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In den acht Geschichten dieses dritten Bandes der Werkschau mischt Michael Marrak erneut alle phantastischen Genres und schafft daraus seine eigenen skurrilen, wunderbar farbigen und zuweilen bedrückenden Welten, die die Atmosphäre der Werke von Samuel Beckett oder Franz Kafka ins 21. Jahrhundert transportieren. Michael Marrak schrieb bereits New Weird, bevor dieses heute äußerst beliebte Genre erfunden wurde. Seine Werke sollte man in einem Atemzug mit denen von Jeff VanderMeer und China Miéville nennen. »Emerald Ridge« ist die Fortsetzung der Novelle »Endemion« aus dem zweiten Memoranda-Erzählband »Das Haus Lazarus« in deutscher Erstveröffentlichung. »Krak Megalon« ist die deutsche Erstveröffentlichung der umfangreichen Erzählung, die es zuvor nur drastisch gekürzt als Hörbuch gab.
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Seitenzahl: 470
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Impressum
Michael Marrak: Astrosapiens
Die besten Erzählungen von Michael Marrak • Band 3
© 2025 Michael Marrak (Text)
© 2025 Michael Hutter (Titelbild & Innenillustrationen)
© dieser Ausgabe 2025 by
Memoranda Verlag Hardy Kettlitz
Alle Rechte vorbehalten
Korrektur: Christian Winkelmann
Gestaltung: Michael Marrak
Memoranda Verlag
Hardy Kettlitz
Ilsenhof 12 · 12053 Berlin
www.memoranda.eu
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung:
verlag@memoranda.eu
ISBN: 978-3-911391-06-1 (Buchausgabe)
ISBN: 978-3-911391-07-8 (E-Book)
Inhalt
Impressum
ASTROSAPIENS
Die Stille nach dem Ton II: BLACK EASTER
EMERALD RIDGE
EXO-PROGRESSIONEN
DIE SAPIENS-INTEGRALE
DER MANN, DER RÄUME GLÜCKLICH MACHTE
KRAK MEGALON
NUMINOS
Nachbemerkungen und Quellen
Bücher bei MEMORANDA
ASTROSAPIENS
BOGENSEKUNDE 0–3:
LICHT. SERIENNUMMER 8. HINTERGRUNDRAUSCHEN. IMITATION, TÄUSCHEND ECHT IM KLANG. GERÄUSCH: STERN. KLASSE: GELBER ZWERG. SPEKTRALTYP: G2. LEUCHTKRAFTKLASSE: IV.
Als sich die Schleuse der Neutralisationskammer öffnete, rümpfte Leander angewidert die Nase. Die Reinigungskolonnen konnten nach Schichtende belüften, putzen, desinfizieren und sterilisieren, so viel sie wollten, das Odeur des tausendfachen Todes ließ sich davon nicht vertreiben.
Der fensterlose, etwa sechzig Quadratmeter große Raum wirkte auf jeden, der ihn zum ersten Mal betrat und das Interieur mit eigenen Augen sah, fast so schäbig wie eine historische Exekutionsklause. Das meiste daran bestand aus Sicherheitsglas, Keramik, Kunststoff und korrosionsbeständigem Metall. Allen Oberflächen rund um die Materplat genannte Transporterplattform, auf der die von den Artenservern selektierten Biomuster sich materialisierten, haftete ein rötlicher Schimmer an, der das Glas um eine Nuance ins milchig Bräunliche färbte.
Lustlos legte Leander das mitgebrachte Notfall-Medicoll auf das Pult neben der Operatorkonsole, meldete sich an und schaltete die Anlage auf Empfang, woraufhin die Server-KI das Sicherheitsprotokoll und die zuletzt gespeicherten Transitparameter vortrug. Nur mit halbem Ohr zuhörend, setzte Leander sich ans Terminal und starrte auf die etwa zehn Meter entfernte, leicht erhöhte Materplat-Bühne.
Gut ein Dutzend Selektoren arbeiteten rund um die Uhr in den Neutralisationskammern. In Leanders Ressort fielen Zirbelschnecken und Allomorphe, gelegentlich Celomedusen, und falls ein Mitarbeiter aus der Cephalopoden-Sektion ausfiel, auch mal Basemaths oder Viranellen. Seine Aufgabe bestand darin, selektierte und noch unarchivierte Wirbellose, die von den Artenservern erfasst und in die Kammern transportiert wurden, unmittelbar nach deren Rematerialisierung zu eliminieren. Viele der Organismen zeigten ein Transittrauma oder standen unter Transformerschock, nachdem der Computer sie wieder zusammengesetzt hatte. Leander musste lediglich das Paxfeld aktivieren, um sie von ihren Leiden zu erlösen. Einige Sekunden später konnte er die toten Biomuster zur Analyse in die nächste Sektion schicken; entweder zu Osmin, falls es sich um reine Wirbellose handelte, oder zu Isakka, die sich um die Celomedusen kümmerte. Basemaths und Viranellen hingegen schossen durch den Elektronenkosmos auf den Seziertisch von Mesobos. Was daraufhin mit dem ganzen Getier geschah, interessierte Leander nicht mehr.
Die große Masse aller bisher auf Kapteyn II entdeckten Allomorphe war doppelgeschlechtlicher oder zumindest pseudohermaphroditischer Natur. Nur sehr selten erfassten die Sensoren eingeschlechtige Spezies. Zu Beginn der Katalogisierung hatte es erhebliche Probleme mit der Justierung des Paxfeldes gegeben, da der Computer selten vorausberechnen konnte, wie viel Energie nötig war, um die Biomuster zu töten. Die gesamte Analysesektion war auf Didaktik programmiert, um während der Erfassung keinen unnötigen Speicherplatz zu belegen. Einzig der Stationssupervisor und sein Wartungsmonteur, ein Metallid, verfügten über eine hinreichende Programmierung, um die nötigen Kompetenzen zu erfüllen.
Viel Inventar war zu Bruch gegangen, ehe die angemessenen Frequenzen für das Feld ermittelt gewesen waren, und so mancher Energieschock hatte anfänglich eine gehörige Sauerei verursacht. Etliche der Mollusken und Allomorphe waren von zu hohen Feldstößen förmlich zerrissen worden und in Leanders Sektion wie organische Granaten explodiert. Zwar waren die meisten der Kreaturen nicht größer gewesen als ein Unterarm oder eine Orange, doch hin und wieder hatten die Scanner auch Exemplare erfasst, die annähernd das Zehnfache dieser Größe erreicht hatten. Die Reinigungsandroiden waren stundenlang damit beschäftigt gewesen, den Matsch wieder von den Apparaturen und Wänden zu entfernen, ganz zu schweigen von der vorgeschriebenen Entseuchung und Sterilisation.
War der Feldstoß zu niedrig, so zuckten die Allomorphe lediglich zusammen, als wären sie gehörig erschrocken, und begannen durch die Kammer zu kriechen. Dann half in der Regel nur noch der Laser oder ein harter, länglicher Gegenstand, bevor die Kreaturen anfingen, sich in ihrem Heißhunger durch die Wände zu fressen. Was geschehen mochte, falls es einem Allomorphen gelänge, in den Systemkreislauf der Station einzudringen, wagte Leander sich gar nicht auszumalen …
Basemaths und Viranellen zerplatzten bei einem zu hohen Feldstoß zwar nicht, doch sie erbrachen ihren Mageninhalt und pressten sich in Konvulsion Mastdarm und Blase aus. Bei Viranellen mit ihren vier Mägen hatte das unweigerlich eine erhebliche Sauerei zufolge. Anschließend plumpsten sie leblos in ihren eigenen Unflat, von dem Leander sie erst wieder reinigen musste, ehe er die Objekte weiterschicken konnte. Vor Kurzem hatte ein schwangeres Basemath in seiner Agonie auf der Transporter-Plattform gefötet. So hatten vor Leander statt eines toten Biomusters unverhofft deren sechs in ihren Exkrementen gelegen.
Besonders unangenehm verlief es bei den Schwellenorganismen aus Allomorphen und Cephalopoden – beispielsweise den Celomedusen. Ein zu hoher Feldstoß rief bei ihnen die gleiche Wirkung hervor wie eine Überdosis Morning Glory – sie schossen brüllend und jaulend durch den Raum wie querschlagende Kugelblitze. Am Ende des Trips verabschiedete sich ihr gesamter Verdauungstrakt durch den Anus und lag als sechs Meter langer Darmschlauch im Labor, ehe die Tiere tot umkippten. Diese Exemplare waren für das Archiv gänzlich unbrauchbar und konnten auf direktem Weg im Orbit entsorgt werden.
Leanders Serverkammer hatte zu Beginn des Kollektorprogramms einem Schlachthaus geglichen. Technisch gesehen bediente er einen Teleportationstransenten. Hunderte glibberiger, hüpfender, quiekender, furzender, sabbernder, stinkender, schlängelnder und pfeifender Kreaturen hatte er während der vergangenen Monate für die Katalogisierung der Biosphäre von Kapteyn II durch seinen Serverbahnhof geschickt. Empfangen, neutralisieren, weitersenden. Fünfundneunzig Prozent erledigte der Computer, und wenn Leander ab und zu die Sektion verließ, schaltete er auf ›automatischen Transfer‹.
Als nun die Luft über der Plattform zu knistern begann, warf Leander verwundert einen Blick auf den Holoscreen. Die Sensoren hatten kein Biomuster erfasst, das in sein Ressort fiel. Der Monitor war leer. Das Flimmern über der Materplat war jedoch ein untrügliches Zeichen für eine bevorstehende Transmission.
Leander kniff die Augen zusammen. Erlaubten seine Kollegen sich mal wieder einen Scherz? Vor einer Woche hatte die Reptiliensektion Osmin beim Wasserlassen erfasst und ihn mit herabgelassener Hose urinierend auf seine Plattform transmittiert. Leander hoffte, dass sie diese Geschmacklosigkeit jetzt nicht mit Isakka wiederholten; es wäre ihm äußerst unangenehm. Falls es jemand aus der Station sein sollte, der einem Schelmenstück zum Opfer fiel, hätte er aufgrund der geringen Distanz allerdings längst auf der Materplat stehen müssen.
Also ein Transitfehler, überlegte Leander. Materialisierte sich bei ihm gerade ein Biomuster, das vom Scanner einer anderen Sektion erfasst worden war? Womöglich aus der Abteilung für Meeresbiologie, oder von Oshs Reptilienserver, der hin und wieder eine Hyperfunktion hatte? Für einen Valpa war Leanders Anlage nicht konzipiert. Und Schlangen … Lieber Himmel, bitte keine Schlangen!
Sein Blick wanderte zur Schleuse der Serverkammer, dann wieder zum Bildschirm. Das, was auf der Plattform Gestalt annahm, schwirrte und waberte, als hätte es keine Konsistenz. Mal wogte es nach hier, mal nach da, streckte sich in die Länge, verdichtete sich zu einer Kugel …
Ein Schwarm? Hatten die Insektologen etwa Mist gebaut?
Ein greller, lautloser Blitz erstrahlte, dann stand ein absonderliches Geschöpf auf der Materplat, dessen Anblick Leander das Blut in den Adern gefrieren ließ. Im ersten Moment glaubte er ein riesiges Insekt vor sich zu haben. Erst auf den zweiten Blick erkannte er, dass Teile der Kreatur künstlich waren, wie etwa die Vorderbeine – oder Arme? – und der Kopf. Letzteren dominierten drei Gebilde, die antiken Kameraobjektiven ähnelten. Gekrönt wurde er von einem vibrierenden Gebilde, das aussah wie ein Strauß dünner metallischer Fühler. Andere Gliedmaßen wirkten zwar organisch, aber keineswegs natürlich. Ein Großteil des Körpers war in etwas gehüllt, das transparenter Kunststofffolie glich. Es wirkte auf Leander, als versuchte das seltsame Ding sich auf provisorische, fast schon dilettantische Art und Weise vor schädlichen Umwelteinflüssen zu schützen.
War es möglich, dass durch einen Defekt des Artenservers mehrere Kreaturen und ein Teil der Anlage selbst miteinander verschmolzen waren? Es konnte an einer Fehlfunktion des Transporterpuffers liegen – oder womöglich doch am seltsamen Humor seiner Arbeitskollegen?
»Mesobos«, rief Leander. »Isakka, Osh, seht ihr das?« Hektisch öffnete er alle Kanäle und blickte Hilfe suchend hinauf zu den Kameras. »Kommt das aus der Selektionszone oder ist das wieder einer eurer dämlichen Scherze?«
Keine Antwort, die Lautsprecher schwiegen. Leanders Hand schnellte zur Konsole, doch da hatte das Geschöpf die Materplat bereits verlassen. Der Feldstoß paralysierte lediglich Schwebeteilchen. Ungelenk näherte die monströse Kreatur sich dem Kontrollterminal. Leander wich zurück, bis er gegen die Wandkonsole stieß.
Der Biomechanoid streckte eine von seinem Exoskelett gestützte Hand über das Schaltpaneel und berührte eines der Sensorfelder. Augenblicklich erloschen sämtliche Diagramme und Funktionsanzeigen. Die Mitteilung ›DAS PROGRAMM WURDE BEENDET‹ erschien auf einem der Holoscreens, dann schaltete der Server in den Stand-by-Modus.
Konsterniert starrte Leander auf die deaktivierte Konsole, dann in die Kameraaugen des Eindringlings. »Isakka«, rief er mit aufkeimender Panik in der Stimme. »Was soll ich tun?«
»Sie können dich nicht hören«, entgegnete anstelle seiner Kollegin der Biomechanoid. »Niemand hört dich, und niemand sieht mich.«
»Was bist …?«, brachte er hervor. Das Wesen legte einen Finger auf seine Lippen und machte: »Pssst!« Stumm und fassungslos starrte Leander den Eindringling an. »Das Programm ist beendet«, wiederholte dieser die letzte Systemmeldung. »Für dich gibt es hier nichts mehr zu tun.«
»Was – willst du?«
»Ich bringe dir Frieden.«
BOGENSEKUNDE 4–11:
Yed Prior. Al Nasi. Leo Algieba. Bellatrix.
Können Sie mich hören?
Sadalmelik. Piscis Volans.
Hören Sie auf, sich hinter einem astronomischen Syllabus zu verstecken. Er ist nur eine Schutzfunktion Ihres Unterbewusstseins.
Küss mir den Arsch!
Schweben Sie nicht so nah am roten Licht.
Fomalhaut.
Öffnen Sie die Augen! Das rote Licht ist kein passender Ort für Sie!
Yed Posterior.
Leanders Unglück war ein öffentliches Schauspiel für jeden, der aufmerksam und willens war, ihm beizuwohnen. Eingeläutet wurde sein Finale furioso damit, dass er nur spärlich bekleidet in den Pendelbahnhof gelaufen kam. Allein die Tatsache, dass er die Station aus einer Richtung betrat, die üblicherweise den Magnetbahnen vorbehalten blieb, war befremdlich. Nicht eine Sekunde lang sah es jedoch so aus, als führten der Supervisor oder eine fremde Macht ihn gegen seinen Willen ins Verderben. Den gesamten Weg, den er auf der Magnetschiene der Pendelbahn zurücklegte, schien er aus freien Stücken zu gehen; die linke Hand zur Seite ausgestreckt, als wollte er auf die Nebentrasse abbiegen, nur um dennoch unbeirrt weiter geradeaus zu laufen.
Leanders Auftauchen verblüffte sowohl die wartenden Passanten als auch das umherschwebende technische Aufsichtspersonal. Als die ersten Deliktroden ihn erfasst hatten, war es bereits zu spät. Selbst als der Pendelzug keine dreißig Meter vor ihm aus dem Tunnel geschossen kam, unternahm Leander keinerlei Anstalten, sich durch einen Sprung auf den Bahnsteig zu retten. Unbeirrt wandelte er seinem Verhängnis entgegen, als gäbe es nichts Erstrebenswerteres als die Kollision mit einer zweihundert Tonnen schweren Magnetschwebebahn.
Drei Sekunden vergingen, bis Mensch und Maschine aufeinandertrafen. Das Geräusch des Zusammenpralls zerstörte die Hoffnung aller, die erwartet hatten, bei der traumwandelnden Person handele es sich nur um eine holografische Projektion. Zuerst blieb Leanders nackter Körper vom Levitationskraftfeld getragen wie ein Teigklumpen an der Wagenfront kleben, während sich ein Spinnennetz aus Blut auf dem beigen Kunststoff der Bahn verteilte. Als das Notbremssystem aktiviert wurde, löste Leander sich von der Stirn des Zuges. Sein Körper wurde auf den Bahnsteig geworfen, rutschte quer über die Plattform und blieb kurz vor ihrer gegenüberliegenden Kante in grotesk verkrümmter Haltung liegen. Während ihm Passanten zu Hilfe eilten oder schockiert vom Ort des Geschehens flüchteten, begann sich eine Blutlache unter seinem zerschmetterten Körper auszubreiten.
BOGENSEKUNDE 12–19:
Ich schwebe …
Wer hat Ihnen dieses Schutzmantra beigebracht?
Geh weg!
Fürchten Sie sich?
Nein. Ich bin nicht wirklich hier.
Woher wollen Sie das wissen?
Ich fühle meinen Körper nicht.
Bereitet Ihnen das keine Angst?
Nein.
Warum nicht?
Frag mich das ein andermal …
Ein schrilles Pfeifen riss Leander aus seiner Ohnmacht. Panik keimte in ihm auf, als er feststellte, dass er weder Arme noch Beine bewegen konnte. Sein Körper fühlte sich an wie ein amorpher Zellhaufen. Desorientierung, Verwirrung und Furcht drohten ihn zu überwältigen. Erst als er registrierte, dass er keine Schmerzen empfand, bekam er seine Konfusion halbwegs in den Griff. Mühsam öffnete er einen Spalt weit die Augen. Er war sich sicher, dass sie offen waren, doch alles, was er zu sehen vermochte, war ein pulsierendes rotes Wallen.
Das Pfeifen verwandelte sich langsam in etwas, das wie Stimmen klang. Schließlich lichtete sich der Schleier, doch alles, was Leander zu erkennen vermochte, war schemenhaft und zweidimensional wie Scherenschnitte hinter einer roten Leinwand. Unförmige Gestalten blickten auf ihn herab und unterhielten sich gedämpft. Zwei weitere Schatten traten hinzu. Sie beugten sich über ihn, betasteten seinen Körper. Scham und Abscheu überkamen ihn. Er fühlte sich hilflos und ausgeliefert, als sie ihn berührten. Wütend setzte er zum Sprechen an, doch das Einzige, was er hervorbrachte, war ein Schwall schaumiger Flüssigkeit, die aus einer Öffnung in seinem Hals quoll. Im nächsten Moment fühlte Leander sich emporgehoben, aber irgendetwas war dabei nicht in Ordnung. Die Schatten trugen zu wenig von ihm. Nachdem sie ihn wieder abgelegt hatten, bedeckten sie seinen Körper mit etwas, das sich wie eine Kunststoffplane anfühlte. Ein vielstimmiges Lachen erklang, dann kehrte die Schwärze zurück.
BOGENSEKUNDE 20–35:
Ich bin der Blutmeister, stehe noch über dem Supervisor.
Sehen Sie mich an!
Licht. Es ist Licht, nicht wahr? Rot. Es ist in meinem Kopf. Meine Sonne.
Öffnen Sie die Augen und schauen Sie mich an!
Ich habe keine Augen.
Strengen Sie sich an!
[Supernova. Rot. Warm.]
Sehen Sie das blaue Licht?
Nein.
Werfen Sie einen Blick hinter sich.
Zu kalt. Behaglicher ist das rote.
Schweben Sie zum blauen Licht, um Himmels willen!
Ich denke nicht daran. Ich bin der Blutmeister. Mein Blut ist rot, kapiert? Rot!
Leander zitterte unter Krämpfen, war eingebettet in einen Kokon aus Schmerzen. Er war umringt von einer Legion aus Schatten. Es waren so viele, dass die Dunkelheit selbst aus ihnen zu bestehen schien. Manche von ihnen wirkten menschlich, andere waren groteske Zerrbilder. Lautlos schlichen sie umher, änderten dabei unablässig ihre Form, lachten, weinten, flüsterten. Ein Gewirr aus Stimmen geisterte durch die Finsternis. Sie sprachen in unverständlichen Sprachen, waren mal weit entfernt, dann wieder so nahe, dass Leander sie fast zu fühlen vermochte. Er wusste nicht, welche Schatten real waren und welche nur Trugbilder. Sie formten sich aus der Schwärze, die ihn umgab, berührten und betasteten seinen Körper und verschmolzen wieder mit der Dunkelheit, ehe er eine Stimme oder ein Gesicht erkennen konnte.
Leander konnte nicht sagen, ob er in einem Bett oder in einem Kryotank lag, schwerelos in der Dunkelheit schwebte oder lebendig begraben war. Er wusste nicht einmal, ob er überhaupt noch einen Körper hatte. Die Situation war irreal. Er ruhte in einem Universum ohne Sterne und fühlte absolut nichts. Aus allen Richtungen drangen fremdartige Geräusche an seine Ohren. Sobald er sich jedoch auf diese Kakophonie konzentrierte, trat Stille ein. Das Einzige, was er letztlich hörte, waren sein eigener Atem und das Pochen seines Herzens.
Sosehr Leander sich auch darum bemühte, war er doch nicht fähig, einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Alle Bilder und Stimmen, die ihm durch den Kopf gingen, waren bereits Sekunden später verblasst und vergessen. Keinen Gedanken festhalten zu können machte ihn wütend – bis er selbst das vergaß, was ihn erzürnte. Bilder, Worte, Reize, Töne, alles war zusammenhanglos, eine willkürliche Aneinanderreihung von Beliebigkeiten. Leander war sich bewusst, dass sein Zustand nicht normal war, doch seine Konzentration reichte nicht aus, um den Fehler zu finden und sich zu erklären, wieso all dies geschah.
Er versuchte sich aufzurichten, vermochte jedoch nicht einmal einen Finger zu bewegen. Seine Gliedmaßen fühlten sich an wie eingemauert. Selbst das Bemühen, seine Augen zu öffnen, erschöpfte ihn.
»Bitte bewegen Sie sich nicht«, vernahm er unvermittelt eine Frauenstimme. »Sie stehen unter dem Einfluss eines Muskelrelaxans. Versuchen Sie sich zu entspannen.«
Die Worte erklangen direkt in seinem Kopf, aber es war keine menschliche Gedankenstimme. In ihr schwang das unverkennbare Timbre einer KI mit. Offenbar hatten Leanders Versuche, sich zu rühren, ein Sicherheitsprogramm aktiviert. Er versuchte zu antworten, doch seine Lippen ließen sich nicht öffnen. Wer bist du?, formulierte er die Frage daher in Gedanken, hoffend, dass die Maschine fähig war, telepathische Signale zu empfangen.
»Meine ID lautet Eno-7188«, erklang ihre Stimme prompt. »Ich bin eine Anästhesie-Assistenz-KI. Bitte gedulden Sie sich, bis die Wirkung des Relaxans nachgelassen hat. Das Stasisfeld wird deaktiviert, sobald die medikamentöse Wirkung abgeklungen ist.«
Wo bin ich?
»In Sicherheit.«
Es ist so dunkel.
»Seien Sie unbesorgt«, säuselte die Stimme. »Alles ist unter Kontrolle. Wünschen Sie ein wenig Musik zu hören?«
Ich würde gern diese Dunkelheit verlassen.
»Ich werde die Visagonmaske entfernen, sobald Ihre Biowerte wieder im Toleranzbereich liegen.«
Maske?, wiederholte Leander verwirrt. Wieso trage ich eine Maske?
»Sie leiden an einem multiplen physischen und neuronalen Trauma. Der Erinnerungsverlust ist temporär und resultiert aus einer medikamentösen Blockade Ihres Kurzzeitgedächtnisses. Diese Maßnahme dient Ihrem eigenen Schutz. Um den Reizentzug und Ihren psychosomatischen Erholungsprozess so erträglich wie möglich zu gestalten, initiiere ich nun eine Entspannungsstimulation.«
Ein Ton erklang wie ein in die Länge gezogener Glockenschlag, dann brandete eine Woge aus Licht über Leander hinweg und riss sein Bewusstsein mit sich.
BOGENSEKUNDE 36–63:
Wer bist du?
Jemand, der Sie beschützt.
Wovor?
Vor einer falschen Entscheidung – und vor Ihnen selbst.
Was ist passiert?
Erinnern Sie sich nicht?
Nein.
Wünschen Sie eine wissenschaftliche oder eine religiöse Antwort?
In dieser Reihenfolge, blaues Licht.
Sie sind tot. Sie sind hinter dem Regenbogen.
Letzteres erscheint mir unwahrscheinlich.
Ersteres etwa nicht?
Nein. Solange ich denke, bin ich.
Darin irrte bereits Descartes.
Ich bin Neuronenfeuer. Ich lebe!
Damásio wäre stolz auf Sie.
Du langweilst mich, blaues Licht.
Mit diesem Urteil sind Sie nicht der Erste. Erinnern Sie sich an Ihren Namen?
Mi? Ni? Xi?
Ich würde gern sagen, werfen Sie einen Blick in den Spiegel, aber dort, wo Sie sich befinden, existiert dergleichen nicht.
Meinst du den Himmel? Oder die Hölle?
Das sind äußerst anachronistische Korrelate. Sie befinden sich in der medizinischen Sektion eines Orbitariums.
Klingt nach Fegefeuer.
Vier Metallarme schoben Leander Nadeln durch die Kiefer, kreisten um sein Gesicht, dünngliedrig wie Käferbeine, versehen mit Zangen und Klammern, Absaugröhren und Injektionsdüsen. Sie alle unterstützten den im Zentrum arbeitenden Hauptinstrumentenarm, ein Furcht einflößendes Gebilde, so dick wie ein menschlicher Oberschenkel. Der Chirurg verfügte über ein umfangreiches Sortiment an Operationsinstrumenten und Lasern, das unsichtbar in seinem Inneren verborgen oder als starrende Phalanx um ihn herum gruppiert war. Hätte er Leander nicht das Empfindungsvermögen genommen, dann hätte der Schmerz ihn wahrscheinlich in den Wahnsinn getrieben. So jedoch lag er fast teilnahmslos in der Rekonvaleszenz-Zelle, einem rundum fast komplett gläsernen Sarkophag, an dessen Decke der Operateur sich entlangbewegte.
Vielleicht verspürst du den Schmerz nur nicht, weil du längst wahnsinnig geworden bist, verspottete ihn eine innere Stimme.
Mit bewundernswerter Präzision flickte ausgefeilte Technik zusammen, was von Leanders Gesicht übrig geblieben war. Der Chirurg vollbrachte es, aus blutigen Fleischlappen wieder Lippen und aus einer amorphen Masse wieder ein Gesicht zu formen. Seine Assistenzarme stopften kleine Gelatinebeutel in ein Loch unter seinem rechten Augenlid, spannten Haut darüber und befestigten alles mit feinen, organischen Bogennadeln, die unsichtbar unter der Haut versteckt blieben und sich nach wenigen Stunden rückstandslos auflösten. Zwei Kameras waren auf die Zelle gerichtet und verfolgten jede Phase des Prozesses.
Leander spürte jeden einzelnen Stich durch das Gewebe, ohne Schmerz zu empfinden. Er fühlte die Nadeln, Schnitte und Klammern, das Vernähen der Gefäße, das Verschweißen der Knochen, das Sengen der Laser und den Druck der Füllmasse unter seinem Auge. Sein Grauen blieb stimmlos im betäubten Geist verborgen, während der Chirurg unermüdlich restaurierte und sich um sein anatomisches Kunstwerk bemühte.
Mittlerweile war Leander davon überzeugt, dass sich alles, was ihm gerade widerfuhr, tatsächlich ereignete. Der Albtraum, wofür er sein Martyrium anfangs gehalten hatte, war real. Tausend Gedanken kreisten in seinem Kopf. Er konnte sich nicht erinnern, wie er hierhergekommen war und woher die fürchterlichen Wunden stammten, die ihn entstellten. Was gerade geschah, war falsch.
Alles um dich herum ist falsch!, belehrte ihn eine Stimme in seinem Kopf. Du dürftest überhaupt nicht wach sein!
Warum wirkten die Narkotika nicht? Wieso machte der Supervisor sich einen Spaß daraus, ihn ständig erwachen zu lassen?
Als der Chirurg die Arbeit an Leanders Gesicht beendet hatte, glitt er mit seinen Assistenzarmen über den Thorax hinweg und begann sich um die sekundären inneren Verletzungen zu kümmern. Leander öffnete den Mund und ließ die Zungenspitze über seine Lippen gleiten, aber alles war taub. Er wandte den Blick von den Instrumentenarmen ab und starrte in die Raumbeleuchtung. Während der Chirurg Flickarbeit leistete, zogen sich überlagernde Bilder aus Erinnerungen vor Leanders geistigem Auge vorüber, verwandelten sich in Szenerien aus Licht und Nebel und verblassten …
Unvermittelt tauchte ein Schatten neben der Zelle auf und ließ ihn vor Schreck zusammenzucken. Augenblicklich hielt der Chirurg in seiner Arbeit inne, einen Herzschlag darauf erklang eine sanfte weibliche KI-Stimme und sagte: »BITTE VERMEIDEN SIE KONVULSIONEN! SIE GEFÄHRDEN DIE REMODELLIERUNG!«
Leander hörte die Worte kaum, starrte nur empor zu der bizarren Gestalt jenseits der Sichtfenster. Das Wesen sah aus wie ein zum Leben erwachtes Hydrocephalus-Präparat, das aus einem Formalintank des anatomischen Archivs geklettert war. Seine Haut war jedoch weder ledrig noch wächsern, sondern erschien im Licht der Stationsbeleuchtung bläulich. Lediglich die Lippen waren von einem leichenhaften Violett. Es wirkte so groß wie ein ausgewachsener Mensch, wobei ein Fünftel seiner Größe einem monströsen Wasserkopf geschuldet war. Die Arme waren relativ kurz und mündeten in verkümmert wirkenden Händen. Gekleidet war es in eine Art Robe aus dunkelgrauem, matt glänzendem Stoff, die in der Bauchgegend auffällig gewölbt war. Die Gesichtszüge des Wesens wirkten feminin. Auch die Rundungen von Brüsten, die Leander unter der Robe zu erahnen glaubte, sprachen für ein weibliches Geschöpf. Der überproportionierte Kopf wurde von einem massiven, auf den Schultern montierten Metallgestell gestützt. Zahlreiche Streben bildeten eine Auflage für Kinn und Nacken und ließen die Konstruktion aussehen wie einen Käfig, in dem der dünne Hals gefangen saß. Ohne sie würde der Schädel wahrscheinlich zur Seite oder nach hinten kippen und das Genick brechen wie einen morschen Ast.
Der Blick des Wesens war forschend und analysierend, seine Gesichtszüge ausdruckslos starr. Schweigend sah es auf die Rekon-Zelle herab, als studierte es ein In vitro-Experiment.
Leander sah hinauf zu den Raumkameras, die den Eindringling nicht zu erfassen schienen. Wie zur Bestätigung begann der Chirurg seine Arbeit fortzusetzen. Leander setzte zum Sprechen an, doch seine Stimmbänder versagten den Dienst.
Wehre dich nicht dagegen, erklang die Gedankenstimme des Geschöpfes in seinem Kopf. Jede Minute, die du gegen das blaue Licht ankämpfst, treibt dich weiter von uns fort. Die Worte erklangen in einer so beispiellosen Brillanz, als hätte es sein Leben lang nie eine andere Form der Kommunikation genutzt. Warum aber schritt der Sicherheitsdienst nicht ein? Der Supervisor musste doch sehen, dass sich in der hermetisch abgeriegelten Krankenstation etwas Fremdes aufhielt. Wie war dieses Ding in der Lage gewesen, alle Kontrollen zu umgehen und die Schleusen zu passieren?
Lass in deinen Geist wieder Ordnung einkehren, erklang erneut die Gedankenstimme. All das hätte nicht zu geschehen brauchen. Unverhohlen musterte das Wesen Leanders Körper. Du müsstest nicht in dieser Zelle liegen. Es strich mit einer seiner verwachsenen Hände über das Glas. Komm zurück nach Hause, Leander. Ich brauche dich. Dann strich es über seinen gewölbten Bauch. Wir brauchen dich! Ein kurzes Leuchten erfüllte den Raum, dann war das Geschöpf wieder verschwunden.
Leander verrenkte seinen Hals, um einen Blick hinter sich zu werfen, woraufhin der Instrumentenarm abermals stoppte und sein Operationsbesteck aus seiner geöffneten Bauchhöhle zurückzog. »BITTE BEWEGEN SIE SICH NICHT!«, erklang die Stimme der KI erneut. »SIE RISKIEREN IRREPARABLE GEWEBESCHÄDEN!«
Ungeachtet der Warnung hob Leander den Kopf und blickte sich um. Ein plötzlich auflodernder Schmerz aus der Körpermitte war die Strafe. Kraftlos sank er zurück und blieb schwer atmend liegen.
»ZUR PRÄVENTION WEITERER KOMPLIKATIONEN WIRD EINE INTRAVENÖSE ANÄSTHESIE EINGELEITET«, informierte ihn der Chirurg.
Leander nahm den Einstich kaum wahr. Das Narkotikum begann augenblicklich zu wirken und ließ die Umgebung vor seinen Augen verschwimmen.
Was geschah hier? Warum hatten die Kameras nicht reagiert und eine Sanitätseinheit alarmiert? Wurden seine Visionen durch eine Fehlfunktion des Implantats verursacht, das zunehmend Chimären und Wahnvorstellungen in sein Bewusstsein projizierte? War er zu einer Gefahr für die Station geworden?
Bis zuletzt hoffte er auf eine tröstende Stimme, die seine Fragen beantwortete, doch der Supervisor blieb stumm. Schließlich gab Leander es auf, gegen die Wirkung der Narkose anzukämpfen, und schloss die Augen.
BOGENSEKUNDE 64–79:
Schwarz. Eine Nuance rot, langsam schwächer werdend.
Sind meine Schnitte nicht wunderschön? Ich bin ein Narbenkollektor.
Sie sind ein veritables Monstrum. Ein Homo-sapiens-Derivat. Eine unvollkommene Wunderwesen-Blaupause.
Verschwinde endlich! Bleib in deinem albernen blauen Leuchten!
Kennen Sie das Verbrechen der singulären Abweichung als Manifestation ohne Schein?
Punkt-Punkt-Komma-Strich – geh zum Teufel, blaues Licht.
Damit erreichen Sie gar nichts. Das Problem befindet sich in der Masse, die von Ihrem Kopf übrig ist. Es nennt sich Morbus Chimaira. Sie sind infiziert.
Ich will davon nichts hören!
Es ist eine Krankheit, die früher oder später im Wahnsinn endet.
Und du bist die Heilung?
Mitnichten.
Dann betrachte dich als obsolet, blaues Licht.
Das nächste Erwachen geschah in schummrigem Zwielicht. Leander starrte an eine sich etwa drei Armlängen über ihm spannende Raumdecke, an der in Sekundenintervallen winzige gelbe und blaue Lichter aufleuchteten. Die Bettstatt, auf der er lag, bestand aus einem Polsterstoff, der sich seinem Körper anpasste. Mühsam hob er den Kopf und sah sich um, konnte in der Dunkelheit aber kaum etwas erkennen. Der röhrenförmige Raum maß etwa sechs Meter in der Länge und hatte einen achteckigen Querschnitt von gut zwei Metern Durchmesser. Er erinnerte an ein Cargo-Modul, war aber eingerichtet wie eine Dekompressionskammer. Obwohl er zur am Fußende gelegenen Seite offen zu sein schien, war es so still, dass Leander sein Herz klopfen hörte. Lediglich ein kaum wahrnehmbares Summen drang aus einer unbestimmten Richtung an seine Ohren.
Auf einem Sideboard lag eine akkurat zusammengefaltete Pariauniform. Leander streckte eine Hand aus, um danach zu greifen, doch sein Arm fühlte sich an, als hinge ein Zehn-Kilo-Gewicht an ihm.
»Willkommen, humanoider biologischer Verband«, erklang eine Stimme, die direkt aus der Wand zu seiner Linken zu dringen schien. Gleichzeitig wurde es im Raum eine Nuance heller. »Sei unbesorgt. Dein Aufenthalt in diesem Modul ist eine Sicherheitsmaßnahme. Sie dient zu deinem Schutz.«
Leander sah sich suchend um. »Wer bist du?«, murmelte er. »Wo bin ich hier?«
»Ich bin ein medizinisches Primär-Idon. Du befindest dich in einer Rekon-Kammer.« Die Stimme verstummte für einen Moment, als würde die KI ihren Worten nachsinnen. »An einem sicheren Ort«, fügte sie hinzu.
Leander versuchte sich aufzusetzen. Als ihm nach wenigen Sekunden schwarz vor Augen wurde, ließ er sich wieder zurücksinken. Sein Herz raste, das Blut rauschte in seinen Ohren. Neben ihm erklang ein leises Surren. Ehe er es vollbrachte, die Augen zu öffnen, spürte er einen Einstich an seinem Oberarm. Kalte Flüssigkeit strömte in seine Vene. Erschrocken hob Leander den Kopf und sah einen dünnen Metallarm in der Wandverkleidung verschwinden.
»Was war das?«, fragte er.
»Ein Neural-Oculantium«, erklärte das Idon. »Es mildert die Vertigo.«
Gefühlt verging mehr als eine Stunde, bis Leander tatsächlich in der Lage war aufzustehen. Nach einigen zaghaften Schritten neben seiner Bettstatt glaubte er schließlich, dass seine Beine sein Gewicht tragen würden, ohne dass er sich dabei an der Wand abstützen musste. Die Erkundung des Raumes endete jedoch an einer unsichtbaren, undurchdringlichen Kraftfeldmembran, die den vermeintlichen Ausgang verschloss.
»Was soll das?« Er schlug ein paarmal mit der Faust gegen die Energiebarriere. Konzentrische, regenbogenfarbene Lichtwellen breiteten sich über das Kraftfeld aus. »Bin ich ein Gefangener?«
»Nein«, sagte das Idon.
»Dann lass mich gefälligst hier raus!«
»Das liegt außerhalb meiner Befugnisse. Ich bin nur ein medizinisches Rekon-Programm.«
Leander machte einen Schritt nach vorn und schlug mit der Faust gegen das Kraftfeld. »Ihr habt kein Recht, mich in eine Arrestzelle zu sperren!«
»Das ist eine Rekon-Kammer«, wiederholte das Idon. »Der Supervisor will sicherstellen, dass dir die Fehlfunktion deines Cephalon-Implantats nicht auf mentaler, molekularer oder zellularer Ebene geschadet hat und du noch der bist, der du vor deinem Unfall warst.«
BOGENSEKUNDE 80–87:
Du blendest mich!
Kommen Sie näher und sehen Sie mich an.
Ich bin ein Schnittmustersammler. Ich kann gehen, wohin mein Blut mich führt.
Nein, warten Sie, nicht ins rote Licht!
Beide Lichter sind rot …
Das ist eine Illusion. Öffnen Sie endlich die Augen!
Minchir. Melquarth. Hyadum Eudora.
Mit dem Gefühl, an eine Hochspannungsleitung gegriffen zu haben, schreckte Leander auf. Sein jähes Erwachen wurde begleitet von einem Schmerz, der jede Faser seines Körpers durchdrang. Als die Krämpfe langsam nachließen, fuhr er sich mit der Hand über das schweißnasse Gesicht.
»Ihre Zeit ist um!«, vernahm er eine Stimme, von der er im ersten Moment nicht wusste, ob sie real war oder nur die Nachwehe eines Traumes.
Leander drehte den Kopf und spähte zum offenen Ende der Zelle. Jenseits der Kraftfeldmembran leuchtete ein winziges, grellrotes Augenpaar. Aus der liegenden Perspektive konnte er nicht erkennen, ob es tatsächlich so klein war oder nur meterweit von der Energiebarriere entfernt gloste. Leander erhob sich schlaftrunken und trat an die Energiebarriere heran. Vor der Zelle schwebte eine schlanke, mattgraue Sonde. Sie sah aus wie ein geschwungenes, gut einen Meter großes Zepter, an dessen Flanken zwei Reihen kleiner roter Lichter glommen.
»Der Rekonvaleszenzprozess ist abgeschlossen«, erklang es aus ihrem Kopf, wobei die beiden wie Augen anmutenden Lichter auf ihrem Kopf im Rhythmus der Worte flackerten. »Sie dürfen die Zelle verlassen.«
»Einfach so?«, argwöhnte Leander. »Mir nichts, dir nichts, ohne ärztliche Konsultation?«
»Die Quarantäne ist beendet«, erklärte die Sonde, ohne auf die Frage einzugehen. »Der Supervisor hat Ihre Entlassung verfügt. Bitte legen Sie Ihre Pariauniform an.«
Leander taxierte die Sonde, unentschlossen, was er von der neuen Situation halten sollte.
Dann wandte er sich um und ging zurück zum Sideboard am Kopfende der Liegestätte. Provozierend langsam faltete er den grauen Overall auseinander und schlüpfte hinein. Leuchtend orangefarbene Streifen an den Oberarmen stigmatisierten ihn weithin sichtbar als Delinquenten. Die Sonde ließ sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen, was Leander verriet, dass sie autonom agierte und nicht ferngesteuert wurde. Er musste kein Hellseher sein, um zu wissen, dass sie ihn filmte und die Bilder in die Supervisor-Zentrale übertrug.
»Zufrieden?«, brummte er, als er zur Energiebarriere zurückgekehrt war.
»Ich geleite Sie zu Ihrem neuen Quartier«, erklärte die Sonde, anstatt darauf zu antworten. »Alle weiteren Restriktionen entnehmen Sie bitte dem Ihnen darin zur Verfügung stehenden Kommunikationsterminal.«
»Was heißt Restriktionen?«
»Ihre Rechte wurden vom Supervisor eingeschränkt. Solange das Verfahren gegen Sie läuft und die Zwischenfälle, an denen Sie beteiligt waren, nicht vollständig aufgeklärt sind, haben Sie den Status einer Marginalexistenz. Wenn Sie mir nun bitte folgen würden …«
Leander musterte die Sonde, dann die Kammerwände. Der in sie eingelassene Ring aus Kraftfeldprismen hatte aufgehört zu leuchten. Vorsichtig streckte er eine Hand aus, ohne auf den Widerstand der Energiebarriere zu stoßen. Er zögerte einen Moment lang, dann trat er rasch aus der Zelle, getrieben von der Befürchtung, die Sperrmembran könnte sich plötzlich wieder aktivieren und ihn in zwei Hälften schneiden. Kaum hatte er die Kammer verlassen, rotierte die Sonde halb um ihre Achse und schwebte davon. Als sie registrierte, dass Leander noch immer reglos vor der Zelle stand, verharrte sie erneut.
»Bitte folgen Sie mir«, wiederholte sie. »Der Aufenthalt im Rekon-Trakt ist nur dem Aufsichtspersonal gestattet.«
BOGENSEKUNDE 88–103:
Wenn Sie so weitermachen, wird Ihr Zustand irreversibel.
Gibt es dort, wo du herkommst, eigentlich auch Schwarz, Weiß oder Grün?
Öffnen Sie die Augen und finden Sie es heraus.
Warum verstummst du nicht endlich und verglühst?
Was behagt Ihnen nicht an Blau?
Ich habe das Gefühl zu ertrinken.
Und bei Rot etwa nicht zu verbrennen?
Nein. Der Uterus meiner Mutter leuchtete rot.
Daran erinnern Sie sich?
Überrascht dich das?
Zugegebenermaßen.
Sieht dir ähnlich.
»Wie fühlst du dich?«
Isakkas Stimme klang eine Spur zu reserviert, um das Gefühl zu vermitteln, ehrliche Sorge zu bekunden.
Leander antwortete nicht sofort, sondern musterte die junge Frau in der Befürchtung, in ihrem Gesicht eine Ähnlichkeit mit seiner Vision aus der Krankenstation zu entdecken.
»Geht so«, sagte er schließlich mit einem verlegenen Lächeln. »Wie ein provisorisch zusammengesetzter Modellbausatz.«
Isakkas Blick wanderte unstet umher, wobei sie nicht zu wissen schien, wohin mit ihren Händen. Es war offensichtlich, dass sie von seiner Gesellschaft alles andere als begeistert war.
»Darf ich dich noch ein Stück begleiten?«, fragte Leander. »Immerhin ist es das erste Mal seit fast drei Wochen, dass ich die Gelegenheit dazu habe.«
So etwas wie mit Schreck gepaarte Ratlosigkeit huschte über Isakkas Gesicht. »Danke für das Angebot, aber ich muss in die Sektion«, erklärte sie. »Meine Schicht beginnt in wenigen …«
»Du hast Angst vor mir«, fiel er ihr ins Wort.
Sie wich seinem Blick aus. »Nein.« Nach einer kurzen Pause dann: »Ja, vielleicht. Nicht direkt vor dir, Ande. Es sind nur …«
»… die Geschichten, die du über mich gehört hast.«
Isakka blickte den Korridor entlang. »Sannali übernimmt deinen Platz, bis der Prozess vorbei ist und du wieder arbeiten kannst«, wich sie der Frage aus. »Es … wird wohl ziemlich teuer, was?«
»Sieht so aus.« Leander seufzte. »Die Vorwürfe gegen mich sind maßlos übertrieben«, sagte er. »Sollten sie jedoch feststellen, dass der Server einwandfrei funktioniert hat, werden sie alles auf einen Chimaira-Schub und eine Fehlfunktion des Implantats zurückführen und einen weiteren chirurgischen Eingriff vornehmen. Du weißt, was das bedeutet. Danach werde ich für mindestens ein Jahr zur Intensivbeobachtung auf dem B-Deck einquartiert. Ende der Geschichte. Kein Schatz am Ende des Regenbogens.«
»Sollte es so weit kommen und du finanzielle Hilfe benötigen, dann melde dich«, sagte Isakka.
»Danke, aber das wäre das Letzte, was ich von dir verlangen würde.« Leander ergriff zaghaft ihren Arm. »Darf ich dich nicht noch ein Stück begleiten? Wir könnten einen Abstecher ins Forum machen, über alte Zeiten plaudern …«
»Ich muss zum Dienst«, sagte sie und löste sich von ihm. »Mendel wartet auf seine Ablösung. Ein andermal vielleicht.«
»Natürlich. Vielleicht.« Leander quälte sich zu einem Lächeln. »Fürchtest du in meiner Gegenwart um dein Leben?«
»Ich sorge mich in deiner Begleitung mehr um das Leben der anderen«, gestand Isakka. »So etwas wie bei dir ist auf der Station noch nie passiert. Ich an deiner Stelle hätte Angst ohne den Supervisor. Morbus Chimaira lässt sich nicht einfach mit ein paar Wochen Bettruhe und Medikamenten auskurieren.«
»So denkt man inzwischen über mich?« Leander sah die junge Frau forschend an. »Dass ich mit einem Chimären-Syndrom durch die Station renne und womöglich jeden, der mich begleitet, lachend durch die Luftschleuse stoße. Ist es das?«
»Ande, bitte …«
»Habe ich recht?«
Isakka schüttelte bedauernd den Kopf. »Das ist nicht auf meinem Mist gewachsen«, sagte sie. »Der Supervisor hat dir dieses Prädikat verliehen.«
»Aber ich habe mir dieses Geschöpf nicht eingebildet!«, beteuerte Leander. »Es stand plötzlich neben der Rekon-Zelle, und es war genauso real wie das Ding, das auf der Materplat aufgetaucht war.«
»Ich habe die Aufzeichnungen gesehen, Ande. Außer dir war weder jemand in der Serverkammer noch in der Krankenstation.«
»Dann … haben sie die Aufzeichnungen verändert, um mir den ganzen Mist anzuhängen.«
»Sie?«, zweifelte Isakka. »Wer soll das sein?«
»Diese Alien-Kreaturen, die das Schiff infiltrieren, oder der Supervisor, was weiß ich …« Leander schritt in hilfloser Wut auf dem Korridor auf und ab.
Isakka starrte betroffen zu Boden. »Tut mir leid, Ande«, flüsterte sie. »Ich muss jetzt gehen. Wir sehen uns bei deiner Verhandlung, okay?«
Sie hauchte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange, dann wandte sie sich um und eilte den Korridor hinab. Leander sah ihr nach, bis sie in einem der Aufzüge verschwunden war, dann trottete er in die entgegengesetzte Richtung. Es war mehr als nur eine Vermutung, dass Isakka weit mehr wusste, als sie ihm gegenüber eingestand. Zweifellos waren es nicht nur Geschichten, die sie gehört hatte. Der Supervisor selbst schien in Kontakt mit ihr zu stehen und sie zu instruieren, wie sie sich Leander gegenüber zu verhalten hatte. Ihm hingegen blieben nur unbeantwortete Fragen.
BOGENSEKUNDE 104–109:
Morbus Chimaira: alles Undenkbare denken, alles Ungesehene sichtbar machen.
Ein großer Sack Zynismus, gepackt von a) Gott b) dem Supervisor c) Cubismo d) Punkt-Strich-Strich-Punkt-Strich.
Versuchen Sie sich zu erinnern! Das ist kein Ort für Sie …
Kopfschmerzen plagten Leander, als er einen der belebten Hauptkorridore erreichte. Es war ein stechendes Pochen hinter seinen Schläfen, so intensiv, wie er es seit Jahren nicht mehr verspürt hatte. Der Schmerz irritierte und ängstigte ihn gleichermaßen. Seine zunehmende Befürchtung war, dass der Chirurg während seiner Arbeit aufgrund der Unterbrechungen versehentlich ein Souvenir in seinem Schädel zurückgelassen haben könnte; eine Klinge, einen Bohrkopf oder einen Veröder.
Falls es jedoch das war, was er vermutete, würde es von keinem Detektor erkannt und von keinem Scanner aufgespürt werden können, und die Ärzte würden den Schmerz als Folge seines Unfalls abtun oder ihn als somatoforme Störung diagnostizieren. Alle Beteuerungen, das Implantat oder gar den Supervisor als Ursache der Schmerzen zu entlarven, würden ihn nur noch tiefer in den Verschwörungssumpf sinken lassen. Vielleicht provozierte der Supervisor aber auch just diese Art von Gedanken …
An einem der Aussichtsfenster hielt Leander inne und blickte hinab auf Kapteyn, ohne sich um den Menschenstrom zu scheren, der hinter ihm vorbeifloss. Die Pariauniform, in die er gekleidet war, sorgte – einem magischen Schutzschild gleich – wie von selbst dafür, dass die Leute einen Bogen um ihn machten und kein Wort an ihn richteten. Er spürte ihre verachtenden Blicke auf sich ruhen, sobald sie hinter ihm vorbeischritten und sich dabei unbeobachtet fühlten.
Nahezu die gesamte Landmasse des Planeten bestand aus einem einzigen, von üppigem Grün bewachsenen Großkontinent, der den Planeten als breites Band umfasste. Das Auffälligste an der noch jungfräulichen Koloniewelt war zweifellos der Nimbus, ein schmales Ringsystem aus Methan-Nebel und Eisasteroiden, das im Sonnenlicht strahlte wie ein gigantischer Heiligenschein.
Aus dem Orbit betrachtet hatte der Planet eine geradezu mystische Schönheit. Einige mit dem Kolonisationsprojekt befasste Naturwissenschaftler betrachteten Kapteyns üppige Flora jedoch mit Sorge. So waren fast nirgendwo tote Bäume zu finden, deren Stämme verrotteten und von Pilzen und Insekten zersetzt wurden. Es existierten ausgedehnte Waldgebiete, doch ihr Boden war gänzlich frei von Laub – fast so, als wüchsen seit Millionen von Jahren ein und dieselben Bäume an ein und derselben Stelle, ohne je ihr Blätterkleid abzuwerfen.
Eine weitere Seltsamkeit waren die Wasservorkommen. Es gab große Süßwasserseen sowie das nördliche und südliche Eismeer, aber weder Bäche noch Flüsse. Sämtliche Binnengewässer, so die gängige These, mussten daher von unterirdischen Quellen gespeist werden. Geologen hielten dies für unmöglich, da die Landmasse jüngsten Messungen zufolge weder auf einem Kontinentalsockel ruhte noch Kontakt zum Meeresboden hatte. Sie verglichen das vermeintliche Festland mit einem exorbitanten Floß, das als Hunderte, vielleicht sogar als Tausende von Metern dicke Pflanzenmatte auf dem Wasser trieb. Ihrer Ansicht nach war es sogar möglich, dass Kapteyn II seine Sonne vor Urzeiten als reine Ozeanwelt umkreist hatte – bis irgendwann pflanzliches Material an die Wasseroberfläche gestiegen und im Laufe von Jahrmillionen immer weiter angewachsen war. Die Vorstellung, den Rest seines Lebens womöglich auf einem Äonen alten, Dutzende von Kilometern mächtigen Pflanzenfloß verbringen zu müssen, auf dem eine bisher noch unentdeckte Fauna kreuchte und fleuchte, ließ Leander nicht allzu beruhigt in die Zukunft blicken.
Kaum jemand an Bord mochte sich heute noch daran erinnern, dass die inzwischen fast acht Kilometer große Station ursprünglich ein Raumschiff gewesen war, das vor fast vierzig Jahren von der Erde gestartet und neun Lichtjahre durchs Universum gereist war, ehe es Kapteyns Stern erreicht hatte und in die Umlaufbahn seines zweiten Planeten eingeschwenkt war. Beim Blick durch eines der Panoramafenster erweckte die verschachtelte Struktur der Station den Eindruck, als hätte den Konstrukteuren ein entartetes Hämoglobinmolekül Modell gestanden. Dabei war das eigentliche, nahezu kugelförmige Kolonieschiff inmitten des Gewirrs aus angekoppelten Wohntrakten, Verbindungsbrücken, Hangars, Wissenschaftshabitaten und den Artenserverarchiven inzwischen kaum noch zu erkennen. Den peripheren Ring bildeten Depotmodule, Dockpylone, Stabilisatoren und zahllose Sonnenkollektoren, deren grelle Lichtreflexe oft wie Stroboskopblitze durch die Stationsfenster zuckten.
Seit nunmehr vier Kapteyn-Jahren – ein Sonnenumlauf des Planeten entsprach 2,66 Erdjahren – arbeitete das Schiff mit annähernd zehntausend Menschen an Bord als Raumstation, die achthundert Kilometer über der Planetenoberfläche ihre Bahn zog. Von hier oben aus wurde kartographiert, analysiert, selektiert sowie die bevorstehende Besiedelung koordiniert. Der Supervisor hatte berechnet, dass die Vorbereitungen für eine sichere Erschließung des Planeten in den kommenden ein bis zwei Jahren abgeschlossen sein würden und die ersten Kolonisten auf die Oberfläche geschickt werden könnten.
Vordenker und Koryphäen auf dem Gebiet der Exo-Emigration hatten bereits ein Jahrhundert vor dem Start des ersten Kapteyn-Kolonieschiffes eine Doktrin erarbeitet, die sich für die Konstruktion eines Generationenschiffes, die Besiedelung einer potenziellen Koloniewelt und das logistische Fundament eines derartigen Unterfangens als unabdingbar erweisen sollte. Sie besagte, dass Exo-Emigranten drei wesentliche Phasen des Kolonisationsprozesses bewältigen müssten, um das Fundament ihres Überlebens zu schaffen: die physisch und psychisch extrem belastende interstellare Reise, die potenziell feindliche Biosphäre der neuen Welt und schlussendlich ihre eigene animalische Natur.
Der Supervisor und seine Risikokalkulatoren hatten berechnet, dass in einem neuen und potenziell feindlich gesonnenen Lebensraum mindestens fünfhundert Individuen einer art- und ortsfremden Spezies mehr als zwei Generationen lang überleben müssen, um ihren Fortbestand zu gewährleisten. Die angesiedelte Pionierpopulation, Zero-Gen genannt, zeugt eine Nachkommenschaft, die als Generation A bezeichnet wird und von Geburt an unter den neuen Lebensbedingungen aufwächst. Doch erst die nachfolgende Generation B ist so weit an die neue Biosphäre angepasst, dass sie ihre Umwelt als natürlich und sich selbst als Komponente des ökologischen Gleichgewichts betrachtet. Zugleich hatte der Supervisor betont, dass der Fortbestand einer Kolonie damit lediglich ermöglicht, jedoch keinesfalls gesichert wäre, da Letzteres von weitaus komplexeren Faktoren abhängt. Als Risikokategorien der Besiedelungsphase nannte er ökologische Disharmonie, Desintegration, Degeneration, Impotenz und soziale Divergenz.
Die Biosphäre eines bewohnbaren Planeten funktioniert wie ein gigantischer Organismus mit einem globalen Immunsystem. Kolonisten wirken daher – Keimen oder Bakterien gleich – in jedem unberührten und ausbalancierten Ökosystem wie Fremdkörper. Die Herausforderung für die Neuankömmlinge besteht darin, jeder natürlichen Abwehrreaktion der Koloniewelt zu trotzen und sich im neuen Lebensraum zu behaupten – und die resultierende Disharmonie im Idealfall in eine Harmonie zu verwandeln, indem die Emigranten den Schritt zurück zur Denk- und Handelsweise eines Naturvolkes wagen.
Die vielleicht unmittelbarste Bedrohung ist dem Supervisor zufolge jedoch die Desintegration, eine Auflösung sozialer und psychologischer Strukturen und des Gruppenzusammenhalts infolge einer Ausdünnung der Population. Unfälle, Krankheiten, Fressfeinde, Parasitenbefall, Toxine und ein fremdes Ökosystem bedingen unter den Siedlern zwangsläufig eine hohe Sterblichkeitsrate, von der einfache Bauern ebenso betroffen sein werden wie die intellektuelle Elite. Die exotische Natur schert sich nicht um humanitäre Belange. Für die etablierte Fauna und Flora sind Fremdorganismen wahlweise Beute, Nährboden oder Wirt. Allen Widrigkeiten der feindlichen Umwelt zum Trotz darf die Population jedoch nicht unter die besagte kritische Dichte fallen, um eine Entartung zu vermeiden. Als unmittelbare Folge einer derartigen Dezimierung sieht der Supervisor die Degeneration voraus. Sinkt die Bevölkerungszahl unter das errechnete Minimum von fünfhundert Individuen, läuft die Restpopulation Gefahr, sich aus eigener Kraft nicht mehr zu erholen und infolge vermehrten Inzests genetisch zu entarten.
Unabhängig von äußeren Einflüssen wie Strahlung oder Schadstoffen, die über die Nahrung aufgenommen werden, müssen zudem die männliche Zeugungsfähigkeit und die weibliche Fruchtbarkeit erhalten bleiben, um einem Überaltern und allmählichem Aussterben der Population entgegenzuwirken.
Doch selbst wenn die Kolonisten all diese Hürden genommen haben, müssen sie sich am Ende noch dem unberechenbarsten aller Risikofaktoren stellen: sich selbst, ihrer Natur – und damit der sozialen Divergenz. Konflikte und Gewalt sind feste Bestandteile der menschlichen Evolution. Der Homo sapiens ist ein kreatives und phantasiebegabtes Wesen, das innerhalb eines sozialen biologischen Systems nach Sinn und Werten sucht. Er reagiert auf verändernde Kräfte mit ebenso beharrenden Gegenkräften, was im Idealfall ein dynamisches Equilibrium erzeugt. Mit einem mutigen Schritt vom Homo sapiens zum Astrosapiens vermag der Mensch laut dem Supervisor Großes zu erschaffen – und ebenso alles Geschaffene wieder zu zerstören.
Bis zum heutigen Tag hatte kein einziger Zivilist seinen Fuß auf den Boden des Planeten gesetzt. Die Wissenschaftler verließen sich auf KI-gesteuerte Probensammler, Artenscanner und Materietransporter, suchten pausenlos nach Krankheitserregern, entwickelten Impfstoffe und Antidots und analysierten die Fauna und Flora aller für die Kolonisation prädestinierten Gebiete – von der Milbe bis zum Irodeculus, vom Blütenpollen bis zum Baumriesen. Statistisch gesehen entging den Scannern keine Lebensform, die nicht kleiner war als eine Bakterie. Dennoch war bis zum heutigen Tag nie ein biomechanisches Alien erfasst worden, obwohl die im Serverraum erschienene Kreatur bedeutend größer gewesen war als eine Mikrobe.
Beim Betrachten des Planeten beschlich Leander immer mehr das Gefühl, dass der Supervisor seinen Körper nach dem Unfall nur zu dem Zweck rekonstruieren ließ, ihn öffentlich zur Schau zu stellen und ihn im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte als halluzinierenden, von seinen Chimaira-Dämonen verfolgten Sündenbock zu präsentieren, dessen Eskapaden die Sicherheit der Station gefährdeten.
Leanders Blick hinab auf Kapteyn verschwamm in Tränen, für die er sich schämte. Näher als heute würde er der gelobten Welt womöglich nie kommen. Sein neues Leben drohte zu enden, bevor es überhaupt begonnen hatte. Und im Angesicht der in ihm herrschenden Stille und Leere kam es ihm vor, als hätte sich der Supervisor, dessen Stimme ihn jahrzehntelang begleitet und ihm die Richtung gewiesen hatte, bereits Lichtjahre von ihm entfernt …
Als Leander sich vom Fenster abwandte und dem Korridor weiterfolgte, ignorierten ihn die Menschen und achteten darauf, Distanz zu ihm zu wahren. Leander verwünschte sie der Reihe nach, blieb der zum Feind gewordenen Station gegenüber aber äußerlich gelassen. Nach ziellosem Umherwandern beschloss er, das Arboretum aufzusuchen, einen Platz zur inneren Einkehr und Besinnung. Dort hoffte er für einige Stunden Ruhe zu finden und den Unfall und seine Folgen für eine Weile zu vergessen. Um sich den langen Fußmarsch zu ersparen, hielt er nach einem Zubringer für Pendelzüge Ausschau. Nach etwa zweihundert Metern erreichte er einen der Levitator-Knotenpunkte, wo Lifte zu den Bahnstationen abfuhren. Da er eine Arrestuniform trug und niemand zusammen mit ihm einsteigen wollte, hatte er die Kabine für sich allein.
»BITTE WÄHLEN SIE EINE EBENE!«, erklang die Aufforderung der Lift-KI, nachdem die Türen sich geschlossen hatten.
Aus dem Augenwinkel heraus nahm Leander eine Bewegung auf dem Boden wahr und fuhr herum. In einer Ecke der Kabine kauerte eine smaragdgrüne, gut einen Meter lange Cephalopoden-Larve.
»BITTE WÄHLEN SIE IHRE ZIELEBENE!«, erinnerte ihn die KI.
Verunsichert starrte Leander auf die Kreatur zu seinen Füßen, welche ihn ihrerseits zu mustern schien. Sie hatte ihren Vorderleib aufgerichtet und wiegte ihren schwarzen Kopf mit den fingerlangen Tentakeln beinahe hypnotisch hin und her.
»DER NICHT ZIELGERICHTETE AUFENTHALT IN DEN STATIONSLEVITATOREN IST NICHT GESTATTET«, informierte die KI ihren Fahrgast. »BITTE WÄHLEN SIE EINE ZIELEBENE ODER VERLASSEN SIE DEN LEVITATOR.« Zur Entscheidungshilfe ließ sie an der Kabinenrückwand ein verschachteltes Diagramm aus bunten Linien und Sektorennamen aufleuchten.
Aus dem Hinterkopf der Larve wuchs ein leuchtend rotes Gebilde, das aussah wie ein an seiner Spitze gegabelter Tentakel. Leander wich bis in die gegenüberliegende Ecke der Kabine zurück. Statt ihm jedoch Gift oder Säure ins Gesicht zu spritzen, berührte die Larve mit der Tentakelspitze das Kabinendisplay.
»VIELEN DANK«, quittierte der Levitator die Eingabe, woraufhin der Lift sich in Bewegung setzte, nur um zehn Sekunden später bereits wieder abzubremsen. »LEVEL 14«, verkündete die KI. »PLATTFORMDER EXPRESSLINIEN 11, 12 UND 16. VERBINDUNGEN ZUM RINGFORUM. BITTE MEIDEN SIE DIE BAHNSTEIGKANTE UND BEWEGEN SIE SICH AUSSCHLIESSLICH INNERHALB DER MARKIERTEN BEREICHE.«
Mit dem Stoppen des Lifts ließ die monströse Larve sich auf sämtliche Beine nieder und kroch neben die sich öffnenden Türen. Leanders Hoffnungen zum Trotz blieb sie jedoch im Inneren der Kabine sitzen und schien darauf zu warten, dass er ausstieg.
Ohne die Medusenkreatur aus den Augen zu lassen, machte er einen raschen Schritt hin zum Level-Display und wählte das Forum als Fahrziel.
Die Türflügel glitten dreimal nacheinander zur Hälfte zu und wieder auf, dann erklang ein Glockenton, und die Lift-KI verkündete: »STÖRUNG! DIESER LEVITATOR WIRD IN 30 SEKUNDEN AUF DIE INSPEKTIONSEBENE UMGELEITET UND STEHT FÜR EINE WEITERE BEFÖRDERUNG NICHT MEHR ZUR VERFÜGUNG. BITTE VERLASSEN SIE DIE KABINE. ICH WÜNSCHE IHNEN EINE ANGENEHME WEITERREISE.«
Als Leander schließlich konsterniert die Kabine verließ, schlüpfte das Larvenungetüm hinterher und folgte ihm. Trotz seiner Stummelfüße bewegte es sich flink und hielt mit ihm Schritt. Leander fühlte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat. Während die Reisenden, die den Bahnsteig bevölkerten, dem seltsamen Geschöpf nicht die geringste Beachtung schenkten, benahmen sie sich ihm gegenüber zunehmend reserviert. Ihre Implantate schienen vollwertig zu funktionieren. Sie alle waren mit dem Supervisor verbunden, hörig für die Worte, die er ihnen einflüsterte.
Im Bewusstsein, dass ihn zahlreiche Kameras und mindestens zwei Deliktroden beobachteten, irrte Leander über den Bahnsteig, bemühte sich um Gelassenheit und rätselte, warum die Kreatur ihn hierhergeführt hatte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es die Larve selbst war, welche ihn in den Pendelbahnhof gelotst hatte. Was gerade passierte, konnte kein Zufall sein.
Als Leander stehen blieb und suchend seinen Blick schweifen ließ, setzte die Larve sich, einem folgsamen Haustier gleich, neben ihn. Dabei hielt sie den Vorderleib wie zuvor im Lift aufgerichtet und wiegte ihn hin und her. Leander war weiterhin bemüht, sich nichts anmerken zu lassen. Selbst als die Bahn einfuhr und die Türen aufglitten, rührte er sich nicht. Nur mit Blicken suchte er die hoch gelegenen Bereiche der Station nach Deliktroden und Aufsichtsdrohnen ab. Erst als das letzte Signal zum Einsteigen erklang, tat er einen schnellen Schritt nach vorn, um durch die noch geöffneten Waggontüren in den Zug zu springen. Im selben Moment packte etwas seinen Fuß und riss ihn zurück, woraufhin er der Länge nach auf den Boden prallte. Benommen rang er nach Luft und wälzte sich auf den Rücken. Ein Fangarm der Larve war herangeschnellt und hatte sich wie eine Peitschenschnur um seinen Fußknöchel geschlungen. Die Menschen auf dem Bahnsteig sahen dem Schauspiel irritiert zu oder blickten beschämt in eine andere Richtung.
Während seiner Arbeit im Artenserver hatte Leander stets vermieden, einem der Organismen, die sich auf der Materplat materialisierten, zu nahe zu kommen. Ihre Neurotoxine verursachten Verletzungen, die monatelang nicht heilten oder einen Menschen binnen weniger Sekunden töteten. Ein Biss, ein Stich oder der Kontakt mit Nesselzellen konnten ein Opfer mit aggressiven Mikroorganismen infizieren, woraufhin das befallene Gewebe großflächig entfernt oder betroffene Gliedmaßen sogar amputiert werden mussten.
Leander trat und strampelte, um sich aus der Umklammerung des Fangarmes zu befreien, was die umstehenden Passanten dazu veranlasste, noch weiter auf Distanz zu gehen. Erst als der Zug sich in Bewegung setzte, gab die Larve sein Bein wieder frei, und der Tentakel schrumpfte auf seine normale Größe zurück.
Verwirrt und angstvoll starrte Leander die Kreatur an. Morbus Chimaira hatte Ähnlichkeiten mit Schizophrenie. Die Betroffenen hörten Stimmen, sahen Menschen und Dinge, die nicht existierten, und fühlten sich davon belästigt und bedroht. Dass ein Chimaira-Phantom physischen Einfluss auf einen Erkrankten ausübte, war ein untrügliches Zeichen für den Eintritt ins Endstadium …
Die Larve hatte sich vor Leander aufgerichtet und schlug die vorderen beiden Beinpaare gegeneinander, als würde sie applaudieren.
BOGENSEKUNDE 110–114:
Der Supervisor hat dich auf mich angesetzt, nicht wahr? Ihr steckt gemeinsam in diesem verdammten blauen Leuchten …
Machen Sie sich nicht lächerlich.
Jota, Kappa, Lambda …
Das wasserköpfige Wesen stand am Ende des Bahnsteigs wie eine zurückgelassene Theaterdekoration für eine Monsterburleske. Niemand in der Station störte sich an seiner Anwesenheit, nicht einmal die an strategisch günstigen Observationsplätzen schwebenden Deliktroden.
Flink kroch die Larve zu der Kreatur und begann um ihre Beine zu streichen. Leander näherte sich den beiden, zweifelnd, ob das, was er sah, real war oder sein Verstand ihn mit einem weiteren Chimaira-Gespenst narrte. Die Passanten auf seinem Weg wandten den Blick von ihm ab und traten zur Seite.
Sehen Sie mich?, erscholl eine Stimme in Leanders Kopf, als er das bizarre Wesen erreicht hatte. Der Gedankenimpuls ließ ihn abrupt innehalten.
»Natürlich«, antwortete er, nachdem der Schreck sich gelegt hatte.
Als natürlich würde ich das nicht bezeichnen, widersprach sein Gegenüber. Denn Sie sind zweifellos der Einzige, der dies tut. Es blickte auf die zu seinen Füßen sitzende Larve.
Das Geschöpf hatte eine verhältnismäßig kleine Nase und eine vorspringende Mundpartie über einem fliehenden Kinn. Die käfigartige Vorrichtung zwischen Kopf und Schultern schien tatsächlich ein Stützkorsett zu sein, um den Hals gegen das Gewicht des überproportionierten Kopfes zu stabilisieren. Leander fiel auf, dass der Schädel des Wesens keinesfalls gleichmäßig geformt, sondern auf eine eigenartige Art verwachsen war. Was aus der Distanz gewirkt hatte, als hätte sein Gegenüber einen fürchterlichen Unfall überlebt, wirkte auf den zweiten Blick mehr wie eine chirurgische Maßnahme, fast so, als wären im Laufe von Jahren immer wieder neue Fragmente aufeinandergesetzt worden, um mit der Knochensubstanz zu verwachsen und ein größeres Schädelvolumen zu schaffen. Es gab Verdickungen und zahllose Stellen, die aussahen wie schlecht verheiltes Narbengewebe.
Leander fand es ebenso beängstigend wie faszinierend, einem Geschöpf gegenüberzustehen, dessen Erscheinung in der Krankenstation er für ein Chimaira-Phantom gehalten hatte. Doch was hier vor ihm stand, atmete, blinzelte und veränderte den Gesichtsausdruck, während es ihn forschend musterte. Leander spürte die Aura, die es umgab. Es hatte zu viele feine Nuancen für ein Trugbild, zu viele Details, um ein Produkt seiner Phantasie zu sein. Und dennoch blieb ein Rest an Ungewissheit und Zweifeln übrig.
Verunsichert hob er eine Hand, um die Robe seines Gegenübers zu berühren, zog sie aber im letzten Moment wieder zurück.
»Sind Sie … real?«
»Was ist Realität?«, äußerte das Wesen sich nun erstmals verbal. Seine wirkliche Stimme klang tief und spröde, aber unverkennbar weiblich. »Sie halten mich und diese Larve vielleicht für Hirngespinste, doch die Wahrheit ist weitaus unbequemer. Auch wenn Ihre Umwelt mich nicht wahrnimmt, bin ich keinesfalls ein Trugbild Ihres Geistes, doch ich muss mich vor den Augen und den Ohren dieser Realität schützen. In einer Sache haben Sie jedoch recht: Ich dürfte eigentlich nicht hier sein. Wenn aber der Berg nicht zum Propheten kommt, muss der Prophet eben zum Berg …«
»Bitte?«
»Nicht so wichtig«, befand das Wesen. »Nur eine Redensart aus unserer alten Heimat. Sie sollten auf Ihre Gestik und Mimik achten. Ihre Gebärden und Ihr Gespräch mit der ›Leere‹ könnten als Symptome einer schizophrenen Psychose gedeutet werden.«
Leander spähte über seine Schulter. Einige der Wartenden wandten rasch den Blick von ihm ab. Von dem wasserköpfigen Geschöpf nahm weiterhin niemand Notiz. Die verstohlenen Blicke der Reisenden galten einzig Leander, der am Ende des Bahnsteigs vermeintlich Selbstgespräche führte.
Einer spontanen Eingebung folgend hob er eine Hand, um die Schulter seines Gegenübers zu berühren. Seine Finger glitten durch die Gestalt hindurch, ohne auf Widerstand zu stoßen.
»Ich bin lediglich eine Projektion meines Willens«, erklärte das Wesen. »Was Sie sehen, nennt sich Dualität. Es ist die Fähigkeit, sich an zwei Orten gleichzeitig aufzuhalten. Und dennoch …« Seine exoskelettverstärkte Hand zuckte ihrerseits vor und packte Leanders Unterarm mit solcher Kraft, dass er schmerzerfüllt aufstöhnte. »Dennoch sind wir in der Lage, physischen Einfluss auf die Welt auszuüben – und gegebenenfalls Gewalt anzuwenden.«
Leander riss sich los und begann an der Bahnsteigkante auf und ab zu laufen. »Geh weg!«, murmelte er, die Hände gegen die Schläfen gepresst. »Verschwinde! Verschwinde aus meinem Kopf!«
»Das ist interessant«, bemerkte das Wesen. »Und ebenso bedauerlich: Überfordert euch die Realität, flüchtet ihr euch in die Überzeugung, alles wäre nur eine Illusion, ein böser Traum – oder eine Allegorie eures verwirrten Geistes. Sobald ihr euch nicht mehr durch Rationalität zu helfen wisst, reicht ihr euren Dämonen die Hand. Glauben Sie denn tatsächlich, all diese Leute um Sie herum werden vom Supervisor gesteuert? Was denken Sie, wo wir hier sind, Leander? In einer riesigen Gummizelle? In einer Schizophrenenkolonie? Halten Sie das Schiff für ein Orbital-Sanatorium?«
Das Geschöpf machte einen Schritt vorwärts und ergriff für eine Sekunde seine Hand. Leander blieb wie vom Donner gerührt stehen, dann trat er zurück – doch er rannte nicht davon.
»Ich bin keine Chimaira-Phantasmagorie!« Die Stimme des Wesens war eindringlich. »Tut mir leid, dass ich Ihnen kurz nach Ihrer Entlassung aus der Krankenstation so etwas zumuten muss. Aber ich würde es nicht tun, wenn es nicht von elementarer Bedeutung wäre. Sie sind nicht krank! Zumindest nicht so krank und verrückt, wie man Sie hier in diesem Realitätsrelikt glauben machen möchte.«
Leanders Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Relikt?«, wiederholte er. »Was meinen Sie damit?«
Die wasserköpfige Kreatur streichelte die Larve, welche inzwischen ihre Schulter erklommen hatte. »Sehen Sie her«, forderte sie ihn auf.
Auf dem Leib der Kreatur bildeten sich vier leuchtend rote Symbole: O 9 I Q. Das Tier schien Mühe zu haben, sie klar darzustellen. Ihre Formen waren instabil, flossen ineinander und verblassten nach wenigen Sekunden. Schließlich glänzte die Larve wieder in einheitlichem Smaragdgrün.
»Was war das?«, staunte Leander.
»Ein Ausweg.« Das Wesen blickte in die Schwärze des Tunnels, als wartete es seinerseits auf einen Zug, wobei ihm die Larve von einer Schulter zur anderen kroch. »Was die Arbu Ihnen gezeigt hat, war einzig für Ihre Augen bestimmt. Prägen Sie sich das Gesehene gut ein und reden Sie mit niemandem darüber. Sobald ich diese Realitätsebene verlassen habe, wird das Supervisorsystem wieder normal arbeiten. Sie sollten die Station verlassen, ehe Sie in den Fokus geraten.«
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