Lu - Jason Reynolds - E-Book

Lu E-Book

Jason Reynolds

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Beschreibung

We Are Family! Es ist nicht leicht, wenn man als Schwarzer eine ganz weiße Hautfarbe hat. Lu ist Albino und wird in der Schule gehänselt. Aber die Mannschaft unterstützt ihn. Längst ist Lu einer der Selbstbewusstesten auf der Aschenbahn und darüber hinaus. Fancy Klamotten trägt er und hat immer einen coolen Spruch auf der Lippe. Die Sprache verschlägt es ihm, als er erfährt, dass er ein kleines Schwesterchen bekommt. Und er darf den Namen des Kindes auswählen. Wie hart es im Leben dagegen manchmal zugeht, hat Lu durch seinen Vater gelernt. Der war als junger Mann Drogendealer und arbeitet heute in der Prävention. Es gilt Fehler wiedergutzumachen, und Lu hilft seinem Vater dabei, denn dafür ist Familie da.

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Seitenzahl: 237

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Jason Reynolds

Lu

Wir sind Familie

Aus dem Englischen von Anja Hansen-Schmidt

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

 

 

Für die Anführer

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

1

MEIN NAME: Blitz

Ich bin

Der Boss.

Der Checker.

Der Junge.

Der Eine.

Der Einzigartige.

Ich bin Lu. Lucky Lu. Oder, wie ich mich selbst nenne: Lookie Lu. Oder, wie meine Mom mich nennt, Lu, der Blitz, weil ein Blitz so besonders ist, dass er nie zweimal auf die gleiche Weise oder am gleichen Ort einschlägt. Behauptet sie wenigstens. Mir gefällt ja der Spitzname, aber ich glaube nicht daran. Ich glaube nicht, dass ein Blitz nicht den gleichen Baum, das gleiche Haus oder die gleiche Person mehr als nur einmal treffen kann. Ich glaube, Mom hat da irgendwas falsch verstanden. Ehrlich, manchmal redet sie echt nur, damit was geredet wird. Außerdem, woher sollte sie so was schon wissen? Ich meine, klar weiß sie ’ne ganze Menge, weil sie ja eine Mutter ist, und Mütter wissen nun mal viel, aber die Leute, die das studiert haben, wie die Wetterheinis und die Meteorologen (die eigentlich eher Meteoriten erforschen sollten als das Wetter), die haben doch alle auch keine Ahnung von so was (weil sie eben Meteoriten erforschen sollten und nicht das Wetter). Ständig labern sie irgendwas von einer fünfzigprozentigen Wahrscheinlichkeit, dass es Regen gibt. Wenig Regen. Oder viel Regen. Heute. Oder vielleicht morgen. Ich meine, echt jetzt? Und da soll ich einfach so glauben, dass ein Blitz nicht zweimal am gleichen Ort einschlägt? Niemals nie? Ja klar.

Wisst ihr, von wem ich weiß, dass meine Mutter da total falschliegt? Ghost. Er hat mir von diesem Typen erzählt – sein Name fängt mit R an –, der hält den Weltrekord darin, dass er vom Blitz getroffen wurde, und zwar nicht einmal, nicht zweimal, nicht dreimal, nicht VIERmal, nicht FÜNFMAL, NICHT SECHSMAL, sondern SIEBENMAL! Wenn ich dieser Ray – oder Ron oder wie auch immer er heißt – wäre (oder gewesen wäre, weil, der muss einfach inzwischen tot sein), hätte ich mich nach dem zweiten Mal für immer zu Hause eingeschlossen. Ich meine, was hat er sich nur gedacht? Wie ich ihn kenne (ich kenne ihn zwar nicht wirklich, aber ich kenne Leute, die so sind wie er, und das ist fast das Gleiche), hat er vermutlich auf einen Meteorologen gehört. Oder auf meine Mutter, die übrigens, wenn sie davon spricht, dass ein Blitz einschlägt, nicht mal einen echten Blitz meint. Also, diese elektrischen Lichtpfeile am Himmel. Nö. Sie meint dann so elektrische … Momente … im Leben. Und ich war eindeutig der mega-elektrischste Moment für sie. Einer von siebzehntausend. Ein Albino. Ohne Melanin geboren, was das Gleiche ist wie ohne Braun. Und eigentlich hätte ich nicht mal auf die Welt kommen dürfen, weil meine Mutter angeblich keine Kinder bekommen konnte. Eine doppelt besondere Einmal-im-Leben-Sache also. Bis gestern.

Sonntag, Abendessen. Alles wie immer, alles wie am Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag und Samstag auch, nur dass Mom jedes Mal was Neues mit dem Essen ausprobiert. Und an diesem Sonntag saß mein Dad, der sonst immer bis spät arbeitet, mit meiner Mom am Tisch, damit sie mir die neuesten Neuigkeiten verkünden konnten.

»Wir bekommen ein Baby.« Sie trällerten es fast wie eine Hookline. Als hätten sie sich vorher so eins-zwei-drei-mäßig abgesprochen.

»Euer Ernst?« Das war alles, was ich rausbrachte – rausließ –, aber in mir drin sagte mein Verstand: Yo, ist das echt wahr, ich meine, meint ihr das so richtig ernsthaft ernst, also kein Witz, keine Verarsche, weil, das wär echt nicht cool, Leute, ist das wirklich echt wahr oder was?, während ich den Kopf reckte, um nach dem Bauch meiner Mutter zu sehen, obwohl sie saß. Dad schob seine Goldketten unter sein Shirt – das machte er immer beim Essen – und schlug mir mit dem Handrücken leicht gegen den Arm. Als ich ihn fragend ansah, was das sollte, schüttelte er nur kurz den Kopf, als wüsste er was, das ich nicht wüsste. Als wüsste er was, das ich besser nicht rausfinden wollte.

»Sorry«, japste ich. »Es ist nur … man sieht ja noch gar nichts!«

Ich zupfte mit den Fingern ein Stück Fleisch von dem Hühnerbein auf meinem Teller, angeblich nach einem Rezept von Pattys Tante. Schmeckte echt lecker, obwohl es seltsam war, Hühnerbeine aus einer Auflaufform zu essen. Armes Huhn. Auflauf statt Auslauf.

»Das ist wirklich unser Ernst.« Mom lächelte. »Die ersten drei Monate sind jetzt fast vorbei, und sie sagen, dass du am sechsten Dezember einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester bekommen wirst.« Ich schwöre, ihr Gesicht leuchtete, als hätte sie Glühbirnen in den Backen. »Deshalb war ich in letzter Zeit auch so müde und habe dich manchmal zu spät vom Training abgeholt. Mir war tagsüber oft ein bisschen schlecht.«

»Wie, schlecht?«

»Nichts Ernstes. Normaler Schwangerschaftskram. Aber das dürfte bald vorbei sein.« Sie kreuzte ihre Finger. »Oh, und … also … danke, dass du es mir nicht ansiehst. Bald werde ich nämlich einen Riesenbauch haben. Bei dir hat es auch eine Weile gedauert, bis man was gesehen hat.«

»Und seitdem hört der Junge gar nicht mehr auf zu wachsen«, warf mein Dad ein.

»Aber wirklich.« Mom spannte ihr T-Shirt über ihren Bauch, dass man eine kleine Wölbung erkennen konnte, so wie nach einem Thanksgiving-Festmahl. Nur, dass nicht Thanksgiving war und wir keinen Truthahn gegessen hatten, sondern Hühnchen. »Jedenfalls wollten wir es dir heute sagen, weil wir morgen einen Arzttermin haben.«

»Darf ich mit?«

»Na ja … das haben wir auch erst überlegt, aber es ist ja deine Meisterschaftswoche.« Sie legte die Gabel auf den Tisch. Stützte sich auf ihre Arme. »Möchtest du denn mit? Oder willst du lieber zum Training?«

Hmm, schwierig. Ich wollte auf jeden Fall mit zum Arzt und hören, was mit dem Baby los war, aber ich hatte schon so eine Vermutung, was dort passieren würde.

»Kommt drauf an. Machen die da dieses Ding mit dem …« Ich ballte die Faust und fuhr mir damit langsam über den Bauch, um diese komische Maschine nachzumachen, mit der sie aus einem Baby so einen virtuellen Klecks machen, wo man dann den Herzschlag sieht und so. »Ich meine, wo man angeblich das Baby auf einem Bildschirm sehen kann und es nur wie alte Aufnahmen von der Mondlandung aussieht?« Ein virtueller Klecks oder altmodisches Fernsehen, als Fernsehen noch Radio mit Bildschirm war.

Dad verschluckte sich an seinem Getränk.

»Du meinst einen Ultraschall.« Meine Mutter kannte den richtigen Ausdruck für meine grandiose Beschreibung. »Wann hast du denn mal Aufnahmen von der Mondlandung gesehen?«

»Ghost hat sie mir gezeigt.« Na ja, eigentlich hatte Ghost Patina überredet, das Video auf ihrem Handy abzuspielen, weil er uns überzeugen wollte, dass das Ganze in Wirklichkeit nie passiert war. Er hatte ein paar Typen an der Bushaltestelle darüber reden hören, dass das alles nur ein Fake gewesen wäre. Patty sagte sofort, sie hätte aber eine Freundin, deren Vater Raketenforscher ist (wie krass, dass so was ein Beruf ist!), und die könnte nämlich beweisen, dass die Mondlandung echt passiert wäre. Und Sunny, der sagte, er hätte schon lange gewusst, dass das wirklich passiert war – die Mondlandung (und der Mondspaziergang) –, weil er auch schon da oben gewesen wäre. Auf dem Mond. Das hat er echt gesagt. Schade, dass sein Diskus es noch nie bis zum Mond geschafft hat. Sunny konnte das Teil nicht mal dazu bringen, weiter zu fliegen als auf den letzten Platz. Vor ein paar Wochen, bei seinem ersten Wettkampf als Diskuswerfer, hatte er bei den ersten beiden Versuchen die Wurfkreislinie übertreten. Da haben Patty, Ghost und ich ihm dann ganz laut zugejubelt. Einfach, um ihm Mut zu machen, weil er so geknickt aussah da im Kreis. Selbst sein Vater hat ihn angefeuert. Und irgendwann haben alle angefangen zu klatschen und zu rufen: Auf geht’s, Sunny und Komm schon, Sunny und Du schaffst das und so, selbst ein paar Leute aus den anderen Teams. Da hat Sunny sich wieder in Wurfposition gestellt und angefangen, Schwung zu holen. Sein Gesicht war so konzentriert wie noch nie. Wie ein Stein. Er hat Schwung geholt, einmal, zweimal, dreimal, dann hat er sich gedreht, und in dem Moment, wo er den Diskus geworfen hat, hat er einen Schrei ausgestoßen, der klang wie … keine Ahnung. Wie so ein … Heulen. Ein Seehund-Heuler. Richtig krass. Und der Diskus ist geflogen, aber nur ungefähr … drei Meter weit. Höchstens. Aber Sunny hatte ihn schön gerade durch die Luft segeln lassen, ohne was falsch zu machen. Und strahlte von einem Ohr zum anderen. Wir alle strahlten. Und dann schwang er die Hände in die Luft und machte plötzlich so ein paar komische Dancemoves. Trotzdem – letzter Platz. Aber weil bei dem Wettkampf nur drei Leute mitmachten, hatte er Glück, und der letzte Platz war immer noch … ein dritter Platz.

»Okay. Machen sie da dann ein Ultraschall von dem Baby?«, fragte ich.

»Ja, um sicherzugehen, dass es sich so entwickelt und wächst, wie es soll.« Meine Mutter wackelte mit ihren Fingern, und obwohl ich ihre Füße nicht sehen konnte, war ich mir sicher, dass sie auch mit den Zehen wackelte.

»Und erfahrt ihr da dann auch, ob es ein Junge wird?«

»Oder … ein Mädchen«, verbesserte sie mich.

»Genau. Oder ein Mädchen.«

Mom sah zu Dad. Und wieder zu mir. Sie nickte und lächelte. Das war ein Ja.

»Okay, dann geh ich lieber zum Training.«

»Was?« Mom guckte so entsetzt, als hätte ich gesagt, ich würde zum Mond fliegen.

»Damit ihr mich überraschen könnt!«

Ich liebe Überraschungen. Schon immer. Als ich noch kleiner war, haben meine Eltern immer Überraschungspartys für mich veranstaltet, und obwohl ich nie wirklich überrascht darüber war – einfach, weil sie es jedes Jahr getan haben –, fand ich es trotzdem cool. Aber dann hab ich sie irgendwann gebeten, mich an meinem Geburtstag lieber mit neuen Sneakern zu überraschen, damit ich dann die Welt überraschen konnte. Mein Vater überraschte meine Mutter übrigens auch ständig mit Blumen und anderem Mann-Frau-Kram, und meine Mutter überraschte uns mit Hühnerbein-Aufläufen und so. Ich meine, jetzt mal im Ernst: Die ganze Schwangerschaft war ja schon ’ne Riesenüberraschung. So ziemlich die größte, die ich je erlebt hatte! So BÄMM! LU, DU BEKOMMST EINEN KLEINEN BRUDER! Oder … eine Schwester. ÜBERRASCHUNG!

»Oh … kay.« Mein Vater sah meine Mutter an, und wieder zuckten beide mit den Schultern wie einstudiert. »Und weil wir dich deshalb nicht vom Training abholen können und weil wir uns schon gedacht haben, dass du lieber trainieren gehst, haben wir ausgemacht, dass, ähm …«, er räusperte sich, »… der Trainer dich nach Hause fährt.«

Ich nickte und knabberte an meinem Hühnerknochen.

»Aber sind das nicht tolle Neuigkeiten?« Meine Mutter lächelte so breit, als würde gleich die untere Hälfte von ihrem Gesicht runterklappen.

»Klar.« Ich wischte mir mit dem Handrücken den Mund ab. »Aber … es ist schon ein bisschen … ich weiß nicht. Es ist nur … ich hätte nie gedacht –«

»Ich weiß«, unterbrach mich mein Vater und legte seine Hand auf die meiner Mutter. »Wir auch nicht.«

Was ich sagen wollte, war, dass ich immer gedacht hatte, meine Mutter könnte keine Kinder mehr bekommen. Das hat sie zumindest immer gesagt. Das haben sie beide gesagt. Weil die Ärzte ihnen das so gesagt haben. Ihren Worten nach war ich schon ein Wunder gewesen. Ich hätte gar nicht geboren werden dürfen. Und noch ein zweites Kind war eigentlich völlig unmöglich. Ein Wunder mit noch extra Wunderstreuseln drauf.

Zauberei.

Ein Blitz, der einschlägt.

Zum zweiten Mal an derselben Stelle.

2

EIN NEUER NAME FÜR DAS TRAINING: Der Versuch, sich vor einem Haufen Leute nicht lächerlich zu machen

Ich bin im April geboren. Weil es in dem Monat viel regnet, ist es eigentlich nur logisch, dass ich ein Blitz geworden bin. Aber das Baby soll im Dezember geboren werden. Im Dezember regnet es nicht, da schneit es. Deshalb wird das Baby vermutlich eher eine Schneeflocke als ein Blitzschlag. Versteht mich nicht falsch, Schneeflocken sind schon okay. Sie sind auch alle unterschiedlich, außer, man hat eine ganze Handvoll davon, aber dann sind sie ja keine Schneeflocken mehr. Dann sind sie nur Schnee. Das andere ist, dass sie eigentlich nichts tun. Schneeflocken fallen vom Himmel, und das war’s. Sie schweben durch die Luft und landen mitten auf deiner Nase. Dort bleiben sie dann eine Sekunde lang sitzen. Und schon sind sie weg. Sie sind wunderschön, aber nicht wirklich was Besonderes. Nicht wie ein Blitz.

Blitze fallen nicht vom Himmel. Sie schlagen zu. Sie leuchten auf. Sie zerstören. Sie sind heiß. Sie legen Feuer. Genau wie ich. Ich weiß nicht, wie das Zukünftige-kleine-Baby sein wird, aber so bin ich. Ich und … vielleicht … vielleicht noch dieses eine Mädchen. Shante Morris. Sie ist auch im April geboren worden – ich weiß das, weil ihre Mutter früher an ihrem Geburtstag immer richtig eklige Cupcakes mit in die Schule gebracht hat –, und sie könnte auf jeden Fall auch ein Blitzkind sein. Sie schlägt zu und zerstört und setzt alles in Brand, so wie ich. Vor allem die Gefühle anderer Menschen. Nur – Shante sieht nicht aus wie ein Blitz. Sie sieht aus wie ’ne Fliege. Und wenn man aussieht wie ’ne Fliege, kann es schon passieren, dass manche Leute vielleicht laut darüber lästern, dass man so aussieht. Vor allem, wenn diese »Leute« Patty heißen.

Wir saßen auf der Bank neben der Aschenbahn und blätterten im Jahrbuch der Barnaby Middle School.

»Yo, Leute, ich schwöre, Shante Morris sieht echt aus wie ’ne Fliege«, lästerte Patty. Es war Montag, kurz vor dem Training und nach dem letzten Schultag vor den großen Ferien, den ich damit verbracht hatte, nichts zu tun, außer Filme zu schauen und immer wieder mein Letzter-Schultags-Outfit zu checken. Bloß kein Ausrutscher. Patty erzählte mir, sie hätte ihren letzten Tag – oder wenigstens ihre letzte Mittagspause – mit Freestylen verbracht. Also … mit Rappen. Reime ausspucken. Coole Wortspiele. Rhythmus. Patty. Die erzählt, dass die reichen weißen Mädchen an ihrer Schule den Rhythmus nicht wirklich gut halten könnten, aber dafür wären sie gut im Improvisieren und Lustige-Grimassen-Machen, was beim Rappen auch superwichtig ist. Und von da kamen wir allgemein auf lustige Gesichter, außerhalb vom Rappen. Und so landeten wir bei Shante Morris und ihrem Fliegengesicht.

Das Krasse daran war, Patty wusste genau, dass Shante nichts dafür konnte, dass sie große Augen hatte. Riesige Glupscher, die so groß wie Ohren waren. Shante hatte die schon, seit wir klein waren. Durch die großen Augen sah sie immer so aus, als wäre sie jedes Jahr wieder ganz überrascht darüber, wie eklig die Cupcakes ihrer Mutter waren. Ha! Sorry, Leute. Konnte ich mir nicht … Jedenfalls zog Patty nur deshalb so über sie her, weil Shante nicht in der Nähe war, um Patty ordentlich einzuheizen. Sie in Schutt und Asche zu verwandeln. Sie zu vernichten, wie es nur ein Blitz kann. Shante hatte so viele witzige Sprüche auf Lager, dass wir uns in der Grundschule immer im Kreis um sie drängten und riefen: »Mach sie fertig, Shante, mach sie fertig! Mach sie fertig, Shante, mach sie fertig!«, während sie Leuten ein paar ordentliche Blitzschläge verpasste, die es lustig fanden, sich über ihre Riesenglupscher lustig zu machen. Und eines dieser früheren Opfer war eben die unvergleichliche Patina Jones gewesen.

»Yo, sie hat nicht mal ’ne Stirn. Nur Augen. Ihr ganzer Kopf besteht nur aus Glotzaugen. Wenn sie blinzelt, muss sie gleichzeitig nicken.« Patty blinzelte und wackelte gleichzeitig mit dem Kopf, um das zu demonstrieren.

»Ja, ja. Läster nur. Aber das traust du dich jetzt nur, weil sie nicht hier ist, um sich zu verteidigen«, sagte ich, worauf Patty die Augen ganz weit aufriss, als wollte sie sie zwingen, aus ihrem Gesicht zu hüpfen, und weiter in den Seiten blätterte.

»Und sieh dir nur meine tolle Cotton an. Ooooooh. Sieht sie nicht süüüüüüß aus, Lu?« Sie hielt das Buch in die Höhe, damit ich Cottons Foto sehen konnte. Als würde ich sie nicht schon jeden Tag in der Schule sehen. Es lag übrigens nicht an der Beschichtung von dem Papier, dass sie so glänzte. Sondern an der Vaseline, die Cotton sich immer ins Gesicht schmierte, aus Angst, gehänselt zu werden, weil ihre Haut zu trocken und matt war. Zum Beispiel von Shante.

»Mir doch egal, Patty.« Patty zog mich nur deshalb mit Cotton auf, weil sie glaubte, ich würde sie mögen und wir sollten zusammen sein. Aber das tue ich nicht. Nicht so. Nicht wirklich. Sie ist schon cool. Aber mit ihr gehen? Mit so einem Fettgesicht? Niemals.

»Was ist?« Patty stieß mich an. »Klar ist sie das!«

Ghost kam über den Parkplatz zu uns geschlendert. Sunny saß auf der anderen Seite von Patty und reckte den Hals, um das Buch zu sehen und die vielen kleinen rechteckigen Fotos von Zahnspangen und Zöpfen, coolen Fassaden und stylischen Frisuren, die auf den Seiten präsentiert wurden. Er hatte noch nie ein Jahrbuch gesehen, weil man so was nicht hat, wenn man zu Hause unterrichtet wird.

»Okay, wartet mal … ihr bekommt jedes Jahr so ein Buch?«, fragte Sunny jetzt.

»Jap, jedes Jahr. Normalerweise geben die Leute ihre Bücher herum, damit ihre Freunde darin unterschreiben können und so, aber ich mach das nicht, weil ich sowieso schon weiß, was alle reinschreiben«, erklärte ich und griff nach den Goldketten um meinen Hals. »›Ich wünsche dir einen schönen Sommer, Lu, du cool-o Albino.‹«

»Ach, halt die Klappe, Mann.« Patty schüttelte den Kopf.

»Genau, halt die Klappe«, wiederholte Ghost, der endlich bei uns angekommen war. Er ließ seine Sporttasche fallen. »Keine Ahnung, warum Patty das gesagt hat, aber sie hat bestimmt recht damit.«

»Wir haben nur über das Jahrbuch geredet. Sunny hat noch nie eins gesehen«, sagte ich zu Ghost und klatschte ihn ab.

»Du hast noch nie ein Jahrbuch gesehen?«, fragte Ghost. Dann überlegte er und saugte an seinen Zähnen. »Klar hast du noch nie ein Jahrbuch gesehen.«

»Hey, du solltest einfach diese Frau, die dich unterrichtet, bitten –«, fing ich an.

»Aurelia«, verbesserte mich Sunny.

»Ja, die.« Ich beugte mich vor, damit ich Sunny sehen konnte. »Bitte sie doch, dir zu helfen, auch eins zu machen, mit Bildern von allem, was du dieses Jahr gemacht hast. Dancemoves und so.«

»Du kannst sogar so Kategorien einführen wie Der Schüler mit den coolsten Klamotten oder Der Schüler mit dem größten Potenzial und so. Natürlich ist dann immer nur ein Schüler abgebildet, aber es wär trotzdem cool«, fügte Ghost hinzu.

»Also … den Preis für den besten Tänzer würde ich bestimmt gewinnen.« Sunny nickte und wiederholte dann: »Be-stimmt. Benimmt. Ben! Nimmt …«

»Warte mal, warte.« Patty hob die Hand und unterbrach unser Gespräch, das immer schräger wurde, was für uns aber normal war. »Wisst ihr, was wir noch nicht gesehen haben?!« Ihre Augen leuchteten auf. »Das Foto von Mr. Cool-io-Albin-io!« Mit einem breiten Grinsen fing sie an, hektisch durch die Seiten zu blättern und nach dem Buchstaben R zu suchen. Nach mir.

»Hey, chill mal. Das braucht ihr echt nicht zu sehen.« Ich wusste, dass es schlimm war. Es war immer schlimm. Auf Fotos von mir sah man immer nur einen hellen Kamerablitz und kein Gesicht. Goldketten, die in der Luft hingen.

»Oh doch, das tun wir«, stimmte Ghost ihr zu.

»Nein, tut ihr nicht.« Ich riss Patty das Buch aus der Hand. Und stand auf, damit sie es sich nicht zurückholen konnte. »Außerdem, wo wir schon alle da sind, muss ich euch noch was erzählen.«

»Ich weiß schon, um was es geht, nämlich dass du –«, fing Patty gleich wieder an, bestimmt wieder wegen Cotton, aber ich unterbrach sie sofort.

»Kommt schon, Leute. Das ist mein Ernst.« Ich würgte Pattys Geläster einfach ab. Ghost hatte sich auf die Bank gesetzt, seine kaputten Turnschuhe mit dem abgeschnittenen Schaft ausgezogen und band sich seine Laufschuhe zu. Die Silberblitze. Sunny starrte auf den verblassten grünen Fleck an seinem Arm, der noch vom Wochenende übrig war. Einer von uns musste ihm vor jedem Wettkampf immer einen Stern auf den Unterarm malen, als Glücksbringer. Und ich stand vor ihnen, um meine Neuigkeit zu verkünden.

»Was geht?« Das war Ghost.

»Also, gestern Abend hab ich zu Hause gesessen und Hühnerbeine gegess –«

»Hühnerbeine?«

»Patty –«

»Sorry, tut mir leid«, sagte sie. »Sprich weiter.«

»Also, ich sitze mit meinen Eltern so am Tisch, und da erzählt mir meine Mutter plötzlich völlig aus dem Nichts heraus, dass sie schwanger ist.«

»Wie schwanger?«, fragte Sunny todernst. Ghost, Patty und ich sahen ihn genauso todernst an, so nach dem Motto, nicht dein Ernst, obwohl wir wussten, dass er das sehr wohl ernst meinte. Todernst. »Oh … du meinst, sie bekommt ein Kind. Kapiert.«

»Nicht irgendein Kind. Meinen kleinen Bruder oder meine kleine Schwester.«

»Aber … ich dachte …« Pattys Gesicht verzog sich, als würde es in einem Staubsaugerschlauch feststecken.

»Genau! Deswegen ist es ja auch so eine große Sache.«

»Wow.« Das kam von Ghost. Und dann wurde er ganz aufgeregt. »Alter … wow! Dann bist du bald ein großer Bruder.«

»Hilfe«, schnaubte Patty, aber ich wusste, dass sie Spaß machte. »Dann kannst du ja endlich aufhören, dich wie mein großer Bruder aufzuführen. Glückwunsch, Blödmann!« Sie sprang auf und nahm mich in den Schwitzkasten.

»Ja, Alter. Das ist richtig cool. Glückwunsch … echt jetzt«, meinte Ghost. »Freust du dich?«

Ob ich mich freute? Hmm. Das hatte ich mich schon die ganze Nacht und den ganzen Tag gefragt. Und vorhin auch, während ich mein Mantra aufsagte – ich bin der Boss, der Junge, der Checker. Hatte darüber nachgedacht, während ich meine Blitz-Haut mit Sonnenmilch eincremte und rieb und rieb und rieb und rieb. Während ich meine Halsketten umhängte, die Ohrstecker reinmachte und meine Klamotten anzog. Haltung. Haltung. Mach sie fertig. Schön geschmeidig. Und ich dachte immer noch darüber nach. Freuen?

»Ja«, krächzte ich. »Ich meine, es wird schon seltsam sein, plötzlich ein kleines Kind im Haus zu haben, aber … ja. Ich glaube, ich freue mich.« Patty legte den Kopf schief. »Ich freue mich wirklich.« Ich lächelte mit geschlossenem Mund, was so viel bedeutete wie: Hört auf, mir Fragen zu stellen. Aber so, wie Ghost mich mit zusammengekniffenen Augen musterte, wusste ich, dass er wusste, dass da noch was war. Doch bevor er noch was dazu sagen konnte, platzte es aus Sunny heraus.

»Darauf einen Toast!«

»Einen Toast?« Bei Sunny wusste man nie. Er konnte in so einer Situation auch vier Brotscheiben aus der Tasche ziehen, die er sich für besondere Gelegenheiten aufgehoben hatte. Oder er stellte sich vor, er wäre schon erwachsen, und meinte so einen Toast, wo man mit Gläsern anstieß und so. Aber er bückte sich nur und grub die Hände in die Wiese und hob einen Klumpen Erde und Gras auf.

»Los, macht schon«, sagte er auf ganz un-Sunny-hafte Weise, in einem viel zu ernsten Ton. Deshalb taten wir es ihm nach. Hielten Brocken mit Gras und Erde in den Händen. »Und jetzt alle zusammen.« Sunny streckte die Faust vor, Patty legte ihre Faust an seine, Ghost seine an ihre und ich vervollständigte diesen kitschigen Vierer-Check – ein vierfaustiges Kleeblatt –, indem ich ebenfalls die Faust ausstreckte. »Lu, du bist echt cool und …«, fing Sunny an, doch dann versagte ihm die Stimme. Was typisch Sunny war. »Und wir gratulieren dir zu deinem zukünftigen kleinen Baby-Geschwisterchen.« Dann brüllte er laut: »Darauf ein lautes Boomtick-tickity Hurra!«, öffnete die Hand und ließ Erde und Gras zu Boden rieseln. Wir öffneten ebenfalls die Fäuste und taten es ihm nach. Und ich will nicht lügen, es war wirklich irgendwie cool. Bis …

»Neulinge! Was macht ihr da? Wir haben die letzte Trainingswoche, und da kommt ihr ausgerechnet jetzt auf die Idee, im Dreck zu spielen? Wie wär’s mit ’ner Runde auf der Aschenbahn? Was haltet ihr davon?«, bellte der Trainer, der wie immer zur richtigen Zeit eingetroffen war. Aber die richtige Zeit für ihn bedeutete leider die falsche Zeit für uns, und das bedeutete für uns keine Zeit mehr für irgendwelchen Quatsch.

Ich klatschte in die Hände, wischte mir den Dreck von den Handflächen und ging zur Aschenbahn, wo schon das restliche Team wartete. Mikey, Brit-Brat, Deja, Krystal, Freddy, J. J., Curron, Lynn, Melissa und … Chris. Chris? Was machte der denn hier?

Chris Myers. Langstrecke. Lief die achthundert Meter. Und mit ziemlich guten Zeiten. Er war ebenfalls im Team der Defenders gewesen, hatte aber nach dem ersten Wettkampf wieder aufgehört. War plötzlich einfach nicht mehr gekommen. Aber jetzt war er wieder hier, was ich seltsam fand, weil die Saison so gut wie vorbei war.

»Danke, dass du auch endlich auftauchst, Kapitänsassistent.« Jap, Aaron war auch schon da. Und führte sich wie ein Arschloch auf. Wie immer. Sobald ich den Fuß auf die Aschenbahn setzte, musste er mich dumm anmachen. Weil er sauer war, dass ich mich als Neuling zum Co-Kapitän hochgearbeitet hatte. Weil er Schiss hatte, ich könnte ihn übertrumpfen, was übrigens nicht sehr schwer gewesen wäre. Aaron war schnell, aber nicht schnell genug. Ich dagegen war der schnellste Läufer der Mannschaft, außer Ghost, und wir beide waren ungefähr gleich schnell. Wir holten abwechselnd bei den Wettkämpfen den ersten Platz. Außerdem war ich definitiv der Coolste in der Mannschaft.

»Co-Kapitän«, verbesserte ich ihn. »Hier ist keiner dein Assistent.« Ich musterte Aaron von oben bis unten.

»Ja, klar«, erwiderte Aaron leise. »Hier ist keiner mein Assistent – außer dir.«

»Okay, okay«, fing der Trainer an und hinderte mich so, was darauf zu sagen. »Reden wir. Das Wichtigste zuerst. Bitte begrüßt Chris wieder in unserem Team. Obwohl er sonst die achthundert Meter rennt, hat er sich bereit erklärt, einzuspringen und Sunnys Meile zu laufen, weil Sunny es ja nicht mehr tut.« Lynn saugte so laut an ihren Zähnen, dass es wie ein Schmatzen klang. Der Trainer sah sie streng an, ging aber nicht weiter darauf ein. »Wir brauchen ihn. Wir brauchen jeden von euch in Bestform. Das ist die letzte Woche der Saison. Die allerletzte. Und ich weiß, ihr wollt von mir hören, was ihr gut gemacht habt. Ihr wollt hören, dass ich euch lobe, und ehrlich gesagt, habt ihr auch alle Lob verdient. Aber dafür fehlt mir die Zeit. Dafür fehlt uns die Zeit. Wir haben noch vier Trainings bis zum Meisterschaftswettkampf. Und ihr wisst ja, was ich immer sage –«

Weil wir alle schon wussten, worauf er hinauswollte, fielen wir ein und beendeten den Satz für ihn.

»Die Besten rasten nicht.« Wir riefen mit genug Wumms, dass der Trainer nicht sauer sein konnte, zogen es aber gleichzeitig auch ein bisschen auf diese Das-nervt-total-Art in die Länge. Wir alle. Sogar Chris. Sogar Aaron.

»Genau. Die Besten … rasten … nicht. Und wir sind die Besten. Und das bedeutet: mehr Arbeit. Wir müssen bis zum Schluss alles geben. Verstanden?«

Alle nickten, und ein paar Leute – hauptsächlich Aaron – flöteten schleimig wie Schnecken: »Kapiert, Trainer.«

»Gut.« Der Trainer nickte. »Wenigstens ist das Wetter auf unserer Seite. Nicht zu heiß. Und schön windig. Fangen wir mit den Dehnübungen an. Lu, wenn du dich warm gelaufen hast, kommst du bitte mal zu mir.«

Nach dem Dehnen und ein paar lahmen Aufwärmrunden – Aaron gab immer das Tempo vor, weshalb sie immer viel zu langsam waren – ging ich zum Zaun, wo der Trainer und seine Assistentin Ms. Whit den Plan für die letzte Saisonwoche durchgingen. Whit blies in ihre Pfeife, damit die anderen sich bereit machten, das zu tun, was wir montags immer machten: Fahrtspiel. Dabei rennt man so mittelschnell für zwei oder drei Minuten und dann eine Minute lang richtig schnell. Und das noch mal und noch mal und noch mal. Echt heftig.

»Wie geht’s deinem Knöchel?«, fragte der Trainer und schaute auf meinen Fuß. Er fragte das, weil ich nach dem letzten Wettkampf ein bisschen gehumpelt war. Weil, normalerweise renne ich die hundert Meter und die zweihundert, und obwohl ich die vierhundert Meter nicht renne, würde ich bestimmt alle abhängen, wenn ich es täte. Das wäre dann Aarons erste Zweiter-Platz-Medaille des Jahres. Weil ich ein echter Sprinter bin. Die ganze Welt weiß, dass ich auf der Aschenbahn rasiere. Ich renne schon seit, na ja … ziemlich lange schon. Aber im letzten Monat habe ich für eine neue Disziplin trainiert. Eine zusätzliche. Die Einhundertzehn-Meter-Hürden. Und ich will euch nichts vormachen, ich … ich bin einfach …

Es ist so. Wenn man sich so eine Hürde anschaut, kommt sie einem erst gar nicht so hoch vor, bis man dann direkt vor ihr steht. Man muss genau den richtigen Zeitpunkt erwischen, um zu springen, und man muss den Mut finden, das Bein hoch und über die Latte zu schwingen. Man kann nicht einfach locker drüberhüpfen, so wie man über eine Parkbank hüpft oder einen Feuerhydranten. Man muss quasi darübergaloppieren wie ein Pferd. Aber ich bin kein Pferd. Ich bin ein Mensch. Ein kein-sehr-großer Mensch.