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Baden-Württemberg im Jahr 2031. Fabian ist Fachredakteur, er arbeitet an einer Reportage über Super-Fracking, einer Fördertechnik, mit deren Hilfe in weiten Teilen des Landes Öl- und Gasquellen ausgebeutet werden. Wegen Stimmüberlastung ist er in Behandlung bei Frau Schneider, einer jungen Stimmtherapeutin. Mit Gedichten und einem geheimnisvollen, kreativen Spiel bringt die ungewöhnliche Frau seine verloren gegangene Inspiration zurück und öffnet ihm den Blick dafür, was im Leben wichtig ist und was nicht. Unterdessen bricht eine Katastrophe über den Südwesten Deutschlands herein und Fabian gerät in Gefahr. Ein Buch über phantasievolle Stunden und Freundschaft, angereichert mit einigen Krimi-Genen.
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Seitenzahl: 244
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Mathieu Lichtkron
Asche und Stimme Mathieu Lichtkron
Copyright: © 2017 Mathieu Lichtkron
Ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Cover: sabine abels unter Verwendung eines Aquarells von Marie Lichtkron
Konvertierung: sabine abels | www.e-book-erstellung.de
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Für Sarah, die das Grau des Alltags mit Poesie und ihrer schönen Stimme vertreiben konnte.
Zeitmangel, Stress und allerlei Alltagspflichten sind Gift für Muse und Inspiration. Muse und Inspiration können dadurch zurückgedrängt werden. Solche Entwicklungen sind jedoch nicht unumkehrbar. Manchmal ereignen sich bizarre Zufälle, die dann wieder alles verändern. Das vorliegende Buch handelt von einer solchen Geschichte. Zunächst wurde aus rein privaten Gründen geschrieben, um schöne Erlebnisse vor der verblassenden Erinnerung zu bewahren. Meist wurde bei Nacht geschrieben, es begann Freude zu machen, aus Notizen wurde nach und nach ein Buch. Die Geschichte spielt in der Zukunft und ist mit erfundenen Geschehnissen verflochten. Das Buch enthält Links zu Gedichten und Musikvideos, die im Internet für jedermann zugänglich sind, allerdings kann nicht garantiert werden, dass diese Links dauerhaft und problemlos abrufbar sind. Die Werbung, die den Videos manchmal vorangeht, kann meist nach wenigen Sekunden übersprungen werden.
Dr. Fabian Marz atmete tief durch, endlich hatte er Urlaub. Der Stuttgarter Talkessel lag hinter ihm, zügig ging es voran, nur wenige Fahrzeuge waren am späten Vormittag auf der B 27 unterwegs. Seine Gedanken kreisten, waren noch bei der Arbeit, erst vor wenigen Minuten hatte er das Büro verlassen. Langsam drückte er das Gaspedal nach unten, mit zunehmender Geschwindigkeit schien sich die Anspannung der vergangenen Wochen allmählich zu lösen. Er fuhr gerne selbst, den Autopilot benutzte er nur selten. Zügig ging die Fahrt nach Süden, am Horizont tauchten bläulich schimmernd die Berge der Schwäbischen Alb auf. Neben ihm saß seine Frau Conny, hinten dösten Sophia und Niklas in ihren Kindersitzen. Die Gedanken schweiften zurück in die Vergangenheit. Fünf Jahre war es nun her, dass er seine Anstellung als Geologe bei einem internationalen Öl- und Bergbaukonzern aufgegeben hatte, weil er Mitte 40 endlich sesshaft werden wollte und der monatelangen Arbeitsaufenthalte in Wüsten, Regenwäldern und arktischer Kälte überdrüssig geworden war. Die ersehnte Sesshaftigkeit im Häuschen am Stadtrand und ein geregeltes Familienleben waren nun der Preis für eine Arbeit, die aus endlosen Bürotagen und ständigem Zeitdruck zu bestehen schien. Er fühlte sich ausgelaugt, die zurückliegenden Monate waren anstrengend gewesen. Fabian hatte sich schon seit längerem eingestanden, dass er sich die Arbeit in der Wissenschaftsredaktion eines Stuttgarter Verlags einfacher vorgestellt hatte. Sein Einkommen war jedoch auskömmlich, das Haus musste abbezahlt werden, der weitere Lebensweg war also vorgezeichnet. Kurz vor Tübingen dachte er an seine frühere Arbeit, die ihn unter anderem auch nach Brasilien geführt hatte. Wehmütige Erinnerungen stellten sich ein. Technische Defekte an Bohrtürmen hatten damals gelegentlich für angenehme Arbeitsunterbrechungen gesorgt und ihm unverhofft freie Zeit beschert. Zeit zu lesen, Musik zu hören oder schriftstellerischen Neigungen nachzugehen, die er seit seiner Schulzeit immer wieder in sich gespürt hatte. Gerne hatte er Erlebtes in Form von Reimen und Kurzgeschichten verarbeitet und in Notizbüchern niedergeschrieben. Ausgerechnet die Arbeit in einem Verlag ließ ihm dazu keine Zeit mehr. Zeit war in seinem Leben ein knappes Gut geworden. Hörbar stieß er die Luft zwischen den Lippen hervor. Conny blickte fragend von ihrem Smartphone auf, er sagte nichts. Nun war Urlaub, er versuchte abzuschalten. Die Reise ging über Tübingen und Balingen auf die Schwäbische Alb, in ein Feriendorf am Rande der Ortschaft Tieringen. Vierzehn Tage heile Welt in einer wunderschönen Landschaft, er freute sich. Ein Schwimmbad gab es dort, schöne Wanderungen und Ausflüge in die Umgebung lockten. Für die Kinder gab es Ponyreiten, Streicheltiere, Spielplätze und Jungscharaktivitäten. Die Familie reiste bereits den vierten Sommer nach Tieringen, das Ferienhäuschen war ihnen bekannt. Ein wenig war ihm, als wäre er nach langer Abwesenheit auf dem Rückweg in die Heimat.
Sie fuhren jetzt durch das Neckartal. Vor ihnen tauchte Tübingen mit dem Österberg auf. Hier hatte er sein Geologiestudium begonnen und Conny kennen gelernt, es waren glückliche Jahre gewesen. Das Studium war ihm nicht nur Ausbildung, sondern auch eine wunderbare, unbeschwerte Lebensform gewesen. Damals war es möglich gewesen, sich selbst und Neues auszuprobieren, Fehler zu machen und daraus zu lernen. Bachelor- und Masterstudiengänge hatten viele dieser Freiheiten mittlerweile eingeschränkt. Es schien ihm, als verenge sich das Leben immer mehr, als werde jeder Lebensbereich von Nützlichkeitskriterien und Effizienzsteigerung bestimmt. Wo lagen die Grenzen dieser Entwicklung, wo und wann würde es nicht mehr so weitergehen? Würden seine Kinder im Erwachsenenalter noch ein gelingendes, erfülltes Leben führen können? Er fand keine Antworten auf diese Fragen, fühlte, dass sich sein Nacken verspannte. „Lass uns in Tübingen zum Neckarmüller fahren und etwas essen“, schlug er Conny vor. Seine Frau war begeistert und suchte mit ihrem Smartphone die Speisekarte des Gasthauses. Der Neckarmüller ist ein Brauereigasthaus mit großem Biergarten in der Tübinger Innenstadt direkt am Ufer des Neckars. Viele unvergesslich fröhliche Abende hatte er hier unter alten Kastanienbäumen zusammen mit seinen Kommilitonen verbracht.
„Unsere Tagesgerichte sind heute Schweizer Wurstsalat mit Bauernbrot aus dem Holzofen oder Salatteller mit Putenstreifen, angebraten in Sesam. Dazu empfehlen wir ein frisches Pils vom Fass“, las Conny vor.
Es war herrlich im Biergarten. Beide Kinder freuten sich an Pommes Frites und Hamburgern. Conny und Fabian hatten Flammkuchen bestellt, weil der Salatteller mit den Putenstreifen von der Tageskarte gestrichen worden war. Fabian empfand eine gewisse Genugtuung darüber. Auch die digitale Welt, die das Leben der Menschen weitgehend durchdringen und optimieren wollte, zeigte immer wieder Schwächen. Der Betriebsausflug einer Metzgerei und die kurzfristig ausgefallene Fleischlieferung hatten den Küchenchef kurzfristig genötigt, die Speisekarte umzustellen. Erinnerungen an wunderbar analoge Zeiten kamen in ihm hoch, in denen der Gastwirt sein Tagesgericht mit Kreide auf eine Schiefertafel geschrieben hatte, die neben der Eingangstür zum Restaurant hing.
Weiter ging die Fahrt Richtung Südwesten, Conny saß am Steuer. Conny, Anfang vierzig, war Hebamme. Sie hatte rotbraune Locken, grüne Augen und eine attraktive weibliche Figur. In ihrer Freizeit traf sie sich ab und zu mit Freundinnen zum Bauchtanz oder um entspannt Zigarre zu rauchen. Sie war eine humorvolle Frau, ihr heiteres Wesen tat Fabian gut, da er selbst gelegentlich zu Grübeleien neigte. Ein Witz oder eine Grimasse von ihr konnten ausreichen, um ihn wieder auf andere Gedanken zu bringen. Fabian genoss es, von ihr chauffiert zu werden, sie war eine gute Autofahrerin und überhaupt eine patente Frau.
Er blickte auf die vorbeiziehende Landschaft und den nicht enden wollenden Wald aus Bohrtürmen. Wie an vielen anderen Orten im Land wurde auch hier Fracking betrieben. Die jahrelangen Kriege im Nahen Osten, Russland und den U.S.A. hatten Mitte der 2020er Jahre die weltweite Ölförderung zum Erliegen gebracht. Deutschland war darauf angewiesen, den Energiebedarf durch Selbstversorgung zu decken. Beim Fracking werden öl- und gashaltige Gesteinsschichten angebohrt. Ein Gemisch aus Wasser, Sand und Chemikalien wird unter hohem Druck in die Bohrlöcher gepresst. Im Untergrund bilden sich dadurch weit verzweigte Risse. Öl und Gas, die im Gestein eingeschlossen sind, lösen sich mit Hilfe der Chemikalien und werden anschließend durch die Bohrlöcher an die Erdoberfläche gepumpt. Der Sand in der Frackingflüssigkeit verhindert, dass sich die Risse im Gestein wieder schließen. In weiten Teilen Baden-Württembergs befinden sich öl- und gashaltige Gesteinsschichten im Untergrund, die nun mit dieser Methode ausgebeutet wurden. Tausende Frackingbohrungen durchlöcherten den Untergrund wie einen Schweizer Käse. Fabian dachte wieder an seine Zeit in Brasilien. Damals steckte Fracking noch in den Kinderschuhen, aber innerhalb weniger Jahre hatten sich die technischen Möglichkeiten revolutionär verändert. Heute wurde keine Anstrengung gescheut, um die letzten Energiereserven auszubeuten. Wie Junkies waren die Menschen in den Industrienationen mehr als jemals zuvor abhängig von Öl und Gas. Er selbst war Verbraucher dieser Ressourcen und damit Teil dieses Systems. Die Möglichkeiten, sich davon unabhängig zu machen waren beschränkt und noch immer viel zu teuer. Bei der Stadt Balingen erreichten sie den Fuß der Schwäbischen Alb. Die Passstraße wand sich in engen Serpentinen bergauf. Conny spürte, dass Fabian grübelte und stellte das Autoradio an. “Route 66” in einer Coverversion von Depeche Mode wurde gespielt.
https://www.youtube.com/watch?v=uVE2oDSAOPo
Sie stellte das Radio laut und sang mit: “Well it winds from Chicago to L.A. more than two thousand miles all the way get your kicks on Route 66.“ Sportlich steuerte sie die Passstraße hinauf. Fabian schloss die Augen und träumte sich aus Raum, Zeit und Problemen. Er atmete ruhig, der Rhythmus der Musik und die Bewegungen des Fahrzeugs harmonierten perfekt, befreiten ihn von seinen Gedanken. Die Passhöhe war erreicht. Alles, was ihn belastet hatte, schien auf der Passstraße liegen geblieben zu sein. Conny nahm den Fuß vom Gas. Fabian öffnete die Augen, er fühlte sich leicht und wunderbar.
Wenige Minuten später waren sie am Ziel, vor dem roten Ferienhäuschen stieg die Familie aus dem Wagen. Überall duftete es nach Wald, Wiese und Freiheit. Die Tage im Feriendorf waren heiter und erholsam. Wanderungen, Hallenbadbesuche, Lagerfeuerromantik und nette Kontakte zu anderen Familien wechselten einander ab. Abstand vom Alltag und Linderung körperlicher Beschwerden stellten sich ein. Schon seit längerem hatte Fabian Probleme mit seiner Stimme. Endlose Telefonate und Besprechungen in der Redaktion hatten zu einer chronischen Überlastung des Stimmapparats geführt. Seine Stimme klang rau und brüchig, häufig verspürte er einen Reiz sich zu räuspern, gerade so als hätte er einen Fremdkörper in den Bronchien. Dr. Glückmann, sein langjähriger Hausarzt, hatte ihn zum Logopäden überwiesen, nach dem Urlaub würde er sich einen Therapeuten suchen und in Behandlung begeben.
„Heute ist um 19:30 Uhr Treffpunkt netter Menschen in der Cafeteria des Gemeinschaftshauses“, las Conny nach dem Mittagessen aus dem Tagesprogramm des Feriendorfs vor. Sie warfen eine Münze, das Los fiel auf Fabian. Er würde den Treffpunkt besuchen, Conny bei den Kindern im Ferienhäuschen bleiben.
Den ganzen Nachmittag freute sich Fabian auf ein geselliges Beisammensein. Seine beruflichen Verpflichtungen und die familiäre Situation gestatteten dem Ehepaar nur selten, abends auszugehen. Auf dem Weg zum Gemeinschaftshaus des Feriendorfs überlegte er sich, ob Bier oder eher Weißweinschorle die richtige Getränkewahl wäre. Herrlich waren Probleme, die so ein Urlaub mit sich brachte. Ernüchterung machte sich breit, als er die Cafeteria betrat. Die Barhocker an der Theke und fast alle Tische waren unbesetzt. An einem Tisch saßen drei Feriendorfgäste und lasen Zeitung.
„Ist das der Treffpunkt netter Menschen?“, fragte er etwas verunsichert in die Runde.
„Hmmh, ja – wir fangen gleich an“, antwortete eine der Zeitungsleserinnen, wobei sie kaum von ihrer Lektüre aufblickte.
„Na ja, ihr habt wirklich eine Bombenstimmung hier“, murmelte Fabian ironisch vor sich hin und überlegte im selben Moment, sich vom Treffpunkt netter Menschen diskret zurück zu ziehen.
„Ich heiße Johanna“, stellte sich eine der Zeitungsleserinnen vor und faltete das Journal, in dem sie gelesen hatte, zusammen. Sie mochte etwa Mitte vierzig sein, hatte ein freundliches Gesicht, kluge, blitzende Augen und dunkelblonde Haare, in die sich erste silberweiße Strähnen mischten.
Die anderen legten ihre Lektüre ebenfalls beiseite und stellten sich vor. Inga und Frank waren ihre Namen. Die drei waren Freunde, kamen aus Norddeutschland und verbrachten mit ihren Familien die Sommerferien auf der Schwäbischen Alb.
„Wir spielen TAC und würden uns freuen, wenn du mitspielst, uns fehlt der vierte Mann“, lud Johanna ihn zum Spiel ein.
„Was ist TAC?“, fragte Fabian.
Inga erklärte ihm das Spiel. TAC ist ein Brettspiel, das man als Mischung aus „Mensch ärgere Dich nicht“ und Kartenspiel bezeichnen könnte. Der Name TAC steht für das englische Wort „Tactic“. Ziel ist es, als erster die eigenen Spielkugeln in die Scheune zu bringen. Anstatt zu würfeln erfolgen die Spielzüge mit Hilfe von Spielkarten. Je zwei Spieler bilden ein Team. Die Teammitglieder dürfen Spielkarten miteinander tauschen und sie unterstützen sich im Spielablauf gegenseitig.
Fabian verspürte wenig Lust, ein neues Spiel zu lernen. Er hatte sich den Abend eher an der Bar bei anregenden Gesprächen vorgestellt, aber nun gab es kein Zurück, die „netten Menschen“ konnten nur spielen, wenn er mitmachte. Das Spiel begann, Johanna und Fabian bildete ein Team, er fand sich rasch in die Regeln ein, es war turbulent und bereitete ihm Freude. Sie bestellten sich Bier und Eis an der Bar, zwischendurch gaben die Spieler wechselseitig Gummibärchen-Runden und saures Brausepulver aus. Triumph und Tragödie jagten einander in rascher Folge. Fabian und Johanna verspürten sofort gegenseitige Sympathie, vermochten sich mit Blicken zu verständigen, obwohl sie sich noch nie zuvor begegnet waren. Mit den Worten „ich kann“ oder „ich kann nicht“, gab man bekannt, ob man eine Startkarte besaß, die die eigene Kugel dazu berechtigte, das Spielfeld zu betreten. Die Ansage erfolgte immer dann, wenn neue Spielkarten ausgegeben wurden. Neue Karten wurden ausgeteilt, Fabian vergaß mitzuteilen, ob er eine Startkarte gezogen hatte.
„Kannst du?“, fragte Johanna und lächelte ihn dabei freundlich an.
„Ähem, Johanna … findest du deine Frage nicht ein wenig indiskret?“, bemerkte Frank doppeldeutig.
Alle am Tisch johlten, weitere nette Menschen, die zwischenzeitlich den Raum füllten und an anderen Tischen spielten, wandten sich zu ihnen um. Die Spielgemeinschaft benahm sich ausgelassen wie Schüler auf einer Klassenfahrt mit heimlich eingepacktem Wodka, der nun seine volle Wirkung entfaltete. Erst lange nach Mitternacht war das Spiel zu Ende, die Runde blieb zusammen bis alle Süßigkeiten gegessen waren. Fabian kam es vor, als kenne er seine Mitspieler schon seit zwanzig Jahren.
Die Zeiten hatten sich geändert, häufig wechselten die Menschen ihre Arbeitsplätze und Wohnorte, Freundschaften und Kontaktpflege waren flüchtiger als zu seiner Jugendzeit. Zwischenmenschliche Beziehungen entstanden zu einem Gutteil in den sozialen Netzwerken des Internets und wurden dort auch gelebt. Ein persönliches Kennenlernen wie an diesem Abend war zu etwas Besonderem geworden.
Er hatte viele Bekannte und Kollegen, mit denen er sich gut verstand und eine Hand voll echter, langjähriger Freunde. Im Laufe der Jahre waren sie an entfernte Orte gezogen, hatten Familien gegründet und mit ihren eigenen Problemen zu tun. Man blieb in Kontakt, sah sich aber selten. Seine Freiheitsgrade waren im Laufe der Jahre weniger geworden. Selten ging er aus, familiäre und berufliche Verpflichtungen, überhaupt Zeitmangel, hatten die Möglichkeiten eingeschränkt, Kontakte zu pflegen und neue Freunde zu finden. Gelegentlich fühlte er sich einsam, ein Gefühl, das er früher nicht gekannt hatte.
Echte, tiefe Freundschaft und gemeinsam verbrachte Zeit mit Freunden waren ihm kostbar geworden. Es waren Glücksmomente, wenn sich fremde Menschen trotz der digitalen Durchdringung des Lebens an einem Tisch wie diesem trafen, einander näherkamen und zusammen fröhlich und glücklich sein konnten. War es möglich, dass die Menschen mehr und mehr die Fähigkeit zu solchen Begegnungen verloren? Ihm war es, als hätte ihn die Spielrunde auf einen Schlag von allem Schweren, aus aller latent empfundenen Isolation der vergangenen Jahre befreit. Lange war es her, dass er solch glückliche Leichtigkeit verspürt hatte.
Die Nacht war mondlos, das Gelände unbeleuchtet. Er hatte Mühe, den Rückweg ins Ferienhäuschen zu finden. Ab und zu blieb er stehen und betrachtete den lebhaft funkelnden Sternenhimmel. Abseits des Streulichts der Städte waren der Große Wagen, der Polarstern und das Band der Milchstraße in seltener Klarheit zu erkennen. Schon häufig hatte er in mondlosen Nächten den Sternenhimmel betrachtet, aber irgendetwas schien heute anders zu sein, eine merkwürdige Unruhe ging vom Himmel aus. Es dauerte einige Zeit, bis Fabian wahrnahm, dass die Unruhe nicht vom Himmel ausging, sondern von einem Geräusch. Ein sehr tiefer, bedrohlicher Brummton lag in der Luft. Der Ton erinnerte an das Brummen eines Transformators, nur war er tiefer und weniger gleichmäßig. Das Geräusch war nicht laut, aber deutlich wahrnehmbar und schien von etwas sehr Großem auszugehen. Voluminös und unheimlich zugleich war dieser Ton. Fabian konnte nicht feststellen, aus welcher Richtung das Brummen kam. Das Geräusch umhüllte ihn, kam von überall her. Lag es am Alkohol, den er getrunken hatte oder waren es gar die Vorboten eines Hörsturzes? Er fröstelte und tastete sich zurück ins Ferienhäuschen. Conny war im Wohnzimmer auf dem Sofa über einem Buch eingeschlafen, ihre gekrümmte Körperhaltung ließ Rückenschmerzen am nächsten Morgen befürchten, Fabian entschloss sich, seine Frau zu wecken. Conny gähnte, sie öffnete die Verandatür, um das Zimmer zu lüften. Gemeinsam traten sie auf den Balkon und betrachteten den sternenklaren Nachthimmel. Der Brummton war noch immer deutlich hörbar.
„Hörst du das auch?“, fragte Fabian. Conny hörte das Brummen ebenfalls, fand es unheimlich. Noch im Bett lauschten beide dem ominösen Ton, bis der Schlaf sie überkam. Am Morgen war das Geräusch verschwunden. Nach dem Frühstück suchte Conny mit ihrem Smartphone im Internet nach Informationen. „Tieffrequenter Brummton im Südwesten scheint lauter zu werden und wird von immer mehr Menschen gehört“, las sie aus einem wenige Tage alten Artikel der Stuttgarter Zeitung vor. Die Zeitung berichtete, dass seit einigen Jahren eine zunehmende Zahl von Menschen vor allem bei Nacht einen deutlichen Brummton hörte, der sie um ihren Schlaf brachte. Menschen, die die Fähigkeit besaßen, sehr tiefe Töne zu hören, mussten unter dem Geräusch besonders leiden. Bewohner der Region Stuttgart, einige Gebiete des Schwarzwaldes und die Schwäbische Alb waren durch das nächtliche Brummen besonders häufig beeinträchtigt. Messungen von Umweltbehörden hatten ergeben, dass es den tiefen Brummton tatsächlich gab, auch tagsüber, nur wurde er dann meist durch andere Geräuschen überdeckt. Der Brummton war in den vergangenen Monaten merklich lauter geworden, immer mehr Menschen hörten ihn und wandten sich hilfesuchend an die Behörden. Im Internet hatten sich mehrere Selbsthilfegruppen organisiert, um den Ursachen nachzugehen. Ergebnislos hatten die Behörden Kraftwerke, Fabriken, Gasleitungen, den Stuttgarter Flughafen, Eisenbahnstrecken und den unterirdischen Bahnhof von Stuttgart 21 als mögliche Geräuschquellen untersucht.
„Man könnte meinen, dass die Erde Magenknurren hat, die Frage ist nur, wen sie fressen möchte“, amüsierte sich Conny. „Wir trinken heute vor dem Schlafengehen eine Flasche Merlot, das vertreibt den Brummton“, entschied sie, „und wenn das nicht hilft, werde ich mich mit Endlos-Meeresrauschen aus dem Kopfhörer in den Schlaf wiegen lassen.“
Conny ahnte nicht, dass ihre scherzhaften Äußerungen Realität werden sollten. In den kommenden Nächten zog der Brummton bedrohlich herauf, sobald die Tagesgeräusche im Feriendorf der nächtlichen Stille wichen.
Am Nachmittag stand eine geführte Wanderung zum Lochenstein auf dem Programm des Feriendorfs. Der Lochenstein ist ein markanter Berg am Rande der Schwäbischen Alb. An klaren Tagen kann man vom Gipfel bis in den Schwarzwald und zu den Schweizer Alpen sehen. Eine fröhliche Schar hatte sich am Treffpunkt versammelt. Die Wanderung begann hinter dem Feriendorf, sie führte die Gruppe zunächst über die Hochfläche der Schwäbischen Alb, dann entlang der steilen Traufkante, die das Mittelgebirge vom vorgelagerten Tiefland trennt. Wunderschön war es hier, den Wanderern boten sich phantastische Ausblicke. Wiesen mit seltenen Blumen, Wacholderbüsche und tanzende Schmetterlinge wechselten sich mit Wäldern ab, an deren Rändern windgepeitschte, knorrige Buchen wuchsen. Gesunde Buchen waren selten geworden, der Klimawandel hatte diese Baumart stark dezimiert. Es duftete intensiv nach Kleeblüten, Wald und Sommer, über der weiten Hochfläche flimmerte die Nachmittagshitze. Fabian ließ den Blick über das malerische Land schweifen. Weite und allgegenwärtige Reinheit waren wohltuend. Archaisch, unberührt und gesund schien die Gegend zu sein, ein Hauch von Ewigkeit umwehte alles. Nichts verstellte den Blick, es gab keine Häuser, Straßen, Stromleitungen und auch keine Bohrtürme. Fabian verringerte das Gehtempo und ließ die Wandergruppe an sich vorbeiziehen bis sie außer Hörweite war. Er lauschte den Geräuschen, die ihn umgaben. Wenn er stehen blieb, verstummte das Rascheln, das seine Schritte dem knöcheltiefen Gras entlockten. Nur noch das Summen unzähliger, emsiger Insekten war dann zu hören, sogar Bienen gab es noch hier. Kein menschengemachtes Geräusch drang zu ihm, kein Flugzeug zerschnitt den Himmel mit einem Kondensstreifen. Ein Gefühl stellte sich ein, als befände er sich auf einem fremden, unbevölkerten Kontinent inmitten eines großen Ozeans. Die starken Eindrücke inspirierten ihn, seine Seele suchte nach einer Möglichkeit, das Gesehene zu verarbeiten und mitzuteilen. Es blieb jedoch keine Zeit, um zu verweilen. Wollte er nicht den Anschluss an die Wandergruppe verlieren, musste er sich beeilen. Im Urlaub hatte man zwar frei, aber selbst in dieser Zeit war man nicht völlig frei.
Fabian kam mit einem Ehepaar mittleren Alters ins Gespräch. Iris und Manfred hatten beide katholische Theologie studiert, Manfred war Priester. Sie hatten geheiratet, nachdem der Papst den Zölibat abgeschafft hatte. Am Gipfel angekommen, machten beide mit ihren Smartphones Selfies und Panorama-Videos, die sie umgehend bei Facebook und YouTube posteten. „Oh, kaum gepostet und schon fünf Likes“, freute sich Manfred. Iris grollte, weil Manfred Likes von Damen erhalten hatte, die sie nicht kannte. Ihr blieb jedoch keine Zeit sich daran aufzuhalten, sie musste noch ein Foto vom Sonnenuntergang posten. Fabian stand etwas beiseite und ließ die Szenerie auf sich wirken. Die beiden lebten jeder für sich in ihren digitalen Welten, das reelle Leben lief nebenher. Viel zu sagen hatten sie sich offenbar nicht. Auch der schöne Sonnenuntergang vermochte nicht, ihnen ein gemeinsames Erlebnis zu stiften.
„Komm wir machen noch’n Foto, stell’n es irgendwo rein …“, hatte Sarah Conner vor vielen Jahren in einem Lied gesungen, dessen Titel Fabian vergessen hatte. Er summte die Melodie leise vor sich hin und dachte an eine Studie, die er vor einiger Zeit gelesen hatte. Viele Menschen hatten nie gelernt zu flirteten, weil Mobilgeräte ihre Aufmerksamkeit auch dann beanspruchten, wenn die Möglichkeit bestünde, Kontakt zu anderen zu knüpfen. Auf den Bahnsteigen und in öffentlichen Verkehrsmitteln, überall beschäftigten sich die Menschen mit ihren Geräten. Beziehungen begannen fast nur noch auf Online-Portalen. Die Algorithmen von Rechenzentren hatten die Fähigkeit zur persönlichen Kontaktaufnahme und das natürlichen Verhalten der Menschen teilweise ersetzt. Wenn sich zwei Menschen durch elektronische Vermittlung dann tatsächlich fanden und ineinander verliebten, überschattete die digitale Fixierung ihre Beziehung häufig so stark, dass dies mittlerweile der wichtigste Trennungsgrund von Paaren war. Spezialkliniken für den Digital-Entzug von Smombies setzten seit Jahren Milliardenbeträge um und waren zum einem wichtigen Wirtschaftszweig geworden. Längst hatte die digitale Abhängigkeit Nikotin- und Alkoholsucht zu Randerscheinungen werden lassen.
„Wie wär’s, wenn ich mit einem eurer Smartphones ein Foto von euch beiden aufnehmen würde?“, fragte er das Ehepaar.
Iris und Manfred schauten ihn mit großen Augen an. Es schien Fabian, als willigten sie nur aus Höflichkeit ein, als fühlten sie sich durch die unerwartete Gemeinschaft auf einem Foto überfordert. In die gereizte Diskussion, ob und wo das Foto zu posten sei, mischte sich Fabian nicht mehr ein. Auf dem Rückweg zum Feriendorf begann es zu regnen. Weder Conny noch das Theologenehepaar hatten Internetverbindung, um das Wetterradar aufzurufen. „Dieser Dienst ist derzeit nicht verfügbar“, hieß es auf sämtlichen Displays. Durchnässt kamen sie in ihrem Ferienhäuschen an. Nachdem die Kinder Abendbrot gegessen hatten und in ihren Betten lagen, kochte Conny aus dem restlichen Merlot, Kirschsaft und von zuhause mitgebrachten Gewürzen einen Glühwein. Sie gab reichlich Muskatnusspulver, gemahlene Nelken und Zimt in das Gebräu. Schließlich schmeckte sie die Kreation mit einem großzügigen Schuss Cognac ab. Die Gewürze und der heiße Alkohol entfalteten eine komatöse Wirkung, der Brummton hatte keine Chance. Durchwärmt und angeheitert gingen sie zu Bett.
Am anderen Morgen regnete es noch immer. Der Mann vom Brötchenservice erzählte ihnen, dass am nahen Plettenberg ein in der Erde verlegtes Stromkabel gerissen und der dortige Fernmeldeturm deshalb ausgefallen war. Man habe den Schaden bereits lokalisiert, es dauere jedoch noch zwei Tage, bis die Reparatur abgeschlossen und Handyempfang in der Gegend wieder möglich wäre.
„War es ein Erdrutsch?“, fragte Fabian den Brötchenmann.
„Nein, an der Stelle, an der der Bagger das beschädigte Kabel gerade freilegt, ist das Gelände ganz eben. Keine Ahnung, wie so ein Kabel einfach abreißen kann“, erwiderte der Mann.
Das Theologenpaar kam am Ferienhäuschen vorbei.
„Auch kein Internet-Empfang?“, grüßte Manfred.
Fabian nickte, er ahnte, dass dem Paar ein harter Entzug und schwierige Tage bevorstanden.
Am Nachmittag ließ der Regen nach. Die Kinder quengelten und drängten aus dem Ferienhäuschen.
„Wir machen einen Ausflug auf die Burg Hohenzollern“, entschied Fabian.
Kaum eine halbe Autostunde war die Burg vom Feriendorf entfernt. Der Wagen verließ die Bundesstraße und fuhr geradewegs auf den gleichnamigen Berg zu, der dem Rand der Schwäbischen Alb markant vorgelagert ist. Hoch über ihnen thronte die stattliche Anlage. Düstere Regenwolken umspielten nass glänzende, schwarze Dächer und den Bergwald. Fabian buchte am Burgtor eine Familienführung. Die Erwachsenen mussten graue Filzpantoffel über die Straßenschuhe stülpen, um die wertvollen Parkettböden zu schonen, den Kindern wurden rote Königsmäntelchen umgehängt, um ihnen das Gefühl zu geben, richtige Schlossherren zu sein. Es war Sommer, dennoch herrschten in der Burg kühle Temperaturen und eine düstere Atmosphäre. Die Gruppe bewegte sich von Raum zu Raum, die Schlossführerin erzählte kindgerecht die Geschichte der Burg und dem Geschlecht der Hohenzollern. In Schwaben steht ihre Stammburg, im fernen Preußen hatten sie es dann zu Königs- und Kaiserwürden gebracht. Von den Ölgemälden an den Wänden blickten längst verstorbene Hoheiten.
„Sein Blick ist verächtlich“, flüsterte Conny als sie an einem Jugendportrait Friedrich des Großen vorbeiging, der im Volksmund auch „Alter Fritz“ genannt wurde.
„Gut möglich, Friedrich der Große soll spöttisch gewesen sein, außerdem war er Männern offenbar mehr zugetan als Frauen“, raunte Fabian zurück. In einer Vitrine lag die weiße Totenmaske des berühmten Königs. Fabian betrachtete die konservierten Gesichtszüge des berühmten Mannes. Die Verbitterung über ein konfliktbeladenes Leben schien aus diesen letzten Zügen zu sprechen. Vielleicht hatte dieser Mann in seiner Todesstunde die schrecklichen Kriege bereut, die er gegen seine Nachbarn geführt hatte. Ein glückliches, erfülltes Leben hätte am Ende andere Gesichtszüge zurücklassen müssen. Wie ein Mahnmal schiene die Maske in der Vitrine zu liegen.
„Schnell komm weiter, ich will das nicht sehen“, bat Conny. Die Gruppe kam an die Tür eines kleinen Salons, der das Wohnzimmer einer Königin gewesen war.
„Wir können den Salon leider nicht betreten“, bedauerte die Burgführerin. „Heute Morgen wurde ein großer Riss in der Decke und in einer Wand bemerkt und bevor nicht geklärt ist, ob für Besucher Gefahr besteht, ist der Raum gesperrt. Sie können gerne von der Türschwelle aus einen Blick in den Raum werfen.“ Fabian blickte in den Raum. Die meisten Wände und die Decke waren mit dunklem Eichenholz vertäfelt, das mit reichem Schnitzwerk verziert war. Von einem Ölgemälde blickte ihn Königin Luise von Preußen an. Sie war eine Schönheit gewesen, zu Beginn des 19. Jahrhunderts galt sie als die hübscheste Königin Europas. In jungen Jahren hatte sie erleben müssen, wie Napoleon in mehreren Schlachten ihr Land unterworfen hatte, große Teile des Territoriums waren verloren gegangen.
Sie schien sich von ihren schwierigen Umständen dennoch frei gemacht zu haben, glücklich blickte sie auf die Besucher. Fabian empfand Sympathie für diese Frau. Er rätselte, worin die Quelle ihres Glücks wohl bestanden haben mochte.
Sein Blick wanderte zur Decke des Raums. Dort klaffte ein breiter Riss in der Holzvertäfelung, der durch den gesamten Raum lief und sich in einer der Wände bis zum Boden fortsetzte.
„War es ein Erdbeben?“, fragte eine Besucherin.
„Das wäre naheliegend. Die Burg wurde im Jahr 1978 durch ein Erdbeben schwer beschädigt, sie liegt tatsächlich in einem Erdbebengebiet. Wir haben hier oben jedoch Seismographen, also Messgeräte, die Erdstöße aufzeichnen können. Eine Auswertung heute Morgen hat allerdings ergeben, dass in den vergangenen Tagen kein Erdbeben stattgefunden hat“, erläuterte die Burgführerin der Besuchergruppe.
Die Führung war zu Ende, die Besucher verließen die Burg, der bereitstehende Shuttle-Bus brachte sie zum Parkplatz, der sich ein Stück unterhalb der Burg im Wald befand.
„Es war gerade so, als hätte sich in der Burg eine Spannung aufgebaut, die sich entladen hat und den Salon zum Bersten brachte“, überlegte Fabian laut vor sich hin.
„Ach was, die Schlossgespenster haben nachts Party gemacht und es richtig krachen lassen“, kicherte Conny. Fabian lachte, es war wohltuend, dass nichts auf der Welt Conny erschüttern oder ins Grübeln bringen konnte.
Das Wetter besserte sich wieder. Die Familie genoss die letzten Urlaubstage in vollen Zügen. Es war herrlich, ohne Termine und Pflichten einfach in den Tag hineinzuleben. Doch eines Morgens war der Abreisetag da. Conny saß am Frühstückstisch und las die Online-Ausgabe der Stuttgarter Zeitung, um sich auf die Rückkehr aus dem Urlaub einzustimmen.
„Bauschäden auf der Burg Hohenzollern – Denkmalbehörde prüft, ob Reparaturarbeiten nach Erdbeben 1978 ordnungsgemäß ausgeführt wurden“, las sie laut vor. Im Kommentar zum Artikel wurden Überlegungen angestellt, ob mangelhafte Reparaturarbeiten aus den 70erJahren tatsächlich die Ursache für den plötzlich eingetretenen Bauschaden sein konnten. Der befragte Sachverständige hielt dies für wenig wahrscheinlich. In diesem Fall, so führte er aus, wären zunächst kleine Risse aufgetreten, die sich ganz allmählich verbreitert hätten. Die Familie packte die Koffer, belud das Auto, nahm Abschied von ihrem Häuschen und trat die Heimreise nach Stuttgart an.
Ihr Zuhause lag oberhalb des Stuttgarter Talkessels am Rande der Stadt. Bei gutem Wetter fuhr Fabian mit dem Mountainbike ins Büro, jahrelanges Training hatte aus ihm einen ausdauernden Fahrer gemacht. Am Wochenende unternahm er gelegentlich weite Touren, die ihn bis auf die Schwäbische Alb oder in den Schwarzwald führten.
Fabian schwang sich am ersten Arbeitstag gut gelaunt auf sein Bike. In rasender Fahrt ging es bergab in den Talkessel, die Redaktion befand sich im Heusteigviertel. Wegen eines Rohrbruchs musste er die letzten Meter durch knietiefes Wasser fahren. Seine durchnässte Hose und die triefenden Schuhe lösten bei Frau Mayer, seiner Sekretärin, Heiterkeit aus.