Armageddon - Matthias Matussek - E-Book

Armageddon E-Book

Matthias Matussek

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Beschreibung

Ein Video, ein Scharfschützengewehr, eine Morddrohung der Antifa und ein nach links blinder Staatsschutz. Matusseks Roman beginnt wie ein Thriller und endet in der finalen Schlacht zwischen den Mächten des Himmels und denen des Satans, frei nach der Apokalypse des Johannes. Rico Hausmann, Katholik, ehemaliger Starjournalist und nun als rechts verfemt, hat sich in ein Dorf an der Ostsee zurückgezogen und sendet von dort im Internetradio »Kontrafunk« seine Polemiken gegen eine korrupte grünlinke Regierung, die ein »Klimaziel« zur erbärmlichen Ersatzreligion gemacht hat. Nun wird er gejagt vom Putzer, dem Antifa-Helden der G20-Krawalle. Da ruft ihn ein beklemmender Einsatz nach Paris. Rico soll einer Freundin beim Selbstmord helfen und ihn feiern. Rico sieht die Kultur des Todes wuchern. Als er wieder zurück ist, greift der Tod nach ihm. Ein wütender und doch melancholischer Roman um gewöhnliche Denunzianten und außergewöhnliche Autoren.

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Matthias Matussek

Armageddon

Roman

Inhalt

Teil I – Der Nazi auf der Party

One World im Supermarkt

Windräder und Aberglaube

Feldgottesdienst

Der Südsee-Insulaner

Auftritt Jan Fleischhauer

Auftragsmord

Das Reh

Der Fall Stuckrad-Barre

Heiner Müller

Kai Diekmann und andere

Bescherung

Nachtradio

Ricos Lügenseminar

Rico rappt

Sportpalast mit Böhmermann

Erste Liebe, letzte Lügen

Deutschland, Beziehungsstatus: kompliziert

Kampf gegen das Christentum

Teil II – Bericht eines angekündigten Todes

Die Kultur des Todes

Dunkle Faszination

Peter Pan

Gespenstisches Duell

Putzer und die Minimaus

Todessehnsucht im Frühling

Orpheus in der Unterwelt

Jardin du Luxembourg

L’amour, die Liebe

Die echten Nazis

Eine Akte zum Judenmord

Die Armeen des Teufels

Putzer und Mädchenträume

Endspiel

Letzte Worte

Erste Hilfe

Putzer erledigt Geschäfte

Vollendete Tatsachen

Teil III – Armageddon

Putzers Hamburg

Ein Todesdatum

Das Gewehr

Totenwache

Karwoche

Putzer schreitet zur Tat

Armageddon

Der Schuss

Nachspiel

Morphium

Teil I – Der Nazi auf der Party

»Und wenn ein Rechter fällt, ist das Geheule groß.«

(Egotronic)

One World im Supermarkt

»Pass doch auf, Penner!«

Rico drehte sich erschrocken um. Ein Kerl mit rotgesprenkelter schwarzer Lederjacke hatte ihn vor der Tiefkühltruhe angerempelt, ein paar Schritte hinter der Säule, auf der im Lidl Brot und andere Sachen, die nicht mehr tagesfrisch waren, zu Schnäppchenpreisen aufgebaut waren.

»Und setz deine Maske richtig auf!«, kläffte der Typ.

Weitere Kunden drehten sich zu ihm hin, ärgerlich. Rico sah in ein Paar wässriger blauer Augen mit entzündeten Lidern, dunkelblonde Haare wie schmutziges Stroh. Ein wildes, irres Starren.

»Ach du Scheiße«, setzte die Lederjacke nach, »gibt’s doch nicht, hat sich der Nazi hierher verzogen!« Er hatte eine hohe, kehlige Stimme.

Rico war wütend über sich, weil er sich reflexhaft und gehorsam seine Maske wieder über die Nase geschoben hatte. Er seinerseits traute seinen Augen nicht. Was hatte so ein Kerl hier an der Küste verloren, in diesem Luftkurort mit gerade mal zweitausend Einwohnern? Es gab mehr Schafe als Menschen hier oben. Im Lidl deckten sich die Bauern der Gegend ein und die Stadtflüchtigen, Rentner wie er, pensionierte Ärzte, Unternehmer, Künstler, die sich hier niedergelassen hatten, um genau solche Typen zu meiden.

Da er ein cholerisches Temperament hatte, sah er sich schon nach der Erbsenkonserve im Regal neben sich greifen, um sie dem ungewaschenen Stadtindianer ins Maul zu stoßen. Ein wilder Adrenalinschub ließ diese Fantasiebilder durch sein Hirn schießen – splitternde Zähne, breiiges Hirn – und das alles verglühen wie eine giftige Verpuffung. Er erschrak. Wie viel Wut da hochschoss über diesen Verpetzer, diesen Büttel und eilfertigen Krachschlager und Denunzianten, der dabei war, ein Riesentheater zu veranstalten.

Kamen sich diese jungen Radikalen nicht dämlich vor, für die Einhaltung der Hausordnung zu sorgen? Er schluckte seinen Ärger herunter, schüttelte den Kopf und schob seinen Wagen weiter durch die Regale, an den gekühlten Wurst- und Käseangeboten vorbei. Er war beunruhigt. Mehr als das. Alarmiert. Was hatte der Typ hier verloren?

Rico war fast täglich hier und deckte sich ein. Es gab alles. Prime-Rib aus den USA, Rinder-Carpaccio aus Argentinien, Lachs aus Norwegen, französischen Camembert, die Welt war zu Hause hier in der Küsteneinöde. Er musste sie nicht mehr haben die Welt, er hatte sich hinlänglich in ihr herumgetrieben, jetzt genoss er das Nichts.

One World in Ahrensfeld, klappt doch, dachte er sich.

Aber jetzt dieser Typ. Er spürte seinen Ärger wie einen schmutzigen Lappen im Mund. Automatisch dachte er an das Gewehr, das nach seinem fünfundsechzigsten Geburtstag auf ihn gerichtet worden war, weil er ein Rechter war, ein Nazi, wie es in diesem Song hieß.

Milch, Joghurt, Äpfel, Bananen. Konzentrieren. Durchatmen.

Als er an der Kasse seine paar Einkäufe aufs Laufband legte, hatte er sich wieder geerdet. Beide Füße auf dem Boden. Atmen. Er hielt seine Lidl-App in den Laser und überließ sich seinen angenehmeren Reflexen. Die Blonde, die seine Einkäufe über das Einlesequadrat zog, sah niedlich aus, sah aus wie Michelle Pfeifer, und er sagte: »Sie sehen aus wie Michelle Pfeifer, wieso sitzen sie hier rum und nicht in Hollywood«?

Die müden Züge der Blonden hellten sich auf. »Ich müsste ins Bett«, sagte sie und schniefte.

»Dann aber schnell«, sagte er und lächelte. »Übrigens, Michelle Pfeifer wurde auch im Supermarkt entdeckt«, worauf die Blonde, die durchaus nicht nach Hollywoodflausen klang, sondern robust nach Scholle und hartem Küstenwind, stöhnte:

»Warum passiert mir das nicht?«

Der Lidl war eine große Lagerhalle am Ostende eines Karrees, wie eine amerikanische Mall. Im Westen das große Autohaus, Kia und Hyundai, daneben die Apotheke, geradeaus Fleischer, Souvenirs, Friseur, neben dem Lidl die Postfächer, mittendrin der Parkplatz und die überdachte Sammelstelle der Einkaufswagen. In den Hecken gegenüber ging er ab und zu pinkeln – im Alter steigt der Druck, der ihn bisweilen schlagartig überfiel. Dort stand die Lederjacke, der rote gesprühte Stern auf dem Rücken war schon halb abgeblättert, der Typ brüllte in sein Handy:

»Ich schwöre, es war der Hausmann.«

Rico lief mit seinen Tüten an ihm vorbei, immer der Straße entlang. Hinter sich hörte er Hupen und quietschende Reifen, der Typ war in seiner Schrottkiste, einem verspachtelten und scheckig lackierten alten Toyota, links in die Nordstraße abgebogen und hatte den Gegenverkehr zum Stillstand gebracht. Fuhr Richtung Flensburg.

Die Landstraße begrenzte den alten Ortskern, trennte ihn vom Nichts, das sich hinter der Lidl-Lagerhalle mit ein paar Einfamilienhäuschen verlor, besonders jetzt im trüben Februar war das alles hier ein graues Niemandsland, eine Strafe, eine verlorene Kolonie am Ende der Welt, man hätte Häftlinge hierher in die Verbannung schicken können, der Winter war wie gemacht für den Spruch, der hier Redensart war, wenn man über den eisigen Wind fluchte: »Nur die Harten kommen in den Garten.« Stell dich nicht so an.

Er zog sich den Schal fest und stöpselte die Ohrhörer wieder in sein iPhone, denn noch war seine Aufregung nicht verschwunden, seine Angstwut nicht ganz verblasst. Er ging mit Rod Stewart dagegen an, »A Nod’s as Good as a Wink … To a blind horse«, rauer, früher Rod Stewart mit den Faces, das brauchte er jetzt, er tauchte gerne in die gute alte Zeit ab, er hatte ihn vor einem halben Jahrhundert im Frankfurter Waldstadion erlebt. Rod war betrunken und einfach fantastisch, noch nicht der glatte Achtzigerjahre-Salonlöwe, sondern ein Hooligan, kein Kiffer, sondern Biertrinker, die neue LP war gerade rausgekommen, »Too bad« hieß der Song, und er handelte davon, wie sie, die Faces mit Ronnie Wood, von einer High-Class-Party rausgeschmissen wurden, weil sie so gar nicht reinpassten »Too bad we were thrown downstairs, we never got a chance to sing«, Rico saß damals mit seinen WG-Freaks auf dem durchweichten Rasen im Matsch im Regen.

Hier oben an der Küste gab es nur Matsch ohne Rod Stewart, von High-Class-Partys gar nicht erst zu reden, was er völlig in Ordnung fand, denn die Zeiten, in denen er auf solche eingeladen wurde, waren sowieso vorbei.

Die Tage waren kurz, um vier dämmerte es bereits, auf der Höhe der Touristeninfo überquerte er die Landstraße und bog hinter der Sparkasse hinüber zum Bürgerpark, in dem nur ein paar Enten unterwegs waren und eine alte Frau, die ihren Hund in einem Halfter spazieren führte und wahrscheinlich darauf hoffte, dass die Töle bald ihren braunen Brocken rausdrückte, damit sie wieder hineindurfte, zu Tee mit Rum und der Fernsehillustrierten.

»Moin«, sagt er zur Alten, sie »mointe« zurück, er hatte sich allmählich daran gewöhnt, dass mit »Moin« nicht etwa das berlinernde »Morjen« gemeint war, das eine Tageszeit bezeichnete, sondern dass es aus dem Friesischen stammte. Moien bedeutete »angenehm« und »schön«, man wünschte den Seeleuten einen moien Wind, der sie nach Hause tragen würde, und hier wünschte man sich das zum Gruß den ganzen Tag. Wer »Moin Moin« sagte, galt schon als geschwätzig oder als Tourist, was aufs Gleiche hinauslief.

Die schwarzen Skelette der Buchen und Eichen streckten ihre entlaubten Äste in den grauen Himmel, er lief auf dem kleinen braunen Weg hinunter durch die Wiese, zur Holzbrücke über den Bach, der den Teich mit den Enten speiste, eine sanfte Senke dieser Bürgerpark, umstanden von hohen Bäumen, friedlich.

Doch in ihm rumorte es wieder.

Rod röhrte ihm »Miss Judy’s Farm« in die Ohren. Miss Judy, das Satansweib, schickt ihn raus ins Korn für einen Hungerlohn, und er tritt ihren blondierten Pudel wie einen Fußball in die Gegend, wofür er ausgepeitscht wird – »Miss Judy, she was moody, owned a sweaty farm in old Alabam« –, aber Rod rächt sich und fackelt ihre Scheune ab, allerdings nur in diesem Song, er lässt Luft ab, so wie er selbst, Rico, in Gedanken den geistlosen Antifa-Penner verdrosch.

Der Typ war Anfang zwanzig und stank, als ob er in einem Erdloch wohnte. In diesem Alter hatte er längst als Redakteur gearbeitet. Sein Gedankenkarussell rotierte, immer die alten gleichen Runden, wenn er auf die sogenannten »Antifaschisten« traf.

Klar war auch er mal links und radikal, aber der Unterschied zwischen ihren Generationen war gewaltig, sagte er sich, denn als er in dem Alter war, waren er und seine Buddys Antiestablishment und Antiregierung, und sie hatten ein paar Bücher gelesen.

Nicht nur ein paar, weil sie, zumindest galt das für ihn, dem Betriebsgeheimnis der Welt draußen und der Gesellschaft auf die Spur kommen wollten, und ihrem eigenen, kurz, sie wollten den Sinn, oder, wie es bei ihrem damaligen Comic-Kultautor Douglas Adams aus seiner Galaxie-Serie hieß, »die ultimative Antwort auf das Leben, das Universum und den ganzen Rest«.

Die Leute, die diesen komischen Planeten in der Milchstraße bevölkern, stellen die Frage dem Supercomputer »Deep Thought«, und nach 7,5 Millionen Jahren Rechenzeit spuckt er die Antwort aus. Er sagt einschränkend, um die Euphorie der wartenden Massen zu dämpfen:

»Sie wird euch nicht gefallen.«

»Egal, mach schon, schieß los«, brüllt es aus der Menge.

»Also«, sagte Deep Thought und räusperte sich. »Die Antwort ist 42.«

Fand er großartig.

Verstieß zwar gegen seine religiöse Überzeugung, war aber witzig, und bei einem guten Witz wurde er schwach, und der hier ließ die künstliche Intelligenz eindeutig ins Leere laufen, und all die transhumanistischen Glaubenspartikel der Technikgläubigen gleich mit. Die KI, die künstliche Intelligenz, brachte es eben auch nicht.

Sie damals suchten ihre Antworten bei Marx, Freud, Reich, Adorno. Hunderte Male hatte er seine eigenen idiotischen Jugendirrtümer zu rechtfertigen gesucht und sie gegen die Idiotien der Heutigen in Stellung gebracht. Den Hauptunterschied sah er in der Dummheit, der totalen Verblödung. Besonders aber darin, dass ihr Gegner damals die Regierung war, die Staatsgewalt. Sie wollten die Revolution, ja, sie wollten in ihren verkifften Birnen den Staatsstreich.

Doch die heutigen Bürschchen verstanden sich als Prätorianergarde der Regierung, als illegaler Arm der Staatsgewalt, als Kämpfer gegen Rechts, gegen die Nazis, sie schwammen im Mainstream. Sie nannten sich Antifaschisten. Eine Frechheit, fand er, sich in eine Reihe mit den Lübecker Märtyrern oder mit Stauffenberg, Bonhoeffer oder den Geschwistern Scholl zu sehen. Ja, es war diese moralische Anmaßung, die ihn auf die Palme trieb. Sie lagen auf ihren Matratzen herum, tranken Bier und behaupteten, Untergrundhelden zu sein, obwohl sie von der Regierung mit allen möglichen »Demokratie«-Programmen durchgefüttert und blöde gehalten wurden. Wie lächerlich, diese Radikalität, die einen ohnehin offiziell durchorganisierten Trend lediglich verstärkte.

Wenn er in diese Gedankenreihe einstieg, vergaß er alles um sich herum, er rutschte weg in ein Gefühls- und Erinnerungschaos.

Er trottete mit seinen Tüten hinauf zum Friedhof. Dann nahm er den Weg durch die Lücke in der Buchsbaumhecke, die den Park von dem Friedhof dahinter trennte, ging an einer Staffel weißer Birkenstämme entlang, staunte wie immer über die Widerstandskraft ihrer silbernen Umhüllung, vorbei an den geschmückten Quadraten, an schwarzen und roten Marmortafeln mit goldenen Lettern. Auf einigen Gräbern flackerten LED-Lichter in roten Gläsern, Tannenzweige lagen darauf, um die Blumen zu wärmen, die Samen und das Erdreich und vielleicht die, die darunter ihren letzten Frieden gefunden hatten.

Die Ohrstöpsel hatte er rausgenommen. Er betrat das Reich der Toten immer mit einer Mischung aus Grauen und Ehrfurcht, doch er genoss die Stille, die voller Geheimnisse war und Ahnungen. »Warte nur! Balde ruhest du auch.« Oder heißt es: »auch du«? Vom Reim her war beides möglich in Goethes Nachtlied.

Er hatte sich angewöhnt, auf Geburts- und Sterbedaten zu schauen und die Lebensspannen auszurechnen. Er wollte nicht sterben. Noch nicht. Doch sein Tod rückte näher. Noch zehn Jahre, dann hatte er den Durchschnittswert für Männer erreicht. Frauen lebten länger, was er für eine große Ungerechtigkeit des Schöpfers hielt. Überhaupt, sie langweilten sich doch zu Tode, die Frauen, wenn sie keinen Mann mehr hatten, über den sie sich ärgern konnten. Für Katja, seine immer noch bezaubernde Frau, war er vom Liebhaber zum Sparringspartner geworden.

Er bekreuzigte sich. Am Ende des Weges an den Gräbern vorbei lag ein Wiesenstück, auf dem die Marmortafeln sich in einem Quadrat gegenüberstanden, die Toten hier wie in ein letztes Gespräch versunken, in einer großen Runde. Was hatten sie sich zu erzählen?

Jawohl, es war wichtig, ihrer zu gedenken. Begräbnisrituale waren wichtig. Tradition war wichtig. Es hatte gebraucht, bis er begriff, dass ein Leben ohne Traditionen eine Luftwurzel war. »Tradition ist die Demokratie mit den Toten«, schrieb sein journalistisches Idol, der katholische Konvertit Gilbert K. Chesterton. Mit Recht hatte ihn der Marxist Ernst Bloch einen der gescheitesten Männer genannt, die je gelebt haben, und Kafka fand diesen begnadeten Trinker, der über jedem Whisky, den er zu sich nahm, ein Kreuz schlug, so fröhlich, dass er schrieb, man könnte glauben, er habe tatsächlich Gott getroffen.

Derzeit bereitete Rico ein Buch über ihn vor, ein christlicher Verlag wollte einen Reader über den großen Konvertiten, über diesen großen katholischen Journalisten, einen Kollegen also, einen Mitkämpfer. Venceremos, sagte er sich.

Chesterton verteidigte nicht nur den Glauben, sondern auch die Tradition. Vielleicht war es das Gleiche. Tradition, schrieb Chesterton, sei die Weigerung, der kleinen, anmaßenden Oligarchie derer, die zufällig auf der Erde wandeln, das Feld zu überlassen. So wahr und so richtig, fand Rico. Das war die aktuelle Frontlage, besonders im gegenwärtigen Deutschland. Die Traditionen rissen ab. Und diese anmaßende Elite, die durch ein Zufallswahlergebnis vor knapp zwei Jahren die Macht erobert hatte und derzeit die Karten neu mischte, nannte sich grün und verachtete ganz besonders die christliche Religion, wenn sie sich nicht gerade wie bei den kirchlichen Seenotrettern politisch in den Dienst nehmen ließ.

Er musste in Form bleiben. Das Rauchen hatte er aufgegeben. Er war neunundsechzig, Journalist, gern als »umstritten« bezeichnet oder strafverschärfend als »erzkatholisch«, ansonsten bei guter Gesundheit, wenn auch leicht reizbar. Seinen Zuckerwert und den Blutdruck hatte er dank umfangreicher Medikamentierung im Griff, auch der Cholesterinspiegel war in Ordnung.

Dieser Komiker Adams mit seiner umwerfenden Galaxis-Trilogie war mit zweiundfünfzig gestorben, er war im Fitnessstudio umgefallen, nach einem Herzinfarkt. Rico hatte seinen Infarkt bereits hinter sich, vor drei Jahren, kurz nach seiner Geburtstagsfeier und der ihr nachfolgenden Hetzjagd, danach waren sie hier hoch gezogen. Und er trieb Fitness, jeden Morgen, der bei ihm gegen mittags begann, zwanzig Minuten strampeln auf dem Ergometer, zwanzig Liegestützen, und er hoffte, dadurch dem nächsten Infarkt zu entgehen.

Die gegenüberliegende Seite des Friedhofs wurde begrenzt durch ein Spalier zurückgeschnittener knorriger stämmiger Schwarzpappeln, die in schweren Fäusten endeten, mit denen sie wütend in den Himmel fuchtelten, Proletkult der Toten. Er überquerte die schmale Zubringerstraße und stieg den Weg hinauf, hinein in die Siedlung, die hier in den letzten Jahren errichtet wurde. Kleine Häuschen im Norwegerstil, geziegelte englische Landhausimitate und Bungalows. Ihrer grenzte ans Feld, und dahinter lag die Ostsee.

Es war ein Suburb wie der, der von den »Desperate Housewives« in der TV-Serie bewohnt war, Häuschen mit Vorgarten und Wisteria Lane hieß hier Aufm Deich, obwohl der nur ein aufgeschütteter Sandhügel war.

Dieses Dachsgesicht aus dem Lidl! Ihm kam wieder der Gewehrlauf in den Sinn, der in dem Video auf ihn angelegt wurde. Offenbar lebte er im Visier von gefährlichen Idioten. Wieder musste er sich schütteln.

Er räumte die Sachen in den Kühlschrank und in die Gefriertruhe auf der Terrasse. Dann setzte er sich vor seinen Computer und rief seinen Freund Alexander an.

»Die Zecken kommen näher«, sagte er.

»Mach kein Scheiß, erzähl!«

Er berichtete von seinem Zusammenprall bei Lidl.

»Demnächst taucht die Tante mit dem Gewehr und dem Zielfernrohr auf«, witzelte Alexander schließlich und kicherte.

»Depp«, sagte Rico und drückte ihn weg.

Er nahm ihn nicht ernst, hielt ihn für hysterisch.

Vielleicht war er auch zu beschäftigt, er hatte diese Seite aufgebaut, mit alternativen Nachrichten und Kommentaren, er haute an manchen Tagen fünf Stories raus, telefonierte, recherchierte und ernährte mittlerweile Frau und vier Kinder damit. Drei, der älteste war aus dem Haus. Alex kannte die besten Angelgründe, im norwegischen Farsund genauso wie hier in der Schlei-Mündung, sein Ältester war mit einer schönen Japanerin verheiratet und arbeitete in Tokio in der IT-Branche – kurz, Rico hatte Respekt vor ihm und seiner Lebensleistung. Zu dieser Lebensleistung gehörten auch drei Romane, einer war in der FAZ gerühmt worden, ein anderer war von Fatih Akin für einen Film geplündert worden, weitere lagen in der Schublade, Alex war ein kreatives Kraftwerk, aber seit Neuestem verfemt wie er selber. Harter Hund. Neugierig. Auch er ein Kämpfer, allerdings ohne jeden Gedanken an Transzendenz. Ging als Ausgleich von seiner Arbeit mit einer Wünschelrute über Äcker, Glücksfunde, vielleicht war das sein Religionsersatz.

Er fand Münzen aus den napoleonischen Kriegen und freute sich darüber wie ein Schneekönig. Derzeit allerdings sammelte er Adidas-Jacken, billig über E-Bay, er könnte ein Museum damit aufmachen, am schönsten fand Rico die des US-Teams der Olympiade 1968 in Mexiko.

Sie hatten viel Spaß miteinander, weil sie beide aus den Gegenkulturen ihrer jeweiligen Generationen stammten, aus Rebellionsbiotopen. Bei Rico waren es die Hippie-Wohngemeinschaften, bei Alexander die Punks und das Rotlicht. Vereint waren sie in ihrer Ablehnung des grünen Regierungsterrors, der zum Beispiel den Chef der Querdenker-Demos Michael Ballweg ohne handfeste Anklage über neun Monate U-Haft schmoren ließ – Alexander korrespondierte regelmäßig mit ihm.

Alex mit seiner Basecap, die er ähnlich wie Udo Lindenberg nie ablegte, um seinen kahlen Schädel zu verbergen, er recherchierte so hartnäckig, wie er nach seinen Hellern im Ackerboden suchte. So hatte er herausgefunden, dass der sogenannte Gesundheitsminister, ein Hochstapler mit getürkten akademischen Verdiensten, internen Protokollen zufolge »Angst verbreiten« wollte, »damit die Leute gehorchen«.

»Wir sind in die Hände von Verrückten und Irren gefallen«, rief Alexander in sein Handy, als er das entsprechende Papier zutage gefördert hatte. »Die sind nicht irre«, sagte Rico, »die haben einen Plan, den sie systematisch abarbeiten.«

»Und welcher wäre das?«

»Chaos – und dann … den Umbau in die totale Kontrolle.«

Eigentlich wollte er sagen: Umbau in eine Hölle auf Erden, aber er verkniff es sich im letzten Moment. Alex ging an die Decke, wenn er ihm mit religiösen Exkursen kam.

Dennoch: Sie waren sich einig in ihrem Ekel gegenüber Systemjournalisten, von denen sich einige tatsächlich der Polizei als Spitzel andienten. Alex hatte auch diese Geschichte aufgedeckt und groß gespielt, auch da war sein Rebellionsgeist hellwach. Aber Alex konnte auch ein Idiot sein. Ein Autist. Völlig in der eigenen Welt.

Windräder und Aberglaube

Natürlich nahm Rico seinen Zusammenstoß mit dem Antifa-Kämpfer ernst, klar, schließlich ging es hier um sein Leben. Die Tante hieß Lady Death im Video. Und in ihrem Geigenkasten trug sie ein Gewehr mit Zielfernrohr. Irgendeiner seiner Leser hatte ihn darüber informiert, dass das Ding beileibe nicht irgendein nachgebautes Filmutensil sei, sondern ein echtes Scharfschützengewehr aus britischer Produktion der Firma Accuracy International.

Rico musste seine Nerven beruhigen. Er setzte sich auf ein Kissen vor die Verandatür zum Garten, richtete sein Kreuz auf und atmete langsam und tief in seine Bauchhöhle. Nichts denken, nur wahrnehmen. Alles vergeht. Gedanken sind wie Wolken am Himmel, die weiterziehen. Interesselos betrachten.

Einige Raben stolzierten über das Feld gegenüber. Dahinter das metallene Band der Ostsee. Atmen, ein und aus. Die Raben. Schwarze Unglückvögel. Der Typ an seinem Toyota. Er hatte Ricos Namen ins Handy gebrüllt. Mit wem telefonierte er?

Rico gab auf. Er musste reden. Peer und Silke kamen ihm in den Sinn, die im Nachbardorf wohnten. Er verließ die Wohnung, ging zu seinem BMW, der neben den anderen Autos unter dem Wellblechdach abgestellt war, und zog die große Runde im vorgeschriebenen Schritttempo durch die Siedlung, bis er am Ortsausgang wieder auf die Nordstraße einfädelte.

Graues Straßenband, kaum Verkehr, er hielt Ausschau. Hinter Tysby, die Ortschaften hier hatten dänische Namen, lag linker Hand die Wiese des Barons, in einer dunkelgrünen Senke, sie war nicht viel wert, weil sie unter Grundwasser stand, durch den Nebel zogen schwarze Schlieren, aus dem Sumpf schienen dunkle Gestalten zu steigen, die sich herrisch aufrichteten, Eichenstämme links und rechts, grau dieser Tag, ohne Konturen, überall im Grau diese schwarzen Schlieren, alles sah nach Unheil aus, der Himmel lastete schwer über den abgeernteten Feldern, eine verlassene Welt, in der nichts blieb als die eigenen Gedanken, die jetzt eher in ein finsteres Brüten übergingen.

Seit einiger Zeit befiel ihn eine eigenartige Stimmung, eine Abschiedsstimmung, er konnte es nicht anders nennen. Abschied von einer Welt, die einst in Ordnung war und nun ins Chaos rutschte. Verfehlungen in der Politik waren es nicht allein. Es war etwas Grundsätzlicheres ins Rutschen gekommen, die Seelen hatten Schaden genommen, eine dunkle Macht legte ihren Mantel über die Welt. Die Aussichtslosigkeit nahm zu. Seine Niedergeschlagenheit hatte nichts mit eigenen Todesahnungen zu tun, als gläubiger Katholik hoffte er ja darüber hinaus, nein, es war eine kollektive Schwermut, die sich aufs Land gelegt hatte, er dachte an seinen Sohn und die Welt, in der er sich behaupten musste, und an dessen Job unter den verlorenen Kindern in einem Heim in der Nähe.

Die Welt hatte sich verdunkelt. Es war Krieg in der Ukraine, und die Pazifisten von einst, die Grünen, sie schrien nach Waffen. Gleichzeitig rüsteten die Chinesen gegen Taiwan, Nordkorea testete Interkontinentalraketen, die Russen führten Krieg und Manöver im Gebiet der japanischen Kurilen durch, im Sudan herrschte Blutvergießen, in Iran war die nukleare Bewaffnung nur eine Frage der Zeit, im Nahen Osten brannte es. Die Welt schien zu zittern vor Nervosität, ein über siebzig Jahre schlafender Titan schien sich den Friedens-Schlaf aus den Augen zu reiben und sich zu erheben. Alle schienen sich auf einen mordsmäßigen Showdown vorzubereiten.

Und die Deutschen erkannten nach Jahren der Abrüstung, dass sie plötzlich in ihrem eigenen Kriegsgeschrei ohne Verteidigung dastanden. Keine fahrtauglichen Panzer oder flugtüchtigen Helikopter, keine Armee, keine Munition. Dafür aber wollten sie die Welt vor dem Klimatod bewahren. Dabei war der deutsche Anteil an der globalen Emission so geringfügig, dass er nicht ins Gewicht fiel. Vom deutschen Wesen würde die Welt nicht genesen, soviel war klar, denn das, was diese grüne und rechenschwache Rasselbande in Berlin in den nächsten fünfundzwanzig Jahren an Emissionen mit unerbittlichen Härten gegen das eigene Volk einsparen wollte, pusteten die Chinesen in einem halben Jahr in die Geosphäre. Irrsinn! Wieder mal hieß es: erst Deutschland und dann die ganze Welt. Diesmal nicht vernichten, sondern mit gutem Beispiel vorangehen. Die Anmaßung war die gleiche. Ahnungsloses machtbesoffenes Pack, allerdings nicht nur hier.

Gerade hatte er im Netz einen Film gesehen, in dem ein amerikanischer Anwalt Kongressmitglieder nach dem Anteil fragte, den das so schädliche CO2 in unserer Luft wohl habe. Die Schätzungen lagen zwischen 5 und 8 Prozent. Der Anwalt erstaunte die Politiker, die über milliardenschwere Programme zur Verringerung des CO2 und den Umstieg auf elektrogetriebene Autos verfügten, mit seiner Antwort: Er beträgt 0,04 Prozent. Eine Verringerung auf 0,02 Prozent, so sie gelingen sollte, würde das Wachstum der Pflanzen bedrohen, die CO2 benötigten.

Irre. Komplett irre. Die Welt hatte sich dem Voodoo ergeben, Kinder klebten sich auf Straßen und an Kunstwerken fest, und Abtrünnige wie er wurden gejagt.

Die Landstraße war schmal, und Rico hielt sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung. Düsteres Angelland. Das hier oben war in diesen dunklen Monaten eine Gegend für Elfen und Gespenster. Sie sah aus, als ob sie Böses ausbrütete. Hier könnte sich der Fürst der Finsternis wohlfühlen. Oder Kriminelle, die sich versteckten, vor wem auch immer. Geisterland.

Links, am Ende eines Feldweges, lag ein Gehöft mit drei kleineren Katen, und dort, halb versteckt unter einer Baumgruppe, sah er das scheckige Auto. Er fuhr langsamer. Dann war er sich sicher. Selbst auf die Entfernung im diesigen Tageslicht sah er den Toyota. Was suchte der Typ hier?

Er fuhr weiter, rechts die Felder, im Frühjahr würde hier das Rapsgold wogen, die gelben Weizenmeere im Sommer sanft vom Wind gekräuselt, dann der kerzengrade Wald aus Maisstengeln, in dem der Bauer einen Irrgarten für Touristen und ihre Kinder anlegen würde, jetzt lag das alles matschig braun im winterlichen Tiefschlaf.

Nach einer Weile tauchten die drei Windräder auf, die nun offenbar ebenfalls schliefen, reglose Giganten. Bisweilen, das hatte er gelesen, wurden sie auch einfach abgestellt und produzierten »Geisterstrom«, so nannten sie es, wenn die Gefahr der Überlastung im Netz drohte. Dann wurden die Betreiber trotzdem entlohnt, als hätten sie tatsächlich produziert. Geisterstrom! Ihm kam die Bezeichnung vor wie ein versehentlicher Durchbruch zur Wahrheit.

Geisterstrom fürs vermaledeite Geisterland.

Rund 250 Meter hoch standen sie dort hinten im grauen Dunst wie Götzen eines Kultes, dem geopfert werden musste. Sie kamen ihm nun vor wie die geheimnisvollen Kolossalköpfe auf der Osterinsel, deren Bedeutung nie wirklich enträtselt werden konnte. Allen, die rechnen konnten, war klar, dass die Wind-Giganten auf ihren in die Felder geklotzten Betonsockeln sehr volatil waren und ohnehin nur einen Bruchteil der benötigten Energie liefern konnten. Sie waren schon jetzt sinnlos, doch ihre Sinnlosigkeit schien den Eifer der Gläubigen, sie zu errichten, erst recht anzustacheln, die alle Gesetzeshürden, die ihnen im Weg standen, entfernten. Nun hieß der Befehl: fünf pro Tag.

Ja, diese sinnlosen Riesen waren die Moai der Neuzeit, kolossal und schweigend und streng forderten sie Tribut wie die Kultköpfe auf der Osterinsel. Es war ein Tribut, der zur Selbstzerstörung des Inselvolkes geführt hatte, soviel wusste man. Denn um diese Riesenbrocken zu transportieren, waren die Bäume der Insel abgeschlagen worden, deren Böden nach der Rodung austrockneten und unfruchtbar geworden waren, und je mehr geopfert wurde, desto mehr schnitten sie in ihre Lebensader. Die Köpfe waren aus dem Fluss der Geschichte und des Aberglaubens plötzlich aufgetaucht und ebenso plötzlich wieder verwaist, Wachtposten mit dem Rücken zum pazifischen Meer.

Wir haben uns dem heidnischen Zauber zugewandt, dachte sich Rico, der Panik und den Zauberformeln, um die bösen Geister in Schach zu halten in unserem Geisterland.

Er bog ab in einen langen Ziehweg, der nach ein paar Hundert Metern wieder abknickte Richtung See und nach Schafsberg, wo Peer und Silke mit Finn wohnten.

Rico stellte sein Auto vor dem weißen Holzhaus ab, das sich seine Freunde vor Jahren hier hingestellt hatten, auf einer Weide, die von Silkes Vater auf die Tochter übergegangen war, nur ein paar Hundert Meter vom Strand entfernt. Der Phaeton stand unter dem vorgeschobenen Dach, daneben der Vintage-Porsche. Seine Harley-Davidson hatte Peer in der Garage daneben abgestellt. Sie waren also zu Hause. Bei dem Wetter war jeder zu Hause.

Die Gartentür war unverschlossen, wie immer. Er lief an einem Geräteschuppen vorbei, in dem Peer seine Surfbretter lagerte, stand schließlich vorm Wohnzimmer und klopfte an die Scheibe. Silke öffnete und begrüßte ihn.

Sie war der enthusiastische Typ, eine unfassbar sportliche schlanke Schönheit mit Hang zur Esoterik. Friesisch. Blond mit Sommersprossen. Yogalehrerin, Katja, seine Frau, meditierte ab und zu mit ihr.

»Komm rein«, sagte sie lachend und hielt ihre Hände wie gewohnt in Kleinmädchen-Manier in Schulterhöhe. Strahlen unter blondem Bob, Lachfältchen um die blauen Augen, Umarmung, Blick ins Gesicht, sie hielt ihn auf Armlänge. »Wie siehst du denn aus?«

Auf der braunledernen Sofalandschaft vor dem Kamin zwischen Bergen von Decken und bunten Kissen lag Peer mit der Weltwoche, die er abonniert hatte, weil Rico dort schrieb.

»Alter Schwede«, rief er und richtete sich auf. »Hast du Geister gesehen?«

»Ja, habe ich«, sagte Rico, »so in der Art.«

Von oben hörte er Klavierklänge, D und H, immer abwechselnd, so was wie serielle Musik, wie Phil Glass, an- und abschwellend. Finn, Silkes und Peers autistischer Sohn, klimperte. Die beiden waren der Grund, aus dem er und Katja überhaupt hier hoch gezogen waren, sie hatten sie oft im Sommer besucht, ihnen gefiel die Gegend, Ricos Sohn war in eine Mansardenwohnung im Nachbarhaus der beiden eingezogen, er arbeitete als Psychologe im Kinderheim »Sonnenschein« ein Dorf weiter.

Rico kannte die beiden aus seiner Londoner Korrespondentenzeit vor zwanzig Jahren, ihre anderen beiden Söhne, mittlerweile erwachsen, waren gemeinsam mit seinem zur deutschen Schule gegangen.

»Hier, das World Economic Forum«, Peer hielt die Zeitung hoch, »hat eine ziemlich beschissene Klimabilanz wegen der Privatflugzeuge, die haben in diesen Tagen so viel ausgestoßen wie 350 000 Autos im Straßenverkehr.« Peer lachte. »Dafür soll die Verkehrsbilanz der Escortdienste äußerst zufriedenstellend gewesen sein.« Er blätterte weiter.

»Hast du dieses Foto hier gesehen von Klaus Schwab, mit unserer Uschi hinter dem Theatervorhang? Sieht aus wie Lady Macbeth mit Duncans Geist.«

»Boah, sieht die böse aus«, rief Silke, die sich sonst von Zeitungen und dem Tagesgeplärre der Regierungsnachrichten fernhielt. »Und der Typ vor ihr, der den Theatervorhang aufhält, ist doch eindeutig der Fürst der Finsternis. Und der will die Neue Weltordnung, na danke!«

Tatsächlich sah Klaus Schwab, der Chef des Davoser Forums, auf dem Foto aus wie ein verlebter Lüstling mit schlaffen Hängebacken und einem kahlen Kopf voller Perversitäten. Und hinter ihm die ehrgeizige blonde Deutsche unter ihrer Beton-Dauerwelle mit kaltem Blick.

»Na ja, zunächst mal geht es da um so komische und eigentlich uralte Sachen wie den Neuen Menschen«, sagte Rico, während er sich in die Polster setzte, »aber diesmal wollen die Transhumanisten Ernst machen, also wie man genetische Änderungen vornimmt, wie man Menschen ›hackt‹, wie man sie mit Chips optimiert, wie man sie überwacht, wie man das Papiergeld abschafft, um eine bessere digitale Kontrolle zu ermöglichen.«

Rico hielt den Transhumanismus für die gefährlichste ideengeschichtliche Wucherung der Gegenwart. Dieser Aberglaube an die Machbarkeit, an die Neuschöpfung der Erde hatte luziferische Züge.

»Bei denen geht es nicht mehr um die Gottähnlichkeit, die ja bei uns die Begründung für die Menschenwürde ist und das Fundament unseres Grundgesetzes«, dozierte er, seine Freunde waren kirchenferne eingeschlafene Protestanten, »sondern um Gottgleichheit, also das, was die Schlange im Paradies unter dem Baum mit den verbotenen Früchten verspricht.«

Um dieser Neuschöpfung, diesen »Great Reset« in die Tat umzusetzen, hatte der Schweizer Eventmanager Klaus Schwab in Davos die Idee der »Young Global Leaders« gegründet, um einem elitären Zirkel von Nachwuchspolitikern die Bausteine für die schöne neue Welt zu liefern. Was war das nur für ein obskurer Verein?

»Wahrscheinlich treffen sie sich unter Kapuzen in einem unterirdischen Schloss und opfern Jungfrauen, und Jeffrey Epstein spielt den Zeremonienmeister«, sagte Rico. »So wie in diesem Kubrick-Film ›Eyes Wide Shut‹«.

»Du, das halte ich nicht für ausgeschlossen!«, rief Silke elektrisiert.

»Maaaann, Silke, der nimmt dich doch wieder auf den Arm!«, sagte Peer genervt.

»Auf jeden Fall scheint Schwabs Gebetbuch all die transhumanistischen Verschleierungswörter wie Klimaschutz und Gerechtigkeit und Frieden zu enthalten.« Gleichzeitig aber tankten sie offenbar Entschlusskraft und Abgebrühtheit für den etwaigen Widerstand gegen totalitäre Maßnahmen, dachte er grimmig.

»Ich lese gerade ›Der Herr der Welt‹«, fuhr Rico fort, »geschrieben vor über hundert Jahren von einem katholischen Priester, der von den Anglikanern konvertiert ist, müsst ihr lesen, spannend, und noch aktueller als Huxleys ›Schöne neue Welt‹ und Orwells ›1984‹. Er schildert genau das, was wir jetzt erleben, den nackten Terror durch diese Typen, verborgen unter sanftesten Begriffen wie Toleranz und Menschlichkeit und so weiter, die aber in Wahrheit die Opposition kaputthauen wollen, und das alles mit Unterstützung der Presse. So etwas wie politische Zwangsimpfungen, und natürlich nur zu unserm Besten.«

Während er sprach, formulierte er schon für seine Sendung im Kontrafunk, die er später aufnehmen wollte, Robert Hugh Bensons Dystopie war es tatsächlich wert, gehört und gelesen zu werden. Es war die Unheilsgeschichte einer Weltregierung unter ihrem neuen Messias und einer neuen Clique von Young Global Leaders, schließlich über eine neue Menschenreligion, die aufräumt mit den Bildern der verstockten katholischen Kirche. Sie hat sich dem Fortschritt verschrieben und dem Kampf gegen den christlichen Aberglauben, wie sie es nennen. Sie gründen eine neue Vernunftreligion, und an der Spitze steht ein weißhaariger, aber junger Charismatiker aus den USA.

»Erst mal, willst du einen Tee … oder einen leckeren Brennnessel-Smoothie?«, fragte Silke in ihrem verlockendsten Verkäuferinnen-Tremolo. Rico wusste, dass es tödlich wäre, den dicken grünen Saft abzulehnen, Silke war Vegetarierin, sie ernährte sich und die Familie und den armen Finn hauptsächlich aus ihrem Garten. Und möglichst jeden Gast. Meistens hatte sie Gartenerde unter ihren Fingernägeln.

Finn hatte aufgehört mit seiner Klimperei und stieg gemächlich die Treppe hinunter ins Wohnzimmer. Er schaute ihn gleichgültig an. Manchmal hatte er gegrinst, wenn er Rico sah. Irgendwas fand er an ihm komisch. Heute nicht.

Finn hatte es faustdick hinter den Ohren, Rico mochte ihn. Wenn die drei ihn besuchten, schlich Finn durch seine Wohnung auf der Suche nach irgendwas, das keine Karotte war, am besten ein Keks oder ein Stück vergessene Schokolade, die zu Hause streng verboten waren. Das krallte er sich dann unbemerkt, wobei sich seine Lippen zu einem verstohlenen Triumphlächeln kräuselten.

Eines Nachmittags, als die Eltern mit Finn zu ihm zu Besuch kamen, hatte der sich vor das Fenster der Parterrewohnung des Nachbarn gestellt und vor die Wand gepinkelt und den gestikulierenden Pensionär, der vor seinem Fernseher saß, dabei gleichgültig angeschaut. Reglos. Der Mann war fertig. »Der hat mer einfach anjekiekt«, berlinerte er, als er sich anderntags beschwerte. Rico brachte Pralinen und Blumen und erklärte alles.

An diesem Tag sah Finn wieder schlimm aus. Blutige Striemen über den Wangen, ein Gesicht wie das von Jesus unter der Dornenkrone, offenbar hatte er wieder einen Anfall gehabt. Die Wunden waren gesalbt und tropften weiß. In Abständen löste die ihm unbegreifbare Kluft zur Welt der anderen Wutanfälle aus, die er gegen sich selbst richtete. Dann zerkratzte er sich das Gesicht. Peer und Silke achteten stets darauf, ihm die Arme zu fixieren, indem sie ihm seinen Hoodie über die angelegten Arme zogen.

Was mochte in ihm vorgehen, fragte sich Rico oft. Autisten, das hatte er gelesen, dachten vorwiegend in Bildern. Denken wir nicht alle mittlerweile in Bildern, die unaufhörlich sprudeln, auf Fernsehern, auf Hauswänden, auf Monitoren und Handys? Waren wir nicht alle zu Autisten geworden? Und welche Bilder verknüpfte Finn mit dem Bösen? Sah er es? Konnte er, im Gegensatz zu ihnen allen, das Böse, den Teufel erkennen?