, das wissen wir nun. Mir gefiel seinerzeit ein Bild von ihr. Deshalb erinnerte ich mich daran. Sie hatte ein außergewöhnliches Talent.“ Marthe sprach in ruhigem Ton. Aus Erfahrung wusste sie, dass oftmals eine Kleinigkeit aus dem Leben eines Opfers von großer Wichtigkeit sein konnte. Und genau dieses hatte sie in den Jahren der Zusammenarbeit ihrem jungen Kollegen Andreas immer eindringlich ans Herz gelegt.

„Ich lasse es überprüfen.“ Andreas griff erneut nach dem Flyer und steckte ihn sorgfältig in die Seitentasche der Lederjacke.

„Elena Bartsch hat damals gemeinsam mit drei weiteren Frauen ausgestellt“, erläuterte Marthe. „Alle stammten aus in umliegenden Dörfern der Elbmarsch. Zumindest ist das ein Ansatzpunkt für Befragungen. Noch einen Kaffee?“ Sie hielt ihm die Warmhaltekanne hin.

„Gerne.“ Andreas reichte ihr den Becher entgegen.

„Hast du schon brauchbare Ergebnisse der Hausdurchsuchung erhalten?“, wollte Marthe wissen.

„Nach ersten Erkenntnissen gibt es keinerlei Hinweise, dass Elena Bartsch dort zu Tode kam. Weder Fingerabdrücke noch Blut- oder Einbruchspuren. Das Haus war sorgfältig abgeschlossen, als wenn sie kurz zum Einkaufen unterwegs gewesen wäre.“

„Und ihr Mann?“

„Theo Bartsch ist nachweisbar vorige Woche nach Bangkok geflogen. Gebuchter Rückflug ist Donnerstag in einer Woche.“

„Woher wisst ihr das?“, fragte Marthe.

„Wir fanden auf dem Schreibtisch im Haus das Duplikat der Reisebestätigung.“

Marthe schaute auf den Kalender. „Also ist er am einunddreißigsten März abgereist und landet voraussichtlich am vierzehnten April in Hamburg?“

Andreas nickte bestätigend.

„Folglich war er zum Todeszeitpunkt nicht zu Hause?“, Marthe kniff die Augen zusammen. „Und er kommt nicht infrage?“

„Wir haben das überprüft. Die Daten stimmen und er saß tatsächlich im Flugzeug.“ Andreas schob den Kaffeebecher mit dem Zeigefinger hin und her. „Inzwischen konnten wir ihn in Bangkok ausfindig machen. Er ist informiert, fliegt sofort zurück und ist morgen in Hamburg.“

„War er dienstlich in Thailand?“

„Nö. Wohl eher zum Vergnügen.“ Andreas lachte. „Das Wellnesshotel, in dem er wohnt, ist für besondere und exklusive Dienste bekannt.“

„Das auch noch.“ Marthe verdrehte die Augen.

„Vielleicht vergab unsere Elena in Deutschland zum Ausgleich ebenfalls besondere Dienste.“ Andreas grinste.

„Du kommst heute ständig auf merkwürdige Ideen.“ Marthe schüttelte tadelnd den Kopf. „Sachlich ist das nicht. War etwas in meinem Kaffee, das dir nicht bekommen ist?“

„Irgendeinen, auch wenn noch so kleinen Grund muss es immerhin geben, dass Elena Bartsch erschlagen wurde. Außerdem war sie sehr attraktiv. Und dann solltest du dir mal das Bartsch-Haus von Innen und Außen anschauen. So etwas hast du noch nicht gesehen.“

„Ausschließlich Attraktivität ist kein Motiv, eine Frau zu ermorden. Was ist mit dem Haus?“, fragte Marthe neugierig.

„Das ist kein Haus, das ist ein Märchenschloss aus tausend und einer Nacht mitten in der norddeutschen Elbmarsch.“

„Wow, da wirst du ja richtig lebendig am Morgen.“ Marthe amüsierte sich. Sie überlegte einen Moment. „Hast du was dagegen, wenn ich mich in die Ermittlungen einmische?“, fragte sie anschließend und sah Andreas von unten herauf an.

„Warum?“

„Ich habe ein eigenartiges Gefühl, dass Elena Bartsch es von mir erwartet beziehungsweise ich es ihr schuldig bin.“

„Wie kommst du darauf? Gibt es einen besonderen Grund? Kennst du sie doch?“ Andreas sah seine Exkollegin eindringlich an.

„Keinen erklärbaren Grund, nur so ein Gefühl. Und nein, ich kenne sie nicht persönlich“, erklärte Marthe.

„Ich dachte, du wolltest endlich in Ruhe Gartenarbeit machen und Tulpenzwiebeln pflanzen. Die Katze lässt das Mausen nicht. Ich habe es geahnt.“ Andreas wuselte in seinen Jackentaschen herum. „Ah, hier. Hätte ich fast vergessen.“ Er wedelte mit einem Stück Papier. „Für diesen Fall wird die pensionierte Hauptkommissarin Marthe Walther in den Dienst zurückversetzt.“ Andreas überreichte ihr das Schreiben und einen Ausweis. „Allerdings unterstehst du meinen Weisungen. Also benimm dich. Und mit spirituellen Spekulationen und Gefühlen kann ich ebenfalls nichts anfangen. Ich bitte in diesem Fall um absolute Sachlichkeit.“ Er grinste unverschämt.

„Du bist ein Goldschatz.“ Sie legte die Unterlagen auf den Schreibtisch und verschränkte die Arme vor der Brust. „Kaum wohne ich in der ach so tugendhaften Elbmarsch mit ihren alteingesessenen ehrbaren Bürgern, geschieht ein Mord. Zu allem Unglück wird die Leiche auf meinem Grundstück gefunden, also auf dem Grund und Boden einer Zugereisten. Ich fühle mich wie eine Kriminelle, die nicht hierher passt.“

„Du doch nicht.“ Andreas tippte sich an die Stirn. „Wieso bist du so verbittert? Das ist überhaupt nicht deine Art.“ Seine Augen blickten Marthe ungewöhnlich ernst an.

Marthe zog die Achseln hoch. „Tatsächlich fühle ich mich hier nicht besonders wohl“, begann Marthe. „Ich fühle mich oftmals wie in einer Zwei-Klassen-Gesellschaft. Die Alten und die Neuen. Manchmal möchte ich einfach nur nach Hause.“

„Das ist hier dein Zuhause“, warf Andreas ein. „Ihr habt es euch so ausgesucht.“

„Vielleicht wird es mal ein Zuhause oder auch nicht“, meinte Marthe. „Ich habe gestern und vorgestern die verstohlenen Blicke der umliegenden Nachbarn gesehen, obwohl ich nur Müll rausgebracht habe. Ich schätze, sie stufen mich als Serienmörderin aus einer fremden weiten Welt ein.“ Marthes Ton klang verbittert.

„Okay, dann weise dich als langjährige, erfolgreiche Kripobeamtin aus, die den Fall übernommen hat. Ich wette, die ehrbaren Ureinwohner ziehen ziemlich rasch ihr tugendhaftes Schwänzlein ein.“

„Wenn sie überhaupt ein tugendhaftes Schwänzlein besitzen. Davon müssen sie mich erst einmal überzeugen“, wandte Marthe sarkastisch ein.

„Und trotzdem willst du hierbleiben und Tulpenzwiebeln pflanzen? Das nenne ich mutig.“

„Oder Feigheit vor dem Feind. Da gibt es erstens noch Karl-Ludwig und zweitens keine Lust auf einen weiteren Umzug.“ Sie goss etwas Kaffee in ihren Becher und füllte ihn mit Milch auf. „Was ich hier bereits in den zwei Jahren erlebte“, sprach sie weiter, „und welche idiotischen Vorurteile ich oftmals hörte, das riss mir glatt die Socken vom Fuß. Fehlt nur noch die aktive Hexenverbrennung.“

„Oder eine weibliche Leiche in deinem Graben“, wechselte Andreas das Thema. „Wie willst du weiter vorgehen? Die Spurensicherung gibt nachher dein Grundstück frei. Sie haben nichts Weiteres gefunden. Der Fundort war definitiv nicht der Tatort. Du könntest allerdings, wenn du Blumenzwiebeln einbuddelst und Kräuter pflanzt, auf Spuren achten.“

„Keine Blumenzwiebeln. Erst muss die Gärtnerei fertig werden.“ Marthe lachte befreit. „Ich schaue mich zuerst in Elenas Wohnort um. Ein kleiner Spaziergang durch Drennhausen mit Leutebefragung und Nachmittagskaffee kann nicht schaden. Hast du die genaue Adresse parat?“

Er schrieb sie auf einen Zettel. „Da machst du dich aber verdächtig“, meinte Andreas.

„Wieso?“ Marthe grinste. „Ich bin neu in der Elbmarsch und mich interessieren Land und Leute. Da fühlen sich die Ureinwohner bauchgepinselt, wenn ich mich interessiere. Ich werde einen Teufel tun und sagen, dass ich in Bütlingen wohne und die Leiche in meinem Graben lag.“

„Na dann.“ Andreas stand auf. „Ich muss los. Auf gute Zusammenarbeit, Frau Kollegin. Wir telefonieren.“

6

Marthe brachte Andreas zum Auto. Anschließend suchte sie den Weg auf dem Übergang des Grabens ab. Vielleicht hatte der Mörder, als er die Frau die Böschung hinunterwarf, etwas verloren, was die Spurensicherung übersehen hatte. Übers Wochenende hatte es ohne Unterbrechung in Strömen gegossen. Marthe stocherte in Pfützen und im Schotter herum. Was erhoffte sie sich? Die Spurensicherung arbeitete immer sorgfältig. Anschließend stapfte sie durch das nasse, kniehohe Gras und drehte jeden Grashalm um. Sie entdeckte einen alten Kronkorken, die Reste eines Teelichts, verrottete Holzstücke sowie, zu allem Überfluss, eine tote Maus. Nichts, was auf das Opfer oder den Täter hinwies.

Am frühen Nachmittag fuhr Marthe in ihrem kleinen Audi nach Drennhausen, ein beschauliches Elbmarschdorf mit knapp zweihundertvierzig Einwohnern, das zur Gemeinde Drage gehörte. Die sehenswerte St.-Marien-Kirche zierte die Mitte des Dorfes und lud zu einer Besichtigung ein. Sie lag nur wenige Meter vom Elbdeich entfernt.

Marthe hatte sich bereits seit einiger Zeit vorgenommen, die Kirche zu besichtigen, war aber bislang nicht dazu gekommen. Nun hatte sie Gelegenheit.

Sie lenkte den Wagen über den Kirchweg an der Kirche vorbei und parkte am Café. Das komplett restaurierte alte Elbmarscher Haus war eine Augenweide. Wie auf Kommando riss der Himmel auf und die ersten Sonnenstrahlen kamen hervor. Genau der richtige Zeitpunkt, um auf der Außenterrasse, die auf Stelzen gebaut war, einen Kaffee in der Frühlingssonne zu trinken.

Das Café lag direkt am Deich mit freiem Blick über die Elbe. Die Sicht war klar. Problemlos konnte Marthe über den Fluss auf die Hamburger Seite schauen. Sie bestellte bei der Bedienung ein Stück Eierlikörkuchen und genoss die Ruhe. Die junge Frau wischte den Tisch trocken und brachte das Gewünschte. Marthe war der einzige Gast auf der Terrasse. Der Ostertourismus würde frühestens nächste Woche einsetzen.

‚Ob sie die Bedienung nach Elena Bartsch fragen sollte?‘, überlegte Marthe. Sie unterließ es, da der Winsener Anzeiger erst gestern in einem Randartikel über die zu dem Zeitpunkt noch unbekannte Tote aus Bütlingen berichtet hatte.

Marthe genoss eine Weile die Sonne und die Aussicht vom Café über die Marsch und die Elbe, dann zahlte sie und ging auf den Deich. Hier schlug sie den Fußweg in Richtung Drage ein. Rechts und links grasten Schafe und Lämmer liefen hinter ihren Müttern her. Marthe musste aufpassen, dass sie nicht in Schafskot trat.

Außerhalb von Drennhausen, zwischen den beiden Orten, lag das Haus der Familie Bartsch knapp hinter dem Deich. Marthe erkannte bereits von Weitem die Absperrbänder und schlenderte näher heran. Sie wischte eine alte Holzbank trocken und setzte sich. Von der kleinen Anhöhe aus hatte sie freie Sicht auf das Wohnhaus.

Das gesamte Grundstück umgab eine dichte, hohe Koniferenhecke, die nur wenige Teile des geräumigen Gartens freigab. Das Erdgeschoss des weiß gestrichenen Hauses konnte Marthe nicht einsehen. Die Rollläden im ersten Stock waren hochgezogen. Hinter den Fensterscheiben erkannte Marthe Spitzengardinen. Sie tippte auf kunstvoll gefertigte Brüsseler Spitze. Vier kleine und ein großes Türmchen zierten das Dach, das in dunklem Naturschiefer gedeckt war. Auf der ausladenden Garagenauffahrt stand ein roter Corsa, Elenas Pkw. Das Anwesen sah keineswegs unbewohnt aus. Marthe dachte daran, dass Andreas gesagt hatte, dass das Haus wie ein Schloss aus tausend und einer Nacht anmutete. Sie musste ihm beipflichten. Es passte ganz und gar in die Elbmarsch.

Marthe überlegte. War Elenas Mann mit dem eigenen Auto oder mit einem Taxi zum Flughafen gefahren? Wenn sich der Wagen in der Garage befand, war es höchstwahrscheinlich nicht das Fahrzeug, mit dem Elena nach Bütlingen transportiert worden war. Sie nahm an, dass die Spurensicherung das bereits untersucht hatte. Aber wo hatte der Täter Elena umgebracht? Und warum?

Marthe erhob sich und spazierte zu ihrem Audi zurück. Da es noch früher Nachmittag war, entschloss sie sich, die nähere Umgebung zu erkunden. Vielleicht würde sich ein Einwohner finden, den sie befragen konnte.

Sie überquerte mit ihrem Wagen die Hauptstraße und fuhr vom Kirchweg in einen kleinen Weg. Intuitiv vermutete Marthe, dass Elena einen kleinen Spaziergang machen wollte und dabei auf ihren Mörder traf. Das hätte zu ihrer leichten Kleidung und den Schuhen gepasst. Der fehlende Schlüssel zur Eingangstür des Bartsch-Hauses gab zusätzlich Rätsel auf, da keine Handtasche bei der Leiche gefunden worden war. Offenbar schien allerdings niemand nach Elenas Ermordung das Haus betreten zu haben.

Marthe rollte im Schritttempo die wenigen Einfamilienhäuser entlang. Hier und da werkelte ein Bewohner im Garten, um den Sonnenschein nach dem langen Regen auszunutzen. Kaum jemand sah auf, als sie das fremde Auto erblickten. Marthe kam bis zu einer Gabelung. Links zeigte ihr ein Schild an: Verbot für Fahrzeuge aller Art, land- und forstwirtschaftlicher Verkehr frei. An dem rechten Weg das gleiche Schild. Nun, wenn ein landwirtschaftliches Fahrzeug fahren konnte, würde sie mit ihrem Kleinwagen auch durchkommen.

Übermütig entschloss sie sich, links ein Stück die enge Straße weiterzufahren. Der Weg war wesentlich besser ausgebaut als die Straße bei sich zu Hause, schon fast komfortabel. Lediglich war er einspurig, sodass ein Ausweichen nicht möglich gewesen wäre, zumal rechts und links Entwässerungsgräben angrenzten. Aber wer sollte ihr jetzt entgegenkommen? Das Befahren des Weges war für Fahrzeuge aller Art nicht erlaubt, außer für landwirtschaftliche Fahrzeuge. Marthe kicherte wie ein kleines Kind.

Sie konzentrierte sich darauf, gerade auf der Straße zu bleiben. Plötzlich tauchte in einiger Entfernung vor ihr ein Trecker auf. „Auch das noch“, fluchte sie. Sie sah sich um, ob es irgendwo eine Einbuchtung gab, um das Auto an den Rand zu lenken. Auf der Fahrerseite begrenzte ein Entwässerungsgraben den Weg, rechts ebenfalls. Daneben war so etwas wie eine Weide, jedenfalls grasten dort ein paar Pferde. Sie jonglierte den Wagen äußerst rechts an den Graben, in der Hoffnung, nicht seitlich wegzukippen. Sie erkannte mit Entsetzen, dass niemals ein Trecker an ihr vorbeikommen würde, allenfalls ein Trampelauto für kleine Kinder. Resignierend schaltete Marthe den Motor aus.

Der Traktor hielt kurz vor ihrem Pkw und verstopfte den gesamten Weg in voller Breite. Der Fahrer, ein älterer Herr im Arbeitsanzug, hievte sich hinunter und kam zu ihr. Marthe öffnete das Seitenfenster.

„Junge Frau“, begann der Mann langgezogen und schob seinen zerbeulten Hut ein Stück aus der Stirn, „hast du das Schild da vorne nicht gesehen? Nur für Landwirtschaftsverkehr frei.“

„Doch, doch“, stotterte Marthe. Sie kam sich wie ein kleines Kind vor, dass bei einer Schandtat erwischt wurde.

„Und was machst du dann auf meinem Weg mit deinem Vehikel?“

„Ich wollte schauen, ob ...“ Marthe fiel keine passende Ausrede ein.

„Biste aus Schleswig-Holstein und weißt nicht wohin?“, fragte er.

„Wieso?“

„Ratzeburger Kennzeichen.“ Er grinste. „Wohl auf Osterurlaub in der schönen Elbmarsch?“

„Ich wohne hier“, gab Marthe empört zurück.

„Hier? Hab dich in Drennhausen noch nie gesehen.“