Armer Ritter - Gabriele Wolff - E-Book

Armer Ritter E-Book

Gabriele Wolff

0,0
3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Sorgen für die Kölner Staatsanwältin Beate Fuchs. Sie hat Intuition, ist mutig und ermittelt gern unkonventionell. Was aber, wenn das Mordopfer als verrückt galt? Wenn ein Informant nicht zu bremsen ist? Wenn Drogenhändler offensichtlich gedeckt werden?Nach ›Kölscher Kaviar‹ und ›Himmel und Erde‹ ein weiterer Krimi von Gabriele Wolff, der Domstadt-Spezialistin fürs Spannende. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 209

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gabriele Wolff

Armer Ritter

Kriminalroman

FISCHER E-Books

Inhalt

Ich danke Karli Rostock [...]Der Taxifahrer Friedhelm Dirksen, [...]Es war das reine [...]Zerbrochene Bierflaschen auf dem [...]Schon drei Tage später [...]Hatte sie irgend etwas [...]Als Beate die Wohnungstür [...]Langsam ging es voran. [...]Und wieso haben Sie [...]Der Duft von gebratener [...]Wochen waren vergangen. Jetzt, [...]Lutz sah sie besorgt [...]Im ersten Raum, der [...]Es war dieselbe Situation: [...]Bin wieder bei Gundula. [...]Das Vorführzimmer der Staatsanwaltschaft [...]

Ich danke Karli Rostock und allen anderen »Informanten«, die mir mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben – für das Ergebnis sind sie keinesfalls verantwortlich!

 

Alle Namen, Personen und Ereignisse sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit der Wirklichkeit sind zufällig und unvermeidbar.

Der Taxifahrer Friedhelm Dirksen, Personalien Blatt fünfundvierzig, Verteidiger Doppelpunkt Rechtsanwalt Müller III Blatt achtundvierzig, wird angeklagt, neue Zeile, von August 1991 bis November 1991 in Köln, neue Zeile, durch zwei selbständige fortgesetzte Handlungen, neue Zeile, jeweils tateinheitlich, neue Zeile, klein a, in der Absicht, sich einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, das Vermögen eines anderen dadurch beschädigt zu haben, daß er …«

Beate Fuchs schaltete das Diktiergerät ab und dachte zum ersten Mal, seit sie diese Anklage diktierte, über den Taxifahrer Friedhelm Dirksen nach. Durch Vorspiegeln falscher Tatsachen … Oder durch Unterlassen der gebotenen Aufklärung – einen Irrtum erregte? Hatte er das tatsächlich? Die Damen waren doch beide ganz wild darauf gewesen, diesen Traummann zu ehelichen, und Träume läßt man sich etwas kosten, wenn sie wahr werden sollen. Vielleicht war er nur zu schwach gewesen, hatte nicht nein sagen können. Und die Sache mit den gefälschten Wagenpapieren, war das nicht eher ein »Versehen«? Wie es eben ist, wenn man reiche Damen chauffiert und Eindruck schinden will … »Tja, habe mein eigenes Unternehmen. Wohin geht’s denn heute, nach Weidenpesch zum Rennen oder zum Kwafföhr?«

Beate drückte die Sprechtaste. »… durch Vorspiegeln falscher Tatsachen einen Irrtum erregte, Komma, neue Zeile, klein b, zur Täuschung im Rechtsverkehr echte Urkunden verfälscht und diese gebraucht zu haben, Punkt, neue Zeile. Erstens. Am dritten August lernte der Angeschuldigte die Zeugin Berta Krause, Komma, eine fünfzigjährige Witwe, Komma, anläßlich einer von dieser bestellten Taxifahrt kennen. In der Folgezeit …«

Sie schaltete das Gerät wieder ab. Warum, verdammt, konnte sie sich nicht auf diese simple Anklage konzentrieren? In der Folgezeit … Sie blätterte in der Akte. Was hatte Berta Krause, in schönstem Polizeideutsch aufgenommen, darüber erzählt? Genau, da stand es:… kam es zum Austausch von Intimitäten. Beate stellte sich einen hölzernen Handkuß vor, im Gegenzug Wimpernklimpern und einen Kußmund. Dann das schalkhafte Versprechen in den Augen über dem Rand einer zerbrechlichen Teetasse, verstohlene Seitenblicke, Zusammenrücken auf einem chintzbezogenen Sofa, leise Seufzer … Wie es wohl weitergegangen war?

»Störe ich?«

Beate zuckte zusammen. Sie hatte nicht bemerkt, wie dieser kleine dünne Mann hereingekommen war. In den Sekundenbruchteilen, bevor sie sprach, erfaßte sie instinktiv, daß der Mann seltsam war. Er verhieß Ärger.

»Nein, nein«, sagte sie schnell. »Um was geht es denn?«

Der dünne Mann mochte etwa vierzig Jahre alt sein. Er trug ein Flanellhemd, eine Strickjacke und darüber ein viel zu weites Jackett. Trotzdem sah er aus, als friere er. Er stand in der offenen Tür, schaute noch einmal zurück auf den olivgrün gestrichenen Flur, zog die Schultern etwas höher und starrte dann auf einen Punkt, der zwischen Beates Kinn und dem Strickbündchen ihres Rollkragenpullovers liegen mochte.

»Sind Sie der Staatsanwalt?« fragte er mit eigentümlich monotoner Stimme. Der Staatsanwalt. Schon wieder. Beate gab eine ihrer Standardantworten.

»So was Ähnliches. Staatsanwältin Fuchs.«

Der Mann reagierte nur mit einem Nicken. Dann setzte er sich langsam, umständlich auf den einzigen Besucherstuhl, schlug die Beine übereinander und legte die Hände auf Beates Schreibtisch, die Handgelenke dicht nebeneinander. Er beugte sich vor.

»Sie nehmen Anzeigen entgegen?« Immer noch dieser monotone Singsang.

»Das kommt darauf an, ob ich zuständig bin. Wen wollen Sie denn anzeigen? Und warum?« Beates Ton war scharf.

Der Mann war ihr unheimlich. Ein blasses Gesicht, scharf vorspringende Wangenknochen, dünne Lippen, zu einem Strich zusammengepreßt. Farblose Haare, farblose buschige Brauen über Augen, die ihren Blick mieden. Um seinen Mund zuckte es.

»Rainer Donatus. Den will ich anzeigen.«

Bingo. D war ihr Buchstabe. Rausschmeißen konnte sie ihn nicht; also blieb nur noch die Möglichkeit, die Sache rasch und sachlich über die Bühne zu bringen.

»Einen Moment; es kann gleich losgehen.«

Beate zog die Schublade auf, nahm ein Blatt Papier heraus, kramte nach ihrem Kugelschreiber, rückte die Goldrandbrille gerade und notierte das Datum. Ein Stück Normalität, geschäftsmäßige Routine. Sie legte neutrale Aufmerksamkeit in ihren Blick und sah den Mann aufmunternd an.

»Alles klar, dann fangen wir mit Ihren Personalien an. Sie heißen?«

»Donatus. Rainer Donatus.«

»Augenblick mal, wollten Sie den nicht … Ich meine …«

Der Typ tickte nicht richtig. Vielleicht ein Patient aus der psychiatrischen Abteilung in Merheim. Zum Glück arbeitete sie immer bei offener Tür. Obwohl, es war schon nach vier und die Behörde ziemlich ausgestorben.

»Es ist eine Selbstanzeige«, sagte er ernst.

Jetzt sah er sie an, mit funkelndem, unstetem Blick. Wasserhelle Augen in tiefliegenden Höhlen. Donatus beugte sich noch weiter vor und schaute sich hektisch nach allen Seiten um.

»Ich habe eine Frau getötet«, flüsterte er.

Beate prallte zurück. Es wirbelte in ihrem Kopf: Der spinnt ja! Mit Mord habe ich nichts zu tun. Der soll seinen Quatsch woanders ablassen. Was mache ich jetzt? Wie werde ich den wieder los? Und wenn er doch gefährlich ist? Was sie schließlich sagte, erstaunte sie selbst. Sie hatte sich nichts überlegt, aber plötzlich redete sie wie ein Buch.

»Wissen Sie, Sie sind nicht richtig, ich meine, bei mir; so was wie Mord bearbeite ich nicht, ich bin da gar nicht zuständig. Wenn Sie vielleicht bei den Kollegen vom Kapitaldezernat mal vorbeischauen würden? Das hätten Sie aber auch gleich sagen können. Ich bearbeite den Buchstaben D, das ist schon richtig, aber nur allgemeine Strafsachen. Sind Sie überhaupt sicher, daß Sie … Waren Sie schon bei der Polizei?« Sinnloses Geschnatter.

»Ich war schon überall«, sagte er müde. »Man hat mich zu Ihnen geschickt. Nehmen Sie mich fest. Sie können mich doch nicht laufenlassen! Haben Sie nicht zugehört? Ich habe eine Frau umgebracht!«

Nach wie vor sprach er langsam und monoton. Aber seine hohe Stimme klang heiser. Rote Flecken krochen auf die eingefallenen Wangen, und er kreuzte die Handgelenke, so als spüre er die Handschellen schon.

»Warten Sie bitte. Nur einen Moment.« Beate griff zum Hörer und wählte die Nummer des Kollegen Bub. Mordbub, ihr einziger Vertrauter in der kleinen, aber feinen Crew der Kapitaldezernenten. Den Hörer zwischen Schulter und Kopf geklemmt, lauschte sie dem Freizeichen und malte Kreise auf das Blatt Papier. Nichts. Siedendheiß fiel ihr ein, daß Mordbub im Urlaub war. Verdammt. Einmal im Leben brauchte man diesen Kerl, und ausgerechnet dann war er im Urlaub. Sie wählte neu. Die Geschäftsstelle. Eigentlich war die Dienstzeit vorbei, aber die Dame dort blieb meistens etwas länger. Hatte angeblich einen heißen Flirt mit einem Staatsanwalt aus der BTM-Abteilung; und die zogen die Sachen durch, ohne Rücksicht auf Dienststunden und häuslichen Krach. Tatsächlich.

»Meier-Springauf, Abteilung vierzehn«, flötete es.

»Hier ist Fuchs. Ich habe da einen Besucher, einen Donatus, Rainer Donatus. Sagen Sie, war der vielleicht schon bei Ihnen? Kann das sein?«

Frau Meier-Springauf wollte sich ausschütten vor Lachen. Die schrillen Spitzentöne durchbohrten Beates Trommelfell, aber sie preßte den Hörer nur um so fester an ihr Ohr. Das fehlte noch, daß Donatus dieses hämische Gekicher hörte, sich nicht ernstgenommen fühlte und explodierte.

»Okay, okay, ich habe kapiert. Wieso schickt man ihn zu mir? Wer hat das veranlaßt?«

»Staatsanwalt Feldhoff. Er hat den Kerl in hohem Bogen rausgeschmissen. Dann kam er zu mir und sagte, für Entmündigungsverfahren wäre die allgemeine Abteilung zuständig.«

»Nach dem neuen Betreuungsgesetz nicht mehr«, knurrte Beate. Typisch Feldhoff. Der schöne Karl. Mit dem Mann hatte sie noch kein Wort gewechselt, und sie war schon seit vier Jahren bei der Staatsanwaltschaft Köln. »Danke«, sagte sie schließlich. »Ich weiß Bescheid.«

Als sie aufgelegt hatte und noch einen Moment gedankenschwer das Telefon betrachtete, spürte sie den flackernden Blick des dünnen Mannes im Rücken. Entschlossen wandte sie sich ihm zu.

»Ihren Namen habe ich. Geburtstag und Ort?«

»28. 12. 48 in Düren.«

Donatus fixierte jetzt einen Punkt an der Decke. Sein leiernder Tonfall verriet sowohl Routine als auch grenzenlose Langeweile.

»Anschrift?«

»Vietorstraße 53, Hinterhof, Köln 91.«

»Ist das in Poll? Und wieso Hinterhof?«

Alles, dachte sie, alle bürokratischen Details auswalzen. Solange er nur nicht vom Töten spricht …

»Kalk. Und Hinterhof, nun ja, das ist meine Meldeadresse. Ich lebe in einem Wohnwagen. Bei den Problemen heutzutage … Da stehen noch mehr Wohnwagen. Studenten, Rentner und ich eben. Warum nicht?«

»Beruf?«

»Frührentner.«

Er machte ein abweisendes Gesicht. Jetzt half nichts mehr.

»Wollen Sie mir erzählen, was passiert ist? Sie müssen überhaupt nichts sagen; als Beschuldigter haben Sie das Recht, die Aussage zu verweigern. Oder wollen Sie vielleicht einen Anwalt hinzuziehen? Es steht Ihnen frei …«

Was veranstaltete sie hier eigentlich? Konnten diese Spinner ihre Geschichten nicht bei anderen Leuten abladen; wozu gab es Pfarrer, Ärzte, Sozialarbeiter? Aber nein, die Staatsanwaltschaft mußte es sein, wenn durchgedrehte Typen ein Plauderstündchen halten wollten. Beate seufzte. Donatus schüttelte gerade ausgiebig den Kopf, eine rhythmische Pendelbewegung bei geschlossenen Augen.

»Gut«, sagte sie scharf. »Was ist passiert? Wann, wo, die Einzelheiten bitte.«

Die Pendelbewegung hörte schlagartig auf. Der dünne Mann sah durch Beate hindurch und öffnete den Mund. Wie feiner Sand durch ein Stundenglas rieselten die Worte heraus, langsam, gleichmäßig, endlos. Beate notierte Stichworte, Straßennamen, kurze Beschreibungen, während eine Gänsehaut über ihren Rücken kroch und die hypnotische Kraft seiner geschlossenen Welt sie fast lähmte. Er redete von Energien, von Strahlen, die feste Körper durchdrangen, Strahlen, die Atome verschmolzen, bis die Lungen verbrannt waren. Es gab Strahlen, die fürchterliche Schmerzen verursachten, und gute Strahlen, die einen Schutzschild bildeten.

»Die junge Frau stand gegen die Mauer gelehnt, und ich wußte, daß sie von ihnen geschickt war. Sie hatte schwarze Haare, glatt und lang, bis auf die Hüften. Sie hat auf mich gewartet, direkt unter dem Schild der Schönheit. Giftgrün auf unschuldigem Weiß. Es strahlte auf sie. Aber die können mich nicht täuschen; ich habe sie gleich erkannt und gewußt, daß ich mich wehren muß. Zuerst lächelte sie, aber dann tat sie, was man ihr befohlen hatte. Eisblaue Augen, und ein winziges schwarzes Loch in der Mitte. Daraus kam der böse weiße Strahl, der auf mich zielte. Da habe ich sie getötet. Es ging nicht anders.«

Stiller Triumph lag in seinem Blick.

Er ist plemplem. Durchgedreht. Verrückt. Warum schreibe ich diesen Unsinn überhaupt mit? Ich bin doch kein Psychiater! Beate hatte Angst. Wenn wenigstens ein Kollege vorbeischaute, sonst kam doch immer mal einer rein! Oder ein Anruf …

»Wie?« fragte sie. »Wie haben Sie sie getötet?«

»Mit ihren eigenen Waffen. Ich habe alle Kraft zusammengenommen und den Strahl zurückgelenkt. Sie riß die Augen auf, keuchte, fuhr sich mit der Hand an den Hals und brach zusammen. Ganz langsam. Am Ende lag sie auf der Erde, die schwarzen Haare vor dem Gesicht, schwarz die ganze Kleidung. Das sollte mich täuschen, denn schwarz ist das Gute. Aber als ich die Augen sah, wußte ich Bescheid. Ich ging auf sie zu, aber dann war da ein rotes Viereck in der Wand, und die Frau verschwand darin.«

Er schien sich in dieser unheimlichen Welt vollkommen vertraut zu bewegen. Was die Sache aber noch verrückter machte, waren seine präzisen Antworten, wenn Beate nach Uhrzeit, Ort, Aussehen des Opfers fragte. Wie konnte er gleichzeitig verwirrt und so verdammt genau sein?

»Sie nehmen mich doch fest, oder?« Seine buschigen Augenbrauen zogen sich flehentlich zusammen.

»Waren Sie schon mal bei einem Arzt? Könnte es sein, daß Sie …«

Er unterbrach sie; zum ersten Mal schien er erregt. Seine Stimme, heiser und gepreßt, überschlug sich.

»Ärzte, Ärzte, die glauben mir nicht! Was meinen Sie, warum ich Frührentner bin! Die ahnen doch nicht einmal, mit welchen Mächten sie es zu tun haben. Auch Sie«, er stierte sie an, »sollten aufpassen. Ich warne Sie.«

»Ich nehme Sie trotzdem nicht fest. Notwehr. Es war eindeutig Notwehr. Das ist doch klar.«

Der rettende Gedanke war da. Donatus sprang auf und lief im Zimmer umher.

»Notwehr«, murmelte er. »Notwehr. Ja, das war es. Nur, ob die das auch so sehen? So was kennen die doch nicht, bei denen geht es nur um Kampf, Kampf – und Sieg natürlich.«

Jetzt redete er vollkommen wirr, lachte kurz auf, ballte die Fäuste. Plötzlich fuhr er herum. Mit weit aufgerissenen Augen blickte er in das Grauen, das jenseits des geschlossenen Bürofensters irgendwo in dem düsteren Novemberhimmel lauerte. Er sah Beate nicht an, als er, am ganzen Körper zitternd, wieder zu sprechen begann.

»Man kann sich nicht verstecken, auch im Knast ist man nicht sicher vor ihnen, sie finden einen überall. Was sind denn schon Mauern? Nichts, Materie, die sie nicht aufhält. Und ich, ich habe einen ihrer Boten umgebracht, die Frau war tot; ich habe genau gesehen, daß sie nicht mehr atmete. Dieses Gold- und Federzeichen auf ihrer Brust hat sich nicht mehr bewegt …«

Beate hatte genug. Der Mann sollte gehen. Sie wollte nichts mehr davon hören. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Ihn leise, höflich, aber bestimmt zu verabschieden wäre die beste Lösung. Aber würde er sie überhaupt wahrnehmen? Er war ja gar nicht mehr hier, in einem Büro der Staatsanwaltschaft Köln, Luxemburger Straße. Er steckte mitten im Showdown der guten und bösen Mächte, die mit tückischen Strahlen operierten. Und wenn sie ihn barsch aufforderte, das Büro zu verlassen, bestand die Gefahr, daß er auch sie für eine Botin hielte … Sie stand einfach auf, griff sich den Regenschirm, steckte die Zigaretten in die Handtasche und wickelte sich ihren Schal um den Hals.

»Ich muß jetzt weg«, sagte sie. »Und Sie müssen auch gehen, es wird nämlich gleich abgeschlossen.«

Sie wandte sich ab und griff nach dem Mantel, den sie morgens – es schien Ewigkeiten her zu sein – achtlos auf den Beistelltisch gelegt hatte. Donatus beendete sein Selbstgespräch. Es schien, als wäre er, aus einem tiefen Schlaf gerissen, plötzlich hellwach. Seine nächsten Sätze überraschten Beate, so harmlos und normal klangen sie.

»Es stimmt, ich habe Sie lange genug aufgehalten. Frau Staatsanwältin, mehr als ein Geständnis kann ich Ihnen nicht bieten. Aber die Konsequenzen tragen Sie. Mit meiner Angst muß ich allein fertigwerden, so ist das nun mal. Sie wissen, wie Sie mich erreichen können. Guten Abend.«

Würdevoll reichte er ihr die Hand. Beate schämte sich dafür, aber sie zögerte, ehe sie zugriff. Seine Finger, kalt und trocken, umfaßten nur ihre Fingerspitzen. Schnell zog sie die Hand zurück und umklammerte wieder den alten Kamelhaarmantel, als wäre er ein tröstender Freund.

Donatus lächelte verlegen. Dann verließ er den Raum, murmelte etwas von einem Mantel, der draußen auf einer Bank liege, und war weg.

Beate sank auf ihren Stuhl, den Mantel zusammengeknüllt auf dem Schoß. Die Anspannung ließ so schlagartig nach, daß ihre Beine zitterten. Jetzt eine Zigarette … Hektisch kramte sie in der Tasche, fand endlich die Schachtel, nahm eine Zigarette heraus, zündete sie an. Sie inhalierte das erste Mal, da stand er wieder im Türrahmen.

»Und vergessen Sie nicht: Die haben auch Sie auf der Liste. Sie wissen zuviel.«

Beate verschluckte sich und mußte husten. Als sie wieder Luft bekam und zur Tür sah, war Donatus verschwunden. Ihr Herz raste. Sie sprang auf, warf die Tür zu und verschloß sie.

Wie Inspektor Columbo, schoß es ihr durch den Kopf. Der kommt auch immer noch mal zurück, um, zerstreut wie er ist, eine seiner widerlichen Fragen auf das schon entspannte Opfer loszulassen.

Sie mußte lachen. Irgendwann registrierte sie, daß ihr Lachen beinahe so schrill klang wie das der Meier-Springauf. Außerdem war niemand da, der mit ihr hätte lachen können. Sie griff zum Telefon und rief beim 1. Kommissariat an. Den Namen verstand sie nicht, aber das war egal. Wichtig war die tiefe, beruhigend rheinische Stimme des Beamten, der ihr versicherte, es sei alles überprüft worden. Ja, Donatus sei bei ihnen gewesen. Nein, weder eine vermißte Frau noch eine Leiche, auf die die Beschreibung des Opfers passe. Selbstverständlich, sie könne sich jederzeit wieder nach der Sache erkundigen.

»Aber da ist nichts dran, Frau Staatsanwältin. Wir kennen unsere Pappenheimer.«

Und er erzählte ihr die Story von der verwirrten Rentnerin, bei der sie einmal im Quartal anrückten, um rauschende Walkie-talkies gegen die Steckdosen zu halten und der alten Dame anschließend zu versichern, nun sei die Wohnung wieder sicher. Immun gegen Strahlen jeglicher Art. Die Polizei, dein Freund und Helfer.

Taxifahrer Friedhelm Dirksen wußte nichts von seinem Glück. Beate spulte die Kassette, auf der sich der Anfang seiner Anklage befand, zurück und diktierte.

»Hiermit beginnt ein AR-Vorgang gegen Rainer Donatus, geboren am 28. Dezember 1948 in Düren, wohnhaft …« Sie ließ nichts aus, erwähnte jede Kleinigkeit. Und doch, in diesem dürren Amtsdeutsch klang die Geschichte nur noch absurd: Nichts von der unheimlichen Überzeugungskraft, die Donatus verströmt hatte, wurde spürbar. Daß Beate überhaupt beim 1. K Erkundigungen eingezogen hatte, erschien geradezu übervorsichtig, als habe sie sich, nur für den Fall, daß irgend etwas passieren sollte, absichern wollen.

Und von der Angst, die sie gehabt hatte, war überhaupt nichts zu spüren.

Beate schaltete das Gerät ab, holte die Kassette heraus, legte sie in einen DIN-A5-Umschlag und befestigte diesen mit einer Büroklammer an einer Laufmappe. Dann schrieb sie »Kanzlei« in das für den nächsten Empfänger vorgesehene Feld. Das Ganze sah wie ein völlig normaler Vorgang aus. Sie warf die Akte unter den Bock und stand auf. Der Mantel, der immer noch auf ihrem Schoß gelegen hatte, fiel zu Boden. Sie hob ihn auf, zog ihn an, griff nach ihrer Tasche und löschte das Licht.

Unten im Foyer sah sie ihre Spiegelung im Glas der Eingangstür: eine junge Frau, die mit festem Schritt immer näher kam. Sie zog den Schal über das Kinn und stieß die Tür auf. Draußen war es eiskalt, dunkel und zugig.

Von der Haltestelle der Straßenbahn aus blickte sie noch einmal zurück: Aus der schwarzen Masse des Justizgebäudes leuchteten einige wenige Vierecke auf – wie kalte Augen, die alles sehen.

 

Beate stand in der Schlange vor einer der Kassen im Deutzer Coop-Markt und sah nachdenklich in ihren Einkaufswagen. Milch, Katzenfutter, Rinderbraten aus dem Angebot – wäßriges Blut tropfte aus der schlecht verschweißten Styroporschale –, einige schrumpelige Paprikaschoten. Gegen Ende des Arbeitstages war die Auswahl nicht mehr berauschend, man nahm, was man kriegen konnte, aber das war es nicht, was sie nachdenklich machte. Hier war alles so wohltuend normal, und sie fragte sich, ob Menschen wie Rainer Donatus überhaupt noch so einfache Dinge wie einkaufen oder Schlange stehen vor Supermarktkassen kannten. Oder ob sie in allem und jedem ein Zeichen sahen, für das sie, Beate, blind war: eine Todesmahnung im Verfallsdatum der Milch; einen warnenden Blick in den Augen der Katze, deren Bild die Konservendose mit Katzenfutter schmückte; ja und Blut, gab es überhaupt etwas Symbolträchtigeres als Blut?

»Junge Frau, ich hab’ noch was vor heute«, quengelte eine gequetschte Stimme hinter ihr. Zu der Stimme mußte eine robuste Person gehören, denn mit ziemlicher Wucht knallte ein Einkaufswagen gegen Beates Fesseln.

So viel zum Thema Alltag, dachte sie und drehte sich betont langsam um. Aber der Donatus-Trick funktionierte nicht, die vollschlanke Dame brach keineswegs röchelnd zusammen, sondern kniff nur die grell geschminkten Lippen zu einer verbitterten Linie zusammen. Beate wandte sich wortlos ab, schob ihren Wagen ein Stück weiter und legte die Waren auf das Band. Es hatte keinen Sinn, sich von solchen Supermarkthyänen in ein Wortgefecht verwickeln zu lassen. Komisch eigentlich: im Gerichtssaal die brillanten Plädoyers und beim Einkaufen von jeder einigermaßen zielstrebigen Rentnerin zur Seite gedrückt. Vermutlich fehlte es ihr an der Portion Aggressivität, die man im Großstadtdschungel braucht. Aber vielleicht war sie auch einfach nur müde.

Beate zahlte, verließ den Laden und bog in die Alemannenstraße ein. Vor dem Altbau mit Denkmalschutzplakette blieb sie stehen und kramte ihren Schlüssel hervor. Als ihr im Hausflur der vertraute Geruch nach Mülltonnen und feuchtem Kellerdunst entgegenschlug, freute sie sich plötzlich auf zu Hause – und auf Lutz, ihren langjährigen Mitbewohner. Sie ging geradewegs in die Küche.

Nichts. Das Licht brannte, aber es war niemand da. Beate packte die Lebensmittel aus. Ein klägliches Mauzen ertönte. Seine sonst zur Schau gestellte Würde vergessend, eilte Kater Humphrey herbei und sprang auf die Eckbank. Er schloß die Augen und riß die Nase auf; sog den appetitlichen Duft ein, den der Rinderbraten verströmen mochte. Humphreys Hals wurde lang und länger, bis sein Kopf schließlich flach auf dem Tisch lag.

»Humphrey«, sagte Beate streng.

Der Kater zog sich beleidigt auf den Haufen alter Zeitungen zurück und tat unbeteiligt. Aber seine Schnurrbarthaare zitterten, und er leckte sich hektisch-verlegen ein paarmal über das makellos glänzende Fell.

Beate schaltete das Radio ein und setzte sich. Humphrey erhob sich, um seinen Kopf gegen ihren Arm zu reiben. Beate streichelte das Tier, das sofort zu schnurren begann. Aus dem Radio erscholl eine schunkelselige Stimme. Klar, heute war der 11.11., das hatte sie glatt vergessen. Ein mäkeliger Kastrat sprach von Wirtschaftsfaktor und Brauchtumstagen; eine teigige Stimme mischte sich ein (man hörte drei Doppelkinne vor Entrüstung beben) und ließ sich den Spaß nicht verderben. Beate schaltete das Radio aus, holte sich ein Messer und entfernte die Plastikhülle von dem Fleisch. Sie hatte gerade ein paar Stücke abgeschnitten, als es an der Tür klingelte.

»Humphrey«, wiederholte sie mit warnendem Unterton.

Der Kater sah sie aus großen Unschuldsaugen an und senkte dann den Blick. Beate lief zur Tür. Durch die Milchglasscheiben waren zwei Schatten zu erkennen, ein großer und ein kleiner. Lutz und Schmitzi, der Schreiner aus dem dritten Stock.

»Gott sei Dank, daß du da bist«, sagte Lutz und schob sich an ihr vorbei. »Ich habe doch glatt meinen Schlüssel vergessen. Komm rein, Schmitzi.«

Schmitzi fuhr sich mit einer verlegenen Geste über seine Stirnglatze. Beate trat einen Schritt zur Seite und musterte ihn verstohlen. Er sah schlimm aus: unrasiert, verquollene Augen, und die schütteren Resthaare klebten fettig in seinem Nacken. Im Haus munkelte man schon seit einiger Zeit von einem handfesten Ehekrach bei Schmitzi und Gundula; nun war die Krise wohl richtig ausgebrochen. Ein gefundenes Fressen für Lutz, den frischgebackenen Psychologen. Gefundenes Fressen, verdammt!

Beate stürmte los. Humphrey hatte sich nicht nur über die geschnittenen Fleischstücke hergemacht: Jetzt saß er auf dem Tisch und zerrte an dem Rest des kiloschweren Bratens, knurrend und verteidigungsbereit. Mit einem Aufschrei stürzte Beate auf Humphrey zu und entriß ihm die Beute. Bedauernd ließ er los, setzte sich gemächlich wieder auf seinen Platz, leckte sich die Schnauze und spielte Statue.

»Mögt ihr Gulasch?«

Die Frage hätte sie sich sparen können. Schmitzi war alles egal, und Lutz hatte immer Hunger. Es entstand ein peinliches Schweigen, das sie durch betont muntere Betriebsamkeit überbrückte. Kaffee kochen, Fleisch schneiden und anbraten. Sie drückte Lutz das Messer in die Hand, und folgsam zerteilte er die Paprikaschoten und produzierte Zwiebelringe. Beate fühlte sich wohl. Fremdes Elend muntert doch auf, dachte sie und erschrak. Aber sie war nicht mehr allein, auch wenn die anderen nur schweigend vor ihren Kaffeetassen meditierten. Als das Gulasch im Topf schmorte, hatte sie endlich Muße, ein Gespräch in Gang zu bringen.

»Was ist los, Schmitzi? Irgendwas mit Gundula?«

Es war kein sehr diskreter Einstieg – Lutz sah sie tadelnd an –, aber es wirkte. Schmitzi, der eigentlich Hubert hieß, hörte endlich auf, in seinem Kaffee zu rühren, und legte los: Gundi habe nur noch genörgelt und ihn unbedingt zu einer Diät überreden wollen. Sie habe ihm modische Pullover gekauft, die er nicht anziehen mochte. Dauernd sei sie ausgegangen, und immer öfter in das Billardcafé am Gotenring, Beates Stammkneipe. Zuerst sei Herbert, der Wirt, ja nur ein geduldiger Zuhörer gewesen, aber dann … Und nun, genau vor einer Stunde, habe Gundi ihm, Schmitzi, ins Gesicht geschrien, daß Herbert im Bett … Schmitzi verstummte. Lutz räusperte sich mitfühlend.

»Ich denke, zuerst müßtest du dir darüber klarwerden, was du eigentlich willst.«

Lutz, der Therapeut. Beate grinste. Sie waren schon ein komisches Paar. Ewig Pech in der Liebe, aber kompetente Berater, wenn’s um andere ging. Schmitzi sah gequält auf.

»Ich weiß nur eins: Da bringen mich keine zehn Pferde hin, da hoch, in die Wohnung. Ich kann sie jetzt nicht ertragen! Da passiert ein Unglück, ich sage es euch!«

»Dann bleib doch erst mal hier, ein Gästebett haben wir doch …«

Mist, damit war sie nun einfach herausgeplatzt, ohne Lutz zu fragen, ob es ihm recht war. Das Klingeln des Telefons kam wie gerufen. Beate sprang auf.

»Ich geh schon ran!«

Eben war sie noch froh über die Unterbrechung gewesen, aber dieses Gefühl schwand sofort, als sie die monotone Stimme hörte.

»Ich habe es Ihnen gesagt. Die lassen mir keine Ruhe. Ich bin ihnen gerade noch mal entkommen, aber mein Kopf …« Donatus stöhnte.

»Hören Sie, woher – wie kommen Sie an meine Telefonnummer?«

Eine Gänsehaut prickelte auf Beates Armen, und sie setzte sich auf den Boden. Donatus lachte irre.

»Sie stehen im Telefonbuch, Gnädigste. Das hätten Sie mir wohl nicht zugetraut. Aber in meiner Lage muß man wachsam sein. Mein Kopf, es dröhnt … Sie nehmen jetzt Materie, wir haben sie zu sehr erschreckt.«