Rote Grütze - Gabriele Wolff - E-Book

Rote Grütze E-Book

Gabriele Wolff

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Beschreibung

Ein heißer Sommer im Jahre zwei nach der Wiedervereinigung. Schauplatz: Neubrandenburg und Umgebung. Die junge Staatsanwältin Beate Fuchs aus Köln soll beim Aufbau der Justiz in den neuen Bundesländern helfen und kommt einer kriminellen Organisation auf die Spur, die von präzisen Kenntnissen östlicher Verhältnisse und von schmutzigem Geld und Know-how aus dem Westen profitiert – und selbst vor Mord nicht zurückschreckt. Vierter Kriminalroman von Gabriele Wolff um die Staatsanwältin Beate Fuchs (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 213

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Gabriele Wolff

Rote Grütze

Kriminalroman

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Inhalt

Ich danke Lo und [...]Robert haßte den General. [...]Beate Fuchs drückte auf [...]Ein heißer, trockener Sommer [...]Die Fahrt hätte endlos [...]Juli 1973. Eine sternklare [...]Als Beate nach Hause [...]Schon wieder waren subversive [...]Rico Reuter stand am [...]Die Lohmühle entpuppte sich [...]Beate richtete den Blick [...]Beate war froh, daß [...]Bestimmt war es schwül [...]Gott sei Dank, Diederich [...]Sie kam keinen Millimeter [...]Du mußt mich nach [...]Mann, der Angeklagte hat [...]Bei dir ist wohl [...]Die letzten Schritte ging [...]Es war ein Alptraum. [...]Beate stand in der [...]Nach der fünften Telefonzelle [...]Am nächsten Tag dachte [...]Die Sonne brennt auf [...]Die große Besprechung fand [...]Frau Knolle sah auf [...]Zierzow, ein schweigsamer Mann [...]Das Verabschieden nahm kein [...]

Ich danke Lo und Peter, die mir ihren wunderbaren Namen zur Verfügung stellten, ohne zu ahnen, zu welcher Figur mich dieser Name inspirieren könnte; mein größter Dank gilt allen Neubrandenburger Kollegen, Bekannten und Freunden, die mir Mecklenburg zu einer zweiten Heimat machten: sie mögen mir meine wildwuchernde Phantasie verzeihen.

 

 

 

Ansonsten sind alle Namen, Personen und Ereignisse frei erfunden. Ähnlichkeiten mit der Wirklichkeit sind beabsichtigt.

Robert haßte den General. Wie er dasaß, breit, fett, die funkelnden Augen. Wie er den Wodka schlürfte und die Gläser hinter sich warf, deren Scherben Robert zusammenfegen durfte. Sein Uniformkragen, der in Nackenwülste biß. Seine gutturale Stimme, dröhnende platte Heiterkeit in Richtung der ordenbehangenen NVA-Kommißköppe, schneidende Verachtung in seinem »Dawai, dawai«, mit dem er Wassilij herumscheuchte. Den Bauernjungen in schlechtsitzender Uniform, dem der Schweiß über das hochrote Gesicht lief. Der jedes Mal zusammenzuckte, als ob er geschlagen werde. Sklavische Ergebenheit im Blick. Robert füllte das Glas des Generals. Bis zum Rand. Sein Gesicht so leer wie beim Appell. Die Gesichtsmuskulatur verkrampft. Der General verschüttete keinen Tropfen. Robert trat einen Schritt zurück.

Ruhmreiche Sowjetarmee … unverbrüchliche Freundschaft … siegreich … Errungenschaft … Wassilij hatte ihm erzählt, wie sie den betrunkenen General zur Toilette geschleift hatten. Ihm die Hose aufgeknöpft. Und wie er sie bepinkelt hatte, kreischend vor Lust an der Demütigung. Robert schluckte. Die Luft im Kasino war zum Schneiden. Alkohol, Rauch, der Gestank von Erbrochenem. Und Angstschweiß, dessen scharfe Ausdünstung in die Nase stach. Roberts graugesichtiger Vorgesetzter, er lallte schon, aber sein Blick war immer noch wachsam. Unverbrüchliche Freundschaft mit einem Bären, der den Tanzbären gab. Heute. Jetzt. In dieser Sekunde. Und in der nächsten?

Der General schlug sich auf die Schenkel. Platzte fast vor guter Laune. Gewann den zweiten Weltkrieg noch einmal. Hielt plötzlich seine Pistole in der Hand. Schoß in die Decke. Wassilij zitterte. Roberts Vorgesetzter schloß die Augen. Es war still geworden. Keiner nahm dem besoffenen Schwein die Pistole aus der Hand. Die jetzt unsicher schwankte, hin und her. Hier und da verrutschte ein Grinsen. Geduckte Gestalten, sprungbereit. Robert haßte ihn genug, um ihn an der Schulter zu fassen. Finger, die sich in den feinen Uniformstoff krallten. Der General rülpste. Drehte sich um. Robert streckte die Hand aus. Handfläche nach oben. Sein Gesicht so leer wie beim Appell. Nur die Augen konnten ihn verraten haben. »Nazischwein«, sagte der General. Sein erstes deutsches Wort heute.

»Ich bin dreiundzwanzig«, sagte Robert. »Geben Sie mir Ihre Waffe, Genosse General.«

Auf diesen Satz war er stolz. Ein korrekter, militärischer, zwingender Satz. Zum erstenmal kein Kuschen vor hohen Tieren. Zum erstenmal Würde. Der General schoß. Er sah aus wie ein Verlierer. Robert fiel zu Boden. Den Schmerz spürte er kaum. Umgeworfene Stühle, ein Schrei, das Poltern, mit dem die Pistole herunterfiel, das alles konnte die große Ruhe nicht stören, die ihn überschwemmte.

Drei Tage später war er gestorben, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben.

Beate Fuchs drückte auf den Klingelknopf. Der Glockenton drinnen mußte Tote aufwecken, aber es rührte sich noch immer nichts. War da ein Schatten hinter dem Milchglas des oberen Türdrittels? Sie starrte ratlos das schwarz angelaufene Messingschild mit dem eingravierten Namen an. »G. Stoltze«. Pasewalker Straße. Alles stimmte. In diesem Haus sollte sie die nächsten drei Monate wohnen, bei Grethe Stoltze, sechsundsechzig Jahre, und ihrer Enkelin, jedenfalls hatte sie das bis vor kurzem noch angenommen. Warum nur hatte sie das Taxi weggeschickt? Ihre drei Koffer standen auf dem Plattenweg, der von rotblühenden Geranien eingefaßt war. Vielleicht war Oma Stoltze nicht zu Hause … Aber eigentlich mußte sie doch wissen, daß Beate gegen fünf Uhr nachmittags ankommen würde; ja, gut, dann weiß ich Bescheid, hatte sie mit ihrer dunklen, heiseren Telefonstimme versichert, ich bin um die Zeit immer da, und Kaffee gibt’s auch, guten Bohnenkaffee, die Zeiten haben sich ja geändert … Kaffe hatte sie gesagt, daran erinnerte Beate sich genau, wie Kaff mit einem kurzen wie fallengelassenem e. Kaffe.

Beate schellte zum drittenmal.

Jetzt sah sie den Schatten hinter der Milchglasscheibe ganz deutlich. Er bewegte sich.

Beate klopfte gegen das Glas, das sich knirschend in dem bröckeligen Kitt des Holzrahmens bewegte.

»Beim nächstenmal hole ich die Polizei! Wenn Sie was von mir wollen, dann nur schriftlich! Nicht mit mir! Lassen Sie mich bloß in Frieden!« Eine vor Empörung überkippende Stimme.

Beate fuhr zurück. Grethe Stoltze war zu Hause, immerhin. Aber mit diesem Empfang hatte sie nicht gerechnet. Vermutlich hielt Frau Stoltze sie für einen hartnäckigen Versicherungsvertreter aus dem Westen, für irgendeinen dieser Halsabschneider mit ihren Haustürgeschäften …

»Frau Stoltze, ich bin’s, Beate Fuchs aus Köln, wir haben …«

Ein Schlüssel drehte sich in dem einfachen Schloß, ein Riegel wurde zurückgeschoben, dann öffnete sich die Tür. Eine hochgewachsene Frau mit kurzgeschnittenen grauen Haaren und sehr wachen grauen Augen stand im Türrahmen. Ihre Augen funkelten noch, aber sie lächelte Beate an. Ein Lächeln zwischen Verlegenheit und freundlichem Interesse.

»Hallo«, sagte Beate. »Sie haben mich wohl mit jemandem verwechselt. Aber ich drehe Ihnen garantiert keinen Bausparvertrag an.«

Frau Stoltze streckte zackig ihren Arm aus. Ihr Händedruck war erstaunlich fest.

»Na, denn willkommen in Neubrandenburg«, sagte Grethe Stoltze herzlich. »Und bringen Sie erst mal Ihre Koffer rein. Die Zeiten haben sich geändert. Früher habe ich die Tür nie abgeschlossen.« Beate beschloß, sich nicht für jede negative Wendeerscheinung persönlich verantwortlich zu fühlen, wuchtete die Koffer in den engen Flur und folgte Frau Stoltze in die Küche. Sie drehte sich noch einmal um und sah, wie die Haustür, die sie nur ins Schloß gezogen hatte, ächzend wieder aufsprang. Aha, früher nie abgeschlossen … Beate ging zur Haustür und drückte sie zu. Die Tür sprang wieder auf.

»Na, den Riegel müssen Sie schon vormachen«, kam die klare Anweisung. Grinsend schob Beate den Riegel vor.

Die Küche war klein und gemütlich. Auf dem Küchentisch stand eine Platte mit Kirschstreusel, eine blümchenverzierte Thermoskanne und zwei Kaffeegedecke, blaues Zwiebelmuster. Frau Stoltze goß Kaffee ein und schnitt mächtige Stücke von dem Kuchen ab.

»So, und Sie bleiben für drei Monate hier? Bei welcher Behörde arbeiten Sie denn?«

»Bei der Staatsanwaltschaft«, sagte Beate möglichst nonchalant. »Schmeckt aber gut, der Kuchen. Haben Sie den selbst gebacken?«

»Ja, sicher. Na ja, Staatsanwaltschaft …« Beate stellte sich vor, was sich Frau Stoltze nun vorstellen mußte: schneidige linientreue Staatsdiener, die für Republikflucht drei Jahre forderten, und, weil es mit der Partei und ihrem Schutz & Schild so vereinbart war, auch kriegten, beziehungsweise der Angeklagte. Der wiederum nur deshalb soviel bekam, damit die Preise beim Freikauf stabil blieben.

»Staatsanwaltschaft muß sein«, erklärte Beate und kontrollierte, ob ihr Tonfall zu belehrend wirkte. Es war alles nicht so einfach, wie sie es sich ausgemalt hatte bei ihrem spontanen Entschluß, in den Osten zu gehen. »Haben Sie ja selbst gesagt, daß sich die Zeiten geändert haben. Betrüger an der Haustür haben Sie doch bestimmt auch schon kennengelernt, oder nicht?«

Grethe Stoltze zog ihre starken Augenbrauen zusammen, so daß sich eine steile Falte in die Stirn grub. »Es gibt Schlimmere als Betrüger«, murmelte sie vor sich hin. Beate sah sich in der Küche um: eine funkelnagelneue Kaffeemaschine, aber sonst alles liebevoll gepflegtes DDR-Mobiliar: vom Kühlschrank Marke Kristall 140 bis zum alten Elektroherd, der mit seinen abgerundeten Kanten irgendwie an nostalgische Filme aus den Fünfzigern erinnerte.

»Noch einen Kaffe?« fragte Frau Stoltze, und Beate fühlte sich ertappt. »Ja, gern. Gemütlich haben Sie es hier«, antwortete sie.

»Als wir das Haus fünfundsiebzig übernommen haben, da war das eine Bruchbude. Was meinen Sie, wie wir hier alles organisieren mußten, nur um die notwendigen Ersatzteile zu bekommen … Getauscht haben wir, einen Trabivergaser gegen ein Abflußrohr, das kann sich jemand wie Sie überhaupt nicht vorstellen. Und nun …«

Sollte sie jetzt fragen, ob es da Ansprüche eines Alteigentümers gab? Typisch Beate, würde ihr Mitbewohner Lutz, alleingelassen in der Deutzer Vierzimmer-Altbauwohnung sagen, bist du eigentlich Staatsanwältin geworden, weil du so neugierig bist, oder war das umgekehrt? Irgendwann würde sie schon noch fragen, es mußte ja nicht alles am ersten Tag geklärt werden. Frau Stoltze hatte Kaffee nachgeschenkt und nahm sich dabei Zeit, Beate zu mustern. Offen, direkt und ohne Anzeichen von Verlegenheit, als Beate ihren Blick wahrnahm.

»Sind alles Menschen«, sagte sie schließlich. »Wir werden schon miteinander auskommen. Und jetzt erzählen Sie mir was von Köln. Wir durften zwar nicht reisen, aber Bücher gab’s schon. Steht der Dom noch?« Sie lehnte sich zurück und zündete sich eine Cabinet würzig an, deren beißender Qualm Beate in die Nase zog.

»Wollen Sie eine?« Beate nickte und dachte an die Reklamewände, die sie während der Taxifahrt studiert hatte. F 6. Unser Klassiker. Der Geschmack bleibt. Alles war Politik, auch, daß sie eben genickt hatte. Der erste Zug haute sie fast um. Unmöglich, jetzt schiere Begeisterung zu heucheln. Schon gar nicht vor dieser Frau, die sich von keinem etwas vormachen ließ.

»Ganz schön stark«, krächzte Beate. Frau Stoltze lachte.

Ein heißer, trockener Sommer im Jahre zwei nach der Wiedervereinigung. Schon morgens strahlte die Sonne in einem weiten Himmel von einem geradezu südlichen Blau. Beate spazierte über die Eisenbahnbrücke, auf der sich dichter Verkehr quälte. Im Schrittempo begleitete sie ein Ikarus-Bus, der schwarze Schwaden übelriechenden Qualms ausstieß. Russische Lkw beteiligten sich an der allgemeinen Luftverpestung nicht weniger erfolgreich als die zahlreichen Zweitakter, deren Insassen immer zu groß wirkten im Verhältnis zu der Karosserie ihrer Gefährte. Beate konnte kaum atmen. Das war ja schlimmer als die Rush-hour am Bonner Verteiler! Und der Himmel war immer noch blau. Unerbittlich kroch der träge Blech- und Plastewurm auf den Friedrich-Engels-Ring zu, der dreispurig das Zentrum Neubrandenburgs umschloß und zu guten autolosen Zeiten sicherlich mal sehr nützlich gewesen war. Beate schritt schneller aus und überholte den Bus.

Die Antrittsvorstellung bei dem Behördenleiter hatte sie bereits hinter sich. Ein dynamischer Typ aus dem Westen, der die Hemdsärmel wohl nicht nur wegen der sommerlichen Temperaturen hochgekrempelt hatte. Er träumte schon von dem neuen Gebäude, in dem alles ganz anders sein würde. Jetzt konnte sie nur einen alten Ziegelsteinbau nebst angebauter Baracke besichtigen, in dem jedenfalls an Akten kein Mangel herrschte. Überall lagen sie in Stapeln, wurden herumgekarrt, verloren Staub in einer altmodischen Hängeregistratur, wurden klatschend in den Dienst-Wartburg geworfen, man sah: es bewegte sich etwas. Beate sollte in der Filiale am Ring arbeiten, und unwillkürlich wurden ihre Schritte langsamer. Vorhin, bei der Begrüßung der Mitarbeiter in dem Hauptgebäude, waren Gesichter wie Namen an ihr vorbeigerauscht, alles zerfloß wie nach dem Erwachen aus einem Traum ins Ungefähre; nur an eins erinnerte sie sich genau: Dutzende von ausgestreckten Händen, die sie alle mit gleichmäßig festem Druck geschüttelt hatte. Ob Putzfrau, Wachtmeister oder Staatsanwalt, das Shakehands einte sie.

Beate wäre an dem unscheinbaren hellgrauen Gebäude vorbeigelaufen, wenn da nicht dieses handgemalte Schild gewesen wäre: Bezirksstaatsanwaltschaft, in gotisch wirkenden Lettern. Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete das zweistöckige Haus. Es hätte ein Mietshaus sein können, nur die vergitterten Fenster ließen andere Gedanken aufkommen. Wen oder was schützten die Gitter? Oder vor wem? Vor denen da drinnen oder vor denen da draußen?

»Entschuldigung«, ein dunkelhaariger Mann in Jeans und Lederjacke, der sie fast angerempelt hätte, lief an ihr vorbei, sprang die drei Stufen zur Eingangstür hoch und schellte. Als der Summer ertönte, stieß er die Tür auf und verschwand im Inneren des Gebäudes. Beate folgte und erreichte die Tür, bevor sie sich wieder schloß.

»Ja?« Ein Mann sah sie fragend an.

»Guten Tag, ich bin die Neue. Nachfolgerin von meinem Kollegen Wichterich aus Köln. Fuchs ist mein Name.« Mittlerweile schon automatisch schoß ihre Hand vor.

»Ach so, ja, auf Sie haben wir gewartet. Dreese, gebürtig aus Berlin, aber schon seit langen Jahren Mecklenburger. Schön hier bei uns, nicht?« Mit einer weitausholenden Geste umschloß er den winzigen Eingangsbereich, in dem sich sein Pult mit Telefonanlage, ein Kopier- und ein Telefaxgerät zwischen den Türen zur Toilette und der Treppe befanden. Der Mann trug ein kariertes Hemd, formlose Hosen, und sein schalkhaftes Lächeln reichte bis zu den Augen. Nachdem er ihre Hand in seiner kräftigen Faust wie in einem Schraubstock zusammengepreßt hatte, kratzte er ratlos seinen fast haarlosen mächtigen Schädel. »Wollen Sie erst mal Ihr Zimmer sehen, die Kollegen angucken oder Kaffe trinken, ich mach gerade welchen. Am besten kommen Sie mal mit in unseren Kulturraum.« Er zwinkerte ihr zu und zwängte sich an der nach oben führenden Treppe vorbei in einen schmalen Gang, von dem einige Türen abgingen. Gerade als sie die letzte Tür passiert hatten, stürmte der junge dunkelhaarige Mann in Jeans und Lederjacke auf Dreese zu.

»Hör mal, Walter, ich brauch unbedingt eine Leitung zum General, kannste mal …« er unterbrach sich, bedachte Beate mit einem prüfenden Blick, den sie einfach nur unverschämt fand (und dem sie dann doch standhielt, weil sie wußte, daß sie heute ihr schönstes Sommerkleid trug), und sagte dann nur: »Oder laß mal, Walter, ich glaube, die Dame kann mir weiterhelfen. Frau Fuchs, nicht wahr?«

»Genau. Und Sie brauchen Hilfe? Ich dachte, wir Westbeamte sind hier mehr oder weniger überflüssig.« Nie und nimmer hätte sie ihn so provoziert, wenn er sie nicht so angesehen hätte. Aber nun war es heraus, und sie mußte mit den Folgen fertigwerden. Der Dunkelhaarige grinste gelassen.

»Wir sind ja nicht so. Wir gönnen denen die hundert Prozent Gehalt nebst Buschzulage und kostenlosen Heimflügen. Das Leben ist teuer, das kriegen sogar wir mit. Na, bin ich nun ein typischer Ossi?«

Bevor Beate kontern konnte, mischte Dreese sich ein. »N’ typischer Quatschkopf biste, sonst nix. Immer schon gewesen, Frau Fuchs, den kriegen Se nicht mehr hin. Rico Reuter, Staatsanwalt.«

Das Händeschütteln diesmal fand mit Verzögerung statt. Rico Reuter war Ende dreißig, ein dunkler Typ mit stämmig-sportlicher Figur, braunen Hundeaugen, kantigem Kinn und überraschend leiser Stimme. Beate mochte ihn nicht. Sie würde später darüber nachdenken, warum sie ihn nicht mochte. Vielleicht erinnerte er sie an Mordbub, ihren Lieblingsgegner bei der Staatsanwaltschaft Köln. Seltsam war nur, daß sie Mordbub mittlerweile mehr als nur respektierte … Bleib dienstlich, beschwor sie sich, als sie Staatsanwalt Reuter nach oben folgte. Trotzdem waren die Gedanken nicht gerade sehr dienstlich, die der Anblick seines muskulösen Hinterns in ihr auslöste. Rico bewegte sich, als ob Fitneßstudios seit Gründung der DDR ein Hätschelkind der Partei gewesen wären und nicht erst seit der Wende einen Boom erlebten. Beate betrat zum erstenmal ihr Büro und setzte sich wie selbstverständlich an den Schreibtisch, der aussah wie alle Behördenschreibtische in allen Behörden der Welt. Rico schnappte sich den Besucherstuhl und brachte es fertig, sich auf eine Art und Weise hinzusetzen, die irgendwie athletisch aussah. Beate registrierte den ersten Unterschied zu ihrem Büro in Köln: der Besucherstuhl war wesentlich niedriger als ihr eigener, so daß selbst sie auf einen Rico Reuter herabsehen konnte, der sie um mindestens zwanzig Zentimeter überragte.

»Um was geht’s denn?« fragte sie munter. Eigentlich war sie sicher, daß sie auch ohne »Ober« vor dem Titel und Erprobung beim General alles wußte und konnte, was man als Abteilungsleiterin zu tun hatte. Und als solche war sie schließlich hier, auch wenn sie in Köln nur als einfache Staatsanwältin in der allgemeinen Abteilung wirkte. Eigentlich sollte es keine Probleme geben.

»Es geht um einen Bericht«, fing Reuter an. Toll. Ihre starke Seite. Berichte flossen ihr nur so aus der Feder. Schlimmer hätte es nicht kommen können. Sie dachte an Papa Neumann, ihren Chef in Köln: »Ich habe da, also wenn es Sie interessiert, Ihren Bericht habe ich stilistisch etwas überarbeitet …« Das neue Werk hatte mit ihrem alten dann regelmäßig nichts mehr zu tun.

»Ja?«

»Na ja, eine Berichtssache wegen überörtlicher Berichterstattung in der Presse. Eine Wirtschaftsstrafsache, die Frist ist wieder rum, und es hat sich nichts getan in der Sache. Ich warte noch immer auf einen Durchsuchungsbeschluß, aber das kann ich ja wohl kaum in den Bericht reinschreiben, oder?« Er sah nicht sonderlich bekümmert aus.

»Kann ich die Akte mal sehen?«

Rico sprang elastisch auf, ein wohltuender Anblick und nur leicht übertrieben, verließ wortlos den Raum und sprang die Treppe hinunter. Beate erhob sich etwas langsamer, schlenderte zum Fenster und öffnete es. Ein Schwall warmer Luft, Verkehrslärm und Benzingeruch strömte herein. Go West, stand auf einem Werbeplakat neben einem Imbißstand am Busbahnhof. Beate verließ das Zimmer und stellte sich bei den Geschäftsstellendamen vor, die allesamt eine solide mecklenburgische Bodenständigkeit ausstrahlten. Groß und kräftig, ungeschminkt, vernünftige Schuhe, freundlich und selbstbewußt. Da würde alles glattgehen. Mit Rico Reuter allerdings …

»Kaffe ist fertig!« schrie Dreese. Wie auf Kommando öffneten sich alle Türen, das Klappern einer Schreibmaschine verstummte, mitten im Satz endete ein Diktat bei einem Blutalkoholgehalt von 3,2 Promille – Beate fragte sich, was man in diesem Zustand überhaupt noch Strafbares anstellen konnte –, und alle, auch Staatsanwalt Reuter, begaben sich in den Kellerraum, der als Kantine diente. Ein altes Radio sorgte für treudeutsches Schlagergedudel, Dreese hatte die Tassen gefüllt, geräuschvoll wurden Brote ausgepackt, und Beate hatte Gelegenheit, sich alle Mitarbeiter der Filiale anzusehen. Sie spielte das Ossi-Wessi-Toto, ließ es aber bald sein, denn bis auf Dreese, der offensichtlich seine unmodischen Kunstfaserhosen auftrug, waren alle westlich eingekleidet.

»Ich habe die Akte dabei«, begann Reuter, wurde aber gleich durch ein vielstimmiges »Nicht im Kulturraum!« zum Schweigen gebracht. Die anderen unterhielten sich über steigende Mieten, deren Höhe Beate an ihren monatlichen Krankenkassenbeitrag erinnerte, über geschlossene Kindertagesstätten, über den Vorruhestand des Schwiegervaters. Und doch war die Stimmung wie bei einem Picknick bei strahlendem Sonnenschein, wenn mit wohligem Erschauern nicht eingetroffene Wettervorhersagen von ausdauernden Niederschlägen und ähnlichem Ungemach kommentiert werden. Beate gegenüber saß eine lange, überaus schlanke junge Frau, die sich gerade vorbeugte, um die Zuckerdose zu erreichen. Sie nahm drei Löffel Zucker, zögerte und nahm noch einen.

»Ich will zunehmen«, vertraute sie Beate an. »Wir kennen uns noch nicht. Sabine Pott. Aus Duisburg, aber nach sechs Monaten Ausbildung im Westen habe ich hier angefangen.«

»Und warum?« Beate konnte es nicht lassen.

Immerhin mußte sie aufrichtig interessiert geklungen haben, denn Sabine Pott stürzte sich in die Geschichte ihres Lebens. Es schien, als ob ein Neuanfang nach einer gescheiterten Beziehung nur in Neubrandenburg möglich sei. »Und außerdem, meine Noten waren zu schlecht für den Westen«, fügte Sabine Pott hinzu. Diese seltene Ehrlichkeit quittierte Beate mit einer ähnlich ehrlichen Geschichte, in der ihre Wohngemeinschaft mit Lutz, ein paar ausgewählte unglückliche Lieben und das Einschleichen von Langeweile in ihre tägliche Arbeit bei der Staatsanwaltschaft Köln tragende Rollen spielten. Sie hatte gar nicht bemerkt, daß die anderen bereits gegangen waren; nur Rico Reuter saß noch bei ihnen und hörte zu, mit einem so geistesabwesenden Gesicht, daß es seine gespannte Aufmerksamkeit verriet. Außerdem rührte er in seinem längst kaltgewordenen Kaffee, den er schwarz trank. Beate strich mit einer mechanischen Bewegung die dunklen Locken aus der erhitzten Stirn. Das Gespräch war versiegt, und die entstandene Pause lastete um so schwerer auf ihnen, je länger sie dauerte. Sabine Pott durchbrach die Stille.

»So wie du jetzt dasitzt, so stelle ich mir einen IM vor. Tut, als wenn er nichts mitkriegt, aber in Wirklichkeit feilt er an seinem Bericht.« Aggressiver Ton, durchbohrender Blick.

»Apropos Bericht«, warf Beate ein, wie aus einer Erstarrung erlöst.

»Wem sollte ich über euer Gespräch berichten?« fragte Rico Reuter spöttisch.

»Deiner Frau vielleicht«, gab Sabine zurück. »Hockt da in einem Plattenbau, der genauso kaputt ist wie ihre Ehe, hat die Kinder nun ganztags am Hals und kann sich keine Alternative vorstellen. Ach, was soll’s.« Abrupt stand sie auf. Ihr weiter Rock blieb an einem Stuhl hängen, als sie sich abwandte. Mit einer wütenden Bewegung befreite sie sich und ging mit langen Schritten auf die Treppe zu.

»Wir können ja mal einen trinken gehen. Heute abend?« Sie sah Beate an. Rico schlürfte seinen Kaffee.

»Okay, ich komme dann nachher vorbei«, stimmte Beate zu.

Der Kollege Reuter klappte die dünne Akte auf, die neben seiner Tasse lag.

»Darf ich?« Beate griff nach der Akte wie nach einem Rettungsring. Sicheres Gebiet, und die Akte fing auch genauso an wie eine aus Köln, mit einem hübsch ausgefüllten Formular der Polizeiinspektion in Teterow. Beschuldigter, Delikt, Tatzeit, Anzeigenerstatter – nein, der fehlte. Dafür gab es einen anonymen Brief, den Beate nun eingehend studierte. Neben reichlich eingestreuten Orthographiefehlern herrschten düstere Andeutungen über die Ausplünderung einer LPG (T) in Teterow bei der Umbildung in eine AGRO-Ost Fink GmbH vor. Haupttäter neben dem Westler Herbert Fink aus Paderborn war danach ein Fritz Valentin aus Teterow, der frühere LPG-Vorsitzende. Nachgeheftet waren Artikel aus dem Nordkurier und der Schweriner Zeitung, die offenkundig ebenfalls das anonyme Schreiben erhalten hatten. Der Brief stammte garantiert von einem arbeitslos gewordenen früheren Mitarbeiter, so bitter war der Ton und so detailliert einige Angaben über den Ausverkauf von Vieh an Finks westliche Strohmänner. Die LPG als Selbstbedienungsladen, ein Klischee, aber es mußte wohl was dran sein. Reuter hatte vor knapp drei Monaten einen Durchsuchungsbeschluß beim Amtsgericht Teterow beantragt. Das war die letzte Seite der Akte, auf der auch ein Eingangsstempel des Gerichts prangte.

»Und?« fragte Beate, die schon die Handakte aufklappte, um sich den ersten Bericht an das Justizministerium zu Gemüte zu führen.

»Nichts und. Die Akte kam zurück, genau so wie sie jetzt ist. Und was schreibe ich in den Bericht? Daß die in Teterow geschlafen haben?«

»Die Ermittlungen dauern an. Ich werde weiter berichten, klingt eigentlich netter, oder?« schlug sie lässig vor und dankte Neumann im stillen für diese vorbildliche Formulierung, als sie in der Handakte auf den Durchsuchungsbeschluß des Amtsgerichts Teterow stieß.

»Was haben wir denn da? Das hat nun wirklich nichts in der Handakte zu suchen«, und schon pflückte sie den Beschluß heraus. Rico Reuter saß da wie vom Donner gerührt.

»Das darf doch nicht wahr sein! Diese blöde Geschäftsstelle …«, knurrte er schließlich. Beate sah ihn scharf an. Der Durchsuchungsbeschluß trug die zutreffende Blattzahl der Akten. Warum sollte die Geschäftsstelle den Beschluß mit der richtigen Seitenzahl versehen, um ihn dann in die falsche Akte zu heften … Und wieso hatte Reuter den Beschluß nicht gesehen, wenn er doch über der Berichtsformulierung brütete und sich bestimmt den ersten Bericht in dieser Sache noch einmal angesehen hatte, um die Formalien hinzukriegen: gleich dahinter war doch …

»Hören Sie, Berichtsfrist ist erst in zwei Tagen. Wie wäre es, wenn wir bis dahin etwas unternehmen?«

Ricos Gesicht hellte sich auf.

»Was denn?« Ein Hundert-Meter-Läufer im Startblock.

»Wir können zum Beispiel nach Teterow fahren und die Durchsuchung selbst vornehmen. Bis wir der Polizei erklärt haben, wonach wir suchen, ist der halbe Tag schon rum. Und überhaupt, nur Staatsanwälte dürfen Papiere sichten. Die Polizei nimmt entweder alles mit oder gar nichts. Also«, forderte sie ihn heraus.

»Wir könnten mit meinem Wagen fahren«, sinnierte er laut. Dann sah er sie mit den Hundeaugen an, die ihr schon bei der ersten Begegnung aufgefallen waren. »Wenn Sie mit einem Trabi vorlieb nehmen …«

»Ich stehe auf Abenteuer«, erklärte Beate mit fester Stimme.

Die Fahrt hätte endlos dauern können. Diese gewundenen, hügelan führenden Straßen, Alleebäume, die Schattenspiele in dem flirrenden hellgrauen Band der Straße aufführten, gelbflammender Raps neben vertrockneten Grasflächen, die nach einem Regenguß wieder tiefgrün leuchten würden, Wälder, dann und wann ein verschlafenes Dorf und wieder die weite Landschaft. Blauer Himmel mit hingetupften Wölkchen. Aufblitzende Seen, deren Namen Rico Reuter wußte.

Zu schön, um wahr zu sein.

»Teterow ist die ärmste Gemeinde in Mecklenburg-Vorpommern«, erläuterte er, als wisse er, daß Beate gerade gefährlich sentimental gestimmt war.

»Ach ja?«

»Geschönte Arbeitslosenquote etwa 25 Prozent, nicht gerechnet die, die man in den Vorruhestand abgeschoben hat oder die bei Kurzarbeit Null gelandet sind. Und die erwerbstätigen Frauen, die jetzt einen auf Hausfrau machen, fallen natürlich auch durch den Rost. Aufschwung Ost, wie es euer, Verzeihung, unser aller Kanzler prophezeit hat, ist das natürlich nicht so ganz.«