Arsen - Maria Hofer - E-Book
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Arsen E-Book

Maria Hofer

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Beschreibung

»Lifestyle in den Bergen«   Arndorf liegt in den Bergen. Ein Sehnsuchtsort in einer Sehnsuchtslandschaft. Die Menschen darin haben Ideen vom perfekten Leben und der perfekten Gemeinschaft. Aber sobald sie nach der Utopie greifen, entgleitet sie ihnen. Gleich dem Arsen, das unter Arndorf vorkommt: ein Produkt aus den Tiefen der Berge. Berüchtigt und sagenumwo-ben ist dieser Stoff wie die Berge selbst. Und er zieht sie alle an: die Authentizitäts-Freaks, die vom Bergleben wie in früheren Zeiten träumen und Tourist*innen zur Arsen-Mine fuhren, die Esoteriker*innen, die Achtsamkeit in Form von Arsen-Seife und Heil-steinen im örtlichen Souvenirshop verkaufen, und die Influencer*innen, die Arsen-Pigmente per Multilevel-Marketing und Online-Events präsentieren. Maria Hofer ist ein wilder, sprachlich herausragender Text gelungen, der in Serpentinen den Berg einwickelt und allmählich verschlingt. Sie sticht hinein in die Sehnsucht ihrer Figuren. Gibt es »das gute Leben am Land« oder ist am Ende alles nur Marketing?   Für »Arsen« erhielt sie den Literaturpreis »Schreiberei« der Steiermärkische Sparkasse 2023.

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Seitenzahl: 212

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Über das Buch

Arsen

Ein radikaler Roman, der keinen Stein auf dem anderen lässt

Arndorf liegt in den Bergen. Ein Sehnsuchtsort in einer Sehnsuchtslandschaft. Die Menschen darin haben Ideen vom perfekten Leben und der perfekten Gemeinschaft. Aber sobald sie nach der Utopie greifen, entgleitet sie ihnen. Gleich dem Arsen, das unter Arndorf vorkommt: ein Produkt aus den Tiefen der Berge. Berüchtigt und sagenumwoben ist dieser Stoff wie die Berge selbst. Und er zieht sie alle an: die Authentizitäts-Freaks, die vom Bergleben wie in früheren Zeiten träumen und Tourist*innen zur Arsen-Mine führen, die Esoteriker*innen, die Achtsamkeit in Form von Arsen-Seife und Heilsteinen im örtlichen Souvenirshop verkaufen, und die Influencer*innen, die Arsen-Pigmente per Multilevel-Marketing und Online-Events präsentieren. Gibt es »das gute Leben am Land« oder ist am Ende alles nur Marketing?

Über Maria Hofer

Gewinnerin des Schreiberei-Literaturpreises 2023 und Kultautorin von morgen

Maria Hofer, 1987 in der Steiermark geboren, studierte Germanistik und Kunstgeschichte in Wien. Sie veröffentlichte u. a. Reportagen im VICEMagazin, literarische Texte in The Gap und im SORT-Magazin. Ihr Debütroman »Jauche« (Dahimène Edition) erschien 2015. Für »Arsen« erhielt sie den Literaturpreis »Schreiberei« der Steiermärkischen Sparkasse 2023

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Maria Hofer

ARSEN

Roman

Copyright © Leykam Buchverlagsgesellschaft m.b.H. & Co. KG, Graz – Wien – Berlin 2023

Erscheint auch als E-Book.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlaggestaltung: Gradhammer Concept & Design

Layout: Gerhard Gauster

Korrektorat: David Hoffmann

Lektorat: Kristine Kress

Druck: FINIDR, s.r.o.

Gesamtherstellung: Leykam Buchverlag

www.leykamverlag.at

ISBN 978-3-7011-8289-3

eISBN 978-3-7011-8324-1

Klimaneutral gedruckt

Gefördert durch

Inhalt

Unten

Thujen

Besuch

Heimkehr

Bellen

Frequenz

Ferien

Atmen

Schönheit

Stammbaum

Das Seminar

Experiment

Schleifen

Feste Zirbe

Aussteiger

Seil und Fell

Schafgarbe

Die Abenteurer

Die drei heiligen Steine

Zeitverwendung

Katzengold

Ruhe

Soft Power

Orange

Kosmetik

Oben ist eine Hütte

Hüttenwirt

Logistik

Handwerker

Oben

Unten

Androgyne Bauern mähen im Steilhang, teils sind sie hochbetagt. Boten in bunter, bedeutungsloser Kleidung bringen traditionelle Bauernkrapfen an den Feldrand. Diese Krapfen sehen aus wie Doughnuts, nur haben sie kein Loch, stattdessen zieht sich eine dünne, knusprige Teigschicht zwischen den wulstigen, fettigen Rändern. Es schaut aus wie ein größeres, essbares Diaphragma. Es war traditionell das Essen der Feldarbeiter. Normalerweise mit Salat oder Zucker kombiniert. Es bestehen hier einige aber auf die Kombination aus beidem, wollen den Krapfen mit Salat UND Zucker essen. Weil sie glauben, das hat man früher so gemacht. Aus Brauchtumsgründen, die sie auf den Elektrolythaushalt zurückführen.

Die Sonne summt im Kopf, man mäht konzentriert, pragmatisch und ist dabei kurz vor der Ohnmacht. Die eigene Bewegung hat nur für kurze Zeit Einfluss auf das Feld.

Der Staub auf der Straße lässt einen hinuntergefallenen Schweißtropfen ermatten, wie eine halbe, pudrige Seifenblase versinkt er im Grund. Man hört kein Vogerl pfeifen, nur die Sensen, die sich schubweise durchs Gras knuspern.

Ein junger Feldarbeiter widersetzt sich dem Rhythmus und greift in seine Westentasche. Ein älterer Arbeiter schaut ihn an und sieht, wie er eine kleine Dose herausnimmt und sich zwei winzige, gelbliche Krümel daraus auf den Bauernkrapfen legt. Nach dem Essen mäht und mäht er. Sein Kopf ist rot, und sein Filzhut ist grün. Er mäht in diesen weihnachtlichen Farben bis spät in die Dämmerung, ohne einen Schluck Wasser zu trinken. Jeder Sensenschwung entschärft eine aufkommende Assoziation mit der alten Welt. Immer und immer wieder. Jeder Zug eine Erinnerung weniger. Es ist wie ein Schlachten, nur muss man es sanft machen, und mit Gefühl, sonst wird die Klinge stumpf.

Obwohl alle die Felder in Arndorf mähen können, in Arndorf herumsteigen können, sich überall deppert einmischen können, irgendwelche Aktivitäten und Initiativen starten können, die Almluft fetischisieren und sich an den Bergen dort aufgeilen können, steht Arndorf nicht einmal im Grundbuch. Arndorf hat keine Form, sondern nur jede Menge Potenzial.

Thujen

Für Loth aus der Millionenstadt gibt es keine bedeutungslose Kleidung. Die hochpreisigen Basics erfüllen ihre Zwecke (Unauffälligkeit und Neutralität) schon seit Jahren nicht mehr. Sie enttarnen ihre Träger eher sofort als Angehörige des Bildungsbürgertums oder Großbürgertums. Loth hasst die allgemeine Bewunderung für die Oberschicht. Er will wie ein Handwerker oder besser wie ein ARBEITER oder noch besser wie ein HILFSARBEITER behandelt werden und nicht wie der Diplomaten- und Industriellensohn, der er ist. Er will, dass ihn die Leute aktiv übersehen, anrempeln, anpöbeln. Er will vom AMS-Berater persönlich beleidigt werden. Er will beim Penny an der Wursttheke ignoriert werden.

Loth fährt über Wien Mitte zum Südbahnhof. Er liebt Wien Mitte, The Mall. Das Einkaufszentrum, das vor vielen Jahren den überdachten Markt ersetzt hat. Von innen wirkt das Einkaufszentrum wie eine schlechte Kopie des Zaha-Hadid-Wirtschaftsunigebäudes, obwohl The Mall eigentlich das ältere Gebäude ist. Deswegen liebt er es so sehr. Er nimmt die S-Bahn, die er auch liebt, und fährt zum Hauptbahnhof. Er ist zu früh da und trinkt einen Kaffee, der völlig ausreichend geschmackvoll ist. Der Kaffee ist gut genug, und das reicht vollkommen. Loth wird aggressiv, wenn er irgendwo aus Versehen das Wort „Barista“ lesen muss. Während er seinen Kaffee aktiv nicht genießt, beobachtet er, wie sich ein Typ im Burger King einen runterholt, während dieser eine potenzielle Studentin beim Mittagessen anstarrt. Noch bevor er seinen Kaffee ausgetrunken hat, geht Loth zu seinem Bahnsteig, und weil sein Handyakku leer ist, studiert er den Kleidungsstil jeder einzelnen Person dort. Er will sein wie sie und nachfühlen können, warum sie in der Früh nach dem Aufstehen genau DIESE Fetzen gewählt haben, in der Hoffnung, dadurch zu lernen, genauso unsichtbar zu sein wie die normalen Leute, die mit dem Zug fahren.

Immer wenn er in den Ort fährt, den ein berühmter Mann als „den kältesten Ort Österreichs“ bezeichnet hat, haben die Einheimischen Loth in erster Linie als Urlauber gesehen, obwohl er an einem Projekt ARBEITET! Auch wenn er sich Arbeiterhosen anzieht und versucht, im Dialekt zu reden: Ihm wird das Urvertrauen verwehrt, das jedem Gebürtigen entgegengebracht wird. Die Leute sind zwar schon neugierig auf Loth, aber das ist eine oberflächliche Angelegenheit, in Wirklichkeit mögen die Einheimischen die Urlauber wegen der Wirtschaft. Erst sie geben der geliebten Seilbahn einen Sinn. Erst sie bringen die Partypolonaise in die Schirmbar. Loth und seine Freunde beleben mit einem neu übernommenen Gasthaus genau diese Wirtschaft. Und sie locken neue Schichten als Urlauber an. Wohlhabendere Gäste, die auf ruhigeren, unaufdringlicheren individuellen Erlebnistourismus stehen, den man unverschämt exklusiv vermarkten kann.

Die Leute vom Land sind schon hunderte Jahre auf die Befriedigung von Urlauberbedürfnissen konditioniert. Nie soll der Urlauber sich als Gast fühlen. Immer soll der Urlauber sich als organischer Teil des authentischen Landlebens fühlen. Als Servicekräfte bringen die Landbewohner den Touristen jagen und Volkstanz bei, unternehmen riskante Bergtouren, erzählen alte chauvinistische Sagen mit authentischer Kernigkeit – alles das eine Essenz dessen, was die Stadtbewohner als „das Österreichische an sich“ imaginieren. Und die Landbewohner haben dazu entweder mehr kritische Distanz als die Stadtbewohner sich das jemals ausdenken können und sehen das mit einer zynischen Distanz, oder eben nicht. Und performen den Almöhi, bis sie es sich im schlimmsten Fall selbst glauben und wegen einer selbst antrainierten und nie erreichbaren Idealvorstellung vom Landleben Depressionen bekommen und sich umbringen irgendwann, weil ihr eigenes Leben nicht so edel ist, wie sie es darstellen, wie sie es als Kindheitserinnerung erfinden. Ihr Leben wird eine Unmöglichkeit. Manche werden auch deswegen Blut- und-Boden-Nazis, weil sie wegen dem ganzen Authentikblabla glauben, ihnen wurde von der modernen Welt etwas weggenommen, das sie nur wiedererlangen, wenn sie alles, was von ihrer Idealphantasie abweicht, ausrotten, und damit auch ihre Unzulänglichkeitsgefühle, ihre Selbstzweifel, ihre Wut. Weil sie eben nicht in Häusern leben, die sie permanent an ihre edle, reinblütige Herkunft erinnern, sondern in ganz normalen Einfamilienhausnachbarschaften auf Feldern, die irgendein Immobilienentwickler von verzweifelten Bauern abgekauft hat und dort halbherzige Häuser gebaut hat. Mit großzügiger, aber irgendwie auch unwürdiger Wohnfläche. Einzelteile, die sich speziell auf den individuellen Wohngenuss angepasst zusammenfügen lassen. Einzelteile, die gleich austauschbar sind wie alle Episoden der eigenen Lebensgeschichte, gleich austauschbar wie die eigene Arbeitskraft. Daraus resultiert ein Schmerz, den eigentlich alle Leute mehr oder weniger kennen, aber die Leute vom Land macht es noch fertiger, weil sie in der Dauerpräsenz von subtil omnipräsenter Althergebrachtheit leben müssen. Natur, die mit Funktion, Wirkstoffen, Zweckmäßigkeit und Schönheit aufgeladen wird. Dinge und Gebäude, die mit Anekdoten und historischen Fakten angereichert werden. Felsen, Berge, Wälder und Gräser, die zu Sagen verwurstet werden, um Leuten den Unterschied zwischen „gut“ und „schlecht“ nachvollziehbar zu machen. Daraus resultieren dann Mythen, die ein normales Leben im Vergleich dazu wegen seiner eindimensionalen Banalität nur scheitern lassen können. Deswegen ziehen in Wirklichkeit so viele junge Leute in irgendeine Stadt und nicht weil dort das Kulturangebot so reichhaltig ist und das Donauwasser in den Hitzesommern so schön im Ohr juckt.

Loth ist fasziniert von dem, was die Leute am Land verzweifeln lässt, von Noras tiefer, melancholischer Brutalität. Sie ist so originell, so authentisch und so unverschämt. Er hat sich deswegen stark dafür eingesetzt, die einheimischen Servicekräfte keineswegs zu entlassen. Das Gasthaus ist für ihn ohne Nora schwer vorstellbar.

Auf dem Weg zu Nora verinnerlicht Loth die Doppelhausgärten, jedes Halbhaus sein eigenes Universum, mit eignen Dekorationsgegenständen nach individuellem Geschmack, abgetrennt von blickdichten Thujenhecken, die seiner Meinung nach das wahre ästhetische Verbrechen sind. Loth will sich vertiefen in die Belanglosigkeit und in die zufriedene Resignation, die er hier allgegenwärtig hinter den Plastikstores und zwischen den Thujenheckenparzellen vermutet.

Die Thujenhecken haben Blätter wie flache, aufgefächerte Adern. In diesen Hecken brüten gerne Kreuzspinnen, das wissen fast alle Kinder und kriechen deswegen auch nicht durch diese Hecken von Garten zu Garten. Das ist der Strauch des analen Charakters, denkt sich Loth. Der anale Charakter ist der schlimmste aller Charakter, denkt er sich. Der anale Charakter zeichnet sich durch diese Eigenheiten aus: Kontrollbedürfnis, Sparsamkeit, Eigensinn, Genauigkeit, Trotzigkeit, Neigung zu Wutausbrüchen, sadistische Impulse, Ärger, Hass, Rachsucht. Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Hecke und Strauch, fragt er sich. Der anale Charakter ist der Charakter des Geizes und des Mitläufertums. Er kennt so Leute. Er beißt sich auf die Unterlippe. Der Erich, denkt er sich. Madonna singt in Frozen fix über einen analen Charakter, denkt er sich. Jeder kennt einen analen Charakter, also auch Madonna. Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Obst und Gemüse?, fragt er sich. Leute mit Thujen im Garten haben wahrscheinlich Familienmitglieder in ihrem Keller eingesperrt, denkt er sich. Er nimmt sein Moleskine-Notizbuch aus der Tasche und schreibt: „Das Kleinbürgertum hält uns in seinem Fritzlkeller.“

Er schreibt sich auf: „Alles, was nicht in den engen Rahmen seines sauber eingezäunten geistigen Vorgartens passt, wird abgewehrt, wird mit einem Ekelreflex belegt wie mit einem Fluch.“ Das steht da. Er geht an so einem Thujengarten vorbei. Die müssen auch genau und gerade geschnitten werden. Das passt zum analen Menschen. Gerade geschnittene Thujen. In Kleinparzellen geschnitten. Wie kariertes Schulpapier im Schulheft parzelliert. Mit der gleichen Akribie, wie manche in der Volksschule schon nicht bei Schreibaufgaben über die hellblauen Kästchentrennungen hinausschreiben wollten oder vielmehr nicht drüber hinausschreiben KONNTEN. Mit genau der gleichen Genauigkeit trimmen die jetzt ihre Thujen.

Diese Hecken sind aber nicht nur hässlich, sie erfüllen auch, abgesehen vom Sichtschutz, einen Zweck, das weiß Loth jedoch nicht. Zweckhaftigkeit überzeugt ihn normalerweise, das ist bei ihm noch ein Nachhall von seiner Adolf-Loos-Lektüre, besonders dem dauernd missverstandenen Ornament und Verbrechen. Natürlich, eine Hecke zum Beispiel kann auch einfach Zierde sein. Zierde ist in gewissem Sinne auch ein Zweck. Die Thuje wächst schnell und dicht. Vielleicht hat sie deswegen ihren Siegeszug durch die Vorgärten angetreten. Was er nicht weiß, ist, dass die Thuje früher Medizin war, und zwar für Abtreibung. Und heute schmieren sich zum Beispiel verzweifelte Freier Thujenöl auf den Beidl, wenn sie sich Genitalwarzen eingefangen haben. Das hätte Adolf Loos wahrscheinlich auch interessiert, obwohl er sich wohl nicht um seine eignen mit hoher Wahrscheinlichkeit vorhandenen Genitalwarzen geschert hat, er hat sie nämlich eh nur an die kleinen Mädchen aus der Unterschicht weitergegeben, die er zeitlebens vergewaltigt und missbraucht hat. Aber hätte er Thujen auch schön gefunden für seinen Garten in ihrer ultimativen Zweckmäßigkeit als funktionaler Sichtschutz und freundlicher Grenzsteinsarkophag? Über Loos’ Privatleben weiß Loth allerdings nichts. Und wenn doch, würde Loth darüber sagen: Sein Kindesmissbrauch schmälert nicht sein architektonisches Genie!

Die Nachbarn trimmen ihre Thujen, je nachdem, ob sie ihre Nachbarn ärgern wollen oder nicht, zu den jeweilig relevanten Tageszeiten und mit dem jeweilig passend lauten Elektrogerät. An guten Tagen mit der Heckenschere, nur an den guten Tagen. Dabei meditieren sie über das Schneiden. Diese Achtsamkeit macht es ihnen dabei ganz flauschig um die Ohren, die Stille kann man an solchen Tagen mehr genießen als den Ärger der Nachbarn. Thujentrimmer regen sich gerne über laute Musik der Nachbarn oder generell über Freude auf. Thujentrimmer haben eher fixe Arbeitszeiten, und sie hassen diese Arbeit auch aufrichtig. Meistens sind sie müde, wenn sie heimkommen, und wollen dann eher leichte Literatur lesen oder fernsehen. Die Thujentrimmer werden außerordentlich aggressiv, wenn man ihnen ihre Erholung wegnimmt. Sie verstehen einfach nicht, dass sie ja auch einfach beim Pflichterfüllen nicht mitspielen könnten, dass sie einfach auch das freudige Durcheinander einer Nachbarschaft genießen könnten. Heiterkeit ist wie ein Spielraum voller Möglichkeiten. Seufzen ist der Stuhlgang der Seele. Dann macht Loth sich in seinem Kopf wieder lustig über seinen eigenen Zynismus. Über seine Weltfremdheit, die ihn immer wieder überrascht und belustigt. Sprichwörter halt. Jedenfalls geht er so vorbei an den Thujenrechtecken. Alle einander recht ähnlich beinhalten sie aber jeweils unterschiedliche Skulpturen oder Pflanzenvariationen. Für jeden Geschmack was dabei. So individuell und dabei doch so gleich. Loth findet das rührend. So wie man ein eingesperrtes Meerschweinchen, das glücklich in seinem Käfig ist, rührend findet. Loth selber ist eher so der Typ: Urwald-Naturgarten mit schönen Wildblumen oder aber auch: ästhetischer 50er-Jahre-Harry-Glück-Bau mit wegbereitenden Terrassenkonstruktionen.

Am äußeren Rand der Siedlung liegt ein helles Haus mit einem penibel genau gravierten Türschild mit einer Auflistung aller Hausbewohner:

Vera

Schnappi

Direkt daneben müsste das Haus sein, in dem Nora wohnt, mit einem relativ großen Garten und einem fast fertig gestellten, blickdichten, mauerartigen Holzzaun drumherum. Loth klingelt an der Tür ohne Türschild.

Drinnen geht Nora vorbei an den frischen Schnittrosen in einer Vase, die im Blumengeschäft als „Glasskulptur“ verkauft wurde. Einfache Rosen, in orange-gelb-rot. Es sind im besten Sinne Tankstellenrosen, aber von der Geheimtipp-Rosentankstellle, von der man weiß, es gibt dort eben besonders schöne Blumen. Schon alleine vom Preis-Leistungs-Verhältnis her. Schön gerade sind die Familienfotos am Gang aufgehängt, das soll beweisen, dass es vor ihnen auch schon die Familie gegeben hat. Nora geht daran vorbei und fährt mit den Fingern über einen der oberen Bilderrahmenränder. Ihre Finger sind voll mit Staub, womit sie nicht wirklich gerechnet hat. Sie kann sich nicht erinnern, dass sie in diesem Haus schon jemals zuvor Staub gesehen hat. Weil sie verschwitzte Hände hat, reibt sie ihre Hände aneinander und erzeugt so kleine Staubnudeln, die wie die gekauften Tiefkühlmohnnudeln ausschauen. Die Mohnnudeln ihrer Kindheit waren übrigens nicht diese dicken, köstlichen, spitz zulaufenden Walzen, sondern ganz normale Fusilli (das sind die Spiralnudeln). Sie wischt sich die kleinen Staubnudeln an ihrer Hose ab, geht aufs Klo, nimmt eine Rolle Klopapier und lässt beim Waschbecken so ein bisschen Wasser drüber laufen. Sie wollte damit ein Feuchttuchimitat kreieren. Praktisch ist das aber nicht, weil sie nichts mehr runterreißen kann, sondern sich mit der Rolle als Ganzes abwischen muss. Sie fühlt sich kurz psychisch krank, weil sie so impulsiv dumme Ideen hat. Tröstet sich aber dann mit dem Gedanken, dass Mr. Bean mit genau solchen Dingen ein berühmter Mann geworden ist. Es klingelt nochmals an der Tür. Sie wischt sich ihre Hände wieder an ihrer Hose trocken und schmeißt die tröpfelnde Klopapierrolle in eine Ecke, mit dem Plan, den Hund der Nachbarin dafür verantwortlich zu machen. Der Hund ist ein super Sündenbock, weil ihr Vater Rupert ihn eh hasst. Noras Vater hasst den Hund, weil der immer wieder durch den Bunkergartenzaun kriecht, und seine Besitzerin, die Nachbarin Vera, weil die ihn offensichtlich nicht mit gebührender Strenge für sein Vergehen bestraft. Es ist nicht klar, ob er den Hund wegen der Nachbarin hasst oder die Nachbarin wegen dem Hund.

Im Haus riecht alles ein bisschen nach Lack und Kloduft, vor allem außerhalb des Klos. Die Mutter trampelt vorbei, sie riecht nach Zigaretten – für Nora der wirklich erfrischende Geruch im Haus. Dann geht die Badezimmertür zu, und man hört sie gurgeln, weil sie absurderweise denkt, dass es Rupert ist, der an der Tür geläutet hat. Er hasst es, wenn seine Frau Zigaretten raucht. Und niemand im Haus will, dass er schlechte Laune hat. Nora geht schnell auf die Terrasse raus, damit sie sich etwaigen Stress erspart, und schaut auf ihre abgekauten Fingernägel, dann auf den Rasen. Der Papa fährt da jeden zweiten Tag mit dem Rasenmäher drüber. Damit die Halme so kurz wie möglich sind. Die Mama kommt danach mit der Schere und trimmt alle Ecken und Kanten. Wenn man sie so abschneidet und sie im vollen Saft sind und die Heckenschere ein bisschen stumpf ist, muss man ziemlich viel herumreißen dabei. Nora hört, wie ihre Mutter sie von innen ruft, aber sie steht, Gott sei dank, weit genug entfernt, um das ignorieren zu können.

Besuch

Neben der Haustüre sind zwei dieser Thujenspiralen in einem weißen Topf, der mit seinen breiten, länglichen Rillen wohl so etwas Griechisch-Antikes suggerieren soll. Wie ein Tempeleingang. Loth läutet nochmal. Die Glocke klingt wie irgendetwas Normales.

Eine ältere Person, von der Loth denkt, es ist Noras Mutter, schaut ihn müde an. Nur Leute, die sie nicht gut kennen, würden ihren Blick als müde bezeichnen. Sie ist vielmehr vom Charakter her müde. Letschert wie eine zu viel gegossene Topfpflanze. Er fragt nach Nora. „Die Nora ist im Garten, komm mit.“ Und er geht durchs Haus und durch die Küche und durch die höchstwahrscheinlich arschteure, geräuscharm öffnende und schließende Terrassenschiebetür. Nora ist es unendlich peinlich, dass sie Herrenbesuch bekommt. Obwohl sie natürlich weiß, dass dies kein Herrenbesuch ist, sondern Loth wahrscheinlich nur den Schlüssel fürs Gasthaus braucht wegen dem Saisonbeginn. Aber Nora weiß, dass sie trotzdem bald allerhand enorm peinliche Fragen wird beantworten müssen. Indiskrete Fragen. Zumindest bis Rupert nach Hause kommt und sie zum Stillsein ermahnt.

Loth geht durchs Haus Richtung Garten wie durch eine Ausstellung. Er ist begeistert von den alten Dekogegenständen. Zum Beispiel diese lange, dünne Vase aus den 1990er Jahren. In die nur eine Blume passt. Er fragt sich, wie diese Vase in dieses Haus gekommen ist. Ein Geschenk? Oder ein bewusster Kauf? Hat jemand wirklich diese Vase gesehen und sich gedacht, das ist die Vase, die ich für mein Haus brauche, sie macht mein Wohnzimmer sicherlich schöner? Loth selbst hat noch nie einen Dekorationsgegenstand gekauft. Diese Vase ist so banal und hässlich, aber in diesem Kontext hier wurde sie AKTIV von jemandem kuratiert. Neben den Ratgeberbüchern. Und Sammelgegenständen.

Wie erwartet braucht Loth den Schlüssel. Sie holt ihn und gibt ihm zu verstehen, dass sie dringend den Zaun streichen muss, bevor ihr Vater nach Hause kommt, und sie ihn daher jetzt zur Tür begleiten wird. Sonst gibt es ein Problem. Loth versteht und sagt, vielleicht sehen sie sich ja bald im Gasthaus. Äußerlich ist er schockiert von der Angst, die Nora scheinbar vor ihrem Vater hat, aber innerlich ist er davon gerührt. Es gefällt ihm irgendwie, er würde es nicht wirklich als Mitleid bezeichnen, aber es ist schon etwas ähnliches. Er fühlt sich wie ein großzügiger Wohltäter und mutig, weil er sich um so etwas Normcore-mäßiges wie Nora sorgt.

Nora denkt sich, wenn man täglich von diesem Ramsch umgeben ist, vergisst man ganz, dass er da ist. Wenn Loth ihn anschaut, wird er nicht nur lebendig, sondern sie fühlt sich wie ein Konstrukt aus diesem Ramsch, weil sie ja hier lebt. Und sie fühlt sich dann neben dem Ramsch so richtig tot. Die Gegenstände sind laut und verräterisch. Die peinlichsten Utensilien hat sie noch verstecken können, aber sie realisiert gerade schmerzlich, wie schrecklich alles hier ist eigentlich. Loth hat sie durch seine Anwesenheit dafür sensibilisiert, was für ein ramschiges Leben sie hat. Die schlimmsten Ramschsachen sind die, die so unmotiviert und unauffällig herumstehen. Das sind auch die, die bei den Liebesg’schichten und Heiratssachen immer gefilmt wurden.

Als ob Loth ihr beim Denken zugehört hat, er so: Ich habe mich schon immer gefragt, warum die Leute bei Liebesg’schichten und Heiratssachen ihre Sachen nie wegräumen. Ihre Feenstatuen. Ihre staubigen Stofftiere vom vorvorletzten Liebhaber. Eines, das sie nach dem ersten Streit bekommen hat, ein Herzerl, wo „Schatzi“ draufsteht. Das sind alles Dinge, die die Leute bei sich herumstehen haben, aber nicht deppert finden. Dann fragt man sich schon, werden diese Gegenstände so abgefilmt, um die Leute lächerlich zu machen, oder ist das vielleicht sogar wirklich wichtig, um irgendeinen Partner zu finden? Ich meine, zwei Leute, denen genau der gleiche Ramsch vollkommen in Ordnung vorkommt. Das muss passen.

Nora schaut auf den Boden. Und er dreht sich um.

„Nora, du passt da gar nicht her.“

„Ich weiß eh, aber ich komm nicht raus.“ Sie sagt nicht, dass sie glaubt, dass alles an diesem Haus sie genau definiert oder zumindest für immer an ihr picken bleiben wird wie Klopapier an den Fingern, wenn man es zum Händeabtrocknen verwendet. Sie kann so tun, als ob das nicht so wäre, und die Leute würden ihr das vielleicht auch glauben. Aber in Wirklichkeit ist es genau das, was sie glaubt, wie sie ist. Es wurde ihr sozusagen eingeprügelt.

„Aber du musst da raus“, sagt der Loth. Und die Nora schaut auf den Boden. Es stimmt eh, denkt sie sich. Sie kann halt Loth keine Alternative bieten. Keine Freunde, kein gemütliches Nest, keine immerwährende Schönheit, keine Sicherheit, keinen guten Geschmack, keinen Status und auch keine Stabilität.

Nora sperrt hinter ihm zweimal die Haustür zu und träumt dann den ganzen Tag von ihm.

Heimkehr

Zweimal dreht Rupert den Schlüssel in der Haustür wieder zurück um.

Rupert findet Nora im Garten, packt die Hand seiner Tochter und reißt sie in ihr Sichtfeld. Verschwörerisch schaut er sie an: „Das ist die Hand, die das Erbgut von hunderten Generationen repräsentiert, und du nagst einfach dran herum. Außerdem müssen wir den Zaun streichen, und ich will nicht, dass der Zaun Blutflecken von dir bekommt. Dabei ist das Streichen wichtig“, sagt er ihr, immer noch die Hand haltend: Ohne ausreichenden Schutz würde der Zaun nach und nach verrotten. Auch wer sein Holz für den Zaun neu aus dem Baumarkt kaufe, komme um einen Anstrich nicht herum. Das dort verfügbare Holz sei in der Regel kesseldruckimprägniert und verfüge so über einen Basisschutz. Für eine Farbgebung oder erweiterten Holzschutz seien dann aber dennoch weitere Maßnahmen nötig. Sie weiß, er hat recht. Die Nora hatte den Zaun einmal nicht gründlich abgeschliffen, und dann ist der ganze Lack abgeblättert. All die Arbeit umsonst. Sie kennt sich also schon sehr gut aus mit Mikrosprengungen im Zaun. Gerne hätte sie mal eine Makrosprengung im Zaun verursacht, aber das traut sie sich kaum zu denken.

Sie hofft, dass Rupert bemerkt, dass die Mama eine Zigarette geraucht hat, um von ihrem Versagen am Zaun abzulenken. Und immerhin, Schnappi, der Nachbarshund, der nur noch ca. eine Stunde zu leben hat, ist wieder irgendwie in den Garten eingedrungen und hat seinen zukünftigen Mörder mit herzzerreißender Unterwürfigkeit begrüßt.

Rupert macht der hundeförmige Einbrecher wahnsinnig. Sein Zaun, einer der intaktesten der Nachbarschaft, weist offenbar irgendwo immer noch eine undichte Stelle auf. Rupert braucht aber den besten Zaun weit und breit. In dem es keinen kleinen Riss im Lack gibt und keine Pollenkugeln, über die man einfach drüberstreicht mit dem Ergebnis, dass man einen genoppten Zaun hat. Niemand braucht einen genoppten Zaun. Rupert hatte mal ein paar genoppte Zaunlatten, weil Nora die Pollen nicht vom Zaun gewischt hat, bevor sie mit der Farbe drüber gegangen ist.

Ordnen und instand halten. Erst wenn alles an seinem Platz ist, herrscht Harmonie. Auch IM Haus ist das wichtig. Auch dort, wo man es nicht sieht. Ein Haus ist wie ein Mikrokosmos, den man der Natur zum Trotz irgendwo hinstellt, wo er eigentlich nicht sein soll. Unsere Zivilisation kann nur dann funktionieren, wenn wir da, wo wir die Häuser hineinstellen, die Natur nachahmen. Nach den ewigen Gesetzen. Draußen machen das die Natur und das Unendliche und alles, was es verkörpert in seiner perfekten Harmonie, und drinnen ich. Wenn etwas richtig läuft, dann läuft es ohne große Reibungen, produktiv und fruchtbar. Nach den immerwährenden Gesetzen, denen sich auch das Haus unterwirft. Und diesen Gesetzen sollten sich selbstverständlich auch Hunde unterwerfen!

Er verlangt nicht viel, aber die Ordnung aufrechtzuerhalten, das ist eine Frage des Respektes. Auch vor sich selbst. Und Respekt kann man nicht einfordern müssen, weil dann ist er nicht echt. Die anderen können nicht immer nur nehmen, nehmen, nehmen. Und er gibt und gibt und gibt. Gewisse Dinge sollten einfach selbstverständlich sein. Der Anstand in den anderen drinnen sollte zum Beispiel selbstverständlich bewirken, dass man sein Haustier nicht unkontrolliert seine Nachbarn belästigen lässt, weil man es verwöhnen muss, weil man z.B. eine kinderlose, gescheiterte Frau ist, denkt sich Rupert.