Asphalthelden - Jason Reynolds - E-Book

Asphalthelden E-Book

Jason Reynolds

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Beschreibung

Elternfreie Zone – Geschichten vom Schulweg Jason Reynolds erzählt in 10 Geschichten, was nach dem Läuten der Schulglocke auf dem Heimweg passiert. Da ist Gregory, der in Sandra verliebt ist und ihre Telefonnummer haben möchte. Seine besten Freunde wissen genau, was zu tun ist, und sprühen ihn von oben bis unten mit Deo ein. Die Superkurzhaar-Gang klaut jeden Penny, den sie bekommen kann, und reinvestiert das Geld sofort, am besten in Eis. Pia ist fast nur auf dem Skateboard unterwegs, bis sie von fiesen Jungs gestoppt wird. Bryson küsst seinen Kumpel Ty auf die Wange und muss dafür schwer büßen. Jede der Geschichten erzählt von einem ganzen Leben – immer auf Augenhöhe und voller Wärme und Sympathie.

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Seitenzahl: 189

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Jason Reynolds

Asphalthelden

Aus dem Englischen von Anja Hansen-Schmidt

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

 

 

Für Eloise Greenfield

Marston StreetWasser, Popel, Bären

Eigentlich sollte diese Geschichte ja so anfangen wie alle supergenialen Geschichten: mit einem Schulbus, der vom Himmel fällt.

Aber keiner hatte gesehen, wie es passiert ist. Keiner hatte was gehört. Deshalb fängt die Geschichte eben nur wie eine … gute Geschichte an.

Mit Popeln.

»Wenn du dir diese fiesen, halb verklumpten Rotzmonster nicht bald mal aus der Nase pulst, dann laufe ich nicht mit dir nach Hause – das schwör ich dir. Und das ist kein Witz.« Jasmine Jordan sagte das so, wie sie fast alles sagte – mit dem ganzen Körper. Als würden die Worte nicht nur aus ihrem Mund kommen, sondern ihren Rücken runterkullern. Sie sagte es so, als würde sie es tatsächlich ernst meinen. In dem gleichen Komm-mir-bloß-nicht-dumm-Tonfall, den ihre Mutter verwendete, wenn sie mit Jasmine ein ernsthaftes Gespräch über ernsthafte Themen führen wollte, und wo Jasmine dann die Musik in ihren Ohren so richtig laut stellte, um ihre Mutter zu übertönen und möglichst schnell weiterzuscrollen. Wenn du diese Ohrplugs … äh, Airbuds … Airphones oder wie die heißen nicht sofort aus deinem Kokosnussschädel holst, dann dreh ich mal Lautstärke und Bass hoch, und damit meine ich jetzt nicht die Musik.

Dieser Tonfall.

Jasmines Popelwarnung war an ihren besten Freund mit der verstopften Nase gerichtet, Terrence Jumper. TJ. Also, Jasmine bezeichnete ihn zwar immer als ihren »besten Freund, der ein Junge ist«, aber weil sie keine besten Freundinnen hatte, war TJ eben ihr bester Freund-Freund. Und sie seiner. Und das schon sehr lange. Seit er in die Marston Street gezogen war, drei Häuser weiter von ihr. Seit ihre Mütter ihnen nur dann erlauben wollten, zu Fuß zur Schule zu gehen, wenn sie zusammen gingen, weil sie die einzigen Kinder in der Straße waren. Seit sechs Jahren also und damit seit einer gefühlten Ewigkeit.

Die Glocke läutete; Jasmine und TJ hatten gerade die letzte Unterrichtsstunde des Tages hinter sich gebracht, das einzige Fach, das sie zusammen hatten. Biologie bei Mr Fantana.

»Du bist gerade mal seit zwei Tagen wieder in der Schule und willst mich schon dumm anmachen?« TJ drehte das schwarze Zahlenschloss so lässig, als würde er den Unterschied in den Rillen spüren und automatisch merken, wenn er auf der richtigen Zahl landete.

»Was erwartest du? Sieh dir diese Klumpen doch mal an. Ehrlich, TJ, ich weiß echt nicht, wie du atmen kannst«, meckerte Jasmine weiter. Ihre Schließfächer lagen direkt nebeneinander – zum Glück, weil Jasmine im Gegensatz zu TJ ihr Schloss immer mit höchster Konzentration drehte und es dabei böse anstarrte, als könnte sich die Zahlenkombination jeden Moment von selbst verstellen oder als würden ihre Finger plötzlich nicht mehr funktionieren. Und wenn aus irgendeinem merkwürdigen Grund eins von beidem passieren sollte, wäre wenigstens TJ da, um zu helfen.

TJ zuckte nur mit den Schultern und warf sein Biobuch auf den Boden des Metallschranks, womit er eine Staubwolke aufwirbelte, die nach Schweißfüßen stank und alles einnebelte. Ein Nebel des Grauens. Der Boden seines Schließfachs war mit leeren Chipstüten bedeckt, die Jasmine während der letzten beiden Tage durch den Türspalt geschoben hatte. Müll? Na ja, irgendwie schon. Aber für Jasmine und TJ waren es »Freundschaftsflaggen«. Müllbotschaften. Weil Jasmine eine Weile weg gewesen war, waren diese leeren Tüten so was Ähnliches wie kleine Briefe, die »Ich hab dich vermisst« sagten. In Form von Chipskrümeln. Und dann, endlich, zog TJ den Saum von seinem T-Shirt hoch und wischte den hart gewordenen Schnodder weg, der sich wie winzige Steinhaufen am Eingang seiner Nase angesammelt hatte. Er wischte und rupfte und pulte gerade genug davon hervor, um seinen guten Willen zu zeigen, aber ohne allzu übertriebenen Eifer, und hinterließ dabei einen Schleimstreifen an seiner Lippe.

TJ legte den Kopf in den Nacken, um Jasmine freie Sicht auf seine Nasenlöcher zu gewähren. »Besser?«, fragte er, halb im Ernst, halb in der Hoffnung, dass noch ein Popel übrig war, der Jasmine die Zunge rausstreckte.

Jasmine spähte in TJs Nase, als würde sie durch ein braunes Mikroskop aus Fleisch gucken, völlig unbeeindruckt von der Tatsache, dass TJ sein T-Shirt – das T-Shirt, das er anhatte – als Taschentuch benutzt hatte. Aber warum hätte sie das auch stören sollen? Nicht, dass das nicht eklig gewesen wäre (das war es nämlich, voll eklig sogar), aber sie kannte ihn eben schon sehr lange. Hatte ihn Dinge tun sehen, gegen die waren ein paar Popel am T-Shirt nichts weiter als ein bisschen Deko. Schnodder-Borte. TJ-Blingbling. Sie hatte zum Beispiel erlebt, wie er Kaugummis von den Sohlen seiner Turnschuhe (und ihrer) gepult hatte. Am krassesten war die Sache damals gewesen, als er eine Mücke erschlug, direkt nachdem sie ihn gestochen hatte, und sich dann den Mückenschleim vom Arm leckte. Jasmine hatte mit ihm gewettet, ob er das tun würde. Und ihm einen Dollar dafür gezahlt. Und das war es absolut wert gewesen, für beide.

»Weißt du, ich kann direkt bis zu deinem Gehirn gucken«, sagte Jasmine und tat so, als würde sie ihn immer noch eingehend untersuchen. »Und wie ich sehe, fehlt ein großes Stück.« Sie kniff TJ in die Nase. »War nur ’n Witz. Alles bestens. Jetzt kann ich mich wieder mit dir sehen lassen.«

»Ist doch egal.« TJ knallte die Tür von seinem Schließfach zu. »Ich meine, wir sind sowieso alle Popel.«

»Du bist vielleicht ein Popel.« Zweites Türenknallen. »Ich bin bestimmt keiner.«

»Denkst du«, fuhr TJ fort, während sie Rucksäcke tauschten. Seiner war leicht. Jasmines dagegen war vollgestopft mit den Büchern sämtlicher Unterrichtsfächer und allen Heften dieser Welt. Nachholmaterial. Sie hätte den Rucksack auch selbst tragen können, aber TJ machte sich Sorgen um ihren Rücken, um ihre Muskeln, weil sie sich immer noch von der Attacke erholen musste.

Sie gingen durch den überfüllten Gang, durch eine Lärmwolke aus quietschenden Turnschuhen und dem üblichen Schulschlussgeschrei. »Ich hab nämlich darüber nachgedacht. Popel sind doch eigentlich nur Wasser vermischt mit, na ja, Staub und Luftpartikeln und so was …«

»Woher willst du das denn wissen?«, unterbrach Jasmine ihn. Wie sie TJ kannte, hätte er das überall aufschnappen können, zum Beispiel von Cynthia »Nasowas« Sower, die 99,9999 Prozent der Zeit nur Quatsch erzählte.

»Hab ich im Internet nachgeschaut«, erklärte TJ. »Wollte wissen, warum sie so salzig sind.«

»Warte mal.« Jasmine hob die Hand, als würde sie TJs letzte Worte von sich fernhalten wollen. »Du isst die?«

»Oh Mann, Jasmine. Das ist echt nicht fair, mir die Sünden meiner Kindheit vorzuhalten. Alter.« TJ schüttelte den Kopf. »Also, wenn du endlich mal aufhören könntest, mich zu unterbrechen, würde ich jetzt gerne mit meiner Hypothese fortfahren.« Er zerteilte »Hypothese« in vier Silben, damit es geschwollener klang. Hü-poo-tee-see. »Also, Popel bestehen hauptsächlich aus Wasser und Staub.« Er hob belehrend den Zeigefinger. »Und Menschen bestehen hauptsächlich aus Wasser, stimmt’s? Hat Fantana das nicht am Anfang vom Schuljahr gesagt?«

»Stimmt.«

»Okay, dann hör mir zu. Sonntags in der Kirche erzählen sie uns immer, dass Gott uns aus Staub erschaffen hat, stimmt’s?« TJ und Jasmine gingen in die gleiche Kirche und sangen dort gemeinsam im Kinderchor. TJ bat Mrs Bronson, die Chorleiterin, jedes Mal, ihn die Solos singen zu lassen, obwohl seine Stimme die ganze Zeit wilde Purzelbäume schlug. Wie ein Windglockenspiel in einem Wirbelsturm. Jasmines Gesang war nicht viel besser. Der Unterschied war nur, dass sie das wusste und nie auf die Idee gekommen wäre, um ein Solo zu bitten. Sie liebte es, das Chorgewand zu tragen, das wie ein Talar aussah, und die schönen Melodien zu singen, sich hin und her zu wiegen und zu klatschen, ihre Stimme zwischen die der anderen gleiten zu lassen wie eine Schublade in eine Kommode. Ihre Mutter sagte immer zu ihr: Eine Note zu halten ist Talent genug.

Aber auch wenn TJ nun wirklich keine Note halten konnte (das gehörte definitiv nicht zu seinen Talenten) – ein Gespräch am Laufen zu halten, das schaffte er spielend. Und so fuhr er nun fort: »Gott hat also den Menschen aus Staub erschaffen und ihm seinen Atem in die Nase gepustet und so, stimmt’s?«

»Hmm … kann sein.«

»Glaubst du, Gott hatte Mundgeruch?«

»Hä?«

»Egal. Vermutlich nicht.« TJ kehrte zu seinem Thema zurück. »Also, wenn Gott den Menschen oder Adam, also den Mann, aus Staub erschaffen hat …«

»Die Frau aber auch«, warf Jasmine sofort ein.

»Ja, und die Frau auch … Also, wenn der Mensch aber gleichzeitig auch hauptsächlich aus Wasser besteht, dann sind wir im Grunde also Wasser und Staub, ja?« TJ wedelte wild mit den Händen, als würde er eine äußerst komplizierte Gleichung an eine unsichtbare Tafel schreiben. Jasmine sagte nichts, aber das war auch nicht nötig. TJ war nun fest entschlossen, seine Theorie zu Ende zu führen. »Und das bedeutet …«, schloss er, und Jasmine konnte förmlich den Trommelwirbel hinter seinen Augen sehen, »dass wir alle im Prinzip … Popel sind.«

Tiefe Befriedigung lag wie eine dicke Schicht Niveacreme auf TJs Gesicht. Auf Jasmines dagegen lag Verwirrung, als hätte ihr jemand mit klebriger Hand eine Ohrfeige verpasst.

»So ein Quatsch«, schlug sie zurück.

»Du musst mir nicht glauben«, sagte TJ und hielt die Tür für Jasmine auf, als sie es endlich aus dem Gebäude geschafft hatten.

»Tu ich auch nicht.«

»Musst du ja nicht«, wiederholte TJ. »Aber das heißt nicht, dass das nicht wahr ist. Weißt du, du denkst vielleicht, ich schlaf nur in der Schule, aber in Wirklichkeit lerne ich sehr wohl was. Und jetzt mal ernsthaft – ich sollte echt bald selbst unterrichten dürfen, weil während diese ganzen sogenannten Wissenschaftler und Lehrer wie Mr Fantana damit beschäftigt sind zu beweisen, ob es Außerirdische wirklich gibt, habe ich schon rausgefunden, dass Popel so was wie die Baby-Form von Babys sind!«

Daraufhin musste Jasmine laut losprusten. Weil – auch wenn TJ lächerlich und nervig und manchmal auch verdammt eklig war, wusste sie es doch zu schätzen, dass er sie immer zum Lachen brachte, ob sie nun wollte oder nicht. Ob er es darauf anlegte oder nicht. Er war immer zur Stelle, um ein kleines Stück aus ihrer harten Schale rauszuklopfen. Aus dem dicken Panzer, den Jasmine sich über das Schuljahr hinweg zugelegt hatte.

Es war ein echt schweres Jahr für sie gewesen.

Alles fing damit an, dass ihre Eltern sich trennten und ihr Vater auszog. Es hatte kein großes Drama gegeben. Keine Streitereien. Keine hässlichen Szenen. Nicht so wie in den Filmen. Zumindest hatte sie davon nichts mitgekriegt. Nur ein furchtbar unangenehmes Gespräch am Küchentisch mit ihren Eltern, bei dem die beiden sie anschauten wie einen exotischen Fisch, der in einer Plastiktüte hin und her flitzt, während sie sich auf ihrem Stuhl wand, als wäre ihre Haut zu eng für ihren Körper.

»Wir lieben dich sehr.«

»Es ist nicht deine Schuld.«

»Manchmal ändern sich Beziehungen eben.«

»Manchmal ist es besser, wenn man sich trennt.«

»Das ist alles nicht deine Schuld.«

»Dein Vater und ich lieben dich sehr.«

»Deine Mutter und ich lieben dich sehr.«

Tatsächlich war der Teil genau wie in den Filmen abgelaufen. Vor allem wie in diesen Filmen über Mädchen in ihrem Alter. Die Küchentisch-Konferenz. Das Klopf-Klopf an der Kinderzimmertür hinterher. Das Kind, das den Vater beschimpft. Die Mutter, die sagt: »Nicht diese Ausdrucksweise!« Die Wochenendbesuche. Die Verlegenheit beider Elternteile, die ständig fragten, ob alles in Ordnung sei, immer und immer und immer und immer und immer und immer wieder.

Und das war erst das erste Vierteljahr gewesen. Das kam alles noch vor der richtig schlimmen Sache, der Attacke. Und das war nicht mal ein Angriff von jemand anderem gewesen. Sie war nicht überfallen worden oder so. Stattdessen hatte ihr Körper sich selbst angegriffen. Jasmine litt seit ihrer Geburt unter einer Blutkrankheit namens Sichelzellanämie, die fast jeden Teil des Körpers befallen konnte. Organe, Gelenke, selbst die Sehkraft. Aber bisher hatte die Krankheit Jasmine nicht wirklich Probleme bereitet. Ab und zu ein paar Schmerzen, aber alles noch in einem erträglichen Rahmen, bis sie in diesem Jahr eine heftige Krise bekommen und ihr Körper sich in eine Feuersbrunst verwandelt hatte. Wenigstens hatte es sich so angefühlt. Ihre Hände und Füße wurden dick wie Plastikhandschuhe voller Wasser, schwer und eng, kurz vor dem Platzen. Ihre Muskeln fühlten sich an, als würden sie sich in Holz verwandeln, und sie stellte sich vor, wie ihre Knochen splitterten und in ihrem Körper weiterwucherten.

Einen ganzen Monat lag Jasmine krank im Bett. Ihr Schließfach blieb ungeöffnet, ihr Zahlenschloss ungedreht.

Ihre Mutter und ihr Vater schwebten, gemeinsam und getrennt, über ihrem Krankenhausbett wie Außerirdische in Filmen, die noch kitschiger waren als Teenager-Familiendramen. Das Einzige, was das frostige Benehmen ihrer Eltern auftauen ließ, war der einzigartige TJ, der auftauchte, ein paar Witze riss, das Eis ein bisschen brach und ein paar leere Chipstüten neben Jasmines Bett zurückließ, zusätzlich zu den dreißig, die er in ihr Schließfach gestopft hatte. Die Freundschaftsflaggen.

Und als Jasmine vor zwei Tagen endlich wieder an die Latimer Middleschool zurückgekehrt war und mit Fragen bombardiert wurde, von Klassenkameraden, die vor ihrer Erkrankung nie mit ihr geredet hatten – Leuten, die sie sonst schräg anschauten, weil sie so eng mit TJ befreundet war, weil »Jungs und Mädchen nicht nur Freunde sein können« –, mussten Jasmine (und die Beratungslehrerin Ms Lane) erst mal überlegen, wie sie den ganzen Stoff aufholen könnte. Im Krankenhaus hatte sie nicht lernen können, weil jede Bewegung eine Qual gewesen war. Es tat zu sehr weh, einen Stift zu halten. Es tat zu sehr weh, eine Seite umzublättern. Und deshalb wusste sie auch, dass sie auf keinen Fall ein Popel war. Sie konnte gar kein Popel sein. Sie war nicht gummiartig genug.

 

»Vielleicht ist es ja so, dass alle Jungs Popel sind. Tun so, als wären sie Steine, obwohl sie in Wahrheit nur Klumpen aus staubigem Wasser sind«, spottete Jasmine, während TJ und sie an der Ampel die Straße überquerten, an einem Fußgängerüberweg, der sie wie eine Brücke über den Asphaltfluss führte, von der Schule rüber ins Wohngebiet. Sie bogen in die Portal Avenue ab, eine Strecke, die sie schon Hunderte Male gelaufen waren. Eine Strecke, die TJ den ganzen letzten Monat über alleine laufen musste. Jasmine war zwar gestern schon in der Schule gewesen, aber ihre Mutter wollte sie an ihrem ersten Tag aus lauter Sorge nicht zu Fuß gehen lassen. Deshalb war das nun das erste Mal, dass sie wieder zusammen nach Hause liefen. »Aber ich nicht«, fuhr sie fort. »Ich meine, echt jetzt, Popel werden doch immer nur weggewischt oder rausgeschnäuzt.«

»Okay, und was bist du dann, wenn du kein Popel bist?«, fragte TJ.

Jasmine zuckte mit den Schultern. »Ähm … ein Mädchen? Ich bin ich.«

»Komm schon, Jasmine. Streng dich mal ein bisschen an.« TJ breitete die Arme aus. Redete mit dem ganzen Körper wie ein alter Straßengauner, der die Leute überzeugen wollte, dass sein gestohlenes Zeugs ein echtes Schnäppchen war. »Wenn du kein Popel bist, aber etwas sein müsstest, was würdest du dann sein?«

Jasmine überlegte, während sie nach links in die Marston Street bogen, eine Straße mit Häusern, von denen ihre Mutter immer sagte, es würde sie schon seit Ewigkeiten geben. Ein altes Viertel, schwafelte sie immer, wenn sie durch neuere, scheinbar schönere Gegenden fuhren, wo ein Haus wie das andere aussah, wie ein Häuserchor, bei dem alle in die gleichen Gewänder gekleidet waren, sich in die gleiche Richtung drehten und die gleiche Melodie in der gleichen Tonlage sangen, was wirklich wie ein extrem langweiliges Lied klingen würde. Aber in der Marston Street stand von allem etwas, von kleinen Backsteinhäusern bis zu schicken, glänzenden Fassadenverkleidungen. Von Erkerfenstern zu Kolonialstil. Von eingeschossigen Bungalows bis zu dreistöckigen Mehrfamilienhäusern. Ein Zaun hier, ein Tor da. Gras. Schotter. Asphalt. Pflastersteine. Alles alt genug, um bewohnt auszusehen. Gebraucht. Alt genug, um die Wärme von ein oder zwei Generationen auszustrahlen, die darin gelebt hatten. Oder sogar von drei.

»Ich weiß nicht«, sagte sie schließlich. »Also, erinnerst du dich, worüber Mr Fantana heute im Unterricht gesprochen hat? Dieses Dingsbums, von dem er uns ein Bild gezeigt hat. Ich meine, das sah auch ein bisschen wie ein Popel aus.«

»Meinst du dieses hässliche Amöbenteil? Wie hat er es genannt … Mondbär?«

»Ja, das meine ich«, fing sie an und hielt dann inne. »Warte mal … erstens bin ich nicht hässlich. Nur damit das klar ist. Aber so was bin ich. Ein Wasserbär.« Jasmine nickte.

»Genau, Wasserbär«, sagte TJ kichernd. »Das Vieh hatte acht Beine und so lange Nägel wie meine alte Mutter. Und dieser seltsame Mund … auch wie meine alte Mutter …« TJ stülpte die Lippen vor, saugte sie rein, stülpte sie wieder vor und zog sie erneut rein, als würde er auf einem riesigen Stück Kaugummi herumkauen. »Dieses Dingsda wäre ganz schön gruselig – wie meine alte Mutter –, wenn es nicht so winzig wäre. Das ist meine alte Mutter nämlich definitiv nicht. Kein. Bisschen.«

»Ms Macy ist doch nicht gruselig, Alter.«

»Ms Macy ist ja auch nicht meine alte Mutter. Sie ist meine neue Mutter. Und meine echte Mutter, die kenne ich eigentlich gar nicht.«

»Ach ja … stimmt.« Jasmine versuchte, die vielen Mütter in ihrem Kopf zu ordnen. Eine andere Gleichung an einer anderen unsichtbaren Tafel.

»Aber meine alte Mutter …« TJ ließ den Gedanken ins Leere laufen und erschauderte, als würde etwas durch seinen Körper schießen. Nur ganz kurz. Eine schlechte Erinnerung vielleicht. »Jedenfalls, warum willst du ausgerechnet so ein Dings sein? Dieser Wasserbär oder wie der heißt. Die kann doch keiner sehen. Popel sieht man wenigstens.«

»Wegen dem, was Mr Fantana uns erzählt hat. Nämlich dass die Wissenschaftler dieses kleine Wasserbärendings getestet haben und dass sie dabei herausfanden, dass es vermutlich das robusteste Lebewesen auf der ganzen Erde ist. Vielleicht sogar im ganzen Universum. Er hat gesagt, es könnte die heißeste Hitze überleben. Und die kälteste Kälte. Und den verdammt größten Druck. Ich meine, sie haben es in den Weltraum geschickt – ins ALL –, und es kam zurück und ist rumgekrabbelt, als wär nichts passiert. Einfach überall rumgekrabbelt. Und genau so bin ich auch. Nur mit lackierten Nägeln.« Jasmine hauchte auf ihre Finger und tat so, als würde sie die rot gefärbten Spitzen polieren.

»Ja, wenn du das alles glaubst, dann ist es vielleicht so.«

»Also, wenn du glauben kannst, dass Gott uns aus Staub gemacht hat – was ich schon glaube, weil du definitiv der staubigste Mensch bist, den ich kenne –, dann glaube ich Mr Fantana auch mit diesem Wasserbären. Mann, vielleicht trampeln wir jeden Tag auf ihnen rum und merken es nicht mal.«

TJ schaute hastig zu Boden und fragte sich plötzlich, was wohl in den Ritzen im Asphalt lebte. Er kratzte sich die Arme, als würden Wasserbären in den Furchen seiner trockenen Haut krabbeln, und er wüsste es nicht, weil er sie nicht sehen konnte. Jasmine beobachtete, wie er unruhig herumzappelte. Aha. Sie hatte ihn noch nie wirklich nervös gesehen. TJ fürchtete sich nicht vor Popeln, vor Hundekacke oder davor, Käfer zu essen, aber das lag vielleicht nur daran, weil er sie sehen konnte. Er konnte sie zerdrücken, verschmieren und verschwinden lassen. Nun begriff sie, dass es ihm Angst machte, mit Dingen umzugehen, die sich nicht zerdrücken und verschmieren ließen. Dinge, die überall um ihn herum unsichtbar lebten, und vielleicht sogar auf ihm drauf, und gegen die er nichts tun konnte.

Sie näherten sich TJs Haus. Kein Tor, kein Zaun. Ein Streifen aus vertrocknetem Gras. Das Haus war klein und aus Holz, als wäre es ohne Maschinen gebaut worden. Ohne Bagger oder so. Nur mit Händen und Liebe und Hämmern und Nägeln und noch mehr Liebe. Das Loch in der Fliegengittertür gab es schon seit Jahren. Es stammte von TJs Fuß. Er sagte, manchmal würden seine Füße ausflippen und einfach treten oder stampfen oder rennen. Das wäre aber nicht seine Schuld, sagte er. Und Jasmine lachte dann immer, weil sie seine Witze so lustig fand, auch wenn sie oft nicht witzig gemeint waren.

Sie setzten sich draußen auf die Treppe, Schulter an Schulter, und unterhielten sich noch eine Weile über Wasserbären und Popel und beschlossen dann, dass sie vielleicht beides sein könnten.

»Wasserbärenpopel?«, schlug Jasmine vor, während sie ihre Schuhe zuband.

TJ war noch nicht ganz einverstanden. »Wie wär’s mit … Wasserpopelbären?«

»Hmm, Wasserpopelbären.« Jasmine hob den Kopf und nickte. »Das gefällt mir.«

Hinter ihnen öffnete sich die Tür, das Quietschen des Fliegengitters hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit TJs Stimme.

»Mir war so, als hätte ich hier draußen was gehört.« Das war seine (nicht so) neue Mutter. Seine Mutter seit sechs Jahren, Ms Macy. Sie trug ihre Arbeitskleidung – dunkelblaue Hose, dunkelblaues Hemd mit einem Namensschild und als Kontrast dazu wuschelige, schmuddelige pinkfarbene Hausschuhe. Sie bückte sich und drückte Jasmine und TJ einen Kuss auf den Kopf, während sich der Nachklang ihres harten Arbeitstags wie ein Heiligenschein über die Kinder legte. »Wie war die Schule?«

»Gut«, sagte TJ grinsend, schniefend, kratzend.

»Ganz okay«, bestätigte Jasmine.

»Das höre ich gern«, sagte Ms Macy. Die Kinder wussten schon, was als Nächstes kommen würde. »Und … was habt ihr heute gelernt?« Obwohl Ms Macy ihnen jeden Tag die gleiche Frage stellte, klang ihre Stimme immer noch total interessiert.

Jasmine sah TJ an. Er erwiderte ihren Blick. In seinem linken Nasenloch hing ein neuer Popel. Er schien wie aus dem Nichts gekommen zu sein, wie Popel es gerne tun. TJ wischte ihn mit dem Handrücken weg, und beide antworteten einstimmig wie ein Sonntagschor.

»Nichts.«

Placer StreetDie Superkurzhaar-Gang schlägt wieder zu

Jedem, der John John Watson, Francy Baskin, Trista Smith oder vor allem Britton »Bit« Burns – die Superkurzhaar-Gang – sieht, kann ich nur raten, auf seine Taschen aufzupassen. Die vier klauen so ziemlich alles, was klirrt, sogar eure Hände, wenn ihr sie in den Hosentaschen vergraben habt und sie zu viel Lärm machen. Tatsächlich würden sie auch noch die Hosentaschen stehlen, wenn sie das könnten. Einmal sind sie in einen Laden rein, wo ein Glas mit Kleingeld auf der Theke stand, wo die Kunden ihre Pennys reinwerfen oder sich einen nehmen können, und haben alle Pennys mitgehen lassen.

Und keinen einzigen dagelassen.

Ein Griff und weg.

Okay, das haben die nicht nur einmal gemacht. Das haben die ständig abgezogen. So oft, dass der Ladenbesitzer dazu überging, das Glas hinter der Kasse aufzubewahren und die Pennys einzeln an die Kunden auszugeben, denen Kleingeld fehlte. Bei anderen Gelegenheiten forderten Francy, John John und Trista andere Kinder zu Vierteldollar-Wettkämpfen heraus, bei denen zwei Leute einen Vierteldollar auf einen Schreibtisch oder eine glatte Oberfläche stellen und sie wie Kreisel andrehen. Die Münze, die die andere umstößt oder die sich länger dreht, gewinnt. Aber solche Regeln sind der Bande eigentlich ziemlich schnuppe. Der Vierteldollar wird einkassiert, oder der Gegner bekommt eins auf die Nase. Und für fünfundzwanzig Cent riskiert keiner ein blaues Auge.