Tote Oma - Gabriele Wolff - E-Book

Tote Oma E-Book

Gabriele Wolff

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Beschreibung

Der zwölfjährige Mirko hat seine Oma tot mitten auf dem verschneiten Paradeplatz gefunden. Es ist Wochenende. Direkt vom Frühstück im Hotel wird die soeben von Köln nach Neuruppin versetzte Beate Fuchs zum Dienst gerufen. Sie ist die einzige erreichbare Staatsanwältin vor Ort. Schnell wird ihr klar, daß die Ruhe in dieser brandenburgischen Provinzstadt trügerisch ist. Der Titel von Gabriele Wolffs fünftem Kriminalroman um die Staatsanwältin Beate Fuchs, ›Tote Oma‹, stammt wie ›Kölscher Kaviar‹, ›Himmel und Erde‹, ›Armer Ritter‹ und ›Rote Grütze‹ wiederum aus dem kulinarischen Bereich und benennt zugleich das Thema dieser Geschichte: Gewalt in der Familie. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 281

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Gabriele Wolff

Tote Oma

Kriminalroman

FISCHER E-Books

Inhalt

Mit Dank an Röbel [...]Die Geschichte und die [...]»Wie sieht die Göre [...]»Was ziehe ich bloß [...]»Ich habe Angst«, sagte [...]Eigentlich war es wie [...]»Sollen wir da wirklich [...]Walter Fetten sah müde [...]Mirko hatte Hunger, und [...]Die südamerikanische Combo packte [...]Mama klatschte die zusammengefallenen [...]Beate schloß die Wohnungstür [...]Er rannte immer schneller. [...]Lutz war in sein [...]Das erste, was ihm [...]Das schlimmste an diesen [...]Das Eis sang unter [...]Lothar wohnte über den [...]Einmal sah er Mamas [...]»Lissi Kleinschmidt hat uns [...]Endlich durfte er wieder [...]Beate tippte den letzten [...]»Warst du das?« Ulf [...]Beate war kaum im [...]Mirko erkannte Oma kaum [...]Beate und Lutz saßen [...]

Mit Dank an Röbel & die Müritz, eine ideale Umgebung zum Schreiben, und mit der Bitte um Verständnis, daß ein Kriminalroman mit einem Touristikführer nur wenig gemein hat, an die Stadt Neuruppin und ihre Bewohner.

Die Geschichte und die Personen dieses Kriminalromans sind frei erfunden; gäbe es keine Übereinstimmungen mit der Wirklichkeit, wäre es kein Kriminalroman mehr.

»Wie sieht die Göre bloß wieder aus, Milchschnute, Marmelade auf dem Pullover, und schlingen tut sie, als wenn sie drei Tage nichts zu fressen gekriegt hätte«, der Mann blies Mandy Zigarettenrauch ins Gesicht. Er sah sie aus rotgeränderten Augen an. Seine Mundwinkel waren angewidert nach unten gezogen. Mandy wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Ihr Blick wanderte nach unten. Tatsächlich, ein Marmeladenfleck auf ihrem neuen blauen Pullover. Schon seit sie in die Küche gekommen war, hatte Ulf sie angestarrt, als wenn er auf irgend etwas lauerte. Nur seinetwegen hatte sie so geschlungen, und er wußte es genau.

»Edithchen, was soll bloß mal aus deiner Tochter werden«, Ulf ließ Mandy nicht aus den Augen, auch als er jetzt Mama zu sich heranzog und seinen Arm um ihre Hüften legte. Mama sträubte sich ein wenig, wollte wieder zurück zur Anrichte. Sie hielt den Putzlappen, mit dem sie eben noch verschütteten Kaffee weggewischt hatte, in der rechten Hand.

»Hier, mach die Marmelade weg«, sagte sie und schob ihr den Lappen hin. »Und dann iß noch eine Stulle.« Ulf streichelte Mamas Hintern, als sie sich vorbeugte, um Mandy den Lappen zu geben. Mandy sah weg und griff nach dem grauen, widerlich feuchtwarmen Putzlappen. Niemals würde sie damit an ihrem Pullover herumwischen …

»Mandy wird im Februar dreizehn. Sie wächst und muß jetzt tüchtig essen«, sagte Mama und dann: »Laß das doch …« Ulf knurrte irgend etwas. Mandy schmierte sich noch ein Brot. Es sah genauso grau aus wie das grobgewebte Putztuch, das neben ihrem Brettchen lag. Die Kirschmarmelade war rot wie Blut. Sie hatte keinen Hunger mehr.

»Wenn du nicht aufpaßt, hast du bald einen Fettarsch wie deine Tochter«, Ulf lachte und klatschte Mama auf den Hintern. Dann bog er ihren Kopf so zu sich herunter, daß er ihr etwas ins Ohr flüstern konnte. Mama unterdrückte ein Lächeln und sagte: »Ach, du …« und kraulte seine langen, sich im Nacken kräuselnden Haare. Die übrigen Haare waren glatt, glänzten fettig und waren aus der Stirn nach hinten gekämmt. Mandy stand auf.

»Ich geh noch schnell ins Bad«, sagte sie und zog ihren Pullover so weit hinunter, wie es ging. Sie verließ die Küche rasch. Draußen im Flur traf sie auf Mirko.

»Dicke Luft?« fragte er.

»War schon mal schlimmer«, gab sie zurück. Sie lief die Treppe hinauf. Im Badezimmer roch es nach Ulfs Haargel. Mandy wischte den klebrigen Fleck mit kaltem Wasser aus. Sie zitterte, als der feuchte Pullover ihre Magengegend berührte. Sie zog den Pullover aus, suchte sich aus dem Wäschekorb ein gebrauchtes Unterhemd heraus, streifte es über. Dann zog sie den Pullover wieder an. Im Spiegel kontrollierte sie, ob man den Fleck noch sehen konnte. Alles in Ordnung.

Im Flur zog sie ihre dicke Jacke und die festen Schuhe an. Sie nahm ihren Schulranzen und schnallte ihn auf den Rücken. Ein Eishauch war vor ihrem Mund, als sie über den Hof zum Schuppen ging. Sie zwängte sich an Ulfs großem neuem Wagen vorbei zum hinteren Teil des Schuppens, in dem ihr Rad stand. Sie war hoch aufgeschossen in letzter Zeit. Lange, dünne Beine, ein schmaler Oberkörper, der kleine Erhebungen bekommen hatte. Nur die Hüften waren breit geworden, und ihr Po war kräftiger als früher. Sie schob das Fahrrad neben sich her.

»Fettarsch«, murmelte sie. »Selber Fettarsch.« Aber das stimmte nicht einmal. Plötzlich war alles verschwommen. Mandy stolperte über eine Werkzeugkiste, hielt sich am Lenker ihres Fahrrads fest und kippte mit dem Rad um. Nach links. Gegen das Auto. Es gab ein häßliches, metallisch knirschendes Geräusch. Der Lenker bohrte sich in ihre rechte Schulter. Es dauerte eine Zeit, bis sie begriff, was passiert war. Es dauerte noch länger, bis sie sich aufgerappelt, ihr Fahrrad aufgehoben und es weggeschoben hatte. Das Rad war okay. Mandy rieb ihre schmerzende Schulter. Einen schönen blauen Fleck würde sie da kriegen. Sie lehnte das Rad gegen die Schuppentür und ging zurück zu dem Wagen.

Am hinteren Kotflügel waren Beulen und senkrecht verlaufende Kratzer. Mandy preßte die Faust vor den Mund. Sie quetschte die Haut ihres Zeigefingers zwischen die Vorderzähne und saugte daran, bis es weh tat.

»Der bringt mich um«, sie dachte es so lange, bis sie es laut vor sich hin flüsterte. Nur weg hier. Sie rannte hinaus, warf sich gegen die sperrige Tür und verriegelte den Schuppen. Sie drückte sogar das Vorhängeschloß zu, was sie sonst immer vergaß. Am liebsten hätte sie den Schlüssel weggeworfen. Aber das nützte nichts. Ulf hatte seinen eigenen Schlüssel.

Als sie das Rad durch den Flur der Wohnung schob, knöpfte Mirko gerade seinen Parka zu.

»Also, ich gehe zu Fuß«, erklärte er kauend. »Hast du es nicht gehört? Es soll heute schneien, na ja, jedenfalls Schneeregen, und das gibt dann überfrierende Nässe, bei den Bodentemperaturen«, sein rundes Kindergesicht sah so verdammt wichtigtuerisch aus.

»Du mit deinem blöden Klima! Dann werd doch Wetterfrosch, aber laß mich in Ruhe! Ich fahre!« schrie sie ihn an. Mirko tippte gegen seine Stirn.

»Hast du deine Tage, oder was?« rief er hinter ihr her, während sie die Haustür ins Schloß schmetterte. Draußen stemmte sie sich gegen einen eisigen Wind. Sie trat so heftig in die Pedale, daß sie an der nächsten Ecke fast gestürzt wäre. Jetzt hatte sie auch noch ihren letzten Verbündeten verloren. Sie war allein. Und er würde sie umbringen.

»Was ziehe ich bloß an?« Beate stand vor dem Kleiderschrank, fror erbärmlich, warf einen Blick auf die Uhr, einen weiteren auf den friedlich auf der noch warmen Bettdecke schlafenden Kater Humphrey – alt war er geworden, früher hätte er längst ungeduldig nach Futter verlangt –, beneidete ihn glühend und wußte immer noch nicht, was sie anziehen sollte. Es war dunkel draußen, ein trüber Novembertag würde es werden, einer jener Tage, an denen man im Dunkeln aufstand, im Dunkeln nach Hause ging und ein Blick aus dem Bürofenster zwischendurch nur bestätigte, daß man nichts verpaßte. Die erste Entscheidung des Tages: Rock oder Hose? Und wenn Hose, dann Jeans oder Stoffhose? Zumindest die letzte Frage hatte sie sich in den letzten acht Monaten nicht gestellt. Jeans trug man nicht bei der Generalstaatsanwaltschaft, jedenfalls nicht als kleine Erprobungsbeamtin. Beate seufzte. Immerhin, das war geschafft. Die Zeit des Brütens über grundsätzliche Probleme eines Verstoßes gegen das Parkverbot und des Fliegenbeinzählens war vorbei. Da hatte sie doch tatsächlich beantragt, ein nur allzu berechtigtes Urteil gegen einen üblen Vergewaltiger zu kippen, nur weil das Gericht in seiner Dusseligkeit irgendeinen Umstand bei der Strafzumessung erwähnt hatte, der schon zum Tatbestand gehörte … Und obwohl sie sich richtiggehend schämte für ihren Antrag, hatte sie ein dickes Lob von ihrem Gegenzeichner kassiert: Der Senat hatte ihre Stellungnahme zitiert und sich ihrer Auffassung mit einem Satz angeschlossen. Darauf kam es an, das gab Punkte. Acht Monate ohne den Pulverdampf der Front, ohne eigene Ermittlungen, ohne scharfe Wortgefechte mit Verteidigern und ohne Sinn für Gerechtigkeit, nur für Rechthabenwollen: aber dafür in Hosenanzug oder Kostüm mit Seidenblüschen.

Dieser Gedanke entschied ihr Problem: auf gar keinen Fall einen Rock. Außerdem war Schneeregen angesagt, sollte sie etwa frieren, nur weil sie einen Antrittsbesuch beim Chef machen mußte? Sie wählte eine olivgrüne Stoffhose, einen braunen Pulli und ihr uraltes Tweedjacket. Eigentlich eine stockkonservative Kombination, aber als sie sich im Spiegel musterte, sah sie immer noch irgendwie unkonventionell aus. Es mußte an ihren dunklen Locken liegen, die sich, widerspenstig wie immer, entschieden weigerten, wie eine Frisur auszusehen. Oder an ihren braun-grünen Augen mit dem leichten Silberblick, die überaus lebendig waren und denen nichts entging … Mittlerweile hatten sich Lachfältchen an ihren Rändern eingegraben, die man aber nur sehen konnte, wenn Beate die Brille abnahm. Sechsunddreißig und kein bißchen erwachsen. Aber die Brille und ihre flotte Zunge rissen alles wieder raus. Die Gegner wußten mittlerweile, daß man Beate Fuchs nicht unterschätzen durfte.

Sie zog ihre braunen Winterstiefel an, die mit den Schneerändern, die einzigen, die wirklich warm hielten. Jetzt war keine Sekunde mehr zu verlieren, wenn sie gegen acht Uhr in der Behörde sein wollte. Beate stürzte in die Küche und goß sich noch einen Kaffee ein, den sie im Stehen trank. Humphreys Napf mit seiner Lieblingssorte war unberührt. Hoffentlich war ihm das Futter nicht zu abgestanden, wenn er später aus seinem Dauerdösen erwachte. Im Alter war er überaus wählerisch geworden, frisch mußte es sein und ausschließlich jene Lieblingssorte, die für diese Woche angesagt war. Beate stellte die Tasse zum ungespülten Geschirr und goß den Rest des Kaffees in die Thermoskanne. Lutz stand immer so spät auf, daß der Kaffee verkocht war, wenn sie ihn auf der Warmhalteplatte der Kaffeemaschine stehenließ. Beate ging in den Flur und nahm den Wintermantel vom Haken. Genau in diesem Moment öffnete sich die Tür zu Lutz’ Zimmer. Beate spürte, wie ihr Begrüßungslächeln abstürzte, als sie die Frau sah, die, in den viel zu großen, verschlissenen Bademantel von Lutz gehüllt, schlaftrunken in den Flur trat. Lissi war ungekämmt und gähnend noch schwerer zu ertragen als sonst. Gesund leben, aber lauter Plomben im Mund. Sie hielt noch nicht einmal die Hand vor diese Kraterlandschaft, plinkerte nur mit den wasserblauen Augen, deren Ausdruck man bestenfalls als kindlich bezeichnen konnte.

»Ach«, sagte Lissi ausdruckslos. »Du bist es.« Sie blieb stehen, als ob sie geneigt sei, ein Gespräch anzufangen, und sei es bloß aus Höflichkeit. Vielleicht hatte sie auch nur vergessen, warum sie überhaupt aufgestanden war. Bei Lissi wußte man das nie.

»Tja«, Beate strahlte sie mit falscher Munterkeit an. »Ich wohne hier nun mal. Seit ziemlich genau dreizehn Jahren. Guten Morgen, erst mal.«

»Morgen«, quetschte Lissi hervor. Ihre blassen Lippen bewegten sich kaum. Sie strich mit müder Geste den halblangen, knallschwarzen Haarschopf aus der Stirn, ein sinnloses Unterfangen, denn es gehörte zu ihrer stachelig kurzen Frisur, daß der Haarschopf in die Stirn fiel. Überhaupt war es besser, wenn Lissis Stirn bedeckt war. Steile, vertikale Falten zwischen den Augenbrauen verrieten, daß Lissi die Welt mit ständig verärgertem Brauenrunzeln anblickte. Beate registrierte verblüfft, wie groß ihre Abneigung war. Was fand Lutz nur an ihr? Sie riß sich zusammen.

»Du kannst ruhig in die Küche gehen, der Kater schläft noch bei mir im Zimmer. Der Kaffee ist in der Thermoskanne. Ich bin dann weg.«

Als Beate sich an der Tür noch einmal umdrehte, sah sie Lissis Bademantelrücken und ihre nackten Füße in pinkfarbenen Birkenstocksandalen. War doch Lissis Problem, daß sie auf Katzen allergisch reagierte und daß sie morgens Kräutertee trank. Lutz trank den Kaffee so wie sie selbst, schwarz und stark.

Draußen atmete Beate tief durch. Demnächst würde sie darüber nachdenken, warum ihr diese Frau so zuwider war. Eifersucht konnte es nicht sein, da war doch nichts zwischen Lutz und ihr, nie gewesen, nur eine alte Verbundenheit und ein Zusammenleben, das schon viele Lieben, Verliebtheiten, One-night-Stands und abenteuerliche Geschmacksverirrungen ausgehalten hatte. Es nieselte, und die feuchte Kälte drang durch Mantel, Jacke und Pulli bis auf die Knochen. Natürlich war die Straßenbahn nicht pünktlich, das war sie selten, jedenfalls kam es Beate im Winter immer so vor. In den langsam vorbeifahrenden Autos saßen Anzugmänner, denen offensichtlich nicht kalt war. Manche rauchten, manche ruckten rhythmisch mit dem Kopf zu einer unhörbaren Musik. Aber glücklicher sahen sie auch nicht aus. Als die Linie 3 über die Severinsbrücke fuhr – Beate hatte einen Fensterplatz auf der rechten Seite, der Domseite, ergattert –, überholte sie nahezu alle Fahrzeuge, die Beate während der Wartezeit beobachtet hatte. Grau wälzte sich der Rhein dahin, hellgrau schimmerte das Schokoladenmuseum, anthrazitgrau stemmten sich die Domtürme in den dunklen Himmel. Das einzige farbige Element in diesem Bild war die Straßenbahn, die über die Deutzer Brücke fuhr, ein knallbunter Werbeträger für irgendeine Billigklamottenkette.

»Isch weiß et nit«, sagte die mittelalte Frau neben ihr, auch sie ein Farbtupfer aus schlechtplaziertem Rouge und lila Brillengestell. »Jeht Ihnen dat auch esu? Jetzt hätt der Winter jrade mal anjefange, und schon isset einem zevill. Wird vun Johr ze Johr schlimmer, nä, isch weiß et nit.« Beate grinste und stimmte aus vollem Herzen zu.

»Ävver wat willze maache? Et kütt, wie et kütt.« Rheinischer Fatalismus pur. Dabei würde es bestimmt nicht bleiben, das wußte Beate genau. Etwas Versöhnliches zum Abschluß, ein optimistisch gefärbter Ausblick mußte das leicht resignative Element des Sichabfindens wieder aufhellen. Beate wurde nicht enttäuscht. Die Frau stand schon an der sich öffnenden Tür, als sie Beate noch einmal zublinzelte und ihr in verschwörerischem Ton mitteilte, daß man nicht klagen solle, jede Jahreszeit habe ihr Gutes, zum Beispiel so ein lecker Täßche Glühwein wöre ja nichts für im Sommer.

»Genau«, bestätigte Beate.

»In diesem Sinne«, verabschiedete sich die Frau. Das Rouge stand ihr gut. Im Karneval würde sie wahrscheinlich als Clown ihr Unwesen treiben, ungeniert gackernd und fremde Herren bützend, jenseits von Gut und Böse, und sich in aller Unschuld nehmen, was sie brauchte. Plötzlich fiel ihr Dr. Zeisig ein, ihr stocksteifer Hauptabteilungsleiter, ein distanzierter Mensch, der Karneval immer Urlaub nahm und sich in sein Wochenendhäuschen in der Eifel verkroch, um endlich mal in Ruhe juristische Fachzeitschriften zu studieren. Diese papageienbunte, kontaktfreudige Fünfzigerin mit ihren philosophischen Banalitäten, ein Fäßchen Kölsch und Dr. Zeisig zusammen in einen Raum sperren und dann für eine Stunde die Tür verschließen: Dr. Zeisig wäre nicht mehr derselbe.

Er war es aber, als sie ihren Antrittsbesuch machte. Natürlich schaute er auf die Uhr, als sie sein Büro betrat. Es mußte eine zwanghafte Geste sein, die jeglicher Berechtigung entbehrte, denn Dienstzeiten für Staatsanwälte gab es nicht. Außerdem war es erst acht Uhr siebzehn, als Beate seinen schmucklosen Schreibtisch ansteuerte. Sie hatte noch einige Minuten auf der Toilette verbracht mit dem ergebnislosen Versuch, das sich durch den Nieselregen stärker als sonst kräuselnde Haar zu glätten und einen Kaffeefleck von ihrem Jackett zu entfernen, der wohl auf das hektische Füllen der Thermoskanne zurückzuführen war. Dr. Zeisig stand auf und ignorierte mit einem höflichen Deuten auf die Sitzfläche des Besucherstuhls ihre ausgestreckte Hand, die seit Beates Einsatz in Neubrandenburg in Situationen wie dieser nahezu automatisch vorschoß. So war er, der Dr. Zeisig, eisig höflich und in seiner abweisenden Art unangreifbar.

»Guten Morgen, ich wollte, ja eigentlich wollte ich mich nur zurückmelden«, stammelte Beate und wünschte sich, nur ein einziges Mal souverän gegenüber Menschen wie Dr. Zeisig auftreten zu können. Sie konnte mit heulenden Zeugen umgehen, aggressive Verteidiger auflaufen lassen und nicht uncharmant zögerliche Kollegen motivieren, mit ihr an einem Strang zu ziehen. Nur gegen solche den Schein der Korrektheit wahrenden Gefühlskrüppel hatte sie kein Rezept.

»Nun, ich darf Sie also wieder in unserem Hause begrüßen. Der Behördenleiter befindet sich auf einer Tagung, so daß ich das auch in seinem Namen sagen darf. Die Frage Ihrer weiteren Verwendung wurde bereits abschließend erörtert. Wie Sie wissen, ist Ihr altes Dezernat zwischenzeitlich anderweitig besetzt worden; das ließ sich nicht anders regeln bei diesen längerfristigen Abwesenheiten, erst der Osteinsatz und dann der General …« Es klang, als ob sie die ganze Zeit über blaugemacht habe. »Die Behörde konnte eine weitere Dauervertretung nicht mehr verantworten«, fuhr er fort. Er sah sie dabei mißbilligend an, fast so, als ob sie mutwillig einen unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruch der Staatsanwaltschaft Köln herbeigeführt habe. Irgend etwas mußte sie jetzt sagen.

»Ja, das habe ich von Kollegen gehört, und es tut mir sehr leid, daß ich in mein altes Dezernat nicht mehr zurückkomme. Nach all den Jahren kennt man seine Pappenheimer. Ich hatte da so einen Betrüger, der mir schon ein paarmal entwischt ist, und dann kam kurz vor meinem Weggang eine neue, sehr schlüssige Anzeige auf den Tisch.« Natürlich interessierte ihn das nicht die Bohne. Er mochte weder sie noch die Niederungen des Geschäftes. Einen Anfänger hatten sie auf ihr gepflegtes Dezernat gesetzt, einen blutigen Anfänger, der seine ersten Schritte in diesem Job unter der Fuchtel eines Oberpedanten gemacht hatte. Entsprechend sahen seine Rückstände aus. Nein, dieses Dezernat wollte sie nicht zurückhaben. Beate hielt sich bereits für diplomatisch, nur weil sie damit nicht herausgeplatzt war.

»Ich hörte, daß die Erprobung erfolgreich verlaufen sein soll?« Sein erstaunter Tonfall war wie eine Ohrfeige. Beate wurde es heiß. Bleib ruhig, beschwor sie sich. Draußen kannst du brüllen und toben, soviel du willst, reiß dich zusammen, denk daran, mit diesem Arschloch hast du nur heute zu tun und sonst nie wieder …

»Ich glaube schon«, entgegnete sie beherrscht. »Die schriftliche Beurteilung steht ja noch aus, aber man hat mir zu verstehen gegeben, daß ich die Zeit dort mit Erfolg absolviert habe.« Als wenn das der Knabe nicht genau wüßte, die alten Seilschaften funktionierten doch bestens, ein Griff zum Telefon, drei Sekunden Small talk zur Kaschierung des eigentlichen Begehrens, dann der Satz: Ach ja, ist nicht die kleine Soundso gerade bei euch, wie macht sie sich denn? Soso, na ja, also bei uns … Was dann meistens schon das Ende einer hoffnungsvollen Karriere war.

»Dann haben Sie den Marschallsstab ja schon im Tornister, wenn ich mir bei einer Frau diese Formulierung erlauben darf«, er lachte über seinen funkelnden Witz, und es klang wie ein Hüsteln. Lissi und Dr. Zeisig. Mehr Unheil konnte dieser Tag wirklich nicht bringen. Beate hatte sich verschätzt.

»Und das bedeutet, daß Sie sich nun in einem Sonderdezernat bewähren dürfen. Das bringt, wie Sie wissen, die erforderliche Beurteilungsqualität.« Seine Hände vollführten waschende Bewegungen. Erst schrieb er jahrelang ständig unveränderte Beurteilungen, die ihr allenfalls Mittelmaß bescheinigten, und nun wusch er seine Hände in Unschuld? Beate preßte die Oberarme gegen den Rumpf. Die Achselhöhlen waren schweißnaß.

»Und an welches Dezernat haben Sie gedacht?« Bloß nicht Rauschgift, alles, nur nicht Rauschgift. Das große Wort führen, wenn es um Drogenfreigabe geht, und nebenbei Junkies einsperren oder Dealer durch Scheinankäufe heranzüchten, das wäre eine Katastrophe für sie. Schlimmer konnte es nicht kommen. Oder doch? Er ließ sie zappeln, der Sadist.

»Woran hätten Sie denn Interesse?« fragte er verbindlich.

Beate haßte scheindemokratische Veranstaltungen. Was zuviel war, war zuviel. »Haben Sie nicht eben angedeutet, daß darüber schon entschieden sei?«

Er sah über ihren Kopf hinweg. Feige war er also auch noch. Er stand auf und schlenderte zu dem an der Stirnseite des Raums aufgehängten Organisationsplan, Insignium seiner Macht. Es sollte wohl wie Schlendern aussehen, aber da Dr. Zeisig klein und dünn war, gleichsam entmaterialisiert, wirkte es nur wie ein kraftloses Schleichen. Vielleicht liegt es daran, schoß es Beate durch den Kopf. Er hat keinen Körper, den eine Frau begehren könnte. Da ist nichts, was eine Frau begehren könnte. Deshalb also behandelte er sie wie Luft, schlimmer noch, verachtete sie.

»Da ist eine Vakanz«, murmelte er. Er wandte ihr den Rücken zu. »Dr. Sommer ist zum Ministerium abgeordnet worden. Umwelt- und Ärztesachen. Da können Sie sich profilieren. Vergessen Sie nicht, daß heutzutage fünfzig Bewerbungen auf eine Abteilungsleiterstelle kommen.« Den Satz hätte er nicht hinzuzufügen brauchen. Die Abteilung war Drohung genug. Beate schluckte. Ein Abteilungsleiter, der Skandale um jeden Preis vermied, Kollegen, die allesamt erprobt waren und um die Wette schleimten, die ersehnte Beförderung vor Augen. In diesen Laden paßte sie wie die Faust aufs Auge.

»Das wird ja interessant werden.« Ihr aufrichtigster Satz bislang. Dr. Zeisig drehte sich um.

»Davon, Frau Kollegin, bin ich überzeugt. Ich habe Sie Ihrem neuen Abteilungsleiter bereits avisiert.« Beate begriff, daß sie entlassen war. Sie erhob sich und zwang ihm ihren Blick auf, so lange, bis er wegschaute. Ein kleiner Sieg.

»Danke für diese Chance.« Seit wann konnte sie lügen, ohne rot zu werden?

»Ich werde Ihren weiteren Weg begleiten, Sie bleiben ja in meiner Hauptabteilung. Viel Erfolg.« Er sah wieder über sie hinweg, sein Gesicht eine höfliche Maske. Das Telefon schnarrte diskret, doch ihr Chef zuckte zusammen. Er griff so fahrig nach dem Hörer, daß dieser erst auf die Tischplatte polterte, bevor er ihn erfassen konnte. Er spielt Theater. Er hat Angst vor mir. »Ja, Walter, sie kommt gleich. Ist schon unterwegs.« Beate lächelte ihn selbstbewußt an. Eine Breitseite Weiblichkeit war jetzt angebracht. Das würde ihm den Rest geben.

»Vielen Dank für das Gespräch, Herr Doktor Zeisig. Wir sehen uns dann?« Ein Hauch von Koketterie reichte schon.

»Ja, ehem, ich nehme es an. Zum gegebenen Zeitpunkt …« Jetzt stammelte er. Jetzt streckte er die Hand aus, und Beate übersah sie, weil sie gerade damit beschäftigt war, den Riemen ihrer Handtasche über die Schulter zu legen. Sie verließ sein Büro hocherhobenen Hauptes. Ihr Herz klopfte ein paar Takte schneller. Dieser neue Abteilungsleiter konnte warten. Noch so ein Auftritt war ohne Erholungspause nicht drin. Die Kaffeerunde wartete.

»Ich habe Angst«, sagte Mandy plötzlich. Ihre Stimme war klein und zitterte. »Wenn Mama ihm das erzählt, kriege ich den Arsch voll.« Sie sah ihren Bruder an, als ob er ihr helfen könne. Helfen müsse.

»Mama sagt schon nichts, bestimmt nicht«, antwortete Mirko mit mehr Überzeugung, als er eigentlich aufbringen konnte. Viel zu oft hatte sie es geschehen lassen, daß Ulf seine Schwester schlug, aus nichtigem Anlaß, einfach, weil er schlechte Laune hatte oder weil er mal wieder blau war. Dann stand sie nur dabei und weinte, schrie manchmal: »Laß das, Ulf, laß das doch, es ist genug«, aber das nützte nichts. Wann er aufhörte, das bestimmte er allein. Einmal war Mama dazwischengegangen, danach hatte sie sich eine Woche nicht aus dem Haus getraut, bis ihr blaues Auge nicht mehr ganz so schlimm aussah.

»Natürlich sagt sie es ihm. Wenn der seine Karre sieht, dreht er doch durch. Ich kann wirklich nichts dafür, Mirko, du mußt das sagen, daß ich mit dem Fahrrad umgekippt bin, es war nicht extra …« Jetzt schniefte sie auch noch, wischte sich mit dem Ärmel ihres bunten Anoraks übers Gesicht. Mirko fror. Der eisige Wind fegte schon den ganzen Tag über den zugefrorenen See, ließ sich weder durch die Backsteintürme der Klosterkirche noch das kahle Geäst der Wichmannlinde aufhalten und drang mühelos durch die Ritzen des Schuppens. Sein Blick fiel auf den Grill und die Tüte mit Holzkohle, die noch halb voll war.

»Weißt du was, ich mache den Grill an. Mir ist kalt.« Er stand auf und kramte mit klammen Fingern in der hinteren Hosentasche. Da mußte noch das Feuerzeug sein, das er Ulf vor einigen Tagen geklaut hatte … Mandy sah ihn mit aufgerissenen Augen an. Eigentlich war sie ganz hübsch, hübscher jedenfalls als Eddie, seitdem die ihre Haare kurz geschoren hatte und mit diesen Skins herumzog … Verdammt, was hatte Ulf eigentlich gegen Mandy? Seine Schwester war aufgestanden, steifbeinig zu dem Grill marschiert und stand jetzt davor, die Arme vor der Brust gekreuzt.

»Du spinnst wohl! Und wenn du die Hütte abfackelst? Als wenn wir nicht schon genug Ärger hätten!« Obwohl sie seine Zwillingsschwester war, konnte sie auf ihn herabsehen.

»Was heißt das, wir? Du hast den Ärger, ich doch nicht!« Es tat ihm sofort leid, aber er hätte lieber seine Zunge verschluckt, als sich zu entschuldigen. Da konnte sie lange warten. Mandy trat gegen die Gießkanne. Es gab ein hohl schepperndes Geräusch, das merkwürdig laut klang in der Stille da draußen. Alles wie ausgestorben in der Gartensparte, nicht einmal ein Vogel war zu hören. Hunde schon gar nicht, und jetzt schneite es auch noch, nicht in diesen schönen dicken Flocken, sondern wie gefrorener Regen, der fast waagerecht durch die Luft gepeitscht wurde.

»Laß uns gehen«, drängte Mirko, »ich wette, daß er direkt nach Hause kommt und nicht erst nach dem Wagen sieht. Ist doch arschkalt heute, der geht sofort in die Stube und läßt sich Stullen und Bier hinstellen. Wirste schon sehen.« Mandy verzog das Gesicht. Wenn sie so schief lächelte wie jetzt, sah sie viel älter aus als zwölf Jahre.

»Das sagst du nur so. Er geht immer zuerst in den Schuppen. Die Karre ist doch sein Spielzeug. Was meinst du, warum er mit dem Trabi zur Arbeit fährt und das dicke Auto nur in der Garage steht?«

Mirko wußte, daß der Vergaser des BMW kaputt war, aber für so etwas interessierten sich Mädchen nicht. Schon gar nicht jetzt. Mandy trat immer noch gegen die Gießkanne. Ihre dünnen blonden Haare fielen ihr übers Gesicht wie ein Vorhang, zurück und vor, immer wenn sie traf. Mirko hatte Lust, sie bei den Haaren zu packen und von dem verdammten Ding wegzureißen, Mandy war eine Pest manchmal, aber er schaffte es einfach nicht, ihr weh zu tun. »Hör doch auf mit dem Scheiß, das bringt nichts. Komm, wir hauen ab.«

Mandy hörte tatsächlich auf und strahlte ihn an. »Genau. Das ist es. Wir hauen ab.«

Mirko schluckte. So hatte er es nicht gemeint. Wo sollten sie denn hin? Er zog den Schal vor den Mund. Mandy grinste schon wieder schief, und er fühlte sich ertappt.

»Klar. Wir könnten zu Oma … Ach, nein, das geht nicht. Wenn er es mitkriegt, darf sie uns wieder ewig nicht besuchen, wie beim letzten Mal …« Sie kaute auf der Unterlippe.

»Und wenn du zu deiner Freundin gehst?« schlug er halbherzig vor. Eigentlich mochte er diese Tussi nicht, sie quatschte ihm zuviel, aber wenn es darauf ankam, konnte sie dichthalten. Mädchen waren irgendwie komisch.

»Zu Jessica? Schön blöd wäre ich, da sucht er mich doch als erstes, und überhaupt, wenn der da auftaucht, gibt es Ärger, Jessicas Mutter verbietet ihr dann noch, mit mir befreundet zu sein, und dann ist alles aus.« Mirko räusperte sich. Ihm mußte einfach etwas einfallen, Mandy zog die Nase hoch, das tat sie immer, bevor sie losplärrte …

»Ich hab’s«, er verhaspelte sich fast vor Aufregung, »es ist doch ganz einfach: Eddie sagt, daß sie es war, das macht sie bestimmt für uns, schließlich ist sie unsere Schwester, und die schlägt er nicht, er traut sich nicht, ihre Kumpels, vor denen hat er genauso Schiß, wie wir vor ihm …«

»Und wo ist Eddie?« So schnell ließ Mandy sich nicht aufheitern.

»Na, in der Spielhalle im Neubau oder bei ihrem Freund, wir finden sie schon, los, komm!« Mandy legte ihre kalte Hand in seine und sah ihn ernst an.

»Wir immer, immer wir, weißt du noch?« Typisch, dieser alberne Spruch aus ihrer Kinderzeit, daß sie den behalten hatte …

»Klar doch! Sag mal, wo habe ich den blöden Schlüssel hingetan?« Er schüttelte ihre Hand weg und tastete die Regalbretter ab, obwohl er ziemlich genau wußte, daß der Schlüssel überall, aber eben nicht dort sein konnte. Er hörte Mandys Schritte, die sich entfernten, dann das Quietschen der Tür.

»Nimm doch den«, sagte Mandy von draußen. Sie hatte einen Ton wie Mami, wenn sie ausnahmsweise einmal recht behielt. Aber das war jetzt egal. Sie hatten nicht mehr viel Zeit. In einer Stunde würde es dunkel sein, und in zwei Stunden war Ulf zu Hause, wenn er nicht vorher im Stadtkrug noch einen trank.

Mirko schloß ab und verstaute den Schlüssel im Reißverschlußfach seines Parkas. Schneekörner trafen sein Gesicht wie spitze Pfeile. Er blinzelte in den tiefgrauen Himmel. Es sah nicht gut aus.

»Alles klar«, sagte er. Der steinharte Boden war überfroren. Sie rannten los, wie auf ein geheimes Kommando, und er wäre hingefallen, wenn Mandy nicht, genau im richtigen Moment, ihre Hand ausgestreckt hätte.

»Immer wir!« Sie schrie es fast, übermütig lachend, die blauen Augen Schlitze über den roten Wangen, der roten Nase, den blassen Lippen.

Es war dieses Bild, das in dem Alptraum der nächsten Wochen immer wieder vor ihm auftauchen sollte …

Eigentlich war es wie früher. Die Kaffeemaschine fauchte, als Beate, die Bürotasse in der Hand, die Tür zu Kieferles Zimmer aufriß.

Staatsanwalt Kieferle thronte breitärschig auf seinem fragil wirkenden Bürostuhl, die Hände über dem Bauch gefaltet, und grinste über einen vermutlich zynischen Spruch von Mordbub, den Beate – leider oder Gott sei Dank? fragte sie sich – verpaßt hatte. Der sportliche Fetten, auch im Winter sonnengebräunt, hatte sich in ein Fach des Aktenbockes gezwängt und schien die Muskulatur seiner Oberschenkel zu studieren, die durch die engen Jeans auf das vorteilhafteste zur Geltung kam. Bargfeld las halblaut ein Telefax vor, während er sein kahles Haupt kratzte. Es ging um irgendein Immunitätsproblem, vermutlich ein besoffener Bundestagsabgeordneter, dem die Polizei in demokratischer Strafverfolgung den Führerschein abgenommen hatte. Bargfeld mußte wissen, daß so etwas keinen aus der Kaffeerunde beeindrucken würde, aber er versuchte es immer wieder. Die Erfindung des Telefaxes war für ihn Fluch und Segen zugleich, man sah ihn nie ohne Telefax über die Flure eilen, durchdrungen von der Wichtigkeit seiner Mission; andererseits konnte sogar ihm nicht verborgen geblieben sein, daß seit der letzten Portoerhöhung auch schlichte Akteneinsichtsgesuche per Telefax übermittelt wurden: Anwälte mußten schließlich auch rechnen in diesen harten Zeiten …

»Hallo, da bin ich wieder«, sagte Beate. »Irgend etwas passiert in der Zwischenzeit?« Alle sahen sie an. Wichterich und Kieferle lächelnd, Fetten prüfend, Bargfeld mißmutig, und Mordbub? Seine Miene war undurchdringlich, aber zumindest beendete er die Sprachlosigkeit, die ihr Eintreten hervorgerufen hatte.

»Na, Frau Oberstaatsanwältin in spe, daß Sie uns niedrige Ränge überhaupt noch mit Ihrer Anwesenheit beehren!« Übertrieben ehrerbietig stand Mordbub auf und bot ihr seinen Stuhl an.

»Meinen Sie das ernst? Ich meine, daß Sie mir Ihren Platz anbieten?« Beate war fassungslos. Sie musterte jeden der altvertrauten Teilnehmer der Kaffeerunde, als ob es Fremde wären, bis ihr Blick bei Walter Fetten hängenblieb. Jetzt sah er sie offen an, freundlich, aufmunternd und mit so viel Wärme, daß sie zum ersten Mal an diesem Tag das Gefühl hatte, wieder zu Hause zu sein. Walter zwinkerte ihr zu.

»Es ist viel passiert, seitdem du weg warst. Ich sage nur ein Wort: Rosi …«

Die anderen prusteten los. Beate atmete auf.

»Die Kollegin Heidecke? Hat sie ein Programm für schwererziehbare Kollegen durchgezogen, oder was?«

»Ohne Fleiß kein Preis«, warf Kieferle ein, sein Kinkel-Schwäbisch klang heftiger denn je. »So schwierig war das überhaupt nicht, dem Kollegen Manieren beizubringen. Wenn er einen Kaffee, etwas Konversation oder gar ein Lächeln von Rosi kriegen wollte, mußte er eben etwas dafür tun. Positive Verstärkung sagen die Sozialfuzzis doch immer dazu. Haben nicht immer unrecht.« Kieferle schnaufte befriedigt. Mordbub schleuderte ihm wütende Blicke zu. Beate setzte sich auf seinen Stuhl und hielt ihm die Kaffeetasse hin.

»Soweit kommt’s noch«, giftete Mordbub. »Das mach ich noch nicht mal, wenn Sie Abteilungsleiterin sind. Und überhaupt, hören Sie nicht auf dieses dumme Geschwätz, da ist nun wirklich nichts dran. Ich darf doch wohl noch Mindeststandards zivilisierten westeuropäischen Verhaltens erfüllen, ohne daß hier gleich verbreitet wird, ich hätte was mit der Kollegin Heidecke. Wenn es in dieser Behörde mal nichts zu quatschen gibt, bricht die Welt zusammen.«

Beate schenkte ihm den unschuldigsten Augenaufschlag, der ihr zur Verfügung stand.

»Also, so habe ich den Kollegen gar nicht verstanden. Und, falls es Sie beruhigt, bis zum General ist das auch noch nicht vorgedrungen.« Sie zündete eine Zigarette an und verkniff sich ein amüsiertes Lächeln. Mordbub hatte es erwischt. Unglaublich. Staatsanwalt Bub hatte zwar keine Probleme mit seinen Mord- und Totschlagfällen, aber jede Menge mit den Frauen in seinem Leben: zu Hause umzingelt von Schwiegermutter, patenter Ehefrau und zwei Töchtern, im Berufsleben langsam, aber sicher mit der Tatsache konfrontiert, daß weibliche Kollegen auf dem Vormarsch waren …

Wichterich, klein und energisch, nahm die Kanne von der Warmhalteplatte und goß Kaffee in die Tassen, die ihm wie auf Kommando entgegengestreckt wurden.

Beate trank den ersten Schluck. Die Kaffeerunde. Wenn es die nicht gäbe …

»Und überhaupt«, sagte sie frech. »An Ihrer Stelle würde ich mich über solche Gerüchte gar nicht aufregen. Das glaubt sowieso keiner, daß Sie was mit einer Kollegin haben.«

»Wieso denn nicht, wenn ich fragen darf?« Mordbub funkelte sie an.

»Mann, Ihnen kann man es wirklich nicht recht machen; erst beschweren Sie sich, daß man Ihnen ein Verhältnis mit einer Kollegin andichtet, und jetzt sind Sie sauer, daß man es nicht tut. Ja, was denn nun?« Beate betrachtete versonnen Mordbubs verschossenen Kordanzug, die vierschrötige Gestalt und seine pflegeleichte Stoppelfrisur. Waren Männer von Natur aus einfach selbstsicherer, oder rechneten sie schlicht damit, daß Frauen von vornherein keine weltfremden Ansprüche stellten?

»Aber das ist doch ganz einfach«, mischte sich Wichterich ein. »So ein Gerücht kann den häuslichen Frieden stören, also muß es dementiert werden. Und wenn es keine Gerüchte gibt, schadet das dem Ruf als Mann. Was, Wilfried?«

Mordbub grinste.

»Endlich einer, der mich versteht«, kommentierte er knapp.

So leicht wollte sie ihn nicht entkommen lassen. Da war etwas gewesen in seiner Stimme, bei seinen ersten Sätzen, als ob sich etwas geändert hätte in ihrem komplizierten Verhältnis, das nun schon seit Jahren irgendwo zwischen ironisch ausgetragener Aggressivität und gegenseitigem Respekt angesiedelt war. Was, wenn er sich ihr auf einmal unterlegen fühlte, nur weil sie eine theoretische Beförderungschance hatte und er nicht? Eine Chance, auf die er schließlich nicht den geringsten Wert legte, wie er oft genug verkündet hatte …

»Alles klar«, Beate beugte sich vor und drückte die Zigarette aus. »Bloß, daß ich nach all dem Lamentieren immer noch nicht weiß, was inzwischen alles passiert ist.«

Es sollte ein Satz werden, wie er schon oft eines ihrer spielerischen Duelle eingeleitet hatte, aber ihr Ton war zu schroff. Sie hörte es selbst, und sie sah es an seiner Reaktion, dem Verschränken der Arme vor der Brust.