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Die dreiundzwanzigjährige Marie-Claire Biasini studiert in Paris Musik und Tanz. Ihr Traum ist es, Primaballerina zu werden und die Giselle an der Opéra Garnier zu tanzen. Sie bezieht mit der Kunststudentin Sonia eine kleine Mansarde unterhalb des Montmartre. Das gegenüberliegende Atelier übt auf sie eine magische Anziehungskraft aus. Sie glaubt, von dort Chansons der verstorbenen Edith Piaf zu hören und darin die Stimme ihrer Mutter zu erkennen. Immer öfter hat Marie-Claire in der Nähe des Ateliers Déjà-vus und Visionen. Sie meint, sowohl Personen als auch Örtlichkeiten zu kennen und sieht, wie der bereits vor vierundzwanzig Jahren tödlich verunglückte Surrealist André Bouvard über die Brüstung der Terrasse des Ateliers stürzt. Durch Protektion ihrer Tanzlehrerin erhält Marie-Claire die Chance, an der Pariser Opéra Garnier die Giselle zu tanzen. In einer Pause lernt sie den surrealistischen Maler Sébastien Cohen kennen und verliebt sich in ihn. Die Geschichte von vor vierundzwanzig Jahren scheint sich zu wiederholen.
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Seitenzahl: 530
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Monique Lhoir
Marie-Claire
Déjà-vu in Paris
Romantischer Mystery-Thriller
Impressum
Texte: © 2024 Copyright by Monique Lhoir
Umschlag: © 2024 Copyright by Margarete Böhm
Verantwortlich
für den Inhalt: Monique Lhoir
21395 Tespe OT Bütlingen
www.monique-lhoir.de
Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH,
Berlin
Vorwort
Dieser Roman entstand, weil ich tatsächlich vor Jahren ein unerklärliches Déjà-vu in Paris hatte. Obwohl ich vorher nie in Montmartre war, konnte ich in diesem Moment eine Örtlichkeit beschreiben und wusste genau, was hinter einer Kreuzung lag. Letztlich hat mich dies nachdenklich gemacht und ich begann den Roman zu schreiben.
Paris ist faszinierend – ohne Zweifel. Es lohnt sich allemal, einen längeren Aufenthalt in dieser Stadt einzuplanen, denn in zwei, drei Tagen wird man niemals Paris kennenlernen.
Die Geschichte spielt in der Gegend um Montmartre und seinen Malern, der Sacré-Cœur, der Opéra Garnier und dem Marais-Viertel – ein Muss für eine Paris-Visite.
Der Roman bewegt sich in der Welt des Tanzes, denn Giselle ist eins der größten Meisterwerke des klassischen Balletts und eines derjenigen aus der Epoche der frühen Romantik. Es ist bis heute im Repertoire geblieben und wird traditionell jedes Jahr in der Opéra Garnier aufgeführt.
Ferner spielt Musik in dieser Geschichte eine wichtige Rolle, wie zum Beispiel die Chansons der Edith Piaf und natürlich von Serge Gainsbourg. Er war einer der einflussreichsten und kreativsten Singer-Songwriter seiner Zeit und beeinflusste maßgeblich die französische Popmusik, aber auch Kino und Literatur. Er galt als Provokateur, pflegte dieses Image und wurde von der Pariser Jugend deshalb verehrt.
Die Story spiel im Pariser Künstler-Milieu. Sie ist romantisch und surrealistisch zugleich, vielleicht ein bisschen verrückt. Beim Lesen sollte man sich die Musik von Serge Gainsbourg und Edith Piaf anhören, sich das Ballett Giselle ansehen oder die Musik genießen, um sich anschließend in die Welt der Träume zu begeben – vielleicht bei einem Glas Rotwein? – Kommen Sie mit mir nach Paris.
1 Montmartre
„Claire, was hast du? Ist es das Haus auf der anderen Seite?“ Sonia ging auf den Balkon und trat hinter ihre Freundin, die wie in Trance auf das gegenüberliegende Gebäude blickte. Marie-Claire antwortete nicht, sondern starrte mit weit aufgerissenen Augen hinüber.
„Es ist wieder das Haus“, stellte Sonia fest.
„Hast du sie singen gehört?“, fragte Marie-Claire. „Du hast doch dieses Mal auch ihre Stimme vernommen, nicht wahr?“ Marie-Claire wandte sich um, packte Sonia unsanft am Arm und sah sie angstvoll an.
„Claire, komm zu dir. Es singt niemand und es hat keiner gesungen. Ich höre nur Straßenlärm. Bestimmt hat jemand aus der Nachbarschaft das Radio aufgedreht.“
Sie zog Marie-Claire in die Wohnung zurück.
„Du hast Recht.“ Resigniert ließ sich Marie-Claire auf einen Rattansessel nieder.
Sonia fixierte jetzt selbst fasziniert das Haus, das nur durch einen kleinen Platz von ihnen getrennt lag. Die Sonnenstrahlen spiegelten sich in einer großen Glaskuppel, die sich auf dem Dach befand. Das schimmernde Glas erzeugte Lichtpunkte in allen Farbschattierungen, die in Marie-Claires und Sonias Wohnung drangen.
„Die Kuppel besteht aus einem einzigartigen Kristall“, überlegte Sonia. „Am Tag und in der Nacht sieht sie normal aus, aber wenn die Sonne eine bestimmte Höhe hat, beziehungsweise kurz vor dem Untergehen ist, funkelt sie wie tausend Diamanten.“
„Noch schöner ist es, wenn du in der Wohnung direkt darunter stehst und durch das Glas in den Sternenhimmel schaust.“ Marie-Claire massierte mit den Fingerspitzen ihre Schläfen. „Von der Terrasse kannst du geradewegs auf den Montmartre sehen und die Sacré-Cœur erstrahlt in einem strahlend weißen Licht. Wie ein Märchenschloss. Genau jetzt ist dieser Zeitpunkt! Das Schauspiel dauert nur ein paar Minuten, dann ist der Zauber vorbei.“
Sonia drehte sich um und sah Marie-Claire verwundert an. „Warst du schon in der Wohnung?“
„In welcher Wohnung?“ Marie-Claire zog fragend ihre Augenbrauen zusammen.
„Na, in der Wohnung dort drüben natürlich. Du hast gerade gesagt, dass man daraus eine wunderschöne Aussicht hätte.“
„Selbstverständlich nicht.“ Marie-Claire war über Sonias Worte irritiert. „Wann sollte ich in der Wohnung gewesen sein? Wir wohnen hier erst seit wenigen Monaten und ich kenne kaum jemand in der Gegend.“ Marie-Claire und Sonia hatten sich während einer Wohnungssuche in Paris kennengelernt und waren aus Kostengründen gemeinsam in die kleine Mansarde in der Rue Pierre Fontaine in der Nähe von Pigalle gezogen.
„Du hast vorhin das Licht vom Montmartre so genau beschrieben, als ob du schon einmal dort drüben unter der Kuppel gestanden hättest.“
„Unfug. Ich glaube, meine Fantasie spielt mir ab und zu einen Streich.“ Marie-Claire stand auf und lief in ihr angrenzendes Schlafzimmer. „Die Sacré-Cœur ist auf tausenden von Postkarten zu allen Tages- und Nachtzeiten abgebildet!“, rief sie durch die geöffnete Tür. Sie lächelte matt, als sie mit ihrem gepackten Rucksack zurückkam. „Im Übrigen kenne ich in dieser Gegend nur Philippe und Pierre vom Dépanneur. Und natürlich dich“, fügte sie sanft hinzu.
„Wie du meinst.“ Marie-Claires Worte überzeugten Sonia nicht. „Kommst du heute Abend nach? Ich treffe mich mit ein paar Freunden aus der Akademie zum Essen im Dépanneur. Ein junger, hochtalentierter Maler ist auch dabei.“ Sonia verdrehte schwärmerisch die Augen und schnalzte mit der Zunge. „Er stand uns gestern für unsere Aktzeichnungen in der Akademie zur Verfügung. Ich kann dir sagen, der hat ...“
Nun musste Marie-Claire herzlich lachen, denn sie kannte Sonias Faible für Künstler, aber ebenso für Männer aller Art. Das Le Dépanneur in der Rue Pierre Fontaine war ein beliebter Treffpunkt für Maler, Sänger, Tänzer sowie Schauspieler. Sonia ging regelmäßig dort hin. Sie zählte sich als angehende Malerin dazugehörig.
„Nein“, erwiderte Marie-Claire entschieden. Sie legte ihren Rucksack in den Rattansessel, füllte eine Flasche mit Wasser und packte sie ein. „Gleich habe ich Ballettunterricht und anschließend Proben in der Opéra. Danach werde ich todmüde sein.“
Marie-Claire war vor einem halben Jahr von Südfrankreich nach Paris gekommen, um Musik und Tanz zu studieren. Sie träumte von einer Karriere als Primaballerina. Sie seufzte, blickte auf ein Poster, das über der Sitzecke hing und eine Balletttänzerin zeigte. „Ob ich jemals in meinem Leben die Giselle tanzen werde? Ein einziges Mal - und berühmt werde wie Anna Pawlowa?“
„Ach Claire, du wirst zwar nie eine Anna Pawlowa, aber dafür bestimmt eine berühmte Marie-Claire Biasini. Da bin ich mir sicher.“
„Die Giselle ist mein Traum.“ Marie-Claire stellte sich in Positur. „Weißt du, dass der Part so schwierig ist, dass er teilweise in einer einzigen Vorstellung von vier verschiedenen Ballerinen getanzt wird?“ Mit einem sehnsüchtigen Blick auf das Poster ahmte sie die Ballerina nach.
„Davon gehört habe ich schon. Aber welche Rolle spielst du jetzt in dem Ballett?“
„Eine der vielen, vielen Wilis“, lachte Marie-Claire und wandte sich ihrer Freundin zu. „Das Stück spielt in einer unerreichbaren, wunderschönen Fantasiewelt.“
„Wilis? Was sind das?“ Sonia biss herzhaft in einen Apfel und warf Marie-Claire ebenfalls einen zu.
„Wilis sind Bräute, die vor ihrer Hochzeit aus Kummer starben, weil ihre Liebe verraten wurde. Sie werden nach ihrem Tod zu Elfenwesen.“ Marie-Claire betrachtete den Apfel von allen Seiten. „Auch der zarten Giselle ergeht es so. Sie verliebt sich in Albert, der sie umwirbt, obwohl er einer anderen versprochen ist.“
„Typisch Männer. Hoffentlich gibt sie ihm den Laufpass.“
Marie-Claire schüttelte den Kopf. „Sonia, du bist unromantisch. Alberts Leichtfertigkeit kommt ans Licht. Darüber verliert Giselle den Verstand und stirbt.“
„Wegen einem Mann? Das könnte mir nicht passieren. Erzähle weiter.“
„Giselle wird in die Gemeinschaft der Wilis aufgenommen und muss die Männer in der Nacht zum Tanzen verführen, um sich an ihnen zu rächen.“ Marie-Claire stellte sich in Positur und balancierte den Apfel auf dem Kopf. „Ungefähr so. Sie müssen so lange mit ihnen tanzen, bis die Männer vor Erschöpfung sterben.“
„Geschieht ihnen recht“, grinste Sonia, pulte einen Kern aus dem Apfelgehäuse und schnippte ihn durch die geöffnete Balkontür. „Und wie geht es aus?“
„Giselles Liebe schützt Albert. Verzweifelt tanzt sie mit ihm bis zum Morgengrauen, denn davor müssen die Wilis fliehen.“ Der Apfel rollte ihr vom Kopf und fiel auf den Boden.
„Das musst du noch üben.“ Sonia kicherte boshaft.
„In dieser Nacht“, sprach Marie-Claire unbeirrt weiter, „sind sie gemeinsam für einen Augenblick in der Feenwelt vereint. Es gelingt ihr, ihn vor der Königin der Wilis zu schützen. Aber Giselle muss vor Tagesanbruch verschwinden und Albert kehrt ins Leben zurück.“
„Jetzt kann ich verstehen, warum du manchmal so abwesend bist. Wahrscheinlich hast du dich von deiner Fantasiewelt einfangen lassen und träumst von Albert.“
„Sonia“, empörte sich Marie-Claire, „das ist ein ernsthaftes Stück. Ursprünglich stammt es von Heinrich Heine. Théophile Gautier hatte es gelesen und die Idee gehabt, daraus ein Ballett zu machen. Heine sprach in seinem Stück von weißen Elfen und Nixen, deren kleine, in Satin gekleidete Füße an der Decke des Brautgemachs erschienen. Somit hatten die Mädchen die Möglichkeit, nach ihrem Tode mit ihren Liebsten im Tanz vereint zu sein.“
„Claire, du bist hoffnungslos romantisch. Auch Heine war nur ein Mann und hat das Stück bestimmt geschrieben, als er verliebt war oder zu viel Rotwein getrunken hatte. Es gibt keine Wilis und Elfen. Komm in die Realität zurück.“ Sonia bürstete sich ihren kurz geschnittenen, rot gefärbten Wuschelkopf und suchte hektisch ihre Umhängetasche.
„Wusstest du, dass Heine auf dem Friedhof von Montmartre begraben ist?“, fragte Marie-Claire. Sie packte den Apfel in den Rucksack.
„Wo treibst du dich überall rum.“ Sonia lachte und ging zur Wohnungstür. „Das ist langweilig. Wilis, Elfen und Friedhöfe. Ich fahre jetzt zu Lafayette und mache einen Einkaufsbummel. Mein Vater hat gestern einen Scheck geschickt. Er hat ein schlechtes Gewissen, weil er unseren letzten Termin nicht einhalten konnte.“ Sie rümpfte die Nase. „Wenn du heute Abend nicht zu müde bist, kannst du nach den Proben ins Dépanneur kommen. Au revoir, verzauberte Claire.“
2 Madame Irina Kaskowskaja und ein Déjà-vu
„Marie-Claire, Arabesque, nicht Attitude. Wie steht dein linkes Bein? Strecke es mehr durch.“ Madame Irina Kaskowskaja beendete das Klavierspiel mit einem abrupten Misston. Marie-Claire ließ sich erschöpft von den Zehenspitzen auf die Fersen fallen.
„Was tust du heute! Du arbeitest unkonzentriert.“ Madame Kaskowskaja sah sie strafend an. „Wenn du die Giselle tanzen willst, wirst du fleißiger üben müssen. Setz dich ans Klavier und spiel die Variation de Giselle. Ich zeige dir den Part noch einmal.“
Marie-Claire tauschte mit ihr die Plätze. Irina stellte sich in Position und Marie-Claire begann zu spielen. Sie bewunderte die Ballettlehrerin, die trotz ihrer fünfzig Jahre eine ausgezeichnete Figur besaß und beim Tanzen zu schweben schien. Sie war auf allen namhaften Bühnen der Welt aufgetreten und hatte sich jetzt im Centre de Danse du Marais in Paris niedergelassen, um jungen talentierten Ballerinen Unterricht zu geben.
Marie-Claire verlor sich in der Musik und hörte wie durch einen Schleier die Belehrungen der Kaskowskaja: „Und Arabesque ... und Attitude ... und Jeté ... und ...“ Marie-Claire schloss die Augen. Ihre Finger glitten leicht und beschwingt über die Tasten des Klaviers.
„Marie-Claire! Marie-Claire?“ Sie zuckte zusammen, als die Kaskowskaja ihr auf die Schulter tippte. „Marie-Claire, was hast du da gespielt? Das war nicht mehr die Variation de Giselle. Ist dir nicht gut?“ Ihre Lehrerin sah sie besorgt an. Marie-Claire rieb sich die schmerzenden Schläfen.
„Du solltest einen Arzt aufsuchen.“ Madame Kaskowskajas Augen verengten sich zu Schlitzen. „Vielleicht hast du dich verkühlt. Ich habe dir immer gesagt, dass du dich warm anziehen sollst. Kälte schadet der Muskulatur und den Gelenken und du willst mit deinem Tanz zukünftig Geld verdienen. Pflege dich gut. Hast du Fieber?“ Sie fasste Marie-Claire an die Stirn. „Nein, Temperatur scheinst du nicht zu haben. Hast du Probleme oder gar Liebeskummer? Männer können wir jetzt nicht gebrauchen, Mademoiselle. Du musst erst Karriere machen.“
Die Kaskowskaja setzte sich neben Marie-Claire auf den Klavierhocker und nahm ihre Hände in die ihrigen. „Das, was du gerade gespielt hast, klang wunderbar. Kanntest du das Stück? Es ist schon alt. Für wen hast du die Musik interpretiert? Du warst so hingebungsvoll.“
„Ich habe die Variation de Giselle gespielt, wie Sie mir auftrugen. Sie haben getanzt und mir die Schritte erklärt.“
„Nein, das hast du nicht. Du spieltest ein bekanntes Lied von Edith Piaf. Non, je ne regrette rien. Willst du es mir noch einmal vorspielen? Es hat mich fasziniert.“
Marie-Claire schaute auf den Notenständer über den Tasten des Klaviers. „Es sind keine Noten da.“ Sie blickte Madame Kaskowskaja verwundert an. „Ich kann das Lied nicht auswendig spielen.“
„Du hast es vorhin ohne Noten gespielt.“
„Ich weiß nicht ... Ich kann mir das nicht erklären. Ich habe das Chanson nie geübt. Zu Hause ist es verboten, Edith Piaf zu hören. Meine Mutter ... sie ist krank. Wenn Chansons im Radio laufen, beginnt sie zu weinen. Sie bekommt Depressionen und schließt sich tagelang in ihr Zimmer ein. Großmutter entfernte alle Radios in unserem Haus. Meinen Musik- und Tanzunterricht habe ich außerhalb nehmen müssen. Aus dem Grunde bin ich in Paris.“
Madame Kaskowskaja strich Marie-Claire über das straff zurückgebundene Haar. Es glänzte wie schwarzer Lack und ließ ihre Haut zart und ebenmäßig erscheinen. ‚Eine bezaubernde Giselle wird sie abgeben’, dachte Irina Kaskowskaja und erinnerte sich an ihre eigenen Glanzzeiten auf der Bühne. ‚Wenn nicht eine der Besten, mit ihrer zierlichen Figur und dem graziösen, schlanken Hals.’
Irina glaubte an Marie-Claire. Als sie das erste Mal bei ihr vorgetanzt hatte, war sie von ihren leichten und harmonischen Bewegungen begeistert. Sie überlegte nicht lange und entschied rasch, dieses Mädchen zu trainieren.
„Wir machen für heute Schluss“, sagte Irina. „Wir sehen uns morgen. Und, Mademoiselle, dass du mir nicht krank wirst“, fügte sie mahnend hinzu.
Marie-Claire verneinte lächelnd. Sie zog sich die Ballettschuhe aus, band sie zusammen und packte sie in den Rucksack. In Gedanken verloren lief sie zur Metrostation Rambuteau, um zur Opéra Garnier zu fahren.
** - **
Marie-Claire kam am späten Abend von der Opéra Garnier zurück, aber sie wollte nicht mehr ins Dépanneur gehen. Der Tanzunterricht und die Proben an der Opéra waren anstrengend gewesen.
Sie hängte die Ballettschuhe nachdenklich an den Haken und zog sich aus. Die eigenartigen Vorkommnisse des Tages beunruhigten sie. Anfangs in Paris hatte sie nur ab und zu den Eindruck gehabt, das ein oder andere in der Vergangenheit bereits erlebt zu haben; doch in letzter Zeit häuften sich solche Situationen. Ähnlich wie ihr Klavierspiel bei Madam Kaskowskaja. Während sie unter der Dusche stand, gingen ihr die Gedanken nicht aus dem Kopf. Hatte es mit dem gegenüberliegenden Haus zu tun? Warum fühlte sie sich davon magisch angezogen?
Sie wickelte sich in einen Bademantel, öffnete die Tür und trat auf den Balkon hinaus. Sonias zahllose Terrakotta-Töpfe, die ihre Freundin mit den unterschiedlichsten Kräutern bepflanzt hatte, verbreiteten einen angenehmen Duft. Marie-Claire atmete tief durch und dachte an Sonia, die trotz ihrer künstlerischen Ambitionen das erdverbundene Provinzmädchen aus der Bretagne geblieben war.
Marie-Claire lenkte ihre Aufmerksamkeit auf das Haus vis-à-vis. Ihre Blicke blieben an der obersten Wohnung hängen, an der erleuchteten Glaskuppel und der angrenzenden Sonnenterrasse. Die breiten Terrassentüren ins Freie waren weit geöffnet. Die durchsichtigen Vorhänge bewegten sich sanft im Wind. Im Mai strömte Paris eine wohltuende Wärme aus.
‚Was ist das für ein Appartement?’, dachte sie. ‚Vielleicht das Atelier eines berühmten Malers? Wer mag dort wohnen?’ Sie sah hinunter auf das Restaurant im Parterre. Gedämpftes Licht drang nach außen, Gäste saßen an weißgedeckten Tischen auf der Terrasse. Die Pariser genossen den lauen Frühlingsabend. Ab und zu erschien ein Ober, brachte die bestellten Getränke oder räumte einen verlassenen Platz ab.
Ihre Blicke schweiften erneut an dem Gebäude entlang. In der zweiten Etage brannte nur in einem Zimmer Licht. In diesem Raum, geradezu ein Saal, erkannte sie einen ausladenden Kronleuchter. Schemenhaft sah sie einen Schatten, der hin und her huschte, fast zu tanzen schien. Von den Strahlen der erleuchteten Glaskuppel angezogen, wanderten ihre Augen wieder zur obersten Wohnung hinauf. Wohlige Wärme durchströmte sie, als plötzlich das Lied zu ihr herüberklang:
Non! Rien de rien...
Non! Je ne regrette rien
Ni le bien qu'on m'a fait
Ni le mal tout ça m'est bien égal!
Der Gesang verstummte abrupt, nur Wortfetzen schwebten zwischen der Glaskuppel und ihr: „... ist mir egal ..., es ist mir egal … Marie-Claire ..., Marie-Claire ..., was man mir angetan hat, es ist mir egal ...“
Marie-Claire beugte sich weit über die Brüstung des schmiedeeisernen Geländers, um den Worten intensiver lauschen zu können. Diese Stimme – woher kannte sie diese Stimme? Wieso war sie ihr so vertraut? Die Wärme, die sie eben noch verspürt hatte, verschwand augenblicklich. Sie fröstelte und begann zu zittern.
„Claire! Claire! Was tust du? Willst du dich umbringen?“ Sonia trat hastig auf den Balkon hinaus, packte Marie-Claire energisch am Arm und führte sie in die Wohnung zurück.
„Hast du gesehen, dass François die Markise ausgetauscht hat?“, fragte Marie-Claire. „Die Rote gefiel mir viel besser. Ich mag die Grüne nicht. Sie macht das Haus so dunkel. André gefällt die Farbe auch nicht. Sonia, das hat bestimmt sie angeordnet.“
„Wer - sie?“
„Madeleine Dornier. Ich glaube, sie will François ärgern oder hat gerade eine ihrer verrückten Starallüren.“
Sonia blickte Marie-Claire verblüfft an. „Madeleine Dornier? Die berühmte Schauspielerin? Man munkelt, sie sei verschollen.“ Sie legte den Zeigefinger an ihr Stupsnäschen. „Bestimmt ist sie tot. Sie ist eine Legende. Wenn sie noch leben würde, wäre sie über achtzig Jahre!“, erklärte sie.
„Nein, nein.“ Marie-Claire schüttelte nachdrücklich mit dem Kopf. „Ich sah sie erst gestern. Madeleine kam direkt nach der Premiere aus dem Theater zurück und gab einen Empfang in ihrer Wohnung. Sie trug ein bezauberndes Abendkleid, eng und tief ausgeschnitten, an den Seiten hochgeschlitzt. Sie war so elegant – wahrlich ein Star. Auf der Feier wurde viel getrunken und gelacht. Als alle Gäste gegangen waren, da ..., da ... - sie wollte, dass André zu ihr kommt ... André zu ihr kommt?“ Marie-Claire hielt inne, dann sprach sie flüsternd und langsam, fast fragend weiter: „... sie wollte, dass André zu ihr kommt ...? Aber André liebt mich. Mich liebt er – nicht sie!“ Eine Träne löste sich aus ihren Augen und lief die Wange hinunter. „André liebt doch nur mich, oder?“
„Claire? Claire, hörst du mich?“ Sonia wischte ihr die Träne ab und nahm sie in den Arm.
„André liebt mich“, wiederholte Marie-Claire und schluchzte auf.
Sonia strich ihr beruhigend über den Rücken. Nach einer Weile fragte sie: „Claire, wer ist André?“
„André? Ich kenne keinen André.“
„Wie kommst du auf den Namen? Und wer ist François? Madeleine Dornier würde ihn mit der grünen Markise ärgern wollen.“
Marie-Claire rieb sich die Schläfen. „Madeleine Dornier, die berühmte Schauspielerin? Ich kenne sie nicht, nur ihre alten Filme. War das Der blaue Engel? Ich weiß es nicht ...“, erwiderte sie bedrückt. „Ich erinnere mich nicht. Mein Kopf ist so schwer ... Manchmal sehe ich ein klares Bild, das rasch verschwindet, bevor ich es greifen kann. Denkst du, ich bin verrückt?“
Sonia zuckte mit den Schultern. „Hattest du das zu Hause in Antibes schon?“
„Überhaupt nicht. Anfangs in Paris ebenfalls nicht. Es begann erst, als wir in diese Wohnung hier zogen - und es häuft sich. Weißt du“, sprach sie gequält, „heute spielte ich bei Madame Kaskowskaja ein Lied von Edith Piaf auf dem Klavier, ohne dass ich Noten hatte. Ich kenne das Stück kaum und habe es nie geprobt.“
„Wahnsinn“, sagte Sonia beeindruckt. „Das könnte ich nicht. Du besitzt enorme Talente und hast im Gegensatz zu mir ein Stipendium bekommen. Du bist nicht verrückt, nur überarbeitet und sehr sensibel. Morgens studierst du an der Universität, anschließend trainierst du bei Madame Kaskowskaja und am Spätnachmittag finden die Proben in der Opéra statt. Das ist zu viel. Mach eine Pause. Du solltest mehr ausgehen.“
Sonia trat auf den Balkon und blickte auf das Haus gegenüber. „Es würde mich tatsächlich interessieren, ob das Restaurant da unten irgendwann eine rote Markise hatte. Passender wäre das“, sagte sie eher zu sich selbst als zu Marie-Claire. Sie ließ ihren Malerblick fachkundig über die Fassade schweifen. „Sollen wir morgen Abend dort essen gehen?“ Sie wandte sich um und ging in die Wohnung zurück. „Wir waren da noch nie, besuchen immer nur Philippe und Pierre im Dépanneur. Vielleicht gibt es jemanden, der uns berichten kann, wie das Haus früher ausgesehen hat?“
„Du bist nicht bei Sinnen“, erklärte Marie-Claire und tippte sich an die Stirn. „Nur, weil ich durchdrehe, willst du in das noble Ding da unten? Das können wir uns überhaupt nicht leisten.“
„Ich habe mal wieder einen Scheck von meinem Vater bekommen“, erwiderte Sonia. „Ich lade dich ein. Womöglich hören deine wirren Gedanken anschließend auf. Wahrscheinlich möchte das Haus, dass du es besuchst, weil es dir was sagen will.“
„Jetzt spinnst du. Häuser können nicht sprechen. Hast du schon gesehen, wie das Restaurant heißt?“, fragte Marie-Claire. „Le Mansart. Ob der Name mit der Wohnung oben im Zusammenhang steht? Mit dem Atelier und der Glaskuppel? Wer mag da wohnen? Ein berühmter Maler?“
„Oder ein Architekt“, stellte Sonia fest.
„Wieso ein Architekt?“
„Der Name geht auf die Mansardendächer zurück. François Mansart hat sie damals als Wohnraum für arme Studenten entwickelt. Er baute einfach die bereits vorhandenen Speicher aus, weil kein Haus in Paris mehr als fünf Stockwerke haben durfte“, erläuterte Sonia.
„Woher weißt du das so genau?“ Marie-Claire staunte.
„Siehst du, mein Studium ist nicht umsonst.“ Sonia wurde übermütig. „Wer weiß, welche Geheimnisse wir dort entdecken. Ich bin eine geborene Detektivin. Bei uns zu Hause in der Bretagne führte ich als Pfadfinderin eine Jungenbande an.“
Das konnte Marie-Claire sich gut vorstellen. Die burschikose Sonia, die nur Hosen trug und dessen Finger grundsätzlich mit Farben beschmiert waren. In ihrem Streifenshirt erinnerte sie eher an einen bretonischen Seemann als an eine talentierte Malerin. Nichts brachte sie aus der Ruhe.
„Komm“, sagte Sonia, „gehen wir schlafen. Morgen haben wir viel zu tun.“
Marie-Claire trat ans Fenster und schaute zum Mansart hinunter. Die letzten Gäste verließen das Restaurant. Ein Ober räumte die Tische ab, stellte die Stühle hoch und blies die Windlichter aus. Wie war noch sein Name? Geradeben wusste sie ihn.
3 Im Le Mansart
Die Proben für Giselle in der Opéra Garnier hatte Alfonso, der Choreograf, abrupt beendet. Die berühmte Primaballerina Carlotta Bertoni musste absagen. Theatralisch teilte Alfonso mit, dass sie wegen eines Bänderrisses für längere Zeit ausfiele – und das drei Monate vor der geplanten Premiere. Eine Katastrophe. Die Ersatzballerina fand keine Gnade vor seinen strengen Augen. Alfonso war einem Nervenzusammenbruch nahe. Marie-Claire war es recht. Endlich konnte sie einmal ausspannen und sich in Ruhe für den Abend fertigmachen.
Geräuschvoll und mit unzähligen Tragetaschen beladen kam Sonia zur Tür herein.
„Hast du schon wieder in den Galeries Lafayettes eingekauft?“, fragte Marie-Claire. „Da warst du doch erst gestern.“
„Ach wo. Ich war heute Nachmittag im Sontier-Viertel, um mir Inspirationen für meine Bilderkollektion zu holen. Rate mal, wen ich da getroffen habe.“
„Dein männliches Aktmodell!“, stellte Marie-Claire fest. Sie amüsierte sich über Sonias Begeisterung. Ihre Bilder bestanden ausschließlich aus grünen und gelben Kreisen, die sich lediglich in der Größe unterschieden. Wozu man dazu ein Studium benötigte und zusätzlich Anregungen brauchte, blieb Marie-Claire ein Rätsel. Aber mit einem reichen Vater im Rücken konnte sich Sonia derartige Extravaganzen leisten.
„Wie kommst du auf das Model?“ Sonia schüttelte mit dem Kopf. „Viel interessanter. Das errätst du nie.“
„Warum fragst du mich, wenn du es mir gleich erzählen wirst?“ Marie-Claire band ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen.
„Stell dir vor, eine richtige Modedesignerin. Sie trägt denselben Vornamen wie ich. Es kommt noch besser. Sie trug ein rot-weiß gestreiftes Shirt, genau wie unsere Seemänner in der Bretagne. Das ist die neueste Mode in diesem Jahr in Paris. Île de Groix nennt sie ihre Kollektion. Sensationell. Nach einer Insel aus meiner Heimat. In ihrer Boutique im Sontier-Viertel musste ich natürlich erst mal stöbern. Das ist das Ergebnis.“ Sonia zeigte auf die Einkaufstüten.
„Sensationell!“, wiederholte Marie-Claire und knotete ein Samtband in ihren Zopf.
„Für übermorgen habe ich mich erneut mit ihr verabredet. Als ich ihr sagte, dass ich aus der Bretagne komme und Malerin bin, war sie total angetan. Ich habe ihr ebenfalls erzählt, dass ich mit einer berühmten Tänzerin zusammenwohne. Oh, Paris ist wunderbar. Es gibt hier so viele beeindruckende Menschen.“ Sie tanzte im Zimmer umher und packte anschließend die Tüten aus. In Windeseile war der Raum mit Kleidungsstücken übersät. Marie-Claire sah ihr staunend zu.
„Dir habe ich auch was mitgebracht“, sagte Sonia und wühlte herum. „Hier.“ Sie hielt ein elegantes, schwarzes Satinkleid mit Spitzenärmeln in die Höhe. „Zieh an! Es ist genau dein Stil.“
„Für mich?“
„Na klar, für wen sonst. Ich passe in den engen Schlauch nicht rein.“ Sie zog die Nase kraus.
Marie-Claire probierte das Kleid an. Es umschloss vorteilhaft ihre zierliche Figur und reichte gerade bis kurz über die Knie.
„Très chic!“, rief Sonia begeistert. „Du siehst darin wie ein Star aus. Dein edler, blasser Teint kommt besonders gut zur Geltung.“ Marie-Claire beäugte sich im Garderobenspiegel. Sonia hatte Recht. Sie sah sehr elegant aus. Ein wenig zu dünn, fast zerbrechlich. Das Schwarz des Kleides betonte die Zierlichkeit ihres Körpers zusätzlich.
„Du bleibst jetzt so“, kommandierte Sonia. „Im Mansart werden dir die Männer zu Füßen liegen.“
Sonia behielt ihr gestreiftes Shirt an und setzte sich die Baskenmütze auf. Mit ihrer Capri-Hose und den flachen Schuhen mutete sie tatsächlich wie ein Matrose aus Saint Malo an. Keck, lustig und verwegen.
Das Restaurant befand sich direkt an der Ecke der Rue Pierre Fontaine zur Rue Mansart.
„Warte!“, rief Marie-Claire und lief zum Tabakladen, der neben dem Lokal lag. „Ich muss eine Packung Gauloises bei Jean-Claude kaufen.“
„Seit wann rauchst du?“ Sonia blieb stehen.
„Die sind nicht für mich, sondern für François“, empörte sich Marie-Claire und sah ihre Freundin strafend an. „Du weißt, dass ich ihm immer eine Schachtel mitbringe. Er wäre tödlich beleidigt, würde ich das Ritual brechen.“
„Claire?“ Sonia sah sie fragend an. „Wer ist François?“
Marie-Claire hielt in ihrer Bewegung inne. „François ..., François ... Sonia, ich entsinne mich nicht. Das Tabakgeschäft kenne ich trotzdem. Ich war häufig dort.“ Sie legte die Fingerspitzen an die Schläfen und begann sie zu reiben.
„Warst du wirklich schon in dem Laden?“, wollte Sonia wissen und fasste Marie-Claire am Arm.
„Nein ..., nein ..., wohl eher nicht. Gerade war mir das Geschäft vertraut, jetzt ist die Erinnerung nicht mehr da. Eigenartig. Ich verstehe das nicht. Komm, lass uns ins Mansart gehen. Du hast Recht, ich bin völlig überarbeitet.“
Marie-Claire und Sonia schauten durch die geöffnete Tür ins Restaurant. Fast alle Plätze waren besetzt.
„Mesdemoiselles, darf ich Ihnen einen Tisch zuweisen?“, fragte ein junger Ober.
„Sonia, sollten wir bei dem Wetter nicht besser draußen sitzen?“, flüsterte Marie-Claire. „Da drinnen ist es mir viel zu elegant und vornehm. Das macht mir Angst.“
„Haben Sie auf der Terrasse einen Tisch frei, Monsieur?“ Sonia streckte ihr Stupsnäschen selbstbewusst in die Höhe.
„Wenn Sie mir folgen wollen, Mesdemoiselles.“ Der Kellner geleitete Marie-Claire und Sonia an einen Tisch vor dem Mansart und reichte die Speisekarten.
„Was nehmen wir?“
„Ich esse nur einen Salat niçoise“, erwiderte Marie-Claire.
„Du könntest was Anständiges gebrauchen“, meinte Sonia. „So dünn, wie du bist. Ich nehme ein Steak.“ Sonia gab die Bestellung auf. „Und eine Flasche Merlot“, fügte sie hinzu.
„Bist du verrückt? Wir können uns hier nicht betrinken. Wer soll das alles bezahlen?“
„Wir betrinken uns nicht, wir genießen. Außerdem habe ich meinen Scheck“, sagte Sonia und kramte eine Packung Marlboro aus ihrer Tasche. „Claire, hast du gesehen, wie dich der Ober angeschaut hat? Wie das achte Weltwunder. Er bekam seinen Mund nicht mehr zu. Da habe ich Recht behalten, als ich vermutete, dass dir die Männer zu Füßen liegen werden. Das Kleid war ein guter Kauf.“ Sie zündete sich selbstzufrieden die Zigarette an.
Ein älterer Kellner erschien am Tisch und brachte den Wein. Während er einschenkte, blickte er Marie-Claire unentwegt an. Der Rotwein ergoss sich über das Tischtuch und erreichte Sonias neue Capri-Hose. Sie sprang vom Stuhl. „Passen Sie gefälligst auf, Monsieur!“
Verwirrt stellte er die Flasche hin. „Pardon, Mesdemoiselles ...“, stotterte er. „Ich bringe das sofort in Ordnung.“
„Dass du toll aussiehst, sagte ich bereits, aber, dass du eine solche Wirkung erzielst, hätte ich nicht gedacht. Die scheinen hier alle völlig durchzudrehen.“ Sonia setzte sich, tupfte ihre Hose mit der Serviette ab und schüttelte mit dem Kopf. „Schau mal ins Restaurant. Da, hinter der Bar, der grauhaarige Farbige. Ich beobachte ihn schon die ganze Zeit. Er schaut dauernd zu uns herüber. In den zehn Minuten, seit wir hier sind, hat er zwei Zigaretten hastig geraucht. Ein komischer Laden ist das.“
„Vielleicht sind die Leute hier ebenfalls überarbeitet“, wandte Marie-Claire ein. „Wein kann jeder verschütten.“
Der jüngere Ober kam mit einem Tischtuch und einer ungeöffneten Flasche Merlot zurück.
„Wir bitten um Entschuldigung“, sagte er und verbeugte sich andeutungsweise, „aber ...“ Er blickte erneut Marie-Claire an.
„Aber was?“, fragte Sonia.
„Nichts“, murmelte er. „Als Entschädigung spendiert Ihnen Monsieur François einen Kir Royal. Er bedauert den Vorfall. Es ist ihm peinlich.“
Sonia stutzte. „Monsieur François? Ist das der ältere Monsieur, der den Wein verschüttet hat?“
„Oui, Mademoiselle, er ist der Patron hier, ihm gehört das Mansart. Wenn Sie sich reinigen möchten? Ich hole Salz, damit lässt sich der Fleck entfernen - die Toilette ist am Ende des Ganges.“ Der Ober ging ins Restaurant und brachte nach kurzer Zeit den Kir.
Sonia sah Marie-Claire an. „Sachen gibt es“, meinte sie nachdenklich. „Bist du sicher, dass du niemals hier warst?“
„Natürlich, das weißt du genau. Wann sollte ich hier gewesen sein? Abgesehen davon, dass ich mir diesen teuren Laden kaum erlauben kann. Warum fragst du?“
Sonia nahm einen Schluck vom Kir. „Es ist eigenartig. Als du gestern auf dem Balkon standest, erzähltest du mir, dass François die Markisen ausgetauscht hätte, weil die Dornier das von ihm verlangte. Vorhin wolltest du für François Gauloises kaufen. Nun sitzen wir hier und ich werde von einem François mit Rotwein überschüttet.“
„Das sind nur Zufälle“, erwiderte Marie-Claire und lachte verlegen.
„Das glaub ich langsam nicht mehr. Merkwürdig ist, dass der Patron des Mansart ganz nebenbei François genannt wird.“
„Spielst du bretonischer Detektiv?“ Marie-Claire strich nervös eine Haarsträhne zurück. „François heißt jeder zweite Franzose, das sagt nichts aus.“
„Aber nicht jeder zweite Franzose, der François heißt, besitzt ein Restaurant in der Rue Mansart mit gestreiften Markisen und einem Tabakwarenladen nebenan, den du ebenfalls zu kennen scheinst. Du hast ständig von François geredet.“
„Jetzt beginnst du zu fantasieren. Werden denn alle Menschen in Paris verrückt?“, amüsierte sich Marie-Claire. „Du warst diejenige, die mir bescheinigte, dass ich völlig überarbeitet bin.“
„Ach, egal.“ Sonia stand auf. „Ich sehe zu, dass ich den Weinfleck aus meiner Hose bekomme.“ Sie ging ins Restaurant.
Marie-Claire nippte an ihrem Kir, als Sonia wieder erschien und sich auf den Stuhl plumpsen ließ. „Ich werde wahnsinnig. Du warst wirklich noch nie hier?“, fragte sie atemlos.
„Indianerehrenwort. Du bist so blass. Ist dir nicht gut?“
„Das kann nicht sein, es kann einfach nicht sein!“ Sonia trank den Kir in einem Schluck aus, stellte das Glas hart auf den Tisch und atmete durch.
„Was ist los?“ Marie-Claire blickte ihre Freundin besorgt an.
„Im Innern steht ein Piano.“ Sonia fasste sich an den Kopf und begann nun selbst, ihre Schläfen zu massieren.
„In vielen Restaurants gibt es Pianos. Was ist daran merkwürdig?“
„Auf dem Flügel hier in diesem Restaurant steht ein Foto von dir.“
Marie-Claire verschluckte sich und musste husten. Als sie wieder Luft bekam, brachte sie unverständlich hervor: „Ein Foto von mir?“
„Ein Schwarz-Weiß-Bild, an den Rändern vergilbt. Ein großes Starporträt, wie es sie damals gab.“
„Bitte?“
„Es muss mindestens zwanzig Jahre alt sein. Trotzdem bist du einwandfrei darauf zu erkennen.“
„Iiich? Wie du weißt, bin ich erst dreiundzwanzig. Ich bin das erste Mal in meinem Leben in Paris und kein Star!“
„Das weiß ich, aber ich habe das Porträt gesehen, es mir sogar von Nahem angeschaut. Ich brauche jetzt einen Cognac. Langsam beginne ich, an Geister zu glauben.“
Marie-Claire erhob sich. „Komm, wir gucken nach. Das ist bestimmt eine Täuschung. Oder hast du schon zu viel getrunken?“ Sie zog ihre Freundin entschlossen vom Stuhl und ging mit ihr ins Restaurant.
„Das Foto ist weg“, stellte Sonia fest, als sie zum Piano kamen. „Es stand genau in der Mitte. Hier, siehst du? Die Decke ist zerknittert. Hier hat es sich befunden.“
„Mesdemoiselles, kann ich Ihnen helfen?“ Sonia zuckte erschrocken zusammen. Der Farbige von der Bar trat neben sie.
„Ich ... ich denke nicht ...“, stotterte sie, „oder doch?“, sprach sie nachdenklich, „befand sich vorhin auf dem Flügel ein Bild?“
„Nein. Das Klavier wird nicht benutzt. Vor über zwanzig Jahren gab es hier eine Sängerin, die darauf spielte. Nach dem Unglück ist sie weggezogen. Danach hat sie keiner mehr gesehen. Monsieur François hat den Flügel abgedeckt. Niemand darf ihn benutzen.“
„Was für ein Unglück?“ Sonias detektivische Neugierde war geweckt und sie reckte entschlossen ihr Stupsnäschen vor.
„Sagte ich Unglück? Ich muss mich versprochen haben. Ich meinte ...“.
François gesellte sich zu ihnen und sah Marie-Claire eindringlich an. „Können Sie Klavier spielen, Mademoiselle?“, fragte er verhalten.
„Ein wenig, aber nicht besonders gut.“ Jählings hatte Marie-Claire das Gefühl, alles wie durch eine Nebelwand zu sehen: Das Restaurant, die Menschen an den Tischen, Sonia und den Schwarzen.
„Du kannst Klavier spielen, und zwar hervorragend“, entrüstete sich Sonia.
„Möchten Sie das Piano ausprobieren?“ François‘ Stimme vibrierte.
„Ich ... ich ... kann nicht“, wandte Marie-Claire lahm ein und drehte sich um. „Was sollen die Gäste sagen?“
„Die würden sich freuen, wenn wieder Musik erklingt. Viel zu lange schon ist es hier stumm geblieben.“ Eifrig begann François, das Tuch zu entfernen. Feierlich blieb er vor dem Instrument stehen.
„Ein wunderbarer Flügel.“ Marie-Claire strich andächtig über das schwarz glänzende Holz.
„Nicht wahr? Ein herrliches Stück. Setzen Sie sich bitte und probieren Sie ihn aus. Ich habe ihn die ganzen Jahre gut gepflegt und regelmäßig stimmen lassen.“ François öffnete den Deckel.
„Es gibt keine Noten“, sagte Marie-Claire bedauernd und sah François an.
„Noten brauchen Sie? Aber sicher, Mademoiselle. Warten Sie einen Moment, ich hole sie Ihnen.“ Er lief hinter den Tresen, schloss hektisch einen Schrank auf und kam mit einem Packen Notenblätter zurück. Er pustete vorsichtig darüber. „Staubig sind sie geworden, unsere Noten. Schauen Sie nur.“ Auf seinem Gesicht erschien ein Strahlen. „Die bekommen wir wieder hin. Sie müssen nur zum Leben erweckt werden. Sie haben auf diesen Augenblick gewartet. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt gekommen.“ Er überreichte Marie-Claire den Papierstapel und klappte den Notenhalter auf.
Marie-Claire blätterte sie durch. „Das sind Chansons von Edith Piaf!“
„Natürlich“, strahlte François, „ich bewahrte sie auf und verschloss sie gut. Nichts ist weggekommen, alles ist noch da. Ich hütete sie wie einen Schatz. Ich wusste, dass du wiederkommst, dass du deinen François nicht vergessen wirst.“
Irritiert sah Marie-Claire auf: „Ich?“
François schien ihre Frage überhört zu haben. Er eilte zur Bar, öffnete eine Flasche Sekt und füllte vier Gläser. Eines stellte er Marie-Claire auf den Flügel, reichte jeweils eines Sonia und dem Farbigen zu. „Für dich, Léon. Heute ist ein ganz besonderer Tag. Unsere geliebte Mademoiselle spielt für uns.“
Marie-Claire zuckte mit den Schultern. Sie musste sich verhört haben. Lächelnd breitete sie ein Notenblatt vor sich aus. „Ist das angenehm?“ Freudig nickte François. Marie-Claire fuhr mit den Fingern sanft über die Tasten und stimmte sich mit einem romantischen Klavierstück ein. Das Murmeln im Restaurant verstummte.
Anschließend blätterte sie die Noten um. „Und nun Le Vieux Piano“. Nach einem Intro begann sie zu singen. Mit verklärtem Gesichtsausdruck lehnte François an der Bar und sah ihr zu. Als sie geendet hatte, senkte sie den Kopf. Die Gäste applaudierten. François prostete ihr zu. Marie-Claire errötete und sang erneut C’est l’amour. Abrupt hielt sie inne und sah auf. Sie nahm den Glanz in François’ Augen wahr. Wie in Trance glitten ihre Hände über die Tastatur. Sie setzte ein:
Non! Rien de rien...
Non! Je ne regrette rien
Ni le bien qu'on m'a fait
Ni le mal tout ça m'est bien égal!
Ein unterdrücktes Schluchzen entrang sich aus François zusammengepressten Lippen, Tränen liefen ihm die runzeligen Wangen hinunter. Marie-Claire sang unbeirrt weiter und blickte ihn lächelnd an. Als sie geendet hatte, herrschte lange Zeit Stille im Restaurant.
„Wahnsinn!“, hörte sie Sonia flüstern, „woher hast du die wundervolle Stimme.“ Die Gäste klatschten Beifall und standen von ihren Plätzen auf.
Marie-Claire sah François stumm an. Plötzlich griff er sich an die Brust, sein Glas fiel klirrend zu Boden. Er tastete haltsuchend nach der Theke, dann sank er in sich zusammen. Marie-Claire sprang auf und eilte zu ihm. Léon war bereits an seiner Seite und stützte den Kopf. „Einen Arzt!“, rief er dem jungen Ober zu. „Rufen Sie einen Arzt.“
„Gabriella, …“, flüsterte François und fasste nach Marie-Claires Hand. „Ich wusste, dass du wiederkommst. Gabriella ..., ich ... ich ... habe ... dich ... so geliebt.“ Die Worte erstarben auf seinen Lippen.
„Tun Sie endlich was!“, schrie Marie-Claire Léon an. „Sehen Sie nicht, dass er stirbt? Bitte, tun Sie was. François darf nicht sterben, er war immer gut zu mir.“
Marie-Claire wurde zurückgerissen. „Kommen Sie“, sagte der junge Ober beruhigend, „der Arzt ist schon da. Er wird ihm helfen.“ Er führte sie zu einem Stuhl. „Möchten Sie etwas trinken, Mademoiselle? Ein Glas Wasser oder einen Cognac? Das wird Ihnen guttun.“ Er ging hinter die Bar.
„Claire, trink was.“ Sonia hatte sich neben sie gesetzt, griff das Glas mit dem Cognac und hielt es ihr an den Mund. „Du bist weiß wie eine Wand. Geht es dir gut?“, fragte sie besorgt.
„Jetzt ist mir wohler. Nur diese Kopfschmerzen, ständig die Kopfschmerzen.“ Sie sah auf. François wurde auf einer Trage aus dem Restaurant gebracht. „Was habe ich nur angerichtet“, sagte sie. „Ich hätte mich niemals an den Flügel setzen dürfen.“
„Es ist nicht deine Schuld. Du hast so wunderschön gespielt und gesungen, als ob du es alle Tage machen würdest. Du warst sensationell. Aber ...“, sie machte eine Pause, „warum hat dich der arme François mit Gabriella angeredet?“
„Gabriella?“
„Ja, mit Gabriella. Kennst du eine Gabriella?“
„Meine Mutter heißt so. Gabriella Biasini.“
4 Primaballerina
„Mademoiselle, schön dich zu sehen und so pünktlich.“ Madame Kaskowskaja tänzelte aufgeregt um Marie-Claire herum. „Husch, husch, Mademoiselle. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Üben, üben, das ist jetzt die Devise. Ach, ich wusste, dass du eines Tages ein Star werden würdest.“
Marie-Claire sah die Kaskowskaja irritiert an. Waren nun endgültig alle verrückt geworden? „Bis es so weit ist, wird noch viel Wasser die Seine hinunterlaufen“, erwiderte sie lachend.
„Aber nein, Mademoiselle. Weißt du das nicht? Alfonso von der Opéra hat mich vorhin angerufen und mir die sensationelle Neuigkeit mitgeteilt, dass er dich als Ersatz für Carlotta Bertoni in der Giselle einsetzen will. Hat er dich nicht informiert?“
„Ich besitze kein Handy“, sagte Marie-Claire. „Und der Anschluss in der Wohnung ist noch nicht freigeschaltet.“
„Gut, dass er sich an mich gewandt hat.“ Madame Kaskowskaja setzte sich ans Klavier. „Mademoiselle, auf was warten wir?“, fragte sie, als Marie-Claire keinerlei Anstalten machte, sich die Ballettschuhe überzuziehen.
„Madame, ich kann nicht die Giselle tanzen. Sie wissen, dass es ein schwerer Part ist. Ich stehe erst am Anfang.“
„Papperlapapp. Sicher weiß ich, wie schwierig die Rolle ist. Immerhin habe ich die Giselle vor Jahren in Paris, New York und Moskau getanzt. Und jeder steht mal am Anfang. Nun mach endlich. Du schaffst das. Du bist talentiert. Das ist eine einmalige Chance.“
„Ich kann nicht.“ Marie-Claire ließ sich auf die Bank nieder.
Madame Kaskowskaja stand auf und kam auf sie zu. „Was hast du, Mademoiselle? Jetzt schon Starallüren?“ Sie strich Marie-Claire übers Haar.
„Natürlich nicht.“ Marie-Claire senkte den Kopf. „Ich werde hoffnungslos versagen. Die Premiere ist in vier Monaten. Alfonso irrt, wenn er meint, dass ich ein Ersatz für die Bertoni wäre. Das führt zu einer Blamage. Paris wird ihn und mich zerreißen.“
Die Kaskowskaja nahm Marie-Claires Hände. „Du wirst tanzen und die beste und anmutigste Giselle sein, die Paris je gesehen hat. Warum meinst du, dass ich mich mit dir abplage? Nur, weil ich von deinem Talent überzeugt bin. Marie-Claire, in einigen Wochen sitze ich im Zuschauerraum und werde dir zusehen – ich weiß, dass du nicht enttäuschen wirst. Für mich wird dieser Tag eine Genugtuung sein und mich stolz und glücklich machen. Mademoiselle, an die Arbeit. Ruhm fällt niemandem einfach in den Schoß, dafür muss man hart kämpfen.“
„Sie mir zuschauen?“, fragte Marie-Claire. „Sie sind der Star. Wer bin denn schon ich?“
„Der neue Star von Paris“, sagte Irina Kaskowskaja. „Meine Zeit ist abgelaufen, deine beginnt jetzt.“
** - **
Marie-Claire wurde in der Opéra von einer jungen Frau in Empfang genommen. „Mademoiselle Biasini?“, fragte sie. „Darf ich Sie in Ihre Garderobe führen? Ich bin Ihre persönliche Garderobiere.“
„In meine Garderobe?“ Bislang musste sie sich immer im gemeinschaftlichen Ankleideraum umziehen.
„Monsieur Alfonso erwartet Sie in einer viertel Stunde auf der Bühne“, erklärte die Dame. „Die Proben beginnen pünktlich. Ihre Trainingssachen habe ich bereitgelegt. Das Kostüm der Bertoni ist gereinigt. Notwendige Änderungen können wir später vornehmen, falls erforderlich.“ Sie musterte Marie-Claire. „Es dürfte aber passen, vielleicht muss es enger gemacht werden. Sie werden eine bezaubernde Giselle abgeben“, fügte sie bewundernd hinzu.
„Danke.“ Marie-Claire betrat den luxuriös ausgestatteten Raum und schaute sich um.
„Brauchen Sie noch Hilfe?“ Die Garderobiere blieb abwartend stehen.
„Ich komme schon klar.“ Die Dame verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich.
Innerhalb von zehn Minuten hatte sich Marie-Claire umgekleidet und eilte auf die Bühne. Auf keinen Fall wollte sie Monsieur Alfonso verärgern und Opfer einer seiner theatralischen Tobsuchtsanfälle werden.
„Ah, Mademoiselle Biasini.“ Alfonso tänzelte auf sie zu. Er war bester Laune. „Wunderbar! Wir können gleich beginnen. Zeit ist knapp und kostet Geld.“ Er nahm ihre Hand und drehte Marie-Claire mehrmals um ihre Achse. „Bellissimo, Mademoiselle. Wenn Sie so graziös tanzen, wie Sie aussehen ...“ Er schnalzte mit der Zunge. Marie-Claire war es peinlich, zumal die Mädchen aus der Gruppe, zu der sie noch gestern gehört hatte, neidisch zuschauten. Jede von ihnen wollte gern Primaballerina sein und sie alle arbeiteten hart daran. Nun hatte Marie-Claire die großartige Chance erhalten.
„Maestro, wir fangen mit Introduction des ersten Aktes an. Anschließend Entrée de Giselle. Mademoiselle Biasini, sind Sie bereit? Ich möchte sehen, ob Sie das Stück beherrschen.“
Marie-Claire nickte und stellte sich in Positur.
„Bitte, Maestro!“, befahl Alfonso. Marie-Claire bekam trotz ihrer Aufregung fast einen Lachanfall, während sie Alfonsos Gehabe beobachtete. Verliebt hatte er den Dirigenten angesehen und sich hüftschwingend in seinen Sessel begeben. Nun saß er dort, mit leicht gesenktem Kopf, beide Mittelfinger an die Schläfen gelegt, wobei er alle anderen Finger geziert abspreizte. Der Maestro blickte mit rollenden Augen zur Decke. Als eine Geigerin kicherte, schlug er dezent mit dem Taktstock auf das Notenpult.
Das Orchester setzte ein. Marie-Claires Beine begannen zu zittern. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie nicht mehr eine der Wilis tanzen sollte, sondern die Giselle. Sie, die kleine Marie-Claire Biasini aus Antibes schwebte als Giselle über die Bühne der Pariser Opéra. Oh, was würde ihre Großmutter stolz auf sie sein. Wenn sie nur hier wäre und diesen Augenblick miterleben könnte. Zum Abschied hatte sie ihr die teuren Ballettschuhe geschenkt und gesagt: „Meine Kleine, ich hoffe, dass sie dir Glück bringen. Komm vor allen Dingen wieder gesund nach Hause.“ Der Großmutter waren Tränen über die Wangen gelaufen. Rasch hatte sie sich abgewandt und Marie-Claire allein auf den Bahnhof stehen lassen.
Sie beobachtete ihre Kolleginnen während des ersten Stücks, dann setzte die Musik erneut ein und spielte Entrée de Giselle. Jetzt kam ihr Part. Marie-Claire tanzte. Sie tanzte so gut, wie noch nie zuvor. Sie zeigte alles, was sie bei Madame Kaskowskaja gelernt hatte.
Das Orchester verstummte. Sie hörte das dezente Klatschen von Alfonso. „Das war schon passabel, Mademoiselle Biasini“, stellte er nüchtern fest, „bis zur Premiere werden wir viel üben müssen. Nun der Part mit den Wilis. Maestro, bitte.“
Marie-Claire war über Alfonsos Reaktion enttäuscht. Passabel! Sie hatte sich angestrengt und war besser gewesen als je zuvor. Aber dann kam sie nicht mehr zum Nachdenken. Ein Stück nach dem anderen ließ Alfonso proben. Marie-Claire war am Ende ihrer Kräfte.
Als sie nach drei Stunden in ihre Garderobe kam, spürte sie kaum noch ihre Beine. Mit zitternden Knien versuchte sie, sich umzuziehen.
Die Garderobiere kam herein. „Ich helfe Ihnen. Mademoiselle, Sie sehen völlig erschöpft aus. Dass Sie sich nur nicht erkälten.“ Vorsichtig zog sie Marie-Claire das Trikot über den Kopf. Dankbar nahm Marie-Claire ihre Hilfe an. Es tat ihr gut, wie ein Kind umsorgt zu werden.
„Wie heißen Sie?“, fragte Marie-Claire, da ihr einfiel, dass sie den Namen ihrer freundlichen Helferin nicht kannte.
„Müller“, erwiderte die Garderobiere und streifte Marie-Claire die wollenen Wadenschoner ab.
„Müller? Ist das nicht ein deutscher Name?“
„Mein Mann ist aus Deutschland. Er arbeitet hier in der Opéra in der Dekoration“, sagte sie. „Er ist ein ausgezeichneter Dekorateur. Monsieur Alfonso hat ihn extra aus Deutschland kommen lassen. Vor zwei Monaten haben wir geheiratet.“ Madame Müller bürstete Marie-Claires Haare und band sie zum Pferdeschwanz zusammen. Dann legte sie ihr ein Stirnband über. „Sie müssen sich jetzt warmhalten. In Paris ist es abends kühl und erkälten wollen wir uns nicht, Mademoiselle. Ich habe Ihnen einen Tee gemacht; bitte trinken Sie den, bevor Sie die Opéra verlassen.“
„Danke, Madame Müller.“ Marie-Claire schlürfte das heiße Getränk.
„Ich gehe dann, au revoir, Mademoiselle Biasini.“
„Au revoir, Madame Müller. Und vielen Dank für alles.“
Eilig lief Marie-Claire zur nächsten Metro-Station. Benommen stieg sie in die Bahn. Was war das für ein großartiger Tag! Sie musste die Neuigkeiten unbedingt Sonia erzählen. Die würde Augen machen.
„Sonia!“, rief Marie-Claire schon im Flur. „Rate mal, was heute geschehen ist!“ In der Wohnung brannte kein Licht. „Sonia? Bist du da?“ Eine Antwort blieb aus.
‚Ach’, fiel ihr ein. ‚Sonia ist mit der anderen Sonia oder mit irgendeinem Maler bei Philippe und Pierre verabredet.’ Marie-Claire war enttäuscht. Seufzend hängte sie die Ballettschuhe an die Wand. Sie schaute in den Spiegel. Eine frische Röte hatte sich über ihr sonst blasses Gesicht gezogen.
‚Soll ich oder soll ich nicht?’, fragte sie ihr Spiegelbild. Marie-Claire nickte. ‚Ich soll. Heute ist ein einzigartiger Tag in meinem Leben. Auf zu Philippe und Pierre. Wir feiern.’ Rasch zog sie sich um, achtete darauf, einen warmen Pullover anzuziehen. „Wir wollen uns nicht erkälten, Mademoiselle“, ahmte sie Madame Müller nach und lachte. Ach, wie schön war Paris!
5 Im Dépanneur
Eilig lief Marie-Claire die Treppen hinunter und überquerte die Straße zum Dépanneur. Bei Pierre und Philippe war es erstaunlich leer. Sonia saß an einem Tisch, vor sich ausgebreitet einen Skizzenblock, auf dem sie eifrig zeichnete. Marie-Claire trat hinter ihren Stuhl und umschlang sie.
Sonia schrak auf. „Ach, du bist es.“
„So allein?“, fragte Marie-Claire „Warst du nicht mit der anderen Sonia verabredet?“
„Sie ist schon wieder weg, weil sie morgen einen Termin in Madrid hat und früh fliegen muss. Schau, was ich gezeichnet habe. Ist es nicht einzigartig?“
Marie-Claire betrachtete den Block. „Malst du jetzt Streifen statt Kreise?“
„Quatsch, das ist eine Skizze für ein T-Shirt. Sonia hat mir angeboten, ihr gegen ein Honorar Entwürfe zu liefern.“
„Ich sehe nur blaue und rote Querstriche. Wo ist das T-Shirt?“ Marie-Claire beugte sich über die Zeichnungen.
„Du hast keine Fantasie.“ Sonia nahm ihren Stift und vervollständigte den letzten Streifen. „Stell dir vor, mein erster Auftrag, bei dem ich ein paar Euros verdiene.“ Sie hielt die Skizze ins Licht.
„Mit so was verdienst du Geld?“, neckte Marie-Claire ihre Freundin.
„Du verstehst nichts. Da ich aus der Bretagne bin, kann ich ihr authentische bretonische Modelle präsentieren. Wenn die Kollektion läuft, will sie die Sonia & Sonia nennen.“
Marie-Claire nahm ihr die Zeichnung aus der Hand. „Und wenn du den Block quer hältst, hast du sogar Längsstreifen. Welch eine ungewöhnliche Abwechslung!“
Sonia riss die Entwürfe zurück. „Du besitzt kein Kunstverständnis. Schäm dich. Ich glaube, das wird ein wahnsinniger Hit. Ich werde eine berühmte malende Modedesignerin.“ Sonia atmete tief durch. „Meine erste Vernissage! Mit Bildern und Modellkleidern. Das wird der Knüller in Paris.“
„Danach benötigen deine Gäste alle eine Brille, weil sie nur Kreise und Streifen sehen oder sie werden in eine Irrenanstalt eingeliefert.“
„Claire, lass mich ein bisschen träumen.“ Sonia schmollte. „Warum bist du so spät im Dépanneur? Hast du morgen frei?“
„Ganz und gar nicht.“ Marie-Claire stapelte Sonias Entwürfe aufeinander und setzte sich zu ihr. „Ich möchte mit dir auf eine tolle Neuigkeit anstoßen.“
„Wow! Berichte.“
„Zuerst bestellen wir zur Feier des Tages eine, nein, zwei Flaschen Sekt. Ausnahmsweise. Pierre!“, rief Marie-Claire, „bringst du uns zwei Flaschen Sekt und vier Gläser? Wenn Philippe in der Küche fertig ist, lade ich euch beide ein. Ich habe was wahnsinnig Wichtiges zu erzählen.“
„Oui, Mademoiselle. Ich sage Philippe Bescheid.“
„Sprich endlich! Hast du im Lotto gewonnen?“ Sonia platzte fast vor Neugier.
„Voilà, der Sekt.“ Pierre brachte eilig das Gewünschte.
„Claire hat im Lotto gewonnen!“, rief Sonia übermütig.
„Nein“, amüsierte sich Marie-Claire. „Ich spiele kein Lotto. Schenk ein und setz dich zu uns.“
Pierre goss ein. Philippe kam aus der Küche, band die Schürze ab und legte sie lässig auf einen freien Stuhl. Er setzte sich dicht neben Pierre.
Marie-Claire nahm das Glas: „Auf eine erfolgreiche Zukunft! Ihr müsst mir dreimal über die Schulter spucken.“
„Igitt“, zierte sich Pierre.
„Also kein Lottogewinn. Dann hast du einen Mann kennen gelernt. Einen Maler. Mit langen, blonden Locken, talentiert und vermögend“, kicherte Sonia.
Marie-Claire lachte. „Du denkst wirklich nur an Männer.“
„Warum soll ich sonst eine Flasche Sekt leeren? Eine zum Beginn der Liebe und eine zweite, wenn er verschwindet. Santé.“ Sonia setzte ihr Glas an die Lippen.
„Kein Mann“, spannte Marie-Claire ihre Freunde auf die Folter, „oder besser gesagt, nur ein bisschen Mann. Kein Maler.“
„Nur ein bisschen Mann?“, fragte Philippe.
„Wer ist es?“, wollte Sonia wissen. „Ein greiser Marquis mit einem Haufen Geld?“, prustete sie los.
Marie-Claire stellte ihr Glas auf den Tisch. „Sonia, du bist albern. Bin ich eine Krankenschwester? Ich will euch nicht länger im Ungewissen lassen. Es ist – Alfonso Marcello – der Choreograph von Giselle an der Opèra!“
Sonia sah Marie-Claire entgeistert an. „Alfonso Marcello? Aber ...“, stammelte sie. „Weißt du nicht, dass der schwul ist? Ich möchte dir nicht deine Euphorie nehmen, aber ich glaube nicht, dass das der passende Mann für dich ist.“
Philippe und Pierre sahen sich an. „Alfonso ist très chic“, warf Philippe ein. Pierre stieß ihn entrüstet in die Seite.
„Ihr habt mich immer noch nicht verstanden“, lachte Marie-Claire. „Ich tanze unter der Leitung von Alfonso Marcello ab sofort die Giselle. Ich bin der Ersatz für Carlotta Bertoni!“ Triumphierend sah sie in die Runde. „In drei Monaten ist Premiere. Ihr, meine besten Freunde in Paris, sollt meine Ehrengäste sein. Natürlich Madame Kaskowskaja ebenfalls.“
„Waaas?“, staunte Sonia. „Du tanzt die Giselle statt der Bertoni? Das ist ein Wahnsinn!“
Marie-Claire griff nach ihrem Sektglas. „Was ist? Wollt ihr mit mir anstoßen oder nicht!“
„Mademoiselle Claire“, Philippe nahm geziert sein Glas. „Das ist wunderbar. Eine solche Berühmtheit in unserem bescheidenen Restaurant. Wir müssen ein Bild von Ihnen aufhängen. Das Dépanneur wird sich vor Gästen nicht mehr retten können. Werden Sie uns Alfonso Marcello vorstellen? Wird er zu uns kommen? Wir organisieren eine fürstliche Premierenfeier. Ich erschaffe dazu für ihn mein schönstes Menü. Eine Kreation, von der ganz Paris sprechen wird.“ Er faltete die Hände. „Alfonso Marcello bei uns. Pierre, jetzt brauchen wir Champagner! Das ist ein denkwürdiger Abend.“
Sonia lief hinter die Theke. „Claire, das ist sensationell. Wirklich sensationell!“, rief sie Marie-Claire zu. „Du wirst ein Star. – Aber ...“, nachdenklich kam sie mit den Champagnerkelchen zurück und setzte sich neben ihre Freundin, „können wir weiterhin in der Mansarde wohnen? Du als Berühmtheit? Du wirst sicherlich ein nobles Appartement beziehen müssen und unsere Wege trennen sich.“
Daran hatte Marie-Claire nicht gedacht. Sich von Sonia trennen? Nein. „Egal, was kommt“, sagte Marie-Claire übermütig, „wir bleiben zusammen. Auf die beste Kameradin, die ich je hatte. Santé, Sonia.“ Die Frauen prosteten sich mit den gefüllten Sektgläsern zu.
Pierre kam mit dem Champagner zurück. „Lasst uns feiern. Ich habe Musik aufgelegt. Passend für dich, Mademoiselle Claire.“ Edith Piaf erklang aus dem Lautsprecher.
„Danke.“ Marie-Claire sah verträumt auf die Straße. „Das ist lieb von euch. Ich mag ihre Chansons. In Antibes durfte ich sie nur heimlich hören.“
„Werde nur nicht sentimental”, warf Sonia burschikos ein und schenkte die Champagnerkelche voll. „Auf deine Zukunft! Tchin-tchin - alles in einem Zug!“
Marie-Claire spürte den ungewohnten Alkohol und ein wohliges Gefühl überkam sie. Sie schaute aus dem Fenster, schräg nach oben, in die hellerleuchtete Wohnung mit der Glaskuppel. „Philippe, Pierre, wisst ihr, wer dort wohnt?“ Sie zeigte auf das Atelier.
„Soweit ich weiß“, erklärte Pierre und blickte hinauf, „wird es von einem Maler bewohnt. Wir kennen ihn nicht, er kommt nicht zu uns. Jeden Abend ist alles beleuchtet und oft dringt laute Musik zu uns hinunter. Er scheint ein Sonderling zu sein.“
„Zu gern wüsste ich, wer dort wohnt“, beharrte Marie-Claire.
„Klingel einfach“, bemerkte Sonia. „Dann weißt du es.“ Sie war schon leicht beschwipst und wandte sich ihren Streifen zu.
Der CD-Player setzte erneut ein:
„Non! Rien de rien...
Non! Je ne regrette rien
Ni le bien qu'on m'a fait
Ni le mal tout ça m'est bien égal!“
„Nein!“, schrie Marie-Claire plötzlich, sprang von ihrem Stuhl auf und schlug die Hände vors Gesicht. „Nicht André!“ Die gefüllten Gläser kippten durch den Ruck um, die Sekt- und Champagnerreste ergossen sich über den Tisch, über Sonias Streifenentwürfe und hinterließen auf der weißen Tischdecke blassgoldene Spuren.
„Claire, was ist los?“ Auch Sonia schnellte hoch. Philippe versuchte, Claire beruhigend in den Arm zu nehmen. Sie stieß ihn zurück, sank auf den Stuhl und begann hemmungslos zu schluchzen. „Er ist tot! Tot! Sie hat ihn umgebracht. Oh, mein Gott, er ist tot!“
„Claire?“, fragte Sonia vorsichtig. „Wer ist tot?“
„André. Seht nur! Er liegt auf der Straße. Alles ist voller Blut!“
„Es ist niemand auf der Straße. Es ist ruhig und friedlich. Schau hinaus. Kein Mensch ist da.“ Sonia richtete Marie-Claire auf und zwang sie, hinauszublicken. „Wer ist tot?“, wiederholte sie eindringlich.
„André! Hast du gesehen, wie er von der Terrasse gestürzt ist? Sie steht an der Brüstung und blickt ihm nach. Sie hat ihn umgebracht. Sie hat ihn einfach getötet. Schau hinauf, da ist sie!“
„Wer, Claire? Ich sehe nichts.“
Marie-Claire sank in sich zusammen. Pierre stellte die Musik ab. Totenstille herrschte im Dépanneur. „Hörst du sie singen?“, flüsterte Marie-Claire. „Vernehmt ihr ihre wunderschöne Stimme?“
„Claire, es singt keiner. Pierre hat den CD-Player ausgeschaltet. Die Straße ist leer und niemand ist von einem Balkon gestürzt. Das Licht im Atelier brennt nach wie vor. Es ist hell erleuchtet. Der Künstler dort oben malt bestimmt an einem Bild. Komm, lass uns nach Hause gehen. Du brauchst Ruhe. Heute war ein anstrengender Tag für dich und du hast zu viel getrunken.“
** - **
Am nächsten Tag fühlte sich Marie-Claire erschöpft. Sie ging nicht zur Universität, sondern wollte sich für das Training und die Proben schonen. Stattdessen erkundigte sie sich, in welches Krankenhaus François, der Patron aus dem Mansart, gebracht worden war. Sie musste ihn besuchen und in Erfahrung bringen, wieso er sie mit dem Namen ihrer Mutter angeredet hatte. Vielleicht war es nur Zufall oder sie hatte sich verhört. Andererseits war Gabriella in Frankreich kein alltäglicher Vorname. Zudem beunruhigten sie die Ereignisse der letzten Zeit. Konnte François eventuell zur Lösung beitragen?
Eine Schwester führte Marie-Claire zu ihm. François lag blass in den weißen Kissen. „Monsieur, Sie haben Besuch.“ Sie richtete ihn auf und stellte das Kopfteil höher. „Eine schöne Mademoiselle kommt mit Blumen zu Ihnen.“ Sie verließ das Zimmer. Vorsichtig trat Marie-Claire an das Bett.
„Kommen Sie näher, ich beiße nicht“, sagte François matt. „Tot bin ich ebenfalls nicht“, brummte er. „Setzen Sie sich. Dort ist ein Stuhl.“
„Wissen Sie, wer ich bin?“ Marie-Claires Stimme zitterte leicht.
„Die Klavierspielerin. Sie haben eine beeindruckende Stimme und außerordentlich emotional gesungen. Einfach fantastisch.“
„Ist es meine Schuld, dass Sie an dem Abend zusammengebrochen sind?“, fragte Marie-Claire vorsichtig.
„Ihre Schuld ist es bestimmt nicht. Ich rauche und arbeite zu viel. Ich sollte daran denken, das Restaurant aufzugeben. Sie müssen sich keine Gedanken machen. Sie sind jung und hübsch. Genießen Sie das Leben, solange Zeit ist.“ Er legte seine runzelige Hand auf die ihre. „Sie haben mir mit Ihrem Gesang eine besondere Freude gemacht. Viele Jahre wurde das Klavier nicht mehr benutzt. Das letzte Mal wurde darauf vor über zwanzig Jahren gespielt.“ Seine Gesichtszüge glätteten sich und er schloss die Augen. „Sie war schön und talentiert. Fast jeden Abend spielte sie bei mir. Manchmal nur eine Stunde, manchmal auch zwei. Meine Gäste und ich liebten sie. Man kam zu mir ins Mansart, nur um sie zu hören.“ Er schwieg.
„Und weiter?“ Marie-Claire lauschte atemlos.
„Dann war sie plötzlich weg und alles war vorbei.“
„Warum?“
François zuckte mit den Schultern. „Wissen Sie es nicht, Mademoiselle?“ Er blickte sie traurig an.
„Was sollte ich wissen?“ Gespannt wartete Marie-Claire auf eine Antwort.
François ging auf ihre Frage nicht ein, sondern bemerkte: „Das Leben ist oftmals merkwürdig und gaukelt uns etwas vor, was wir nicht begreifen können.“
„Sie haben mich an dem Abend Gabriella genannt. Hieß die Sängerin damals Gabriella?“ Marie-Claire sah François aufmerksam an. Das Zucken um seine Mundwinkel entging ihr nicht.
„Gabriella?“, fragte François nach einer Pause. „Nein, Mademoiselle, da müssen Sie sich verhört haben. „Aber ...“, er stockte, das Reden fiel im offensichtlich schwer und er schloss die Augen. „Sie haben mir noch nicht ihren Namen gesagt. Wie heißen Sie?“
„Marie-Claire.“
„Marie-Claire, ein brillanter Name. Geschmack hatte sie schon immer“, flüsterte François, sodass Marie-Claire ihn kaum verstand.
„Wer?“ Marie-Claire beugte sich zu François hinunter, doch er schwieg.
„Monsieur, darf ich Sie was fragen? War an dem Abend ein Bild von mir auf dem Klavier?“
François gab keine Antwort. Nach einer Weile stand Marie-Claire auf und ging zur Tür.
„Mademoiselle, vielen Dank für Ihren Besuch. Kommen Sie wieder? Ich würde mich freuen.“ Marie-Claire drehte sich um und sah ein hoffnungsvolles Lächeln auf seinem Gesicht.
„Gern“, sagte sie. „Ich werde Sie an meinen freien Tagen in Ihrem Restaurant besuchen. Wenn Sie wollen, spiele ich für Sie Klavier und Sie erzählen mir etwas über die geheimnisvolle Gabriella?“
François nickte. „Später einmal.“
„Au revoir, Monsieur.“ Marie-Claire verließ das Krankenzimmer.
6 Ein Maler verunglückt
Die folgende Woche verbrachte Marie-Claire in hektischer Euphorie. Zur Universität ging sie vorerst nicht mehr. Irina Kaskowskaja und Alfonso hatten dafür gesorgt, dass sie freigestellt wurde. Das Training bei der Kaskowskaja fand vormittags statt, der Nachmittag war für Proben in der Opéra reserviert.
Sonia traf sie nur selten an. Wenn Marie-Claire abends nach Hause kam, war sie erschöpft und legte sich sofort schlafen. Wenn sie morgens aufstand, schlief Sonia noch.
Doch am Samstag hatte sie frei. Deshalb wollte sie sich Freitagabend mit Sonia im Dépanneur zum Essen treffen.
Als sie in die Rue Pierre Fontaine einbog, sah sie unzählige Blaulichter von Polizeiwagen. Ihre Beine begannen zu zittern. Eine merkwürdige Ahnung beschlich sie.
„Mademoiselle, hier können Sie nicht durch.“ Ein Polizist stellte sich ihr in den Weg.
„Ich wohne hier.“
„Haben Sie einen Ausweis?“ Marie-Claire kramte in ihrer Umhängetasche und reichte ihm die Papiere. „In Ordnung. Ich bringe Sie zu Ihrer Wohnung.“
„Ich muss ins Dépanneur. Das liegt direkt an der Ecke. Ich bin mit einer Freundin verabredet. Sie wird sich sorgen, wenn ich nicht erscheine“, wandte Marie-Claire ein. „Was ist hier passiert? Ein Anschlag?“
Der Polizist gab keine Antwort. Marie-Claire erkannte eine Ambulanz. Die Straße vor dem Mansart war abgesperrt. Sie blickte sich um.
„Schauen Sie nicht hin“, sagte der Polizist kurz, zog sie vorwärts und brachte sie ins Dépanneur.
„Endlich!“, rief Sonia aufgeregt und kam ihr entgegen. „Ich dachte, sie lassen dich nicht durch.“
„Ist etwas Schlimmes geschehen?“
„Setz dich. Philippe, bring Claire einen Cognac.“ Zitternd stellte Philippe das Gewünschte auf den Tisch.