Ästhetik in Krisenzeiten - Gregory Fuller - E-Book

Ästhetik in Krisenzeiten E-Book

Gregory Fuller

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Beschreibung

Mit »Ästhetik in Krisenzeiten« legt Gregory Fuller eine der im deutschen Sprachraum grundlegendsten Bestandsaufnahmen der Gegenwartsästhetik vor. Die beiden Leitfragen lauten: Was kann die Ästhetik heute, in Zeiten der umfassenden ökologischen Krise, leisten? Welchen zukünftigen Weg könnte eine zeitgemäße Ästhetik beschreiten? Der Autor nimmt Abschied von veralteten ästhetischen Begriffen wie Schein, Mimesis, dem Werkbegriff und von Wahrheitstheorien aller Art sowie von der durch Hume und Kant begründeten Urteilsästhetik. In gut kantischer Manier unterzieht Fuller alles einer Prüfung, auch etwa die empirische Ästhetik und den Schönheitsbegriff. Ins Zentrum seiner Theorie rückt er stattdessen die subjektive ästhetische Erfahrung, d.h. die Rezeptionsästhetik. In drei materialreichen Kapiteln fragt er anschließend nach den heutigen Bedingungen von ästhetischer Alltags-, Natur- und Kunsterfahrung. Um zu einer Neuausrichtung der gegenwärtigen und zukünftigen Ästhetik zu gelangen, bezieht Fuller auch außerästhetische Theorien wie etwa die Choice Theory, die Material Culture Studies und Emotionstheorien in seine Überlegungen mit ein. Es gilt, der Subjektivität ästhetischer Erfahrungen jeden Freiraum zuzugestehen und den Blick zu schärfen für das heute drängendste ästhetische Problem: die Gewinnung eines neuen Naturverhältnisses im Angesicht der ökologischen Weltvernichtung. Darüber hinaus ist es Fuller ein Anliegen, das ästhetische Spektrum geografisch-kulturell für die im Entstehen begriffene, in seinem Buch mehrfach diskutierte und angewandte Globalästhetik zu öffnen.

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Gregory Fuller

Ästhetik in Krisenzeiten

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar.

eISBN (PDF) 978-3-7873-4348-5

eISBN (ePub) 978-3-7873-4349-2

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2023. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Konvertierung: Bookwire GmbH

INHALT

Einleitung

Vorrede: Von den Krisen

Keine ästhetische Krise

Empirische Ästhetik

Götterdämmerung des ästhetischen Urteils

Die Rückkehr der Schönheit

Ästhetische Erfahrung I: Alltagsästhetik

Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene

Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption

Abbildungen

Anmerkungen

Personenregister

EINLEITUNG

Unter »Ästhetik« verstehe ich nicht die traditionelle Lehre vom Schönen. Die Moderne des 20. Jahrhunderts lehrte uns, dass ästhetische Erfahrungen keineswegs »schön« sein müssen, um bedeutsam zu sein. Unter Ästhetik verstehe ich, auf Alexander Baumgartens Aesthetica von 1750 zurückgreifend, eine sinnliche bzw. kognitive Erfahrung von Gegenständen, seien es Kunstprodukte, die Natur oder einfache Alltagsgegenstände. Etwas ästhetisch erfahren heißt, zunächst eine Perzeptionserfahrung zu machen. Dabei kommt es auf das Wie an: Wird der Gegenstand »ästhetisch« erfahren oder nur als Perzeptions- und Kognitionsreiz? Das Kapitel über empirische Ästhetik gibt darüber einige Auskunft.

Wozu soll man, nicht in dürftiger, sondern zumindest in ästhetisch übervoller Zeit, überhaupt Ästhetik betreiben? Aus drei Gründen. Zum einen tobt um uns herum eine Moderne – keine »Spätmoderne«, keine »Postmoderne«, keine »zweite Moderne« –, die die Perzeptionswelt dergestalt verwandelt, dass ich sie mit dem Begriff der Digitalen Moderne auf den Begriff bringen möchte. Sie verändert die ästhetischen Erfahrungen auf eine nie gekannte, rasante Weise.

Zum anderen lohnt es sich, die Möglichkeiten der zeitgenössischen Ästhetik, die sich im Umbruch befindet, nicht jedoch in der Krise, zu erkunden und zu diskutieren. Ich bemühe mich in diesem Versuch (buchstäblich essai) um die Beantwortung einer Reihe von Fragen im Hinblick auf eine zeitgemäße, grundlegende ästhetische Theorie.

Es gibt noch einen dritten Grund, heute Ästhetik zu betreiben. Die Makrokrise der sich anbahnenden ökologischen Zerstörung, ja der Weltkatastrophe, konfrontiert uns mit der Frage, ob wir weiterhin die Umweltzerstörung fortsetzen wollen, und wenn nicht, welche harten Konsequenzen wir hinzunehmen bereit sind. Sollte man überhaupt die Ruhe finden wollen, sich mit Ästhetik abzugeben, wo es drängt und an allen Ecken knirscht? Ich meine ja, denn die Auslöser ästhetischen Empfindens gehören zum Großartigsten, das die Welt hervorbringt. Dazu gehören auch Kunstprodukte. Sie bestätigen das Menschsein gerade in Zeiten der ökologischen Verwandlung der Welt zum Negativen. Aber Vorsicht: Kunstwerke im weitesten Sinn sind keine Lösung, sie sind ebenso wenig Heilsbringer wie ihre Hervorbringer, die Künstlerinnen und Künstler. Kunstprodukte mögen großartig sein, sie dürfen jedoch keine Erhabenheit für sich beanspruchen, wie zu beweisen sein wird. Ihr Wirkungskreis bleibt sehr klein; aber besser klein als gar nicht vorhanden. Eine weitere Warnung: Man sollte nicht versuchen, die Ästhetik dazu hinzubiegen, außerästhetische Probleme ästhetisch zu lösen. Die engen Grenzen einer engagierten Naturästhetik bespreche ich im sechsten Kapitel, Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene.

In jedem der sieben Kapitel diskutiere ich Grundlegendes: In einem Rückblick hole ich im ersten Kapitel, Keine ästhetische Krise, weit aus, vielleicht allzu weit, um theoriekritisch von den 1960er Jahren zu einer hochaktuellen Bestandsaufnahme in den 2020er Jahren zu gelangen. In diesem ersten Kapitel sortiere ich vieles Althergebrachte aus der zeitgenössischen Ästhetik aus. Im zweiten Kapitel, Empirische Ästhetik, frage ich, inwieweit ein naturwissenschaftlich basiertes Herangehen dazu beitragen kann, ästhetische Fragestellungen mit zu beantworten. Im dritten Kapitel, Götterdämmerung des ästhetischen Urteils, kritisiere ich die über zweihundert Jahre alte, vor allem von Hume und Kant begründete Urteilsästhetik. Ist sie noch zeitgemäß? Das bezweifle ich und schlage Alternativen vor. Im vierten Kapitel, Die Rückkehr der Schönheit, beobachte ich die Relevanz der Schönheitsempfindung heute und kritisiere die Digitalwelt. Schließlich gehe ich in den letzten Kapiteln fünf, sechs und sieben in die Tiefe der drei ästhetischen Erfahrungsbereiche, nämlich Ästhetische Erfahrung I: Alltagsästhetik, Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene und Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption. In diesen drei Kapiteln untersuche ich die unterschiedlichen Erfahrungsbereiche der Ästhetik. Wie ist die jeweilige ästhetische Erfahrung möglich? Was sind ihre Parameter und was können wir von ihr erwarten?

In dieser Ästhetik bemühe ich mich um einen vernünftigen Weg und versuche, sinnvolle, konsensfähige Lösungen anzubieten. Das Vorgehen will pragmatisch sein. Pragmatisch bedeutet zweierlei: Semiotisch gesehen hat Pragmatik mit dem Verhältnis von Zeichen und Interpret zu tun. Diesen Pragmatik-Begriff weite ich auf das perzipierende Subjekt aus, das Kunstprodukte erfährt mit all ihren ästhetischen Genüssen. Daher befasst sich diese Untersuchung nicht mit der Produktionsästhetik. Ich konzentriere mich ganz auf das interpretierende, erfahrende Subjekt der Rezeptionsästhetik. Diese Ästhetik untersucht die Subjektivität der vielfältigen ästhetischen Erfahrungen; was aber keineswegs die Ästhetik subjektiv mystifizieren soll. Gerade alle reduktionistischen, monokausalen oder monothematischen Begriffe und Theorien kritisiere ich. Es gilt, aufgeblasenen Begriffen durch beherztes Anstechen des Ballons ein Ende mit einem Knall zu bereiten. Ich bemühe mich, die Ästhetik einzuschränken, um ihr eine neue Perspektive zu ermöglichen, um der zeitgenössischen und zukünftigen Ästhetik neue Felder zu erschließen: der urteils- und normfreien Ästhetik, der empirischen Ästhetik, der Globalästhetik, der Alltagsästhetik, der neuen Naturästhetik unter dem Damoklesschwert der Vernichtung. Die Verabschiedung der veralteten Urteilsästhetik macht den Weg frei für viele Rekonfigurationen, zum Beispiel vom hedonischen Wert.

Die Verschlankung der Ästhetik impliziert außerdem die Befreiung von alten philosophischen Kategorien wie Schein, Mimesis, Werkbegriff, Essentialismus und Wahrheitstheorien aller Art, um nur ein paar zu nennen. In gut kantischer Manier gilt es, alles einer Prüfung zu unterziehen und stets die ästhetischen Grenzen, zum Beispiel des Erhabenheitsbegriffs, mitzureflektieren. Wer vermutet, ein Paradigmenwechsel der ästhetischen Theorie stehe notwendigerweise an, der muss radikalkritisch denken. Insofern muss ich selbstkritisch anmerken: Vielleicht bin ich, wenigstens gelegentlich, über das Ziel hinausgeschossen. Am wenigsten steht es einer Ästhetik, die Neuland betritt, zu, Wahrheit für sich zu beanspruchen und diese im Überschwang der Entdeckerfahrt für sich zu pachten. In der dynamischen Ästhetik ist nichts »wahr«, nicht einmal der problematische Begriff. Que sais-je?

Daraus folgt: In der zeitgenössischen Ästhetik dürfen keine großen Ideen allgemeiner Art, keine philosophischen Prinzipien vorherrschen, aus denen Ästhetisches abzuleiten wäre, was eine Ästhetik perspektivierte, somit präjudizierte. Ich biete kein ästhetisches Prinzip an. Ich leite nichts her. Ich suche nach Einzellösungen und stelle lediglich Zusammenhänge her. Alltag, Natur und Kunst sind dynamische, subjektive Erfahrungen, die unser emotionales Gehirn interessiert erfährt. Nicht nur in diesem Kontext von Kants ästhetischer Interesselosigkeit erlaube ich mir, bei aller Hochachtung vor dem großen Königsberger, ja bei aller Zuneigung zum Aufklärer Kant, kreativ mit seiner Kritik der Urteilskraft umzugehen. Seine überaus bedeutsame Theorie des »interesselosen Wohlgefallens« ist so kompliziert und scheint auf den ersten Blick durchaus überzeugend, sodass ich in dieser kleinen Schrift mehrere Anläufe benötige, um zu einem ausgewogenen Urteil darüber zu gelangen.

In dieser verschlankten Ästhetik eröffnen sich neue Felder. Insbesondere die heutzutage schon allein aus Respekt vor anderen Kulturen absolut gebotene Globalästhetik beziehe ich in diese Überlegungen so weit wie möglich mit ein. Mein Ansatz der Globalästhetik in dieser Schrift erhebt keinesfalls Anspruch auf Vollständigkeit. Ich setze lediglich globalästhetische Zeichen, die zukunftsweisend sein könnten. Hier wäre noch viel zu leisten, von mir und in jeder zukünftigen Ästhetik, die die Zeichen der Zeit freudig und angstfrei erkennt. Eine Welt wäre zu gewinnen.

VORREDE: VON DEN KRISEN

Die Ästhetik darf sich der Welt nicht verschließen. Eine ästhetische Studie, die die Krisen ihrer Zeit ausklammerte, würde ihre Weltfremdheit nicht abschütteln. Diese Ästhetik hingegen verpflichtet sich einer möglichen selbst begründeten esthétique engagée (sofern man überhaupt davon sprechen kann), denn die globalen Krisen pochen auch an ihre Türe. Inwieweit sich der Gedanke einer engagierten Ästhetik allerdings realisieren lässt, wird sich hier im Naturkapitel Ästhetische Erfahrung II ergeben.

Da der ästhetische Zugang zu den Künsten auf der Metaebene stattfindet, vermag die Ästhetik selbst natürlich keine Lösungen für die globalen Probleme anzubieten. Sie hat jedoch etwas zu diesen Problemen zu sagen, und insofern versuche ich, sinnvolle Konsequenzen aus den Weltkrisen zu ziehen, wie sie sich in diesem ästhetischen Zugang offenbaren. Die zu ziehenden Konsequenzen ergeben sich im Lauf der Kapitel, insbesondere beim Kapitel über die Naturästhetik. Das Engagement erstreckt sich auch auf mein Bemühen, eine allgemeinverständliche, vernünftige und humane Ästhetik in die Welt zu setzen. Sie soll ihre Leserinnen und Leser darin unterstützen, großen ästhetischen Genuss und, falls nötig, Trost in den Künsten zu erfahren. Das impliziert eine kleine Auseinandersetzung mit der Vergeblichkeit, der Kassandratochter der Vergänglichkeit. Letztere wird sichtbar im späten grafischen Werk von Leonardo da Vinci, worin Megastürme alles Irdische hinwegzufegen drohen; womit Leonardos Werk tragischerweise Aktualität beweist. Denn die Welt, wie wir sie kennen, beginnt sich vor unseren Augen aufzulösen und in Stürmen, Wassermassen, Hitze, Waldbränden und in entwaldeten Wüsten zu vergehen. Damit spreche ich die einzige, aber gigantische Makrokrise der Ökologie an. Sie überwölbt alles in ihrer dräuenden Bedeutsamkeit und beginnt, alle Lebensbereiche mit ihrer Wirkungskraft zu durchdringen.

Ich diskutiere zwei wesentliche gegenwärtige Ausprägungen von Krisen: die einzige Makrokrise der Ökologie (die eben nicht nur mit dem Klimawandel zu tun hat, sondern auch etwa mit dem katastrophalen Artensterben). Danach greife ich eine grundlegende Mikrokrise heraus, die Mikrokrise des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Mikrokrisen halte ich prinzipiell für lösbar, die Makrokrise der Ökologie jedoch nicht mehr.

Die fortgeschrittene Zerstörung der Mitwelt verneint, was Kant in der Kritik der Urteilskraft prädarwinistisch als »objektive Zweckmäßigkeit der Natur« bezeichnete.1 Die natürliche Entfaltung der Natur und das ungehinderte Wirken ihrer Interdependenzen geraten zusehends durcheinander. Der Klimawandel ist bereits hier, schrieb David Wallace-Wells, und »… es wird kein Normal mehr geben«.2

Im Jahr 2018 warnten 42 Wissenschaftler aus aller Welt, dass kein Ökosystem der Erde sicher wäre, wenn wir so weitermachten wie gegenwärtig.3 Andere Kritiker sprechen davon, dass diese »hegemoniale Zivilisation des globalisierten Kapitalismus«, das sie »Empire« nennen, vollkommen gescheitert sei.4 Die Umweltprobleme, schrieb Ulrich Beck, sind »grundsätzlich in ihrer Verursachung und in den erwartbaren Konsequenzen nicht-linear geworden, diskontinuierlich sowohl im Raum als auch in der Zeit, was sie ihrer Natur nach unvorhersehbar, kaum begreifbar macht«.5 Heute bestehe ein »Verantwortungs- und Zurechnungsdefizit«.6 Die Welt wurde unvorhersehbar, ja, die Unvorhersehbarkeit kann man nun als Konstante bezeichnen.

Da ich an anderer Stelle7 ausführlich auf das ökologische Problem (um es freundlich zu formulieren) der Menschheit eingegangen bin, fasse ich nur einige Punkte zusammen, die uns in den Abgrund führen. Die Problemfelder können als bekannt vorausgesetzt werden; eine gute Zusammenfassung liefert auch David Wallace-Wells.8

Dass der Planet der extremen Aufheizung noch in diesem Jahrhundert entgegengeht, darf als absolut gesichert gelten. Aufgrund des gegenwärtigen Kohlendioxidausstoßes wird sich die Aufheizung nicht auf +2 °C bis zum Jahr 2100 eingrenzen lassen. Da CO2 bis zu 120 Jahren in der Atmosphäre verbleibt, würde sich selbst bei sofortigem (utopischem) Stopp aller CO2-Immissionen der Treibhauseffekt weiterhin massiv verstärken. Weil die übersäuerten und mit Plastikabfällen befallenen Weltmeere und die schwindenden Waldflächen immer weniger CO2 aufnehmen können, potenziert sich der Treibhauseffekt. Ein paar Beispiele: Die fünf heißesten Sommer seit dem Jahr 1500 fanden nach 2002 statt. Laut dem Weltklimarat der UN lagen die arktischen Oberflächentemperaturen 2016–18 bereits 6 °C über dem Durchschnitt der Jahre 1981–2010.9 Schon bei einer planetarischen Aufheizung um 5 °C wäre ein Überleben für weite Teile der Weltbevölkerung unmöglich. Bei einer Erderwärmung von 7 °C würden Menschen in der Äquatorialzone zu Tode gekocht.10

Ganz abgesehen von Ernährungsproblemen, vom Süßwassermangel, von Hitzesommern und extremen Wetterausprägungen ungeahnten Ausmaßes, bedingt die planetarische, menschengemachte Aufheizung mehrere Rückkopplungen: Jedes Jahr erfährt jetzt auch der reiche Westen eine Sommerdürre und einen Waldbrand nach dem anderen, was wiederum den Treibhauseffekt verstärkt. Der Aufheizeffekt trifft die polaren Eisschilde mehrfach, d. h. sie schmelzen rapider als vor 20 Jahren angenommen, und zwar in allen Monaten im Jahr, »unprecedented in at least 1000 years«, wie der Weltklimarat feststellt.11 Das Schmelzen des Polareises wird nicht nur die Meeresströmungen verändern, sondern durch das Fehlen des Polareises wird weniger Sonne ins All zurückstrahlen können, was wiederum den Treibhauseffekt verstärkt und den Meeresspiegel um Dutzende von Metern ansteigen lassen wird.

Am meisten Sorge macht mir der auftauende sibirische und kanadische Permafrost. Der Kipppunkt könnte schon jetzt erreicht sein. Im Permafrost sind 30–60 Milliarden Tonnen Methan gebunden, die mindestens fünfundzwanzigmal (kurzfristig bis zu achtzigmal) so stark zum Treibhauseffekt wie CO2 beitragen.12 Da Methan (bisher) nur bis zu 18 % zum Treibhauseffekt beiträgt, muss man ab jetzt bei Methan mit einem prozentualen Anstieg in der Gesamtmasse des Treibhauseffekts rechnen; was wiederum die Welttemperatur ansteigen lassen wird. Mit anderen Worten: Schlägt erst einmal die Permafrost-Entfrostung zu, wird sich die Aufheizung des Planeten potenzieren mit einer Potenz, die man noch gar nicht abzuschätzen vermag. Die Frage ist nicht, ob, sondern wann der Kipppunkt der Aufheizung von Tundra, der Kipppunkt der übersäuerten Meere und der Kipppunkt der Polareisschmelze erreicht sein wird. Zu den Weltmeeren sei noch angemerkt, dass es jetzt schon mehr als 400 große maritime »Todeszonen« gibt, hervorgerufen durch Meereserwärmung, Meeresübersäuerung und Meeresverschmutzung.13

Die Aufheizung des Planeten mit den immensen Ernährungs- und Desertifikationsproblemen, die sie nach sich zieht, wird mindestens ein Dreifaches für die Weltbevölkerung bedeuten: anwachsende Migrationsströme, Hunger und Klimaauseinandersetzungen bis hin zu Klimakriegen.14 Das ZDF berichtete von 80 Millionen Flüchtlingen weltweit im Jahr 2019, Tendenz steigend.15

Das fürchterliche und unumkehrbare Artensterben in diesem Anthropozän möchte ich nur kurz ansprechen: Es nimmt exponentiell zu und hat nun auch die Insekten erfasst. Mindestens 150 Arten sterben pro Tag aus. Man vermag nicht einmal abzuschätzen, wie viele pro Jahr vergehen. Eine Schätzung reicht bis zu 58.000 Arten.16 Ganz gleich, ob diese Zahl zu hoch gegriffen sein mag: die unumkehrbare Tendenz zählt. Der Klimawandel ist natürlich nicht die einzige Ursache für das Artensterben. Eingeengte Lebensräume der Wildtiere durch Überbevölkerung, Wilderei, Abholzung der Urwälder, Austrocknung und Desertifikation, Intensivlandwirtschaft mit Insektiziden, Pestiziden und Monokulturen tragen ebenso dazu bei. Kurz: Alles, was wir tun, bringt sich ein in den Verlust der Biodiversität und in den sich anbahnenden Klimakollaps.

Wie Jonathan Franzen schreibt: An einer Lösung des Klimawandelproblems sind wir gescheitert.17 Read und Alexander gehen noch weiter: Die industrielle Wachstumsgesellschaft sei gescheitert, bei der der Wachstumswahn einen zentralen Bestandteil bildet.18 Diese Kerntendenz von Ressourcenausbeutung, Nutzung und Übernutzung der Natur, diese Verdichtung der Herrschaft über die Natur nannte ich 1993, in Anlehnung an Thomas S. Kuhns Theorie der wissenschaftlichen Paradigmen, das Super-Paradigma der Menschheit.19 Mit jeder industriell-technologischen Revolution seit 1750 wächst die Naturbeherrschung und somit die Naturzerstörung. Im Jahr 2017 war ich gezwungen, mich zu korrigieren: Ein allzu rasantes Tempo hatte die Mitweltzerstörung inzwischen angenommen. Ich spreche nun von einem »beschleunigten Super-Paradigma«.20 Oder wie Franzen schreibt: »Das Erschreckendste am Klimawandel ist die Geschwindigkeit, mit der er voranschreitet …«21Der globalisierte Kapitalismus, von unserer Hybris gegenüber der Natur begleitet, potenziert die erweiterte Mitweltzerstörung, indem er beschleunigend wirkt.

Die Fridays-for-Future-Bewegung und viele andere Umweltgruppen und -bewegungen halten dem System den Spiegel vor: Ihr raubt uns die Zukunft. Die kritischen Teenager weisen mehr ökologische Einsicht auf als die egoistische Erwachsenenwelt. Parallel zum berechtigten Aufbegehren, das sich in eine weltweite Bewegung verwandelte, begann seit Anfang 2020 die sogenannte »Klima-Angst« oder »Klima-Trauer« um sich zu greifen. Um den Rest der Menschheit ökologisch aufzuwecken, hoffen Read und Alexander auf ein »ökologisches Pearl Harbor«.22 Aber – davon hatten wir bereits mehrere, nämlich Tschernobyl, Bhopal, Seveso, Fukushima sowie jährliche Extremwetterlagen und jährliche Waldbrände. Eine eindämmende Reaktion kommt zu spät, worauf uns schon allein der unumkehrbare Treibhauseffekt hinweist.23 In diesem Kontext: Die weltumspannende Makrokrise des Ökozids muss jetzt als prinzipiell unlösbar gelten; zu punktuell, zu zaghaft und vor allem zu spät tröpfeln die kleinen Reformen halbherzig und unaufrichtig auf die brandheiße Oberfläche des Geschehens; und verdampfen zischend. Wenn systemische Kipppunkte einmal erreicht werden, geht der Kollaps ganz schnell vonstatten. Zu unwillig, zu arrogant, zu systemverhaftet und im Prinzip: zu gleichgültig der Mitwelt gegenüber agiert die Politik das beschleunigte Super-Paradigma aus, bis zum letzten Süßwassertropfen.

Geradezu erholsam mag es erscheinen, sich von der unlösbaren ökologischen Makrokrise den prinzipiell lösbaren Mikrokrisen zuzuwenden. Ganz abgesehen vom ökologischen Wandel durchleben wir eine Zeit mehrerer Gesellschaftskrisen. Die erste gesellschaftspolitische Mikrokrise ist der soziale Strukturwandel der letzten Jahrzehnte, der einhergeht mit einer Partizipationskrise.

Heutzutage, schreibt Mishra, durchleben wir eine universelle politische Krise: von Rechtsregierungen, Despotie, einer vergifteten politischen Atmosphäre in sehr vielen Ländern und von Terrorismus.24 Nach dem Ende des Kalten Kriegs 1989/1990 gab es große Erwartungen, und die Nichteinlösung vieler Versprechen führte zur Desillusionierung vieler Menschen. Diese »große Erzählung des gesellschaftlichen Fortschritts« in wirtschaftlicher, politischer, sozialer, kultureller und technischer Hinsicht, die »liberale Fortschrittserzählung«, wie Reckwitz schreibt, sei brüchig geworden.25 Heute machten sich Gefühle der Ausweglosigkeit und der Nostalgie breit, verbunden mit einer Sehnsucht nach den Fortschritten der 1950er Jahre, nach den Trentes Glorieuses von 1946–1975.26

Die Krise dringt tiefer als eine Nostalgiestimmung. Tatsächlich haben wir es mit einer Vertrauenskrise zu tun, nicht nur in der Politik, sondern dem Leben gegenüber. Da die prinzipiell unlösbare ökologische Makrokrise nun ins allgemeine Bewusstsein gedrungen ist, verwundert das nicht: Als Resultat entsteht eine allgemeine Vertrauenskrise. »Wohin wir sehen, ist das Vertrauen in die Kontrollierbarkeit unserer Welt ins Wanken geraten. Der Klimawandel erschüttert unser Vertrauen in den Kapitalismus, der uns bisher doch so zuverlässig mit Wohlstand versorgte. Der Populismus erschüttert unser Vertrauen in den Kompromiss, der Terrorismus erschüttert unser Vertrauen in die öffentliche Sicherheit, Fake-News erschüttert unser Vertrauen darauf, dass es überhaupt so etwas wie Wahrheit gibt, auf die wir uns einigen können«, heißt es in der ZEIT.27 Es geht um den Verlust des Gefühls, dass das Alltagsleben sich so, wie man es gewohnt war, fortsetzen wird. Hierin drückt sich eine Kontinuitätskrise aus: Nach allem, was man weiß, kann und wird es so nicht weitergehen. Das westliche Geschäftsmodell, Wachstum durch Ausbeutung, ist bankrott.28 Und dennoch sind die Zustimmungswerte zur Demokratie hoch, wie Umfragen ergeben. Eine europäische Erhebung von 2012 über die Wichtigkeit, in einem demokratisch regierten Land zu leben, mit einer Skala von 0–10, zeigte eine breite Zustimmung der eigenen Bevölkerung: Skandinavien 9.2, übriges Westeuropa 8.5, Südeuropa 8.6, Zentral-/Osteuropa 8.1, hybride Demokratien 7.3, alle: 8.4.29 Dennoch fühlen sich viele Menschen mit der Repräsentation ihrer selbst im politischen Geschehen nicht zufrieden. Diese Partizipationskrise im Verhältnis zu hohen Zustimmungswerten für die Demokratie nennen die Autoren/innen Allmendinger et alii das »demokratische Paradox«, was mit den Erwartungen der Bürger im Parteiensystem zusammenhänge.30 Das betrifft im Wesentlichen die gut funktionierenden Demokratien des Westens.

Weltweit gesehen, in Ländern, deren autokratische Herrscher nach 1945 modernisierten, herrschte ein ganz anderes Problem vor. Denn den Herrschern gelang es nicht – der Iran des Shahs ist dafür typisch –, die Mehrheit ihrer Schutzbefohlenen in die moderne Welt zu führen. »Ihre gescheiterten Revolutionen von oben bereiteten den Weg für radikale Revolten von unten, auf die wiederum Anarchie folgte …«, wie Mishra schreibt.31 Ein verheerender Identitäts- und Sinnverlust wurde durch die »mimetische Aneignung« des Westens herbeigeführt. Diese Aneignung nennt sich »Mimesis-Problem«.32 Die Nutznießer der Verwestlichung nannte V. S. Naipaul »mimic men«.33 Im Westen selbst gab es eine mimetische Aneignung von Lebensweisen von unten nach oben, indem das Bürgertum die Lebensformen des Adels nachäffte. Dank der breiten Demokratisierung der westlichen Gesellschaften gilt dieses jahrhundertelang gültige Schema nicht länger. Die Spätmoderne, heißt es bei Reckwitz, sei eine widersprüchliche Gesellschaftsformation von sozialem Abstieg und Aufstieg, von kultureller Aufwertung, Entwertung und Polarisierung.34

Seit ungefähr 1990 haben sich in den westlichen Gesellschaften die Sozialstrukturen und Lebensformen grundsätzlich transformiert.35 Die nivellierende Mittelschichtsgesellschaft mit ihren Aufstiegsmöglichkeiten existiert nicht mehr.36 Aus der alten Mittelschicht stieg eine neue Mittelschicht von hochqualifizierten Akademikern auf, deren Wohlstand, Lebensausrichtung und Kultur sich grundlegend von der alten Mittelschicht unterscheidet. Die alte Mittelklasse (ich nenne die Sache beim Namen) steigt in der sozialen Hierarchie und in ihren alten Werten ab. Sie steht für Sesshaftigkeit und für Ordnung und orientiert sich kulturell defensiv.37 Die Qualität und Quantität des realen und kulturellen Kapitals prägt die neue, urbane Mittelklasse. Wissensökonomie ballt sich in ihr, ebenso wie individuelle Selbstentfaltung. Danach strebt die neue, kosmopolitische Mittelklasse. Sie trachtet nach Lebensqualität, während die alte Mittelklasse auf die Erfüllung von Normen pocht. Die neue Mittelklasse besitzt ein »erweitertes Kulturverständnis«.38 Aufgrund des Aufstiegs der neuen Mittelklasse droht die alte kulturell, medial und politisch unsichtbar zu werden. Sie besteht aus Personen in mittleren beruflichen Positionen, meist mit mittleren Bildungsabschlüssen, die sich vor allem in Klein- und Mittelstädten sowie im ländlichen Raum ballen. Selbstdisziplin, Arbeitsethos und Regional- und Familienzentrierung kennzeichnen sie. Ihre Lebensprinzipien haben ihre vormalige gesellschaftliche Hegemonie verloren, ihre Lebenswelten verlagerten sich vom Zentrum an die Peripherie.39 Die alte Mittelklasse wurde räumlich und kulturell deklassiert, während die neue Mittelklasse in den Metropolen lebt und von der Kultur dort zehrt.40

Ein beträchtliches Segment der Bevölkerung ist aus der einst nivellierenden Mittelstandsgesellschaft nach unten herausgebrochen, die prekäre Klasse oder die Unterklasse.41 Diese Klasse lässt sich in den deindustrialisierten, strukturschwachen Regionen in Nordfrankreich, im mittleren Westen der USA, im Ruhrgebiet und in Teilen Ostdeutschlands verorten. Viele Menschen gehören zum »Dienstleistungsproletariat« bzw. der »service class«. Ihre Einkommen sind generell unterdurchschnittlich. Eine gesellschaftlich attraktive Arbeit erfüllt sich für die prekäre Klasse nicht. Ihre oft körperliche Arbeit wird deutlich weniger angesehen als die Wissens- und Kommunikationsarbeit. Die Kluft zwischen der prekären Klasse und der Oberklasse, deren Vermögen seit 1980 exorbitant anstieg, ist immens.

Je genauer man hinschaut, desto klarer wird die interne Heterogenität der vier Klassen. Die neue Mittelklasse lässt sich vierfach ausdifferenzieren: das liberal-intellektuelle Milieu mit Bildung und Hochkultur; das postmaterialistische, sozial-ökologische Milieu; das Performermilieu mit Erlebniskonsum und Unternehmertum; das expeditive Milieu der urbanen Kreativen einer jüngeren Generation.42

Die relativ harte Klassentrennung von Oberklasse oder Klasse der Superreichen (nur ein Prozent der Bevölkerung) von neuer Mittelklasse, alter Mittelklasse und Unterklasse schafft Hegemoniekonflikte insbesondere zwischen alter und neuer Mittelklasse. Ebenso unterscheiden sich die Werte der alten und neuen Mittelklasse. Auch ein Wertekonflikt findet statt.

Die Aufteilung der Gesellschaft in vier unterschiedliche Klassen weist darauf hin, dass man es nicht länger mit einer Gesellschaft der Gleichen zu tun hat. Seit den 1990er Jahren wurde die vor allem von der neuen Mittelklasse ausgehende Selbstverwirklichung zur »neuen Norm spätmoderner Subjektivität …«43 Der radikalisierte Individualismus treibt den modernistischen Individualismus auf die Spitze. Alles Eigene muss ganz besonders, ganz unvergleichlich, muss ein Superlativ sein. Reckwitz nennt das »Singularisierung« des Lebens.44 Man bemüht sich, vorgeblich Authentisches anzustreben, um auf diese Weise das eigene Leben unaustauschbar zu gestalten. Der Durchschnitt genügt nicht mehr, denn die Singularisierung des eigenen Sozialen verspricht Befriedigung, Prestige und Identifikation: die Transformation von der Gesellschaft der Gleichen zur Gesellschaft der Singularitäten. Das Nicht-Singuläre wird abgewertet; eine »äußerst ambitionierte Gesellschaftsform«, … die »ein systematisch begründetes hohes Enttäuschungspotenzial« enthält.45

Die Singularitätskultur ist auch eine emotionalisierte Kultur, eine gelebte Emotionalität. In den Generationen von 1920–60 war Coolness gefragt, Emotionen waren ein Zeichen von Schwäche. Zunehmend nach den 1970er Jahren entwickelte sich eine neue Subjektkultur, die dem Modell der Selbstverwirklichung folgte. Sie verkörpert zweierlei: die eigene Selbstverwirklichung und das Selbst, das sich auf einem hohen sozialen Status durch eine gelungene Selbstdarstellung ausrichtet.46 Reckwitz spricht von einer »performativen Selbstverwirklichung«, das nach innen virtuos verschiedene Kapitalsorten mobilisiert, um Befriedigung und Selbstverwirklichung zu finden. Nach außen macht das Selbstverwirklichungssubjekt seine Interessen und die Singularität seines Lebens gut sichtbar.47 Auch Mishra schreibt von einem »übersteigerten Individualismus«.48

Der Effekt des singulären Lebens – abgesehen vom hohen Grad einer möglichen Realisierungsenttäuschung – liegt in der partiellen Aufhebung des Gemeinschaftsgefühls; wie weitreichend, hängt von vielen Faktoren ab. Das Individuum setzt sich selbst gegen andere. Man etabliert sich selbst nicht nur als wünschenswertes Absolutum, man wertet sich in höchste Höhen hinauf. Die anderen erfahren Abwertungen. Das Konfliktpotenzial findet sich daher nicht nur zwischen neuer und alter Mittelklasse, deren Personen als durchschnittlich, langweilig, emotionslos und im Grunde wertlos gewertet werden. Der Konflikt findet auch statt zwischen den Individuen derselben Klasse: nicht real und ausgetragen, sondern emotionalisiert. Doch damit der sozialen Konflikte nicht genug, die sich zur Mikrokrise ballen. Es entstand eine Krise des sozialen Zusammenhalts.

Es geht nicht um einen von Huntington schlecht auf den Begriff gebrachten, hypothetischen Kampf der Kulturen. Vielmehr zeigt sich in fast allen Gesellschaften weltweit ein Konflikt um die Kultur, ein Konflikt um die Deutung von Kultur. Das kosmopolitische Kulturverständnis der neuen Mittelklasse nennt Reckwitz »Hyperkultur«. Dem gegenüber steht ein rückwärtsgewandtes Modell homogener Gesellschaften als imaginierte Gemeinschaft, der »Kulturessentialismus«.49

Mit Kultur ist nicht die Hochkultur gemeint, sondern der Ausdruck bezieht sich auf die Pluralität kultureller Güter, aus denen die neue Mittelklasse nach Bedarf schöpfen kann, in der jedoch nicht alles gleichermaßen von Wert ist.50 Denn die Individuen der neuen Mittelklasse eignen sich die kulturellen Elemente in ihrer Einzigartigkeit an und in ihrer eigenen Zusammenstellung, die als einzigartig gewertet wird. Alles gilt als Bereicherung für die Selbstentfaltung mit ihrem Singularitätsprestige. Das prägt den kosmopolitischen Lebensstil. Bestehende lokale Kulturen werden für diesen dienstbar gemacht.

Die Leerstelle der Hyperkultur liegt in ihrem übersteigerten Individualismus, der auf der grenzenlosen Dynamik des Kulturellen aufbaut. Im Extrem kennt diese Kultur nichts Gemeinsames und Geteiltes mehr, das über die Grenze des Individuums hinaus Geltung beanspruchen könnte. Verbindlich Wertvolles vermag die Hyperkultur nicht anzubieten.51 Vielleicht aber gibt es im Fluss der Kultur nichts Verbindliches, gar Normatives, das zu etablieren just eine kosmopolitische Kultur, die sich der Toleranz verschreibt, einlösen müsste. Im Prinzip kann man die kosmopolitische Kultur, die demokratisch, tolerant und aufgeschlossen ist, bejahen. Problematisch wird sie nur in der Extremsteigerung der Singularisierung, mit der man sich sozialperformativ schmückt. Auf diese Weise kann die Hyperkultur gerade die Authentizität, die sie für sich reklamiert, nicht greifen. Die berechtigte Kritik trifft auf die Instrumentalisierung der Hyperkultur zu, was Schein-Authentizität, nicht errungene Authentizität bedeutet. Diese stellt einen Eigenwert dar, meilenweit entfernt von der kapitalistischen Kultur des Für-sich-Grapschens der neuesten Waren im sozialperformativen Prestigewettkampf.

Die Gegenfront zur Hyperkultur bildet der Kulturessentialismus. Trotz der unterschiedlichen Spielarten weltweit gehen diese Bewegungen von einem einzigen Ausgangspunkt aus: dem Kollektiv. Auch er wird als singulär aufgefasst. Der Kulturessentialismus baut strikte Grenzen auf zwischen der eigenen Gruppierung und den anderen, zwischen Ingroup und Outgroup. Dem Innen der eigenen Kultur wird ein stabiler und scheinbar unverbrüchlicher Wert zugeschrieben, die Höchstwertung einer »imagined community«.52 Diese »Neogemeinschaften« definieren und stabilisieren sich meist durch den Traum einer idealen, imaginierten und wiederzubelebenden Vergangenheit. Die »Retrotopie«53 soll kulturelle Identität und Souveränität stiften. Im Gegensatz zur oft stark individualisierten, aber friedlichen Hyperkultur neigen kulturessentialistische Gruppierungen zur Abgrenzung der eigenen Kultur gegen die kosmopolitischen Eliten, gegen Migranten, gegen Gegenentwürfe zu ihren eigenen Homogenitätsvorstellungen bis hin zum Vernichtungswillen. Der Rückgriff auf die idealisierte Vergangenheit, die als homogen imaginiert wird (aber mit der Geschichte wenig zu tun hat), wird als ein Absolutum gesetzt.

Beim Kulturessentialismus werden die Peripherien mobilisiert gegen das Zentrum: kein Klassenkampf, sondern ein gravierender Identitätskonflikt,54 der als Riss durch viele Gesellschaften geht und als Kampf um die Deutungshoheit der Zukunft interpretiert werden kann. Im Weltmaßstab bildet das Zentrum ein realer oder negativ imaginierter Westen, wie beim Islamismus, wie in Russland, der Türkei, Ungarn, China oder Indien, um nur einige zu nennen. In den 1980er Jahren erfuhren die meisten lokalen Kulturessentialisten die liberale, kosmopolitische Hyperkultur, die noch nicht ausgeprägt war, als nicht bedrohlich für ihre eigene Identität. Sobald beide Ausprägungen einander als konträre Umgangsweisen mit der Kultur wahrzunehmen begannen – was sie ja sind –, fühlten sich die Kulturessentialisten in ihrer Identität bedroht.

Die Rekrutierung des Rechtspopulismus aus der neuen Unterklasse und der alten Mittelklasse wird zusehends nach 2010 zum Sammelbecken der real oder imaginiert Deklassierten, der Entwerteten und Gekränkten. Der Populismus wurde geboren. Während die Hyperkultur die Populisten mit Verachtung strafte und straft, reagieren die Populisten mit Aggression. Über die Jahre steigerte sich der populistische Aggressionsstau, je mehr die populistische Unsicherheit um Identität wuchs, je mehr Verachtung diese Bewegung von oben erntete, je mehr die eigene Radikalisierung voranschritt bis hin zum Vernichtungswillen gegen die sie (imaginär) Bedrohenden: Linke, Kommunisten, Migranten, Homosexuelle, Intellektuelle, aber auch gegen aufrechte Demokraten, die sich für Minderheiten oder andere soziale Belange einsetzten, wie der Mord im Jahr 2019 an Walter Lübcke beweist. DIE ZEIT hat recherchiert, dass zwischen 1990, dem Einigungsjahr, und Anfang 2020 182 Personen in Deutschland Opfer des Neonazi-Terrorismus wurden; eine höhere Zahl als die offizielle.55 Zum Vergleich: Im selben Zeitraum starben hierzulande drei Menschen als Folge linker/anarchistischer Gewalt und 14 Personen durch militant-islamistische Terroranschläge. Auch wenn man die Neonazi-Terroristen nicht zum Populismus rechnet, entstammen sie beide jedoch der oben beschriebenen, identitären und zutiefst verunsicherten Quelle. Die sozialpolitische Gefahr, die von den Identitären ausgeht, kann für den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht hoch genug veranschlagt werden. In manchen Ländern wie den USA, Frankreich, Italien, der Türkei, Brasilien, Ungarn und Polen, um nur einige zu nennen, trägt der Populismus zur extremen Spaltung der Gesellschaft bei. Die von den Populisten herbeigesehnte Homogenisierung der Gesellschaft gemäß der eigenen Kulturvorstellung trägt just nicht zur Homogenisierung bei, sondern löst in der anderen Hälfte der Bevölkerung Widerspruch und Ablehnung aus. Der Kulturessentialismus bis hin zum militanten Islamismus ist für die eigenen Anhänger attraktiv, »weil in ihm das Ressentiment der in der hyperkulturellen Spätmoderne Zukurzgekommenen eine effektive Waffe erhält«.56 Die Erschöpfung der Hyperkultur im Konsumismus beantworten die Kulturessenzialisten mit der für sie wünschbaren Re-Etablierung kultureller Gemeinschaften, was das normative Vakuum der Hyperkultur »unter Rückgriff auf alte Muster eines homogenen Kollektivs« wieder füllen soll.57

So viel zur Mikrokrise des gesellschaftlichen Zusammenhalts, innerhalb einzelner Gesellschaften und im globalen Maßstab. Diese Krise halte ich für prinzipiell lösbar, auch wenn sich ernsthafte Lösungen im Augenblick nicht anbieten.

Auch die Krise, die die europäische Friedensordnung seit 77 Jahren zutiefst bedroht, halte ich für prinzipiell lösbar – aber langanhaltend. Es musste nur im Februar 2022 ein Hobbyhistoriker, Paranoiker und Diktator für sich und sein rückständiges Land ex nihilo eine neuartige Zivilisierungsmission entdecken, die sich als Vernichtung eines Nachbarstaates entpuppte und zum Ziel hat, den imaginierten Glanz des alten Sowjetreiches mit Gewalt wiederherzustellen. Putins völkerrechtswidriger, brutaler und alle Züge eines faschistischen Überfalls tragender Angriffskrieg auf die Ukraine riss die dünne Friedensfirnis eines Kontinents auf. Zum Vorschein kamen die eigenen naiven und verdutzten Gesichter der Europäer. Bei der ebenso völkerrechtswidrigen, gewaltsamen Besetzung der Halbinsel Krim im Jahr 2014 hätte man wissen müssen, mit wem man es zu tun hat. Europa steckte den Kopf in den Sand und wollte aufgrund der Energieabhängigkeit Europas von Russland nicht wissen, was sich da zusammenbraute. Überhaupt hätte man das Narrativ einer friedlichen Welt nach 1945 hinterfragen müssen. Die vielen internationalen Kriege und Bürgerkriege seit dem Koreakrieg relativieren nachdrücklich die pinkfarbene Selbsttäuschung; um nur zwei zu nennen: die Zerfallskriege Jugoslawiens und der serbische Völkermord von Srebrenica sowie der Völkermord in Ruanda.

Nach dem existentiellen Krieg gegen die friedliche Ukraine und der folgenreichen, globalen Instabilität der Jahre nach 2022 fällt es schwer, den Blick wieder auf das Individuum zu richten, zu trivial scheinen Bemerkungen über den Sinn des Lebens. Und doch gibt es ihn, den ephemeren Sinn. Er lässt sich im eigenen Leben konstruieren, indem man den Menschen im eigenen Umkreis und sich selber Gutes tut. Sinn lässt sich im humanistischen Handeln und im eigenen Umfeld also realisieren. Doch der Sinn der Spezies Homo sapiens sapiens steht auf einem ganz anderen Blatt, oder genauer: Er löst sich in Luft auf, in der kriegerischen und aufgeheizten.

Die ökologische Endzeit, in der wir im permanenten Krisenmodus bereits leben, kann man als monströs bezeichnen. Gegen die durchchemisierte Plantage Erde, gegen die wunderbaren Erfindungen, die die Aufheizung des Planeten nach sich zogen und nach sich ziehen, stehen auf schwächlichen Beinchen die Kunstprodukte der Menschheit, steht der ästhetische Genuss. Am Ende der Welt, wie wir sie noch kennen, verwandelt sich die Kunst in das Gegen-Bild: das Gegenbild gegen die fortgeschrittene Zerstörung. Dem zarten Pflänzchen der freien Fantasie kommt – ohne dass Künstlerinnen und Literaten und Komponistinnen dies je intendiert haben müssen – kurzlebige Bedeutung-für-uns zu. Ein kleiner Damm gegen die große Zerstörung. Bevor sie in den Fluten verschwindet oder in den Neo-Wüsten verglüht, trotzt die Kunst als bedeutsamstes Produkt der Menschheit der zermalmenden Vergeblichkeit. Die Lebendigkeit und Bedeutung der Kunst freudig zu bestätigen und diese im Angesicht der Weltzerstörung hochzuhalten und zu genießen, heißt ein trotziges und zugleich freudig-schönes Zeichen zu setzen: Freude, schöner Götterfunken. Mithilfe großartiger Kunstprodukte bekräftigt man das Menschsein. Die krisenbezogene Ästhetik als bescheidenste Eule der Minerva reflektiert die neue Stellung der Künste, indem sie in der Abenddämmerung ihren unsicheren Flug beginnt, hinein in den Gazenebel des Ästhetischen.

KEINE ÄSTHETISCHE KRISE

Ein erfreulicher Anfang: Nach den Weltkrisen sehe ich nicht, weshalb die Ästhetik in einer Krise stecken sollte. Schon allein wegen der anstehenden Globalästhetik steht die ästhetische Theorie aber im Umbruch. Die Theorie wird in Zukunft Probleme wie etwa das des ästhetischen Urteils zu lösen versuchen, Herausforderungen wie etwa der Neuroästhetik begegnen und Gefahren wie die digitale Konkurrenz umschiffen. Das Minenfeld an schlecht begründeten Meinungen, an anmaßenden ästhetischen Urteilen und an Scheinlösungen muss sie dezidiert entschärfen. Das vermag die ästhetische Theorie, wenn sie als ästhetische Reflexionswissenschaft sich und ihre Grenzen stets mit reflektiert und indem sie sich auf eine Kernkompetenz des Ästhetischen besinnt. Diese Kernkompetenz ist die ästhetische Erfahrung. All das berechtigt jedoch nicht, von einer Krise der Ästhetik zu sprechen.

In einer krisengeschüttelten Welt sollte die Ästhetik aber noch viel mehr leisten. In der Folge wird die Theorie alte Zöpfe abschneiden, um sich neu zu konstituieren im Bemühen, eine verschlankte Ästhetik anzubieten. Dabei werde ich Kernbegriffe wie »das Schöne«, das Problem von Kunst und Moral, das ästhetische Urteil hinterfragen und entweder bestätigen oder beiseite räumen und in letzterem Fall neu und dynamisch begründen. Um es hart zu formulieren: Fast alle ästhetischen Begriffe seit Platon und Aristoteles sind heute unbrauchbar, denn die heutige Weltsituation lässt sich mit Hilfe der veralteten Begriffe und Theorien nicht zum Ausdruck bringen. Kendall Walton verneint, dass die Ästhetik eine »Grand Basic Question« habe, im Gegensatz zur Ethik, die fragt, wie man (moralisch) leben soll.1 Ästhetik besitze kein »unified field of inquiry«.2 Ästhetik kann jedoch, fährt Walton fort, allerlei Formen der Kunstproduktion und Kunstrezeption reflektieren, sie klarmachen und in ein offenes ästhetisches Gerüst als Ästhetikfür-uns überführen.3

Ich stimme Walton zu, meine aber, dass eine reflektierende ästhetische Theorie in Krisenzeiten auch anderes leisten müsste. Sie muss außerdem auf die Krisen reagieren, natürlich ohne Lösungen anzubieten. Je nachdem, wie die Theorie reagiert, wird sie in das dynamische Weltgeschehen eingebunden. Hier zur Einschränkung: Es genügt vollauf, wenn die ästhetische Theorie auf die einzige Makrokrise der Menschheit reagiert, auf die sich abzeichnende ökologische Katastrophe. Dass diese Reaktion in Grenzen möglich ist, werde ich im Lauf der Untersuchung in der Naturästhetik nachweisen, indem ich Vorschläge mache, wie man den ästhetischen Erfahrungsbegriff entgrenzt.

Im Gegensatz zu ihrer »Mutter«, der Philosophie, braucht die Ästhetik keine Begründungskrise zu befürchten. Denn ihr Erfahrungsgegenstand, die Künste, sind zweifellos gegeben: vom Tattoo bis Tizian, von Popmusik bis Beethoven, vom Krimi bis zur Recherche von Proust. Die Reflexion auf die ästhetischen Gegenstände legitimiert sie bereits und bedarf keiner weiteren Rechtfertigung. Seit Duchamps Readymades verschwimmen die Grenzen des Ästhetischen. Das gilt es zu akzeptieren, und nicht nur: Das gilt es produktiv in die Ästhetik einzubinden, um zu einem besseren Verständnis des Kunsterlebens beizutragen.

Die ästhetische Theorie betritt, da sie keine Grand Basic Question beantworten und keine Begründungskrise befürchten muss, furchtlos Nietzsches Raum der freien Geister.

Kritik der proskriptiven Ästhetik

In der Folge werde ich kritisch diskutieren, welche Herangehensweisen die Ästhetik behinderten, also: wo ich mit meinem begrenzten Wissen keine Probleme mehr sehe. Das bezeichne ich als ein kritisches Abschiednehmen von alten Theorien und Problemen oder Scheinproblemen. Nach dieser Radikalkur und am Ende scheinbar ohne Halt werde ich zu konstruktiven Annäherungen übergehen und Baustein um Baustein aufeinanderschichten, in diesem Kapitel wie in allen weiteren Kapiteln. Was ist, erstens, mit einem »ästhetischen Hindernis« gemeint und welche Wege sollte die Ästhetik nach Möglichkeit heute nicht mehr gehen?

Alle proskriptiven Ästhetik-Theorien widersprechen prinzipiell der ästhetischen Offenheit und den verschiedenen Deutungen unterschiedlichster Rezipienten. Proskriptive Ästhetik möchte dasjenige festlegen, was sich dynamisch wandelt: Kunst habe das Schöne darzustellen (die gesamte idealistische Ästhetik bis zur Moderne)4, Kunst habe die Wirklichkeit abzubilden (alle Abbildtheorien bis zur Widerspiegelungstheorie des Marxismus)5, Kunst habe zur Katharsis, zur moralischen Reinigung des Publikums beizutragen6, Kunst soll Belehrung mit Vergnügen koppeln7. Kunst soll den Humor, das angewandte Endliche, befördern8.

Es wäre müßig, all diese proskriptiven älteren Theorien einer Kritik zu unterziehen, würde die Proskription nicht immer wieder in neuer Form auftauchen. Noch 2017 hält sich Santiago Zabala an Heidegger: Nur die Kunst könne uns heute »from the lack of sense of emergency (Heidegger)« retten.9 Um zum Notfall zurückgeführt zu werden, habe die Kunst engagiert ökologisch und sozial zu sein, sie dürfe jedoch nicht zu viel Freude manifestieren. »The problem with these enjoyable things is that they conceal Being …«10 Dass der ökologische und somit existenzielle Notfall nun eintritt, trifft durchaus zu. Allein, von der Kunst die Rettung durch ihr absolutes Engagement zu erhoffen, rückt diese in die unbequeme und aussichtslose Position einer hilflosen, nur scheinbaren Weltretterin; dazu unten mehr. Der Autor pickt einzelne Künstler/innen als Musterbeispiele heraus, die Vorbildfunktion für die Zukunft zu erfüllen haben, ohne zu merken, dass er selbst, als Theoretiker, der Kunst die Regel vorschreibt. Das widerspricht nicht nur der ästhetischen Offenheit, sondern instrumentalisiert die Kunst auf unzulässige Weise. Mit anderen Worten, die Theorie erhebt sich auf anmaßende Weise über die zeitgenössische Kunstproduktion. Sie negiert die ästhetische Offenheit und widerspricht den inzwischen elementaren Erkenntnissen Umberto Ecos vom Kunstwerk als semiotisch offenem Gebilde.11 Zabala stülpt der Kunst eine proskriptive Schablone über, worin sie sich nicht mehr zu rühren vermag – was für alle proskriptiven Theorien gilt: die Missachtung der Autonomie der Künstler/innen. Im Gegensatz zur Annahme von Stanley Fish, Theorie habe keine Konsequenzen (»theory has no consequences«)12, sei daher ungefährlich, muss man sich nur vor Augen führen, welche Macht dominante Theorien etwa in Diktaturen erhalten, womit sie dem freien Spiel der Fantasien ein Ende setzten und setzen. Seit Platon treibt die ästhetische Proskription ihr Unwesen. Ein Extrembeispiel: Noch heute kann man etwa in Nordkorea Kunstwerke von absoluter ästhetischer Schlichtheit und mit eindeutigen ideologischen Botschaften bestaunen, die die ästhetische Komplexität konterkarieren: pure Kaisers-Geburtstags-Kunst mit Kotau vor den gnadenlos wohlwollenden Kim-Diktatoren. Jede ästhetische Proskription bedeutet potenziell den Tod der ästhetischen Vielfalt und den Tod der freien künstlerischen Fantasie.

Kritik ästhetischer Wahrheitstheorien

Eng verwandt mit den proskriptiven ästhetischen Theorien sind alle untereinander vielfältigen ästhetischen Wahrheits- und Wesenstheorien. Nach Hegel setzte sich ästhetische Wahrheit als Problem durch. Die Verlagerung der Wahrheit von der Philosophie, der man den vollgültigen Besitz der Reflexion nicht länger zutraute13, in den ästhetischen Bereich war folgenschwer: Wahrheit sollte sich in der Kunst manifestieren. Späte Nachfahren der Wahrheitstheoretiker sind etwa R. G. Collingwood, für den Kunst im Wesentlichen die »pursuit of truth« sei14, jedoch eine des Individuums (»Art is knowledge; knowledge of the individual«15), und Helmut Kuhn, der das Wesen des Kunstwerks entziffert haben will16. Den herausragenden Platz in den Wahrheitstheorien nimmt Heideggers ästhetische Theorie ein. Das Kunstwerk habe sowohl die Wahrheit zu verstecken als auch zu »entbergen«, denn Kunst sei das Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit. Die Aufgabe der Kunst sei es, das Sein zu entbergen17. Wahrheit und Sein werden gekoppelt.

Längst wurden die ästhetischen Wahrheitstheorien grundlegend kritisiert. Wahres und Falsches, schrieb John Hospers 1946, sind nur von Aussagen prädizierbar (»Dies ist ein Tisch.«)18. Käte Hamburger unterzog den ästhetischen Wahrheitsbegriff 1979 einer genauen Untersuchung. Wahrheit sei eine Kategorie der Realität19. Wahrheit drücke sich aus als wertabsoluter Begriff und treffe gerade nicht auf die Relativität von Kunst und Literatur zu, die der Zeitbedingtheit unterworfen seien. Die Wertungen wandelten sich, ganz im Gegensatz zur Setzung einer unwandelbaren »Wahrheit«20. Der Begriff der Wahrheit widerspreche dem der Interpretation, der Auslegung, der Deutung, bei dem die Faktizität irrelevant sei21. Im ästhetischen Bereich verliere Wahrheit den Bedeutungsgehalt, der sie konstituiert: identisch zu sein mit dem, was der Fall sei22.

Wir wissen heute, argumentierte Donnell-Kofrozo, dass die Realitätsfakten nicht absolut sind und es keine reine Ansicht oder Zugang zur Wirklichkeit gibt. Sehen heißt interpretieren, und ein neutraler Naturalismus existiert nicht23. Was für die Erkenntnistheorie gilt, besitzt erst recht für die Ästhetik Gültigkeit, denn alles an ihr ist vermittelt. »Wahrheit«, was immer sie auch sei, ist mit anderen Worten eine außerästhetische Kategorie, die in der Ästhetik nichts zu suchen hat. Wahrheitstheorien instrumentalisieren die Kunst, wie Rüdiger Bubner kritisierte24.

Der Zweck – gerade bei Heidegger –, weshalb der Freiburger Philosoph die Kunst instrumentalisiert, könnte nicht offensichtlicher sein: Sie hat als Entbergerin der Wahrheit seinem System zu dienen, dem System der rückwärtsgewandten Neo-Ontologisierung der Welt, der das ephemere »Sein« abhandenkam. Wie bei Hegel wird die Kunst vollkommen in ein ihr äußeres philosophisches System eingezwängt. Oder noch deutlicher: Hegel und Heidegger und andere Wahrheitsphilosophen missachten etwas Elementares in der Ästhetik, nämlich die ästhetische Eigenart. Ein Wahrheitsbegriff gleich welcher Art wird der Offenheit des Kunstwerks, der Dynamik von Produktion und der individuellen Deutung, nicht gerecht.

Das gilt auch für hermeneutische Wahrheitstheorien25. Für eine praktische Ästhetik des ästhetischen Genusses sind rein akademische Theorien wie die Hermeneutik mit einem Fragezeichen zu versehen. Denn wie man ein Werk deutet, bleibt dem Individuum überlassen, das sich mit einer derartigen Metatheorie nicht befassen muss. Diese unsere Theorie wird sich verbieten, Interpretationsmodi irgendwelcher Art den Kunstproduzenten oder den Kunstrezipienten vorzuschreiben. Das wäre ein Rückfall in eine proskriptive Theorie, der ich gerade Adieu sagte. Der Kunst mit ihrem Kunsterleben möge sich vielmehr der gesamte Freiraum eröffnen. Weder kann man »Wahrheit« auf die Kunst applizieren noch existiert ihr »Wesen«, denn die Kunst lebt von ihrer eigenen Dynamik. Und überhaupt: Wer erkühnt sich mit welchem Recht festzulegen, was denn »wahr« sei?

In den Kontext der Wahrheitstheorien gehören alle wie auch immer gearteten Abbildtheorien des Ästhetischen. Kunst hat nicht »abzubilden«. Dieses uralte Mimesis-Problem der Ästhetik seit Platon und Aristoteles löst sich von zwei Seiten auf: Die Semiotik begründet zum einen die Kunst als ein ikonisches, offenes Zeichen und nicht als »Abbild«. Die Semiotik macht alle mimetischen Theorien prinzipiell überflüssig. Zum anderen definiert sich Kunst als Sinn- bzw. Bedeutungskonstitution, als Schaffung einer neuen ästhetischen Wirklichkeit. Das widerspricht der Kunst-als-Mimesis grundlegend. Ob bewusst oder unbewusst, alle mimetischen Theorien setzten ein Reflexverhältnis einer wie auch immer verstandenen »Wirklichkeit« (und ich möchte nicht versuchen, diese näher zu bestimmen), die durch die ästhetische, irgendwie geartete Anschauung der/des Kunstproduzentin/Kunstproduzenten abgebildet worden sei oder, noch falscher, diese/r abzubilden hat – eine ideologische und proskriptive Setzung und darum ein wenig hilfreicher theoretischer Ansatz. Natürlich kann die Kunst sich an der sozialen »Wirklichkeit« orientieren und diese problematisieren, denkt man etwa an Balzacs comédie humaine. Aber das Kunstprodukt, zum Beispiel Balzacs Les illusions perdues, steht nicht in einem Abbildungsverhältnis zur Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, sondern in einem semiotischen. Darüber hinaus schuf Balzac sein ganz eigenes, offenes und literarisches Bedeutungsganzes.

Kritik reduktionistischer Theorien

Verwandt den ästhetischen Wahrheitstheorien sind Theorien, die die Kunst monokausal zu erklären versuchen26. Schon vor hundert Jahren läutete Max Dessoir die Totenglocken für reduktionistische Ästhetik-Theorien, seiner Zeit weit voraus: »Mit einer Formel ist dem Ästhetischen nicht beizukommen, auch nicht mit der scheinbar umfassendsten«27. Kunst, sekundierte Morris Weitz 1956, sei nicht definierbar, sie habe keine »necessary and sufficient properties«28. Man frage nicht: »Was ist Kunst?«, sondern »Was ist der Begriff von ›Kunst‹«?29 Der Kunstbegriff wird stets ein offener sein30.

Trotz der bisher positiven Erwähnung der Semiotik für die Ästhetik wäre es wiederum reduktionistisch zu schreiben, alle Kunst sei Semiotik. Kunst als offenes ikonisches Zeichen sagt nur etwas Grundlegendes über die Zeichenhaftigkeit aus, insbesondere darüber, wie es ein Objekt denotiert31. Die Semiotik vermag nur sehr begrenzt etwas über Kunst auszusagen. In seiner Kritik an Mukařovskýs Zeichentheorie stellt Koppe zu Recht fest, dass diese Semiotik auch für nicht-ästhetische Zeichen gelte32. Es wäre reduktionistisch zu glauben, mit der Semiotik wäre alles über die Ästhetik ausgesagt. Das geringe Aussagepotenzial der ästhetischen Semiotik eliminiert zwar immerhin (und das ist nicht wenig) die Abbildtheorien; doch viel mehr auch nicht. Über die Spezifikation des Kunstprodukts wird damit nichts ausgesagt. Es gilt also hier zum ersten Mal, eine Grenzziehung auszusprechen, um eine sehr restriktive Geltung der Semiotik für die Ästhetik zuzulassen. Daher wird hier keine semiotische Analyse des ästhetischen Gegenstands stattfinden. Die nicht unerhebliche Rolle einer ästhetischen Grundstruktur, einer Grundbedingung des Ästhetischen, muss der Semiotik genügen.

Andere Theorien, die reduktionistischer Natur sind, erweisen sich hingegen prinzipiell als Restbestände der jahrhundertelangen ästhetischen Diskussion. Die Kunst sei weder »Form« noch »Inhalt«. Im ikonisch-semiotischen Kontext sind diese uralten Setzungen unangebracht. Um zu präzisieren: Natürlich gibt es die Form von Epos, Roman, Gedicht etc. und vom Epos der Ilias lässt sich eine Inhaltsangabe erstellen. Mir geht es um die wenig hilfreiche Gegenüberstellung von Form und Inhalt, um ein Kunstwerk grundsätzlich zu charakterisieren. Mit »Form« und »Inhalt« wird ästhetisch praktisch nichts ausgesagt. Der Begriff »Stil« jedoch ist ein spezifischer, kein allgemeiner, und kann in einem spezifischen, meist einzelwissenschaftlichen Kontext diskutiert werden.

Das Widerspiegelungsprinzip verknotet sich eng mit dem Wahrheitsbegriff, eine hoch ideologische, reduktionistische Theorie, die auf Marx und Engels zurückgeht und bei Georg Lukács ihren Höhepunkt erreichte33. Lukács blieb auf dem Boden der Erkenntnistheorie mit dem Widerspiegelungsverhältnis Sein – Bewusstsein, insbesondere in der Kunstoffenbarung des Typischen. Franz Koppe wies auf das Dilemma von Lukács hin: Wenn der Kunst allein die Offenbarungsrolle des Typischen zukommt, dann ist die Kunst wahrer als die gesellschaftliche Wirklichkeit – also keine Widerspiegelung34. Und, fährt Koppe fort, weil sich für Lukács in der Kunst die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten manifestieren, begreift er wiederum die ästhetische Eigenart nicht35. Lukács’ Realismus wird bestimmt von einem ideologisch-ethischen, nicht einem ästhetischen Wert36.

Ebenso absolut kontraproduktiv für eine ästhetische Theorie, die zum Verständnis der Kunst beitragen möchte, sind die ästhetischen Scheintheorien, nämlich Kunst-als-Schein. Schein impliziert, die Wirklichkeit habe woanders stattzufinden. Das jedoch widerspricht der ästhetischen Autonomie und streut der Theorie Sand in die Augen: Was genau bedeutet dieser (schöne) Schein? Der Begriff wirkt unpräzise, fast geheimnisvoll. Er erleuchtet nicht, er vernebelt ästhetische Zusammenhänge, auf dass nichts klar werde. Alle Scheintheorien sind außerdem bestenfalls einer überholten Ontologie geschuldet, die vom Bezugsverhältnis Realität zu Schein kündet. Schlimmstenfalls entspringen die Kunst-als-Scheintheorien der extrem reduktionistischen Widerspiegelungstheorie, wie Koppe an Ernst Blochs Theorie des ästhetischen Vorscheins kritisiert, dem Vorschein einer besseren Welt37. Bloch bindet die Ästhetik restriktiv in seine Theorie des Noch-Nicht-Seins ein und negiert die ästhetische Eigenart. Der Tübinger Philosoph leistete außerdem keine ästhetische Grenzziehung. Die Scheintheorien gehören allesamt in den Kontext der ästhetischen Wahrheitstheorien vom Bezugsverhältnis »Sein« und »Schein«38. Zimmerli spricht sich für eine Verallgemeinerung des Scheins als Prinzip entgrenzter Ästhetik aus39. Wenn aber alles in der Kunst Schein ist, ist nichts Schein: eine prinzipielle Nichtunterscheidbarkeit im Ästhetischen, die keine Prädikation ermöglicht, um Gegenbeispiele liefern zu können, wie Koppe kritisiert40. Die ästhetische Entgrenzung kann man besser mit anderen Begriffen umreißen: Verweisungscharakter, offenes Zeichen, Globalästhetik, Negation aller ästhetischen Normen, offene ästhetische Erfahrungshorizonte. Der Scheinbegriff hat ausgedient.

Begriffe oder Bereiche, die im ästhetischen Kontext ohne Grenzziehung diskutiert werden, können als suspekt gelten. Der allgemeine Einsatz der Psychoanalyse im Ästhetischen wäre ein solcher Kandidat. Kunst, von der Psychoanalyse her entschlüsselt, wäre ein wahrgewordener Traum des Analytikers41. Aber wo liegt die Grenze der Applikation? Wie viel sagt die psychoanalytische Dechiffrierung aus über den ästhetischen Wert eines Kunstprodukts? Ich vermute, sehr wenig, womit wieder die Frage nach der Anerkennung der ästhetischen Eigenart gestellt wird. Und welcher psychoanalytischen Richtung gebührt der Vorrang der Interpretation?

Auch Theorien, die gerade vorgeben, die ästhetische Eigenart zu begreifen, ja besser als andere Theorien zu verstehen, begegne man mit Vorsicht. In den 1950er Jahren grassierte die Theorie der Kunst-als-Ausdruck (expression) im Kontext von Jackson Pollocks drip-painting-Aktionismus. Nahm kritisierte schon 1955 die Allgemeingültigkeit der Ausdruckstheorie: Sie dürfe wenn überhaupt nur in einem spezifischen Kontext Gültigkeit beanspruchen42.

Reduktionistische Theorien erblicken nicht nur in der älteren Ästhetik das Tageslicht. Christoph Menke zentriert im Jahr 2013 seine ästhetische Theorie monothematisch um einen einzigen Begriff herum, den der »Kraft« der Kunst. Seine Kernthese lautet, »dass der menschliche Geist im Widerstreit von ästhetischer Kraft und vernünftigem Vermögen besteht«43. Der Zusammenhang von Kunst liege in der Kraftübertragung, »die Kraft der Begeisterung, der Entrückung auf den Künstler, Zuschauer und Kritiker …«44. Dabei sei Kunst keine soziale Praxis, denn die freien Kräfte der Kunst seien Spiel, ohne Ziel und Maß45. »In der Kraft der Kunst geht es um unsere Freiheit, … die Freiheit vom Sozialen im Sozialen«46.

Menke charakterisiert die Ästhetik monothematisch. Doch genau das bleibt reduktionistisch und somit ein vereinfachtes ästhetisches Herangehen, mit dem man die gesamte Ästhetik nicht wird entwirren können. Mit seiner Gegenüberstellung von der mysteriösen »Kraft« der Kunst und dem vernünftigen Vermögen beruft er sich auf die alte philosophische Gegenüberstellung von Wille und Vernunft – eine Neuauflage Schopenhauers. Was ist denn diese mysteriöse Kraft? Begeisterung und Entrückung? Eine Wiederauflage der deutschen Romantik. Die Ästhetik eines Kernbegriffs muss notwendigerweise aus vielen Gründen scheitern: am Reduktionismus, an der mangelnden Präzision, an einer für die neue ästhetische Theorie nicht konstruktiven Mystik des Kernbegriffs. Indem Menke versucht, Kunst vom Sozialen zu trennen, strebt er nach einer Wiederauflage des uralten Künstlermythos, den Kris und Kurz schon in den 1930er Jahren treffend charakterisierten und kritisierten47: der Mythos von den Künstler/innen, die ganz aus sich selbst entrückt das Kraftpotenzial ihrer Kunst anzapfen und die etwas hervorbringen, »über das sie schon hinaus sind«48. Menke verquickt den Künstlermythos mit Schillers Spieltheorie. Vermutlich ohne es zu wollen, heroisiert Menke den Künstler, ein Topos der Künstlerlegenden seit Giotto, sogar seit der Antike. Einseitige und mystifizierende, reduktionistische Theorien dieser Art49, die einen großen Begriff entdeckt haben wollen, gehen außerdem an den zeitgenössischen ästhetischen Problemen vollkommen vorbei: etwa am Gefahrenpotenzial der digitalen Welt, an der Herausforderung einer Globalästhetik und an der Herausforderung der empirischen Ästhetik, um nur drei zu nennen. Stattdessen stellt Menke wie gehabt ästhetische Kategorien auf, die auf unklare Weise mit seinem Kraftbegriff zusammenhängen: Schönheit, das Urteil, das Experiment. Er reflektiert dabei nicht, ob die Aufstellung ästhetischer Kategorien überhaupt noch zeitgemäß ist. Das bezweifle ich. Dem Fluidum des Ästhetischen werden Kategorien, die ästhetische Momente festzurren wollen, nicht gerecht.

Während Menke die Ästhetik mit einem einzigen, einengenden Kernbegriff unterfordert, überfordern andere Theorien die Ästhetik.

Kritik ästhetischer Überforderungen

Zwei Theorien sollen als Beispiel dafür dienen, was ich ästhetische Mystifikation nenne. Bei Kandinsky heißt es: »Auf eine geheimnisvolle, rätselhafte, mystische Weise entsteht das wahre Kunstwerk ›aus dem Künstler‹«50. Denn die Kunst »muss der Entwicklung und Verfeinerung der menschlichen Seele dienen«51. Wir stünden am Beginn »eines neuen geistigen Reiches, … der Epoche des großen Geistigen«52.

Gumbrecht ging vor wenigen Jahren vom ästhetischen Erleben aus: Im Kunstwerk kann man Bedeutungs- und Präsenzeffekte simultan erleben53. Dieses Oszillieren nennt er »Epiphanie«54, das im regulären Sprachgebrauch »Erscheinen einer Gottheit« bedeutet, womit Gumbrecht den ästhetischen Erfahrungsakt mystifiziert, im Extrem heiligt. Kandinskys »großes Geistige« und Gumbrechts »Epiphanie«-Theorie ein Jahrhundert später tragen zur Mystifikation und vielleicht, ohne es zu wollen, in letzter Instanz zur Theologisierung der Ästhetik bei und sind daher fraglich. Sie überfordern die ästhetische Erfahrung und missachten die ästhetische Eigenart, die einer quasi-theologischen Aufladung nicht bedarf.

Bazon Brock bemerkte schon 1977, dass die Autonomie der Kunst für das bürgerliche Publikum die Rolle einer innerweltlichen Heilsbringerin nach sich zog55. Rüdiger Bubner benannte die lebensversöhnende Rolle der neueren Kunst genauer: Der Künstler als der vollkommene Mensch, als alter deus, hat die Problemverlagerung des Menschen nachzuvollziehen56. Der Künstler fungiert so als Wiedergänger der Künstlerlegende, die wie bemerkt Kris und Kurz der Kritik unterzogen: von Giotto bis Beuys eine einzige, große Legende. Beuys mit seinem selbstgebastelten, autobiografischen Künstlermythos erfüllte diese Rolle perfekt – der Künstler als Moralist, der sich vom klassischen Verdacht der Immoralität reingewaschen habe und nun aufträte als »höchste Instanz gesellschaftlichen Gewissens«57. Bubner kritisiert die Überladung der Kunst mit Moral, was »auf eine offenkundige Kategorienverwirrung« zurückgehe58. Wieder eine Negation der ästhetischen Eigenart.

Harold Bloom und Richard Rorty wollen in die großen bürgerlichen Romane eine rezeptionsästhetische Erlösung aus der Selbstbezogenheit hineininterpretieren59. Im Roman soll die Leserin/der Leser eine éducation morale erfahren. Romane zeigen uns, wie Menschen sich sehen, die anders sind als wir, und wie sie ihrem Leben Sinn schenken60. Der Roman erzieht uns zur Empathie. »Der Roman ist … die Gattung, die uns am meisten dazu verhilft, die Vielfalt des menschlichen Lebens und die Kontingenz unseres eigenen moralischen Begriffsrepertoires zu begreifen«61. Der Roman erhöht unsere Toleranz und reduziert auf diese Weise unsere Selbstbezogenheit. Marcel Proust und Henry James hätten dazu beigetragen, uns zu den Menschen zu machen, die wir sind62. Rorty nennt Prousts A la recherche du temps perdu und James’ Romane sogar »heilig«63. Nach Schillers Idealisierung der Künste als Veredler der Menschheit tappen Bloom und Rorty in dieselbe Falle: die Kunst als säkulare Menschheitserlöserin. Aus der éducation morale des bürgerlichen Mediums par excellence entsteht, quasi neu geboren, der veredelte Mensch. Wieder wird die Ästhetik mit Außerästhetischem, der historisch vermittelten Moral, überfordert und fehlgeleitet. Natürlich kann Literatur all das, was Rorty an ihr feststellt, nämlich die Haltung der Leserin/des Lesers zum Besseren verändern; sie kann es aber auch nicht – in keinem von beiden liegt die Aufgabe der Literatur. Wenn man schon mit größtem Vorbehalt von einer solchen Aufgabe sprechen möchte, liegt sie darin, literarisch zu sein und über dasjenige, das sie darstellt, hinaus zu verweisen, semiotisch: die neu geschaffene Kunstwirklichkeit überzeugend und symbolisch vorzulegen und für verschiedene Deutungen offen zu sein.

Der Kunst obliegt es nicht, unbescheiden als Menschheitsretterin, als Heilsbringerin, als moralische Instanz und mit hehrem Auftrag aufzutreten. Den Veredelungsauftrag schreiben ihr die Theoretiker zu. Die Ästhetik sollte vielmehr analysieren, was Literatur bedeutet und wie man ästhetische Erlebnisse erfährt. In diesem Sinn sollte eine zeitgemäße Ästhetik »non-elitist« sein64, sich gerade vom angeblich hehren Auftrag abwenden, um die eigentlichen, ganz alltäglichen ästhetischen Erlebnisse zu verstehen. Nanay geht sogar so weit zu fordern, dass eine zeitgemäße Ästhetik »non-judgemental«65 sein sollte, worauf ich im übernächsten Kapitel eingehen werde.

Selbstverständlich ergeben sich oftmals Schwierigkeiten, Ästhetisches von Außerästhetischem zu trennen, wie Nanay schreibt66. Umso mehr wird die ästhetische Theorie die Begriffe befragen und hinterfragen, wozu ich nun übergehe. Unsaubere und mystifizierende Begriffe wie »Kraft« (aus der Physik entlehnt und schon deshalb fragwürdig) oder die theologische »Epiphanie« und erst recht das große erkenntnistheoretische Fragezeichen »Wahrheit« sind ohne Wenn und Aber ästhetisch abzulehnen. Ein schneller, sauberer Scherenschnitt, und dieser alte Zopf fällt zu Boden. Den Theoretikern dieser Theorien möchte man Montaignes Diktum entgegenschleudern: »So viel Worte allein um der Worte willen!«67

Über zwei Jahrtausende geisterte der Begriff des »Schönen« (das Schöne) in der Ästhetik umher, jahrhundertelang die Begriffe »Genie«, »Geschmack« und eine Gattungs- bzw. Genrehierarchie in den Künsten. Man würde glauben, dass all diese Begriffe sowie ästhetische Normen, zum Beispiel wie das Schöne auszusehen habe, nun endlich mausetot seien. Ein frommer Wunsch.

Zum »Schönen«: Im Kapitel Die Rückkehr der Schönheit gehe ich ausführlich darauf ein, für so wichtig halte ich das Thema für die Ästhetik, obwohl es seit der Moderne kein absolutes Merkmal der Kunst darstellt. Zum »Genie«: Es mag unglaublich begabte Künstler, Designer, Literaten und Musiker geben, wenn man zum Beispiel an den vielleicht bedeutendsten Künstler der Gegenwart denkt, Gerhard Richter. Aber ein Genie? Man lasse die Kirche im Dorf. Der Geniebegriff des 18. Jahrhunderts kam als Emanzipationsbegriff des Bürgertums gegen den Adel auf mit dem angeblichen Genie als später Nachfahre der Künstlerlegenden. Mit dem Geniebegriff etablierte sich die bürgerliche, hoch begabte Individualität gegen die ästhetischen Normen des Adels. Das Genie sprengte kraft seiner alles überragenden Fähigkeiten alle bisherigen, normierten Grenzen. Versteht man den sozialpolitischen Grund für die Entdeckung des Geniebegriffs, versteht man ihre Zeitbedingtheit, erweist sie ihre zukünftige Unhaltbarkeit. Zum »Geschmack«: Auch wenn man den Begriff nicht mehr benutzt, wäre de gustibus disputandum. Doch auch diese Diskussion gehört der Vergangenheit an, da man bei der Geschmacksdiskussion nicht um normative Werte herumkommt. Gerade aber ästhetische Normen, wie die Kunst oder, im Fall des Geschmacks, die Kunstrezeption zu sein hat, gehören der Vergangenheit an. Über die Subjektivität der ästhetischen Präferenzen wird noch einiges zu sagen sein. Zur Gattungs- und Genrehierarchie: Längst ad acta gelegt und nicht sinnvoll, da sie Normen der Perfektion willkürlich festsetzt – würde man meinen. Blooms und Rortys Bevorzugung der großen Romane von Proust und von James führt die Genrenorm zur Hintertüre wieder ein. Die beiden Theoretiker instrumentalisieren die Romanform für ihre Theorie der kritischen Selbsterkenntnis als die ideale Form, um dies zu vermitteln, und genau darin liegt die prinzipielle Schwäche ihrer Theorie. Der Roman als Verwandler der lesenden Menschheit: ein modernes Märchen.

Kritik der Definitionsästhetik

Im 20. Jahrhundert wurde seit Duchamps Readymades, seit dem Dadaismus und insbesondere mit der Pop-Art die Frage gestellt: Was ist Kunst? Oder: Ist das Kunst? Darauf gibt es drei Antworten, die institutionelle, die ontologische und die Irrelevanzantwort.

George Dickie stellte in den frühen 1970er Jahren angesichts der Pop-Art die Frage nach dem gesellschaftlich-kulturellen Status des Kunstprodukts. In seiner Theorie konstituiert die artworld ein Kunstprodukt, wenn es vier Bedingungen erfüllt: Erstens muss ein Kunstwerk »on behalf of an institution« agieren; zweitens muss die artworld den Status eines Kunstobjekts verleihen; drittens muss das Kunstwerk ein Kandidat sein; und viertens muss das Objekt Wertschätzung erfahren68. Die Institution der Kunstwelt verleiht den Objekten den Status »Kunst«: »… art is a conferred status«69.

Die Institutional Art Theory krankt an mehreren Krankheiten: Wer genau gehört zur artworld und wer bestimmt, wer dazugehört? Konzentriert sich Dickie nicht zu sehr auf die Kunststatusfrage und kaum auf die Bedeutungsebene? Verändert sich die Kunstwelt nicht ständig mit der Geschichte, das heißt ändert sich die Statusverleihung »Kunst oder Nichtkunst« nicht ständig? Und wie steht es mit Fälschungen? Waren etwa van Meegerens Vermeer-Fälschungen Kunst oder nur Objekte eines Kriminalfalls?

Arthur Danto kritisierte Dickies institutionelle Theorie: Man dürfe nicht sagen, was ein Gedicht sei, aber in der Folge auslassen, was es bedeuten könne70