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Ein Schriftsteller begegnet an dem kleinen Privatstrand seines Seegrundstücks nicht ganz zufällig einem 17jährigen männlichen Teenager, der vom Seegrundstück gegenüber, kürzlich zugezogen, neugierig Kontakt aufnimmt. Es stellt sich heraus, daß der der Junge mit vordergründig apart erscheinendem Benehmen sozial vereinsamt ist und sich eine neue männliche Bezugsperson sucht. Der Schriftsteller, mit einer deutlich jüngeren Frau liiert, die zunächst nicht in Erscheinung tritt, und der Junge schließen langsam Freundschaft miteinander, können sehr offen miteinander reden und umgehen. Der Junge blüht auf, dem kinderlosen Schriftsteller tut der unerwartete Kontakt ebenfalls gut, beruflich und privat. Seine schöne Beziehung wird intensiv, der Junge lernt durch die neue Vaterfigur Gleichaltrige beiderlei Geschlechts kennen und schließlich, nach schmerzlichen Schmähungen, die ihn aus seiner Vergangenheit belasten, auch seine erste große Liebe. Daß ein männlicher, ähnlich belasteter Freund, bi-neugierig, ihn verwirrt, kann ihn aber von seinem gewählten erotischen Weg nicht abbringen. Am Ende wartet auf den Schriftsteller eine große Überraschung.
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Seitenzahl: 364
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Armas vom See
Einsamkeit - Zweisamkeit - Liebeszeit
Georg von Rotthausen
Published by epubli GmbH, Berlin
Copyright: © by Georg von Rotthausen
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Inhaltsverzeichnis:
Imprint
Inhaltsverzeichnis
24. Juli 2016
25. Juli 2016
Armas vom See
Einsamkeit - Zweisamkeit - Liebeszeit
“Wer das Gegenteil von Gerüchten, die über Ereignisse oder Personen in Umlauf sind, annimmt, trifft oft den wahren Sachverhalt.” Jean de la Bruyère
“Man kann Dummheit sorgfältig durch Erziehung zu Vorurteilen herbeiführen.” Alexander Mitscherlich
Es war der 24. Juli, ein wunderschöner Sommertag des Jahres 2016. Ein Sonntag.
Christian von Achternberg saß in seinem sonnenlichtdurchfluteten Arbeitszimmer an dem uralten Schreibtisch seines Großvaters − und dachte nach.
Die Tastatur seines Arbeitscomputers und dessen moderner Flachbildschirm wollten nicht so recht zu dem schönen alten Möbel passen, aber der Schriftsteller wollte es so. Fast siebzig Jahre hatte sein Großvater an diesem Schreibtisch mit der dazu passenden Wanduhr gesessen, einige wenige Jahre wohl auch sein Vater, zu dem der Kontakt abgebrochen war, ehe er ihn, zwanzig Jahre nach dem Tod des alten Herrn und ein Jahr nach dem Tod seines Vaters endlich aus dem Nachlaß bekommen hatte. Ohne es so geplant zu haben, setzte er sich genau am Jahrestag des Hinscheidens seines Großvaters an den Tisch, um ihn in Besitz zu nehmen, und als es ihm bewußt wurde, überlief ihn eine gewaltige Gänsehaut.
Nun aber saß er da, nach gutem Nachtschlaf bis in den frühen Vormittag hinein, seinem üblichen, knappen Frühstück, und es fiel ihm nichts ein. Da half auch sein geliebter Grüner Tee nichts. Er starrte den Bildschirm an, der starrte zurück, mit einer erschreckend leeren weißen Seite.
Achternberg entschloß sich, den Teetopf zu leeren, ohne gleich, wie üblich, einen dampfenden neuen hinzustellen. Er trank so gut wie keinen Alkohol, rauchte seit seinem 10. Lebensjahr nicht mehr, aber er war ein Kettenteetrinker geworden, nachdem er den einst so geliebten Kaffee wegen Magenbeschwerden Jahre zuvor aufgegeben hatte − aufgeben mußte. Er schloß die geöffneten Dateien, fuhr den PC herunter und ging in sein Schlafzimmer, um sich anzuziehen.
Es war schon am Vormittag derart warm, daß er, wie in der Jahreszeit üblich, nackt am Schreibtisch gesessen hatte. Olaf Gulbransson lief in seinem Garten in Oberbayern zum Malen nackt herum, nur mit einer Latzschürze bekleidet, da durfte er es sich wohl leisten, auch zur Schonung seiner Kleidung, in seinem eigenen Haus so herumzulaufen, wie er auf die Welt gekommen war − nackt.
Achternberg war durch großes Glück nicht mit maulender weiblicher Gesellschaft belastet, aber leider auch nicht von Familie umgeben, denn er hatte, zu seinem großen Kummer, keine Kinder − noch nicht, wie er, trotz seines Alters, gern betonte. Das käme schon noch, so verrückt der Gedanke sei, vor allem in der ungebetenen Meinung Dritter. Würde man einmal aufhören, nicht mehr ganz normal zu sein, vielleicht gar ein wenig verrückt, dann wäre man tot, liefe man dreist unter den sogenannten Lebenden herum, war sein Credo − und Kinder in diese verrückte Welt zu setzen, das wäre ebenso verrückt, wie es ein banal normaler Vorgang sei, den das Leben auf Erden nun einmal seit Millionen von Jahren betreibe, ohne sich viel Gedanken um die Folgen zu machen. Aber könnte nicht mit jedem Kind wieder eine neue Chance aufwachsen, daß diese bescheuerte Welt ein klein wenig besser würde? Auch wenn hin und wieder ein nicht ganz dichter Politiker oder gar ein künftiger Mörder darunter wäre? Mit genetischen Ausreißern hat die Welt bisher leben müssen und sie wird es bis zum bitteren Ende nicht anders halten können. Das ist nun einmal so.
Aber er hatte zwei Patentöchter, die er sehr liebte. Und eine liebte er etwas mehr.
Achternberg entschloß sich, in leichte Leinensachen zu steigen, seine bequemen Sandalen anzuziehen, einen breitrandigen Strohhut gegen die Sonne aufzusetzen − und an seinem See auf Hecht zu gehen, ohne sich von schöner Weiblichkeit mit einem Kuß und zärtlichen „bis nachher, Lieberchen” verabschieden zu können. Das Haus war nun einmal das, was Alleinsein ausmacht − still. Die Königin seines Herzens war nicht da.
Eine knappe halbe Stunde später saß er auf seinem mit buntem Stoff bespannten Klappstuhl auf dem vielleicht fünf Meter langen Holzsteg neben dem kleinen Sandstrand, hatte seine Angel ausgeworfen und harrte der Dinge. Er hoffte zudem, daß ihm dabei der Anfang seines neuen Buches einfallen würde. Ruhiges Nachdenken soll dabei schon sehr behilflich gewesen sein.
Er wußte ungefähr, wo in dem glasklaren Wasser der Hecht stand, auf den er es schon lange abgesehen hatte, aber der schlaue Räuber hatte sich bislang nicht verleiten lassen, anzubeißen.
Es mochte eine Stunde vergangen sein, mit dem Sonnenstand würde die Einschätzung wohl hinkommen, denn er hatte, wie üblich, keine Uhr dabei, als sich rechts von ihm plötzlich etwas im Wasser bewegte. Es war nicht der Hecht, dafür war es zu groß − und fleischfarben.
Achternberg fixierte es, ungehalten über die Störung, könnte ihm doch dadurch der Hecht vergrämt werden, aber laut schimpfen konnte und wollte er nicht, dann wäre der schlanke Räuber ganz sicher für den Rest des Tages Geschichte.
Das, was da ankam, war groß und schlank und nackt, kam kurz vor dem Ministrand an die Oberfläche, holte tief Luft, stellte sich hin, strich sich die dunklen Haare zurück und ging an Land ohne zunächst von dem gestörten Angler Kenntnis zu nehmen.
Achternberg schätzte den ohne „weiße Hose” braungebrannten Teenager auf etwa 1,90 m, vielleicht 17, höchstens 18 Jahre alt. Er hatte eine altersgemäß schlanke, ja durchtrainiert wirkende Figur, und er vermittelte den Eindruck, als er sich umdrehte und auf dem Sand niederließ, sicher Objekt manch bewundernder Betrachtung von Bikinischönheiten oder gleichsam nackten Mädchen am Strand und Ziel neidischer Blicke von gleichaltrigen jungen Böcken zu sein.
Der Junge streckte sich aus, verschränkte die Arme unter seinem Kopf und schloß die Augen. Achternberg schenkte er keine Beachtung und der hatte keinen Anlaß, sich den Störbesuch weiter anzusehen, da er sich offenbar nur sonnen wollte und ruhig verhielt. So wandte er sich wieder dem Blick auf den See zu und versank in seinen Gedanken. Von dem Hecht war nichts zu sehen. Die Sonne brannte herunter und der See lag still.
„Hi! Darf ich mich zu Ihnen setzen?”
Achternberg schloß einen kurzen Moment genervt die Augen, ehe er seufzend antwortete.
„Bitte!”
Er drehte sich um. Vor ihm stand der nackte junge Bursche, der offenbar überhaupt nichts dabei fand, ohne eine Faser am Leib einen ihm wildfremden Mann anzusprechen. Er musterte ihn kurz, wie man eben jemanden mustert, den man nicht kennt und der sich obendrein völlig schamlos benahm. Oder sollte man sagen, ungezwungen, jugendlich frech? Achternberg wandte sich wieder dem See zu − und schmunzelte, ohne daß der Junge es sehen konnte.
„Das hätten wir uns in dem Alter mal trauen sollen! Leider haben wir uns nicht getraut.”
„Stört es Sie, daß ich nackt bin?”
„Nö.”
„Gut. Habe sowieso nichts dabei. Ich könnte mich höchstens mit etwas Scham bedecken, aber die habe ich dummerweise zu Hause liegenlassen.”
Der junge Bursche setzte sich hin und ließ seine langen Beine im Wasser baumeln, stützte sich nach hinten auf seinen Händen ab und hielt mit geschlossenen Augen sein Gesicht mit nach hinten gelegtem Kopf in die Sonne.
Achternberg schmunzelte vor sich hin. Der Junge hatte Wortwitz.
„Wo kommst Du her?” fragte er leise.
„Von drüben.”
Der Junge war nicht alt genug um mit „von drüben” die ehemalige DDR, also Mitteldeutschland, zu meinen.
„Vom anderen Ufer, von gegenüber?”
„Jou.”
„Haben Deine Eltern das alte Hansen-Anwesen gekauft?”
Der alte Resthof mit sehr großem Garten, altem Baumbestand und einem wunderschönen reetgedeckten Haus aus dem 18. Jahrhundert hatte eine ganze Weile zum Verkauf gestanden. Das Land drumherum, etwa zwanzig Hektar, war an die umliegenden Bauern verpachtet.
„Jou.”
„Und Du bist das ganze Stück auf einen Rutsch durchgeschwommen?”
„Jou. Unterwegs keine Insel entdeckt.”
Achternberg bemerkte, wie töricht er gefragt hatte, natürlich gab es „unterwegs” keine Möglichkeit, sich auszuruhen, außer man hängte sich außenbords eines Anglers, wenn gerade einmal einer draußen war.
„Du bist gut im Training, hm?”
„Jou, kann man sagen.”
„Ferien?”
„Jou. Sechs herrliche Wochen.”
Achternberg wandte sich zu ihm um, da er ein Plätschern gehört hatte.
„Macht es Dir ‘was aus, die Beine aus dem Wasser zu nehmen oder wenigstens nicht zu bewegen? Es möchte mir den Hecht vergrämen.”
„Nö.”
Der junge Bursche zog die Beine an, rutschte ein wenig nach hinten, legte sich auf den Rücken und verschränkte, wie zuvor auf dem Sand, die Arme unter seinem Kopf, wobei seine Bizeps deutlich hervortraten. Er schloß die Augen. Die starke Sonne schien ihm nichts auszumachen. Selbst seine Männlichkeit, seiner Körpergröße perfekt angepaßt, war schokoladenbraun, mit Ausnahme der rosigen, wohlgeformten, etwas überdimensionalen Spitze − natürlich.
Es war still am See. Es regte sich kein Luftzug. Achternberg wandte sich um. Der junge Bursche war noch da. Schweißperlen glänzten auf seiner makellosen Haut. Er schlief.
Achternberg registrierte, daß seine ungebetene Gesellschaft nicht nur einen wohlgestalteten Körper hatte, sondern auch ebenmäßige, fast schöne Gesichtszüge aufwies, mit leicht erhöhten Wangenknochen. Unwillkürlich dachte er, ob dazu wohl eine ebenso schöne ältere Schwester gehörte, nur um gleich darauf schmunzelnd über sich selbst den Kopf zu schütteln. Solch ein Altersunterschied bedeutete nur in phantasievollen Romanen kein Hindernis. Die Realität war leider zu spießig und mißgünstig. Obwohl, er kannte ein Mädchen, dem es sicher nicht gefiele, würde er plötzlich mit einer Neuen flirten. Mancher privater Ärger läßt sich ausnahmsweise einmal durch Nichtstun vermeiden − und Achternberg liebte nicht nur dieses Mädchen, er liebte auch die allgemeine Harmonie in seinem Leben. Disharmonie arbeitete er in seinen Geschichten ab.
Ihm fiel wieder ein, daß über den US-Musiker Billy Joel, der immerhin schon 65 war, sich im April 2015 die Nachricht verbreitet hatte, daß seine 32 Jahre jüngere Freundin Alexis Roderick, eine ehemalige Bankmitarbeiterin, ein Kind von ihm erwartete, den ersten gemeinsamen Nachwuchs. Allerdings hatte Joel 29 Jahre zuvor bereits erfolgreich eine Tochter in die Welt gesetzt, was Achternberg dank des unromantischen Verhaltens seiner großen Liebe in Dillsburg, Pennsylvania versagt geblieben war.
Ihm gefiel die schlagfertige, wortwitzige Antwort des Jungen hinsichtlich seiner unbekümmerten Nacktheit. Er verstand nur nicht, warum er sich nicht irgendwo am Strand unter Gleichaltrigen amüsierte, sondern hier bei ihm aufhielt, sonnte, schlief und bislang kaum etwas gesagt hatte. Wiederum, er war nicht lästig, warum sollte er ihn vertreiben. Ihn ärgerte nur, daß der Hecht einfach nicht anbeißen wollte.
Careen! Wie sie heute wohl aussah, kam Achternberg in den Sinn. Wahrscheinlich war sie noch schöner geworden, als sie es mit 24 Jahren war, als er sie ganz unvermittelt in Begleitung ihrer deutschen Großmutter Emma kennenlernte. Fünf Sekunden vorher gefragt, ob er an Liebe auf den ersten Blick glaube, hätte er jeden für verrückt erklärt, nicht ganz gescheit im Kopf − und dann läuteten Kölner Dom, Freiburger Münster, Münchner Frauenkirche, Berliner Dom, Stephansdom, Notre Dame de Paris, St. Paul’s Cathedral und Big Ben allesamt gleichzeitig! Er war wie angewurzelt stehengeblieben, hatte nicht fassen können, was er im gläsernen Autoschalter einer kleinen Bankfiliale in diesem Nest unweit Harrisburg erblickte: das schönste weibliche Wesen, das er je gesehen hatte! Ihr wunderschönes Lächeln, das er immer noch vor sich sah, als hätte es ihn gerade erst hypnotisiert. Aber es sollte nichts werden. Careen befand sich in einer sich auflösenden Verbindung, doch hatte sie den Ring noch nicht abgelegt. Sie war freundlich zu ihm, strahlte ihn an, doch ein Rendezvous lehnte sie ab. Achternberg war nur auf eine Woche bei ihren Großeltern zu Gast. Leopold, ihr Großvater, den er als Historiker aufgesucht hatte, war im Ersten Weltkrieg Kaiserlicher Leutnant zur See gewesen und hatte in der zweiten Weltkatastrophe, die die Sieger der ersten durch ihr törichtes und zutiefst demütigendes Friedensdiktat mit heraufbeschworen hatten, als Fregattenkapitän gekämpft. Zum Zeitpunkt ihres Kennenlernens war er ein liebenswürdiger alter Herr, dessen Marinedolche nur noch als Dekoration an der Wand des großen Wohnzimmers in einem typisch amerikanischen Einfamilienholzhaus an der Hauptstraße von Dillsburg hingen, einer ebenso typischen amerikanischen Kleingemeinde im Osten der USA, die diesen unerwarteten Schatz eines weiblichen Wesens beherbergte. Er sollte Careen, die völlig akzentfrei hochdeutsch sprach, nur noch einmal wiedersehen und dann nie wieder. Aber genügte das nicht, einen Menschen über drei Jahrzehnte nicht zu vergessen? Einzige optische Erinnerung würde ein Photo bleiben, das er im Haus ihrer Großeltern abgehängt und in einem kleinen Geschäft kopiert hatte. Achternberg war ein armer Student, schaffte es nicht mehr, nochmals in die USA zu reisen, sein langes Werben verstand sie nicht. Ihre Großeltern waren auf Achternbergs Seite, ihr Vater verhielt sich freundlich neutral, ihre Mutter war gegen ihn − sie wollte, trotz Verwandtschaft in Deutschland, ihre ältere Tochter nicht mehrere tausend Kilometer von sich getrennt wissen. Ihr Vater schrieb ihm, sie könne nicht begreifen, daß ein Mann so begeistert von ihr sein könne. Acht Jahre später sollte sie einen optisch in keiner Weise zu ihr passenden, deutlich älteren Amerikaner ohne Liebe heiraten, aber er konnte ihre große Leidenschaft bedienen: er besaß eine Herde Pferde. Als Achternberg es von ihrer Großmutter erfuhr, war er über Monate wie von Sinnen gewesen, konnte es einfach nicht fassen, zumal sie kein Jahr nach ihrer Hochzeit ihr erstes Kind zur Welt bringen sollte. Ob es ein Mädchen oder ein Junge war, hat er nie erfahren.
Die alte Emma konnte ihn nicht trösten, als sie ihm schrieb: „Wer mir so die Liebe erklärt hätte, dem wäre ich bis in die Hölle gefolgt!”
Für Achternberg folgte die Hölle der Einsamkeit − für viele Jahre. Er kam nicht darüber hinweg.
In diesem Jahr würde Careen 56 Jahre alt. Vielleicht war sie geschieden vielleicht Witwe − er wußte es nicht. Ihr Erstgeborenes würde 23 Jahre jung sein. Achternberg wußte nicht, warum, aber er hoffte auf ein Mädchen, das die unglaubliche Schönheit der Mutter geerbt haben könnte. Und hinter ihm lag ein schöner Junge, der sein Sohn sein könnte, so schön, als hätte er ihn mit Careen gezeugt. Aber er hatte mit Careen keine Kinder, würde nie welche mit ihr haben − das war der große Kummer seines Lebens. Und in stillen, sentimentalen Stunden trauerte er seinen Kindern nach, die er nicht in seinen Armen halten durfte −ach wäret ihr doch geboren!
Er drehte sich in der Hüfte um, hielt die Angel ruhig, und ließ seinen Blick über den ruhig atmenden Körper dieses schönen jungen Menschen gleiten, der ihm völlig unbekannt und plötzlich doch irgendwie vertraut war, obwohl er nicht einmal seinen Namen kannte.
Seltsam. Der Junge suchte seine Nähe, stellte sich aber nicht vor. Suchte er seine Nähe? Vielleicht akzeptierte er einfach nur, daß er an dem ruhigen, einsam gewähnten Platz einen männlichen Menschen angetroffen hatte, der vom Alter her leicht sein Vater sein könnte.
Er hatte die frische, leichte Art eines fortgeschrittenen Teenagers an den Tag gelegt, der fröhlich lächelnd überspielte, daß er, ohne zu fragen, an einem Privatgrundstück an Land gegangen war, dazu ohne ein Stück Stoff am Leib. Irgendwo mußte eines der Schilder im Uferbereich stecken, das deutlich auswies Privatgrundstück. Betreten verboten. Achternberg hatte vergessen, wo. Der Junge war tauchend näher gekommen, konnte es also leicht übersehen haben. Achternberg war nicht in der Stimmung zu schimpfen, das verursachte ohnehin nur unnötig Falten, und der Junge machte nicht den Eindruck eines aufdringlich-neugierigen Fans − auf dem nassen Weg seiner „Anreise” konnte er schlecht ein zu signierendes Exemplar von Achternbergs Büchern mitbringen − oder eines Touristen, der mal nur neugierig sehen wollte, wie denn solch ein bekannter Tintenkleckser lebte. So wie auf Rothensande früher ständig wildfremde Leute in die Privaträume des Gutsherrn vordrangen, um mal zu schauen, wo die berühmten drei „Immenhof“-Filme der fünfziger Jahre gedreht worden waren.
Er war zudem der neue Nachbarssohn „von drüben”. So könnte es passieren, daß er im Sommer häufiger käme, vielleicht sogar täglich. Er könnte sich nicht täglich von neuem aufregen, zumal es ein Kompliment wäre, wenn der Junge zurückkehrte. Für ihn als Mensch, daß er nicht vergraulend wirkte, und für sein Stück Land am See, weil es, einladend, wie es nun einmal war, dem jugendlichen Besucher gefiel. Wer fühlte sich nicht geschmeichelt, wenn sein Zuhause von Dritten als schön empfunden würde!
Und Achternberg fühlte sich durch eigene Gedanken geschmeichelt, er hätte mit einer schönen Frau solch einen schönen Menschen in diese schöne Welt gesetzt haben können, die sich immer wieder so grausam gebärdete, weil boshafte Menschen sie nicht zu schätzen wissen und keine Ruhe geben können. Aber das Schlechte in dieser Welt, der einzigen, die die Menschen nun einmal haben, läßt sich nur durch das Gute und Schöne bekämpfen − und letztlich besiegen. Das sei ein tröstlicher Gedanke, fand er. Warum hätte er diesem friedlichen Teenager eine Szene machen sollen − warum?
Während er all das dachte, seinen Besuch betrachtete und sich gerade wieder der ruhigen Beobachtung seiner Angel widmen wollte, begann der junge Bursche, sich zu regen, ohne seine Augen zu öffnen. Er massierte mit seiner Rechten seine Brust, spielte mit seinen Brustwarzen, gähnte, als wolle er die Welt verschlingen, streckte sich, blinzelte gegen die Sonne an und stützte sich auf seine Ellbogen.
„Hab’ ich geschlafen?” fragte er leise.
„Glaub’ schon”, murmelte Achternberg, der sich kurz zu ihm umwandte. Dabei trafen sich ihre Blicke, worin sie einen Moment lang verharrten.
„Hat schon ‘was angebissen?”
Der Junge richtete sich auf.
„Nö. − Das Einzige, daß heute aus dem See gekommen ist, bist Du.” Achternberg zog seine rechte Augenbraue hoch. Ein leises Lächeln umspielte seine Mundwinkel.
„Störe ich Sie?”
„Nö. − Wie kommst Du darauf?”
„Na ja, Sie wollen hier in Ruhe angeln …”
„Ach, der Hecht läßt mich schon seit Wochen warten, da kommt es auf einen Tag mehr oder weniger auch nicht an. Du störst wirklich nicht. Wie heißt Du?”
„Armas.”
„Achternberg.”
„Ich weiß. Sie sind der Schriftsteller, der mit den Krimis und Erotikgeschichten und so.”
„Ach ja?”
„Ja, ich hab’ mich im Netz über Sie informiert. Man muß doch wissen, wen man als Nachbarn hat. Meine Mutter liest Ihre Sachen gern, Papa weniger. Ich finde Ihre Erotika cool. Macht ‘n mächtigen Ständer.”
„Ach ja?”
So deutlich hatte es Achternberg noch von keinem Leser gehört. Aber es freute ihn, daß seine erotischen Geschichten so anregend wirkten. Er mußte schmunzeln. Ihm gefiel die offene Art von diesem Armas.
„Klar. Sie schreiben so schön bildhaft, daß mein angeschaltetes Kopfkino mir wunderbar hilft, zu onanieren.”
Achternberg mußte sich räuspern. Der Junge war wirklich frei heraus. Es schoß ihm gleich durch den Kopf, wie stolz er wäre, einen solchen Sohn zu haben. Einen, mit dem er sich offen über alles unterhalten könnte.
„Hast Du keine Freundin?”
„Nein, das heißt ja, keine Freundin.”
„Warum nicht? Du bist ein hübscher Junge.” Achternberg sah Armas forschend an.
Das war eine indiskrete Frage, aber nun war sie einmal heraus.
„Ich will noch nicht. Die Mädchen haben Ansprüche, die zu erfüllen ich nicht bereit bin.”
„Ach ja? Gefallen Dir Jungs besser?”
Das war hart und direkt auf den Busch geklopft. Achternberg wunderte sich ein wenig, daß Armas nicht wild darauf erpicht war, sein erstes Mal mit einem Mädchen und mehr als das zu erleben. Armas sah ihn fest an. Seine Wangen hatten sich leicht gerötet.
„Ich bin nicht schwul, falls Sie das denken. Ich kann nur warten.”
Achternberg war plötzlich überzeugt, einen ganz besonderen jungen Menschen vor sich zu haben.
„Es würde mich nicht stören.”
„Was? Wenn ich schwul wäre?”
„Genau. Niemand kann etwas für seine Vorlieben.”
„Sind Sie schwul?” Armas sah ihn durchdringend an.
Achternberg antwortete ihm mit einer Gegenfrage.
„Wie kommst Du darauf?”
„Weil Sie tolerant zu sein vorgeben.” Armas sah ihn forschend an. „Und weil es Sie nicht stört, daß ich nackt bin.”
Achternberg lachte.
„Wäre es Dir lieber gewesen, ich hätte Dich laut schimpfend verjagt?”
„Das wäre zumindest die normale Reaktion gewesen, wie ich sie bisher kennengelernt habe.”
„Dann bist Du also bisher immer nur an Spießer geraten?”
„Das kann man so sagen. Ich bin nur beschimpft worden und meine Eltern habe böse Briefe bekommen.”
„Also, um das ein für allemal klarzustellen”, Achternberg sah Armas fest an, „ich liebe die Frauen, auch wenn sie manchmal eine ziemliche Plage sind”, beide lachten, Armas zeigte dabei zwei Reihen strahlendweißer Zähne, „ich bin im Moment allein und Du gefällst mir, sonst wärst Du nicht mehr hier. Beantwortet das Deine Frage?”
„Jou”. Armaslächelte und wirkte zufrieden.
„Und warum haben Deine Eltern böse Briefe bekommen?” Achternberg wurde neugierig, obwohl er sich gewisse Dinge schon denken konnte.
„Das waren immer ebenso neugierige wie spießige Nachbarn, vielleicht waren sie auch einfach nur neidisch. Ich bin nun einmal groß, habe das Glück einen gutgewachsenen Körper zu haben, den ich allerdings auch sportlich trainiere, und mein Schwanz ist überdurchschnittlich lang.”
„Kann man sagen“, nickte Achternberg zustimmend. Ihm gefiel das gesunde Selbstbewußtsein des Jungen, das nicht arrogant wirkte. „Läufst Du gern nackt herum? Ich meine, woher könnten die Nachbarn sonst wissen, daß Dein Penis zur Körpergröße paßt, wie? Oder hast Du keine Gardinen vor Deinem Fenster und wirst von den Nachbarn beobachtet, wie Du Dich in Deinem Zimmer bewegst? Spanner gibt es ja leider immer wieder.”
„Ich finde es einfach cool, frei und ungebunden zu sein, und das schließt ein, daß ich in der warmen Jahreszeit möglichst wenig Stoff am Körper haben möchte. Ich bin schon gern nackt schwimmen gegangen, als ich noch auf meine ersten Schamhaare wartete, und ich liebe es, in der Sauna zu sein. Wir hatten immer ein großes Grundstück um uns herum, aber es gibt ja Ferngläser. Da bin ich wohl immer begafft worden, wenn ich nackt im Garten herumgelaufen bin oder mich gesonnt habe. Meine Eltern haben das stets toleriert, aber die blöden Briefe der Nachbarn haben schon genervt. Auf der Straße bin ich auch schon mal als schamloser Bengel beschimpft worden. ‚Wenn du mein Sohn wärst …’ und so weiter. Finden Sie, daß ich schamlos bin?” Armas schlug kurz die Augen nieder, ehe er Achternberg fragend ansah, wobei er seinen Kopf leicht schräg legte.
„Natürlich bist Du schamlos, aber auf eine sehr angenehme, gesunde Art und Weise. Mache Dir deshalb keine Gedanken. Du bist auf eine wunderbare Weise völlig unnormal normal. Ich kenne Dich zwar erst seit heute, aber ich rate Dir, so zu bleiben, wie Du bist. Beantwortet das Deine Frage?”
„Jou.”
Armas war für einen ganz kurzen Augenblick das Gesicht gefroren, als ihm seine Schamlosigkeit bestätigt wurde, aber dann hellte es sich total auf. Ein Anflug von Glücksgefühl huschte über sein schönes Gesicht. Er strich sich mit dem rechten Zeigefinger über den Nasenrücken, den er danach leicht kräuselte.
„Man kann Dir nur gratulieren, daß Du auf eine wohltuende Art schamlos bist. Du lebst eine unverklemmte Körperlichkeit. Das müssen die meisten Menschen erst mühsam lernen, Du bist offensichtlich ein Naturtalent. Du benimmst Dich ungezwungen. Das ist sicher auch ein gehöriges Verdienst Deiner Eltern. Ich hoffe, ich darf sie einmal kennenlernen.”
„Das läßt sich bestimmt einrichten, wenn Papa mal wieder da ist.”
Achternberg sah ihn fragend an.
„Oh, er ist Kapitän auf Großer Fahrt und selten zu Hause. Ich habe ihn seit dem Umzug nicht mehr gesehen. Im Moment ist er irgendwo im Südchinesischen Meer.”
„Tatsächlich?”
„Es ist schon vorgekommen, daß er ein halbes Jahr nicht da war. Danach hatte Mama ungefähr eine Woche wenig Zeit für mich, aber das war schon in Ordnung. Das kommt immer wieder vor. Ich koche dann für meine Eltern mit und stelle es ihnen vor die Schlafzimmertür. Wenn wir uns dann wiedersehen, wirken beide immer etwas schlanker als vorher.” Armas grinste schelmisch. Auch Achternberg konnte sich ein breites Schmunzeln nicht verkneifen. Der Junge hatte wirklich Witz und Humor. Eine seltene, schöne Gabe. Er begann, ihn zu interessieren.
Achternberg beobachtete wieder das Umfeld der ausgeworfenen Angel. Hinter ihm wurde es still. Er wähnte Armas wieder in der Sonne ausgestreckt. Er wurde nicht gestört, und Achternberg wollte nicht stören. Sie würden sich schon noch weiter unterhalten. Nach einer Weile ...
„Magst Du morgen zum Essen kommen? Es gibt Matjes mit Pulchen.”
Achternberg wandte sich um − und fand sich wieder allein. Armas war verschwunden. Er mußte leise weggetaucht sein. Achternberg fand das ganz in der Ordnung. Trotz der erst kurzen Bekanntschaft war der Junge ihm sympathisch. Er würde wiederkommen, dessen war er sich sicher. Und das würde bereits am nächsten Tag sein. Für Achternberg bestand da kein Zweifel. Er würde für Armas etwas vorbereiten.
Verflixter Hecht! Er wollte wieder nicht beißen. Der schlaue Räuber narrte ihn einen weiteren Tag. Dafür hatte der See ihm ein anderes, ein besonderes Geschenk gemacht. Einen interessanten, jungen Menschen. Er hatte plötzlich die Grundidee für ein neues Buch.
*
2. Tag
Am nächsten Vormittag war Achternberg besonders gut gelaunt. Er hatte ausgezeichnet geschlafen. Am Abend zuvor fanden erste Notizen ihren Weg in den PC. Die erste grausige weiße Seite war bereits Vergangenheit und hatte damit ihren Schrecken verloren. Nach seinem wie üblich späten Frühstück war er kurz am See gewesen. Der lag bei schönstem Sonnenschein und fast wolkenlos blauem Himmel still da. Es regte sich kein Lüftchen. Die Wasseroberfläche war spiegelglatt.
Achternberg kehrte zurück, erledigte anstehende Post und tätigte telephonisch einige Überweisungen. Dann nahm er seine Angel, einen kleinen Picknickkorb, den er vorbereitet hatte, denn er wußte, daß er einige Stunden nicht zurückkehren würde, setzte sich seinen breitrandigen Strohhut auf und verließ das Haus.
Als er an dem kleinen Holzsteg ankam, bemerkte er, daß er bereits Gesellschaft hatte.
Armas lag mit dem Rücken auf dem großen Badetuch, das Achternberg ihm hingelegt hatte. Den breitrandigen Strohhut hatte er sich über die Stirn gelegt. Auf Armas’ Haut glitzerten keine Wassertropfen mehr, also war er mindestens schon seit einer halben Stunde da, aber sie glänzte − er hatte die Sonnenmilch benutzt, die Achternberg auf das große Tuch gelegt hatte. Und daneben lag, sorgfältig quadratisch gefaltet, die Alufolie, in der ein großes Stück kalte Putenbrust eingewickelt gewesen war. Der Junge hatte offensichtlich Hunger gehabt und sich daran nach der Seeüberquerung gestärkt.
Armas’ linke Hand lag auf seiner Brust, die sich ruhig hob und senkte. Den rechten Arm hatte er unter seinen Kopf gelegt. Dadurch war sein rechter Bizeps deutlich hervorgetreten, während unterhalb seiner rechten Brusthälfte sein Rippenxylophon leicht hervortrat. Er bot ein anrührend friedliches Bild. Achternberg konnte nicht anders als stehenzubleiben und diesen ästhetischen Eindruck einen Moment lang in sich aufzunehmen. Aber so ganz friedlich war das Bild dann doch wieder nicht.
Achternberg fiel auf, daß Armas’ Penis seine Ruhestellung gewechselt hatte. Und er war irgendwie „größer“. Konnte das eine optische Täuschung sein? Er ruhte nicht schlaff in seiner selbst dann beachtlichen Länge zwischen Armas’ Schenkeln, sondern auf seinem Bauch − reichte fast bis zu seinem Bauchnabel. Achternberg grinste und schüttelte amüsiert den Kopf: Armas hatte eine Erektion!
„Wie schön, er fühlt sich schon so wohl hier, daß er sich nicht scheut, sein erotisches Kopfkino einzuschalten. Oder er ist eingeschlafen, wie gestern, und träumt etwas Schönes. … Ach ja, wären wir doch in seinem Alter so unverklemmt gewesen. Da hat sich doch keiner getraut, coram publico einen Ständer zu bekommen!”
Achternberg sprach ihn nicht an, wollte ihn nicht erschrecken oder gar peinlich berühren. Er ging vor auf den kleinen Steg, stellte seinen Korb ab, den Klappstuhl auf, setzte sich und warf die Angel aus. Achternberg sah auf den See hinaus und schaltete ab.
Er wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, als er ein Plätschern wahrnahm. Achternberg wandte sich um und sah, daß Armas im flachen Uferwasser kniete und sich wusch. Er dachte sich etwas, wollte aber nicht wirklich wissen, warum, und tat so, als hätte er es nicht bemerkt, denn Armas sah nicht zu ihm herüber. Der Junge war völlig entspannt, offensichtlich.
Kurz darauf hörte er das Geräusch näherkommender nackter Füße auf dem Holz. Ehe Armas etwas sagen konnte, sprach Achternberg ihn an, ohne sich umzuwenden.
„Hast Du gut geschlafen?”
Die Trittgeräusche wurden einen Moment unterbrochen, ehe sie weiter näher kamen und dann ganz anhielten. Armas stand unmittelbar hinter Achternberg.
„Jou, schon.” Nach kurzer Pause. „Was macht der Hecht?”
„Eine gute Figur, mich zum Narren zu halten.”
„Ein Räuber mit Humor.”
„Kann man sagen.”
„Darf ich mich zu Ihnen setzen?”
„Such’ Dir ein freies Plätzchen.”
Armas setzte sich diesmal nicht hinter Achternberg auf den Steg, sondern rechts von ihm nieder. Und er ließ seine langen Beine nicht im Wasser baumeln, sondern nahm die Schneidersitzposition ein.
Achternberg bemerkte diese Rücksichtnahme mit Wohlgefallen und einem leisen Schmunzeln. Armas stützte sich nach hinten mit den Händen ab. Er legte seinen Kopf in den Nacken und schloß die Augen.
Achternberg ließ einen Moment die Eintauchstelle seines Angelhakens aus den Augen und sah Armas an. Er fand, er sei schon ein besonders wohlgestaltetes Exemplar männlicher Mensch. Im Stillen hoffte er, der Junge sei nicht eingebildet darauf. Achternberg selbst war einst ein hübscher Bursche gewesen, was er nun unter einem grauen „Gesichtspullover” mit Schnurrbart verbarg. Er sah wieder auf den See hinaus. Die Sonne brannte herunter. Der See lag still. Schweigen.
Armas rieb mit seinem rechten Zeigefinger über seine Nase. Danach stützte er sich wieder nach hinten ab. Er wirkte total entspannt, atmete ruhig.
„Verabschiedest Du Dich eigentlich immer französisch und wie ein U-Boot?” fragte Achternberg mit ruhiger Stimme, als fürchtete er, der Hecht könnte mithören.
„Nö, nicht immer. Und warum wie ein U-Boot?” Armas öffnete die Augen und sah Achternberg in einer Mischung aus Verwunderung und Amüsiertsein an.
„Weil Du so leise weggetaucht und abgelaufen bist, wie eines unseres neuesten Unterseeboote.”
„Sie haben so in Gedanken versunken auf den See hinausgeschaut, da wollte ich Sie nicht stören.”
Die beiden sahen sich an. Achternberg nickte wortlos anerkennend.
„Danke schön übrigens für das Badetuch, den Strohhut, die Sonnencreme und die kalte Putenbrust. Hat gut geschmeckt.”
„Da nich’ für.”
Nach einer kurzen Pause.
„Finden Sie, daß ich einen schönen Körper habe?” Armas sah ihn mit seinen leuchtenden braunen Augen intensiv an. Achternberg gab den Blick zurück. Eine ebenso seltsame wie verständliche Frage.
„Wäre ich Bildhauer oder Maler, ich wäre total begeistert.”
„Und als Maler mit Worten sind Sie es nicht?”
Achternberg zog seine rechte Augenbraue hoch. Worauf wollte der Junge hinaus?
„Ich denke, ich müßte erst eine Weile nachdenken, ehe ich Dich mit den richtigen Worten beschreiben könnte. Beantwortet das Deine Frage?”
„Jou. − Und wie finden Sie meinen Schwanz?”
Achternberg wandte seinen Kopf in Zeitlupe dem aparten Fragesteller zu und sah ihn über den Rand seiner Brille endlos scheinende Momente an. Er dachte, er habe sich verhört. Achternberg mußte sich tatsächlich einen Moment sammeln und erwischte sich dabei, daß er die Männlichkeit des Jungen genau musterte.
„Meinst Du entspannt oder als Ständer?” Jetzt war die Verblüffung bei Armas angekommen. Er wurde rot. Er schluckte.
„Sie haben …?”
„Ich habe …”
„Oh.”
„Nichts, was Dich beunruhigen müßte.”
„Nicht?”
„Nein. Ich habe nichts gesehen, was nicht vollkommen natürlich gewesen wäre.”
Armas’ Gesichtsausdruck zeigte Erleichterung.
„Aber sage mal, auch wenn der Ort scheinbar passend ist − warum betreibst Du fishing for compliments? Hast Du das nötig?” Achternberg sah ihn mit erneut erhobener rechter Augenbraue an.
Armas räusperte sich zum ersten Mal etwas verlegen.
„Na ja, er ist nun einmal auch hängend sehr lang und seit zwei Jahren werde ich auf dem Gymnasium nur noch gehänselt. Ob ich auf dem Landesgestüt geboren worden wäre, ob mein Vater ein Pferd sei, manchmal eseln sie mir nur hinterher ,Iaah, iaah!’. Und einer flüsterte mir ins Ohr, wie denn der Zuchthengst hieße, mit dem sich meine Mutter gepaart hätte …”
„Und?”
Armas war knallrot geworden, aber er blickte doch triumphierend auf.
„Der ist danach mit solch einem blauen Auge herumgelaufen!” Armas deutete mit beiden Händen die Größe des Veilchens an.
Achternberg lachte.
„Nur mit einem? Dem hätte ich zwei verpaßt!”
„Ging nicht mehr, da war er schon auf der Flucht!”
Armas lachte von einem Ohr bis zum anderen.
„Bravo, mein Junge!” spendete Achternberg Beifall. „Warum läßt Du Dich denn überhaupt von solchen Neidhammeln beeindrucken?”
„Ich weiß nicht. Mir fehlten stets die passenden Gegenargumente. Es ist zu blöd, daß einem immer erst Stunden später gute Repliken einfallen. Aber dann ist keiner mehr da, dem ich sie zum Nachdenken entgegenschleudern kann. Zu dumm das!” Armas kniff seine Lippen zusammen und warf zur Bekräftigung „etwas” in Luft − ohne „etwas” in der Hand gehabt zu haben.
„Geht mir ganz genauso. Ich bin über Unverschämtheiten meist so verblüfft, daß es mir zunächst die Sprache verschlägt − und abends fallen mir dann die besten Antworten ein. Verflixte Kiste!”
Achternberg und Armas lachten beide über das ganze Gesicht − gleichzeitig.
„So etwas passiert jemandem, der so mit Worten spielen kann wie Sie?” wunderte sich der junge Bursche und runzelte leicht seine Stirn.
„Oh ja, warum denn nicht”, schmunzelte Achternberg mit einem kurzen Seitenblick auf Armas. „Du büst doch ok ‘n plietschen Burs un hest nich alltiet dat richtige Woort op dien Tung, nich? [Du bist doch auch ein pfiffiger Bursche und hast nicht immer das richtige Wort auf Deiner Zunge, nicht?]”
„Jou.” Armas grinste.
„Siehst Du. Ich kannte einen General, dem ging es ebenso. Zackig im Dienst, nicht auf den Mund gefallen, aber Frechheiten verblüfften ihn dennoch. Das ist auch eine Form von Zerstreutheit, und die ist ein Zeichen von Klugheit und Güte. Nur dumme und boshafte Menschen sind immer geistesgegenwärtig, wie es schon François Gaston de Lévis im 18. Jahrhundert formulierte”, dozierte Achternberg. Armas sah ihn fragend an.
„Oh! Wer Lévis war? Hm, er steht seltsamerweise nicht im Brockhaus oder im Meyers verzeichnet, dabei war er ein Marschall von Frankreich und sehr erfolgreicher Feldherr während des Franzosen- und Indianerkrieges in Kanada. Aber er steht im Dictionary of Canadian Biography. Kannst Du bei mir nachlesen, wenn Du magst.”
„Oh ja, gern. Darf ich Sie mal besuchen kommen? “
„Machst Du das nicht gerade schon?” Achternberg sah ihn schmunzelnd an.
„Hm, ich glaub’ schon, irgendwie.” Ein spitzbübisches Lächeln huschte über Armas’ Gesicht, und er strich sich mit dem rechten Zeigefinger über den Nasenrücken, der sich gleich darauf kräuselte.
„Übrigens, diese Nullen, die Dich gehänselt haben − mache nie den Fehler, sie zu übersehen, denn so lange sie hinter dem Komma stehen, sind sie mächtig und gefährlich, denn sie blähen alles auf, was vor ihnen steht, auch dumme Sprüche. Stelle sie mit Geist und Wortwitz vor das Komma, und schon wird alles, was hinter ihnen steht, fast bedeutungslos, was ihnen dennoch immer noch eine erhebliche Macht gibt. Aber betrachtest Du sie genau, die Nullen, so bestehen sie nur aus einer dünnen Hülle und sind innen hohl. Das gilt für die törichten Typen, die Dir Dein Aussehen und Deine körperlichen Qualitäten neiden, wie für aufgeplusterte Leute in Bildung, Wirtschaft und Politik, die sich für die Größten halten und nur dummes Zeug absondern. Dummheit ist schon immer nach oben weggelobt worden. Das war so, das ist so, und das wird immer so bleiben, bis die große rote Sonne diesen Planeten verschlingen wird, aber ich bin zuversichtlich, daß die Menschheit, in ihrer unendlichen Schwarmdummheit, sich bis dahin zum Vorteil der Erde selbst ausgelöscht haben wird.”
Achternberg war dabei, sich in Zorn zu reden, seine Stirnfalte hatte eine bedenkliche Tiefe gewonnen, doch er bremste sich rechtzeitig ab.
„Aber wir müssen bei aller liebenswürdigen Zerstreutheit aufpassen, daß wir uns rechtzeitig wehren, denn die Null regiert die Welt, das ist nun einmal so − und die Mikrobe der menschlichen Dummheit ist leider noch nicht gefunden worden.”
Armas hatte fasziniert zugehört. Er war bei Achternberg in ein Sommerseminar geraten, aber es störte ihn nicht nur nicht, es machte ihn enorm neugierig. Doch erst sah er sich selbst einer Neugier Achternbergs gegen über.
„Darf ich Dir eine intime Frage stellen?”
Armas nickte wortlos − er war gespannt, was folgen würde.
„Wir wissen nun bereits, daß Du eine Männlichkeit besitzt, um die Dich viele beneiden, was sie in ihrer Dummheit nur mit Häme beantworten können, aber warum bist Du beschnitten? Du bist kein Araber und jüdische Züge hast Du auch nicht.”
„Haben Sie etwas gegen Juden?” fragte Armas stirnrunzelnd.
„Nein, obwohl ich Beschneidung aus sogenannten religiösen Gründen ablehne, die durch nichts zu begründen ist. Aber das ist meine private Meinung. Ich hatte, gemessen an Nürnberg, eine halbjüdische Tante, die meine Familie durch die braunen Jahre heil und lebend durchgebracht hat. − Warum bei Dir?”
Beide sahen sich fest in die Augen. Armas zögerte noch einen Moment, ehe er …
„Meine Eichel ist zu groß, schön geformt, denke ich, aber zu groß. Als ich drei Jahre alt war, mußte die Vorhaut wegen der schmerzhaften Verengung entfernt werden. Die Schmerzen gehören zu meinen ersten echten Erinnerungen. Es war ein rein medizinischer Eingriff. Aber ich bin auch deswegen in der Schule arg gehänselt worden, ‚Bei dir fehlt ja ‘was, bei dir fehlt ja ‘was!’, bis ein verständnisvoller Lehrer die Klasse über den Grund informiert hat. Es gab noch ein bißchen Gekichere und Getuschel, aber danach war Ruhe. Nur unter der Dusche wollten sich das einige einmal genau ansehen. Das habe ich zugelassen, und damit war das Thema durch. Es ging erst wieder los, als sie merkten, daß ich alle in der Länge überholte. Richtig lästig.” Armas verzog sein Gesicht.
Achternberg freute sich über das intime Geständnis. Der Junge faßte bereits Vertrauen zu ihm. Oder war er nur froh, endlich einmal darüber reden zu können? Achternberg vermutete, daß Armas keine wirklichen Freunde hatte. Er hatte bislang auch keine Geschwister erwähnt. Vielleicht war er ganz allein.
„Hast Du keinen Freund?” Achternberg entschloß sich, die soziale Situation des Jungen zu erkunden.
„Wie meinen Sie das?” fragte Armas, und er wirkte plötzlich scheu dabei.
„Na ja, einen guten oder gar besten Freund, mit dem man alles besprechen kann, mit dem man schwimmen und in die Sauna geht, über die Mädchen lästert, Hausaufgaben macht, ins Kino geht, in der Disco abhängt, vergleicht, wie die Schamhaare wachsen, wie lang der Schwanz ist, Wettwichsen veranstaltet und die ersten Pornos im Internet anschaut, was man in dem Alter eben so macht.”
Armas sah Achternberg mit großen Augen an. Der hielt das aus, vergaß im Moment seine Angel. So hatte offensichtlich noch niemand mit dem Jungen gesprochen. In Armas „arbeitete” es sichtlich.
„Nein. Aber muß ich heute darüber sprechen?”
„Wann immer Du möchtest, wenn Du möchtest”, antwortete Achternberg voller Verständnis. Armas war für den Moment überwältigt. Er wollte ihn nicht überfordern, sonst würde er sehr wahrscheinlich „zumachen“.
„Was hast Du gestern abend gemacht?”, versuchte Achternberg durch Themawechsel die Stimmung wieder zu lockern.
„Ich habe etwas von Ihnen gelesen.”
„Und? Hat es Dir gefallen?” Ganz uneitel als Autor war auch Achternberg nicht.
„Es war lustig und anregend zugleich. Jedenfalls hatte ich hinterher vor dem Lichtaus ein schönes erotisches Selbstgespräch mit meinem verlängerten Ich.”
Achternberg bemerkte, daß Armas unter seiner braunen Haut errötete. Ihm gefiel die direkte Art des Jungen immer besser, und das er kein abgebrühter Bursche war. Und er verblüffte ihn weiter.
„Ich mache es mir gerne. Es fühlt sich so großartig an, den eigenen Körper zu spüren. Ich kann mir schon gar nicht mehr vorstellen, wie es ohne war.” Armas schmunzelte. Er schien schon wieder daran zu denken.
Achternberg bemerkte, daß ihn etwas beschäftigte.
„Spuck’s aus!”
„Was soll ich ausspucken?”
„Was Du mich fragen möchtest.”
„Werden Sie mir auch nicht böse sein, wenn ich etwas intimes wissen möchte?” Armas sah besorgt aus.
„Warum sollte ich? Wir sind doch unter uns. Laß es ‘raus.”
Armas sah ihn fest an.
„Haben Sie früher viel onaniert, ich meine, vor ihrer ersten Freundin?”
„Früher?” Achternberg grinste schelmisch. „Und was verstehst Du unter ‚viel’?”
Armas war baff.
„Äh, dreimal am Tag?” Er hob beide Augenbrauen an.
„Hm-hm, guter Durchschnitt. Herr Testosteron läßt schön grüßen.”
Damit hatte Armas offensichtlich nicht gerechnet.
„Wirklich?”
„Ich war auch mal siebzehn, genau wie Du.”
„Woher wissen Sie, wie alt ich bin?
„Jetzt weiß ich‘s.” Achternberg lächelte. „Und damals waren meine Haare dunkelbraun.”
„Und mit fünfzig haben Sie immer noch Lust darauf, ich meine …” Er machte eine eindeutige Handbewegung.
Achternberg mußte derart lachen, daß er gleich darauf die Angel einholte. Jetzt war der Hecht sicher für den Tag weg.
Armas wußte sichtlich nicht, was er von dem Lachanfall halten sollte. Ein so „alter Mann“ konnte doch unmöglich noch Sex haben.
„Das ist aber nett von Dir, daß Du mich für fünfzig hältst. Na ja, volle Haare, keine kahlen Stellen. Da lege mal noch ein bißchen ‘was drauf. Es hat sich offenbar ausgezahlt, daß ich in Interviews nie mein Alter preisgegeben habe, also auch das Internet nichts darüber weiß.”
„Tatsächlich? Und Sie haben noch Lust auf Sex?”
„So wahr ich hier sitze.” Achternberg schmunzelte breit.
Armas schaute ungläubig drein. Sein Vater war 45, seine Mutter 40, und das war ihm bisher schon verdächtig vorgekommen. Er war irgendwie fassungslos, daß der Schoß des Graukopfes noch nicht „tot” war und er sich so offen über intime Dinge mit einem Mann unterhalten konnte, der älter als sein Vater war − mit dem zusätzlichen Unterschied, daß er mit seinem Vater überhaupt nicht darüber reden konnte, er wollte es auch nicht. Dafür war sein „alter Herr” einfach zu wenig präsent. Und seine Mutter war eine Frau! Eine wunderbare, schöne Frau, aber eine Frau! Was gingen eine Frau Männergeheimnisse an − was? Und die Mädchen in seinem Gymnasium? Die kicherten nur, tuschelten hinter vorgehaltener Hand oder hatten es mit ihrem penetranten „Guck mal, ist der nicht süß?” Meinten die ihn? Er war doch nicht süß! Er war ein Mann! Na ja, fast, irgendwie. Ja, zum Donnerwetter, er hatte noch keine süße Furche gepflügt, aber was die auch alle wollten: Er hatte kein geiles Motorrad, sein iPhone war nicht das allerneueste Modell, er pfiff auf teure Markenklamotten, er wollte keine lauten Parties feiern, wo man sich nur anschreiend „unterhalten“ konnte und einem hinterher stundenlang der Kopf dröhnte, er mochte keinen Alkohol, er rauchte nicht. Er wollte Volleyball spielen oder schwimmen, etwas Krafttraining machen, um seine Muskeln zu definieren, er las gern und viel. Ein Mädchen hatte er mal gebeten, ob sie sich nicht gegenseitig vorlesen könnten. Da könne sie sich ja gleich ein Hörbuch kaufen, war ihre törichte Antwort und ließ ihn stehen. Was er sich wünschte, da konnten die Mädchen nicht mithalten. Und wie die auch über Sex redeten! Er hatte Gespräche mitbekommen, da war er vom bloßen Zuhören knallrot geworden. Was die alle von einem Jungen und seinem Penis erwarteten! Höchstleistungen am laufenden Band, das gesamte Kamasutra ‘rauf und ‘runter. Er hatte sich das mal angesehen. Das war ein Studium für sich. Wie sollte man das in so kurzer Zeit alles im Repertoire haben? Nein, das war ihm zuviel, zu anstrengend. Er sehnte sich nach Zärtlichkeit, nicht nach übertriebenen Turnübungen neben dem Schulsport.
Armas hatte zudem das Problem, daß ihm sein Samen immer wieder unfreiwillig abging. Durch die Beschneidung rieb sich seine Eichel so intensiv am Stoff, daß er mindestens einmal die Woche seine Sahne an seine Hose verlor. Mit fünfzehn war ihm das nicht nur einmal im Freibad und beim Schulschwimmen in seiner engen, knappen Badehose passiert. Die blöden Bemerkungen und das höhnische Grinsen hatten ihn lange verfolgt. Er befürchtete insgeheim, daß ihm das auch beim Sex mit einem Mädchen passieren könnte. Er hatte Angst, ausgelacht zu werden.
Und die Jungs? Das war noch ein ganz anderes Thema. Von denen hatte er aus ganz bestimmten Gründen wirklich die Nase voll.
Armas fühlte, daß er diesem Schriftsteller vertrauen könnte, aber alles wollte er ihm nach zwei Tagen doch noch nicht offenbaren. Dennoch freute er sich darauf, manches endlich einmal jemandem erzählen zu können, von dem er das Gefühl hatte, verstanden und nicht ausgelacht zu werden. Achternberg hatte Interesse an ihm, und er hatte Interesse an Achternberg. Das war eine gute Basis.