Cutter ante portas - Michael Marrak - E-Book

Cutter ante portas E-Book

Michael Marrak

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Beschreibung

"Man nennt mich Thanatos Daimon." "Jener Thanatos, der durch den Äther reist?", erklang es aus der Dunkelheit. "Der Sohn von Raum und Zeit, Würger der Seelen, Hüter der Mondsichel, Tänzer auf den Schweifen der Draconiden und gefürchtete Inkarnation des Xotur, den die Schamanen von Leng den Zebrastreifen Gottes nennen?" "Ja, das mag einst wohl größtenteils gestimmt haben", seufzte Cutter. Es gibt viele Dinge, die Anax Thanatos nicht ausstehen kann. Allen voran zweifellos geschlossene Türen, dicht gefolgt von Wänden und Sackgassen. Hinzu kommen Schilder, Metaphern, Bürokraten, Taschenuniversen und Leute, die seine Kutte angrapschen. Cutters jüngste Aversion gilt der Epoche des temporal-borealen Wirbels und seinen Horden, die mit ihren Vortexgeneratoren vor Jahrtausenden die Welt heimgesucht hatten – bis sie von der Maschine, die alle Probleme löst und unsere Sprache spricht, in ihr Kontinuum zurückgedrängt worden waren. Es war den Chroniken zufolge das Zeitalter, in dem die Maschine letztmals auf Erden gesehen wurde. Ausgerechnet ein Relikt der Horden ist es, auf das Cutter während der Rettung eines alten Verbündeten stößt. Und nicht nur das bereitet der Todesinkarnation Sorgen. Gerüchte machen die Runde, die Maschine, die alle Probleme löst, wäre aus dem Wirbeluniversum zurückgekehrt. Und es heißt, sie verfolge Pläne, die ebenso finster seien wie der Schattenschirm, hinter dem sie sich verberge. Ein KANON-Roman

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© 2022 Amrûn Verlag Jürgen Eglseer, Traunstein

Titelbild, Illustrationen, Umschlaggestaltung, Satz & Layout: Michael MarrakLektorat/Korrektorat: Wolfgang Brunner

Alle Rechte vorbehalten

ISBN – 978-3-95869-257-2

Besuchen Sie unsere Webseite:

http://amrun-verlag.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar

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MichaeL Marrak

CUTTER ANTE PORTAS

EIN KANON-ROMAN

PROLOG

Das schwarze Noctilux war das seltenste und zugleich einsamste Mikromechanikum der Nachtwüste. Seit seiner metallurgischen Genese wanderte es auf der Suche nach Nichts rast- und ziellos in der Schwärze umher, angetrieben von einem winzigen hochenergetischen Splitterpartikel, um den herum sich ein Panzer aus Metallmolekülen verdichtet hatte, bis ein Funke der darin eingeschlossenen Rota-Materie ein primitives neuronales Netz hatte wachsen lassen. Wann letzteres geschehen war, wusste das Noctilux nicht. Ebenso wenig, wo es sich zugetragen hatte, wieso es geschehen war, woher es kam, wohin sein Weg führte, und all die anderen Dinge, von denen es noch nie etwas gehört oder gesehen hatte – was damit zusammenhing, dass es weder über Augen noch über Ohren verfügte. Doch auch dessen war sich das Noctilux nicht bewusst. Im Grunde wusste es so gut wie nichts über sich und die Welt um es herum. Getrieben von der tief in seinem Innern pulsierenden Rota-Energie, hatte es, ohne sich daran zu erinnern, auf wundersame Weise das Vergehen jenes strahlenden und strudelnden Universums überlebt, in dem es entstanden war. Ebenso die Geburt des neuen Universums, in dessen Dunkelheit und Leere es nun ohne Sinn, Ziel und Zweck existierte.

Seine ersten Stunden als Neogenetrum hatte es damit verbracht, dreizehn Zentimeter vorwärts und sieben Zentimeter rückwärts zu kriechen und sich neunzehn Mal im Kreis zu drehen. Danach saß es drei Wochen lang auf demselben Fleck und verdaute ein versehentlich absorbiertes Zinnobermolekül. Als das Noctilux nach seiner unfreiwilligen Völlerei wieder imstande war, sich zu bewegen, kreuzte es die Leuchtspur eines elfdimensionalen Ioniden, der kurz zuvor den Planeten mit Lichtgeschwindigkeit durchdrungen hatte, und war daraufhin für 0,4 Sekunden schlauer als die Maschine, die alle Probleme löst und unsere Sprache spricht. Den Rest seines einsamen Daseins verbrachte es damit, sich von dieser flüchtigen Bewusstseinserweiterung zu erholen.

Sein unvermitteltes Ende fand das erste und einzige je existierende Noctilux schließlich bei der Kollision mit einer aus dem unendlichen Nichts über ihm hernieder sinkenden Finsternis, die noch dunkler war als die Schwärze, in der es sein einsames Dasein gefristet hatte.

TEIL 1

SUBTERRANEA

Der Beseelung der Maschine entspricht strikt proportional die Entseelung des Menschen.

Peter Sloterdijk,

deutscher Philosoph, Kulturwissenschaftler und Essayist.

I 1 I

»Sapperlot!«, entfuhr es Cutter, als es unter seinem rechten Fuß knallte und er im Lichtblitz der Explosion die Spitze seines kleinen Zehs verglühen sah. »Der Boden ist übersät mit Rota-Kristallpartikeln.«

»Sind wir in Gefahr, Meister?« Das ihn begleitende Sensorium stoppte seine Fahrt mit schleifenden Raupenketten. »Für ein Minenfeld bin ich nicht gerüstet.«

Cutter erhob sich vom Boden der Reaktorhalle, um nicht mit weiteren Splittern in Berührung zu kommen, und blickte auf das kleine Gefährt herab. »Du hast von den Resten der Rota-Materie nichts zu befürchten«, sagte er, woraufhin sich das Assistenzmechanikum zögerlich wieder in Bewegung setzte. »Leuchte!«, wies er es an.

Ein gleißender Lichtstrahl schnitt durch die Schwärze, begann dicht über den Boden zu wandern und riss dabei riesige Felsquader aus der Dunkelheit, die sich aus dem hunderte Meter über ihnen spannenden Deckengewölbe gelöst hatten und in den einstigen Reaktorsee gestürzt waren. Stellenweise wurde der Strahl von Tümpeln reflektiert, die sich in Senken um die Steinblöcke herum gebildet hatten, oder ließ eine der gigantischen Stützsäulen erahnen, die in regelmäßigen Abständen in die Finsternis emporragten.

»Halt!«, gebot Cutter, als sie einen der mächtigen Quader passiert hatten und das Licht für den Bruchteil einer Sekunde von einem metallischen Objekt reflektiert wurde. »Langsam wieder zurück«, wies er das Assistenzmechanikum an und richtete das Sensenblatt weisend in die Schwärze. »Weiter … weiter … Halt!«

Mit einem letzten Zittern verharrte der Strahl auf einem fernen, zylinderförmigen Gebilde, das zwischen Felstrümmern einsam und verloren in der Finsternis ruhte.

»Da ist es!«, frohlockte der Schwarzgekleidete beim Anblick des Aquaroids. »Und es sieht intakt aus.«

Ohne auf das ihm nacheilende Mechanikum zu warten, schwebte er auf das Wrack des Tauchbootes zu und hielt erst vor dessen Bug inne. Als das Aquaroid weder auf seine Anwesenheit noch auf das Scheinwerferlicht des Sensoriums reagierte, klopfte er mit dem Sensenschaft laut gegen die gläserne Frontluke. Nach einem Moment der Stille hallten die Schläge im Stakkato von den fernen Wänden wieder. Doch selbst jetzt ließ das Tauchboot kein Zeichen von Leben erkennen. Auch in seinem Inneren regte sich nichts, was Cutter zu einer leise geraunten Bemerkung verleitete.

»Komm her und walte deines Amtes«, wies er seinen mechanischen Begleiter an.

Das Sensorium rollte herbei und richtete seine Detektoren und Messfühler auf das Wrack. Eine Zeit lang stand es reglos da, dann sagte es: »Ich registriere ein Kraftfeld.« Es setzte sich in Bewegung und begann das Aquaroid zu umrunden. »Offenbar sind beide Diametron-Generatoren noch aktiv«, verkündete es, als es wieder am Ausgangspunkt angekommen war. »Aber ich kann nicht messen, wie intensiv das Feld ist und ob es seinen Zweck noch erfüllt.«

»Das wird sich zeigen.« Der Schwarzgekleidete schwebte zurück zur Frontluke. »Kriegst du die auf?«, fragte er das Sensorium.

»Wie meint Ihr das?«

»Kommst du mit deinem Schneidbrenner durch die Hülle?«

Das Mechanikum begutachtete das Metall, dann fragte es: »Warum orbt Ihr nicht einfach hinein, Meister?«

»Weil mein Eindringen das im Inneren wirkende Nullzeitfeld kollabieren lassen könnte«, erklärte Cutter. »Die Implosion würde das, was von ihm geschützt wird, augenblicklich zerstören.« Er blickte auf seinen Begleiter herab. »Und benutze in meiner Gegenwart nie wieder das Wort ›orbt‹!«, rügte er ihn. »Also, schaffst du das?«

»Selbstverständlich«, antwortete das Sensorium kleinlaut.

»Wie lange wird es dauern?«

»Vielleicht … drei Wochen?« Das Gefährt duckte sich ängstlich, als die Sensenklinge wenige Zentimeter über ihm in der Luft stoppte. »Aber für Euch schaffe ich es in einer!«, beeilte es sich zu versichern.

Cutter maß das Assistenzmechanikum mit Blicken. »Treib es nicht zu weit mit deinem Spott!«, rügte er es. »Und nimm Abstand!« Dann wandte er sich dem Aquaroid zu, holte mit der Sense aus und vollführte einen Hieb, der die Klinge eine Handbreit neben dem Schottrahmen durch das Metall trieb. Ein Poltern hinter der Frontluke bestätigte ihm, dass der durchtrennte Schließriegel zu Boden gefallen war. Doch selbst jetzt gab das Wrack keinen Mucks von sich. Cutter wiederholte den Streich auf der gegenüberliegenden Seite des Schotts, dann vollführte er einen horizontalen Schwinger, um die Scharniere zu kappen. Nach dem dritten Hieb begann die Luke sich vom Rumpf zu lösen, kippte vornüber und schlug mit lautem Krachen auf dem Hallenboden auf.

»So weit, so gut.« Cutter spähte ins Dunkel des Tauchbootes. »Komm her und leuchte!«, wies er das Sensorium an, nachdem er ins Innere geschwebt war.

Das kleine Gefährt richtete seine Scheinwerfer in die Höhe. Wo sie auf die Kutte des Schwarzgekleideten trafen, brachen sich die Lichtstrahlen wie in einem Prisma und ließen das Bootsinterieur in allen Regenbogenfarben schimmern.

Schweigend sah Cutter sich im Inneren um. Durch die verborgenen Lecks, die das Wasser einst hatten eindringen lassen, war das meiste davon im Laufe der Monate wieder herausgesickert. Lediglich im vorderen Bereich stand es noch wadenhoch im Boot.

Bemüht, mit nichts in Berührung zu kommen, das eine Zeitbrandexplosion auslösen könnte, näherte der Schwarzgekleidete sich dem Nullzeitfeld im Zentrum des Aquaroids. Darin schwebten – sich in Stasis auf wundersame Weise gegenseitig umarmend – ein Monozyklop und ein kugelförmiger, mit vier langen Greifarmen ausgestatteter Sondenadjutant. Ob das begrenzte Energiefeld die beiden voluminösen Objekte in diese Stellung gezwungen hatte, wusste Cutter nicht. Womöglich war es der Orphiker selbst gewesen, der die Sonde in die Arme geschlossen hatte, um die Nullzeitsphäre nicht zu sehr zu dehnen. Dass Auguste Barnacolls einst auf die Sonde übertragenes Bewusstseinsmuster etwas damit zu tun hatte, war ausgeschlossen.

Der Schwarzgekleidete studierte den im Rumpf eingelassenen Generatorpol, dann schaltete er das Gerät aus.

Im selben Augenblick, in dem das Nullzeitfeld erlosch, setzte für den Monozyklopen und die Sonde die Schwerkraft wieder ein. Als beide zu Boden stürzten, schleuderte die Erschütterung alles empor, was lose an Bord herumlag. Der Aufschlag brachte das Wrack zum Schwanken und erzeugte im vorderen Bereich eine kleine Flutwelle, die sich an den Bootswänden brach und zur offenen Frontluke herausschwappte.

»Seid Ihr wohlauf, Meister Thanatos?«, erklang die besorgte Stimme des Sensoriums, nachdem wieder Stille eingekehrt war. »Habt Ihr diesen Sloterdyke-Monozyklopen gefunden?«

»Habe ich.«

»Ist er am Leben?«

Cutter betrachtete die reglos vor ihm ruhende Zweckgemeinschaft. »Das weiß ich noch nicht so genau.« Er blickte abwägend zum Bug, dann wieder auf Sloterdyke und die Sonde. »Mach Platz!«, forderte er das vor dem Aquaroid wartende Assistenzmechanikum auf. »Ich bringe ihn durch den Orb heraus.«

»Beim heiligen Dynamo, was ist das denn?«, erschrak das Sensorium, als Cutter mit dem Monozyklopen und der von ihm umklammerten Sonde neben dem Bug des Tauchbootes materialisiert hatte. »Ein Parasit?«

»Ein alter Levit-Assembler«, erklärte der Schwarzgekleidete. »Vom einstigen Kontrolleur dieses Mauerabschnitts zum Dienstboten umfunktioniert. Eigentlich eine Schande, wenn man bedenkt, woher seinesgleichen stammt.«

Gespannt wartete er mit dem Mechanikum auf ein Lebenszeichen des sich umklammernden Zweibundes, doch der Monozyklop regte sich nicht.

»Sollte die Stasis mit dem Erlöschen des Nullzeitfeldes nicht augenblicklich enden?«, erkundigte sich das Sensorium.

»Sollte sie in der Tat.«

Das kleine Gefährt rollte heran, streckte seine Fühler aus und betastete den Monozyklopen vorsichtig. »In seinem Körper herrscht ein außerordentliches zellulares Durcheinander«, verkündete es nach seiner Diagnose. »Selbst in seinen Molekülen überwiegt das Chaos. Es ist unter diesen Bedingungen fast schon ein Wunder, dass seine angestammte physische Struktur sich nicht längst aufgelöst hat.« Das Sensorium untersuchte die Sonde und sagte: »In ihr hingegen messe ich keine Aktivität mehr.«

»Sie ist nicht wichtig.« Cutter lehnte seine Sense gegen den Bootsrumpf. »Verbinde dich mit seinem Kreislaufsystem und gib ihm Starthilfe«, forderte er das Assistenzmechanikum auf.

»Es funktioniert nicht«, klagte dieses, nachdem es mehrere Versuche unternommen hatte, den Mutanten wiederzubeleben. »Vielleicht hat die Stasis zu lange gewährt …«

»Der Aufenthalt im Nullzeitfeld ist nicht für diesen Zustand verantwortlich. Es muss an der Strahlung liegen. Ich hatte gehofft, dass das Feld den Monozyklopen vor der Rota-Energie schützen würde, während das Morph-Ganglion sie assimiliert, doch die kollabierende Gewölbematerie scheint beim Ausbruch zu viel davon reflektiert und im Becken verteilt zu haben.«

»Ihr müsst ihn zu einem Heiler bringen«, sagte das Sensorium. »Er wird ihn reparieren.«

»Ein gewöhnlicher Medikus kann nichts für ihn tun«, erklärte Cutter. »Der Monozyklop vereint zu viele biologische Komponenten und zu komplizierte biomechanische Schnittstellen in sich, von all den Memory-Dingern in seinem Kopf ganz zu schweigen.«

»Dann war unsere Mission umsonst?«

Der Schwarzgekleidete schwebte empor und kreiste eine Weile grübelnd durch die Dunkelheit. »Es gibt möglicherweise jemanden, der ihn zu reparieren vermag«, sagte er, nachdem er zum Tauchboot zurückgekehrt war. »Sofern er noch praktiziert.«

»Jemand, der fähig ist, seinen Hoch- und Übersinn zu rekonstruieren und seine Struktur zu stabilisieren?«, staunte das Sensorium.

»Alles da drin.« Cutter tippte mit dem Sensenschaft an Sloterdykes Kopf, dann beugte er sich herab und begutachtete das Zyklopenauge. »Und er könnte bei dieser Gelegenheit vielleicht auch die Linse polieren«, fügte er hinzu.

»Von wem sprecht Ihr, Meister?«

»Vom Ersten.«

Das Sensorium wartete gespannt, doch vergeblich auf den Rest der Erklärung. »Dem ersten was?«, fragte es schließlich.

»Molekülstrukturierer.«

Im Inneren des kleinen Gefährts erklang ein glockenheller Misston. »Ist das Euer Ernst?«, staunte es.

»Sehe ich aus, als würde ich scherzen?«, hielt Cutter ihm entgegen.

Stumm rollte das Assistenzmechanikum rückwärts. »Der erste Molekülstrukturierer ist ein Mythos!«, befand es in einem Anflug verhaltener Empörung, als es die Distanz zu dem Schwarzgekleideten für groß genug erachtete. »Es gab keinen Hochkonstrukteur vor dem Großen Dynamo! All die Geschichten vom sagenhaften ersten Erbauer, dem Urwelt-Fabrikanten oder der Maschine, die alle Probleme löst, sind nicht mehr als Märchen und Sagen.«

»Ich erwarte von einem niederen Mechanikum wie dir auch nicht, dass du den Worten äonenalter Entitäten glaubst«, befand Cutter. »Das habt ihr Unterschicht-Maschinen noch nie getan.«

Das Sensorium hüllte sich eine Zeit lang in Schweigen und beobachtete den Schwarzgekleideten dabei, wie er das geborgene Zweigespann untersuchte. »Und wo praktiziert er, dieser Wundermechaniker?«, fragte es schließlich.

»In der Unterstadt.«

»Ihr meint Abyssa?«

»Nein, Solicia. Die tiefste von allen, hervorgegangen aus einer Mine der ersten Ehernen, die der Dynastie der Sonnenflüchter entstammen.« Er drückte den Sensenschaft gegen die auf Sloterdyke ruhende Sonde und rüttelte an ihrem Metallleib. »Wir müssen die Maschine entfernen, damit es im Orb nicht zu Interferenzen oder gar zu einer Fusion der beiden kommt«, sagte er. »Hilf mir, sie voneinander zu trennen.«

I 2 I

»Werden wir den Mechataurus sehen, von dem die Chroniken erzählen?«, fragte das Assistenzmechanikum, nachdem sie Mutant und Maschine separiert hatten und der Monozyklop entsondet neben dem Tauchboot lag. »Oder das Palais Joumbur?«

Die Dunkelheit unter der Kapuze der Todesentität wallte umher, fast so, als schüttelte sie langsam den Kopf. »Solicia ist kein sicheres Pflaster für ein niederes Gefährt wie dich«, erklärte Cutter, während er mit dem Ende des Sensenschafts Sloterdykes Oberkörper abklopfte. »In ihren Gassen wimmelt es von Halunkomaten und Ventilabschneidern. Ich habe keine Lust aufzupassen, dass du dich nicht von einem Klimperer verschlucken lässt oder von Schnappschmieden zu Blitzgeschirr verarbeitet wirst.«

Die Scheinwerfer des Sensoriums begannen zu flackern. »Aber … was wird dann aus mir?«, fragte es.

»Du wirst hier warten. Wir schalten die Generatoren im Wrack wieder ein und erzeugen ein neues Nullzeitfeld. Ich werde dich holen kommen, sobald die Sache erledigt ist. Für dich wird hier unten keine Zeit vergehen.«

»Etwa so wie für ihn?«, fragte das Mechanikum und wies mit einem seiner Fühler auf den komatösen Monozyklopen. »Auf das meine sensorischen Zimpeln veröden und ich alles vergesse?«

Cutter ließ sich neben dem Urwelt-Mutanten auf die Knie nieder und tippte mit der Spitze eines Fingers gegen eine Stelle auf Sloterdykes Brustkorb, hinter der keine lebenswichtigen Organe und Instrumente lagen. Eine kleine Rauchwolke stieg auf, als der Zeitbrand das Gewebe zu Staub zerfallen ließ.

»Na schön, dann bleibt es deine Entscheidung, wie du dir die Zeit hier unten vertreibst«, sagte er, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, und schob den Sensenstiel vorsichtig in das im Thorax klaffende Loch. »Halte dich nur vom Schutthang und dem Terragoden-Bohrloch fern, denn dort ist die Strahlung am höchsten. Es kann sein, dass sich hin und wieder ein Felsquader aus dem Deckengewölbe oder aus den Wänden löst und herabstürzt. Die gesamte Reaktorhalle ist ohne die sie einst stützenden Wassermassen recht instabil. Am besten, du bleibst einfach still an einem Platz sitzen, sobald ich weg bin, und zählst Lichtquanten, bis ich wiederkomme.«

»Meister …«

»Spiel nicht mit dem Aquaroid herum, solange ich weg bin«, ermahnte der Schwarzgekleidete das verschüchterte Assistenzmechanikum. »Und Greifer weg von den Diametron-Generatoren!«, verhallte seine Stimme, als er im Orb verschwand.

Cutter materialisierte am Ufer eines subterranen Sees, dessen gegenüberliegendes Ende im Dunkel kaum auszumachen war. Während sich zu seiner Linken ein breiter Sandstrand in die Ferne zog, waren alle übrigen Seiten des Gewässers von steilen Felswänden umgeben. Gespeist wurde der See von einem mächtigen, gut einhundert Meter hohen Wasserfall, der aus einem schmalen, in einer der Klippen klaffenden Felsspalt hervorbrach. Ein steter, vom gegenüberliegenden Ufer wehender Wind trug einen Schleier aus Gischt fast bis ans Ufer, an dem der Schwarzgekleidete stand.

Cutter blickte hinauf zu dem wie eine blaue Miniatursonne glosenden Gebilde, das unter der Höhlendecke schwebte und die Kaverne mit diffusem Licht erfüllte.

»Ove, Lux inferis!«, murmelte er, dann senkte er den Blick wieder und stellte fest, dass kein Monozyklop neben ihm lag.

Verwundert wandte Cutter sich um. Wenige Schritte entfernt stand ein hüfthoher Pfahl mit einem Richtungsschild, in dessen Holz der Name SOLICIA geschnitzt war, und wies auf drei finstere Tore, die sich Seite an Seite am anderen Ende des Strandes in der Felswand öffneten.

Kaum hatte der Neuankömmling sich dem Wegweiser zugewandt, ließ dieser ein kurzes Fanfaren-Jingle erklingen und rief: »Sei gegrüßt, Inkarnation! Ich bin …«

Bevor er in der Lage war, den Satz zu beenden, hatte der Schwarzgekleidete die Kaverne verlassen und stand wieder in der Reaktorhalle.

»Meister?«, begrüßte das Sensorium ihn verwundert.

Cutter murmelte etwas Unverständliches, steckte den Sensenstiel erneut in den Monozyklopen, drehte ihn ein wenig hin und her und sprang erneut in den Orb.

»Sei gegrüßt, Inkarnation!«, rief das Ortsschild, als er zum zweiten Mal ohne den Urwelt-Mutanten vor ihm auftauchte. »Ich bin eine Grenzmarkierung …«

»Zefix!«, stieß der Schwarzgekleidete hervor und war wieder verschwunden.

»Meister?«, vernahm er die Stimme des Sensoriums im Dunkel der Reaktorhalle.

»Sei still!« Cutter hob die Sense und versetzte dem Monozyklopen wütend einen Tritt, woraufhin die getroffene Stelle zu Rost und Staub zerfiel. Dann bohrte er den Sensenstiel ein Stück tiefer in dessen Thorax, bis er sich so festgedreht hatte, dass er nur noch durch rohe Gewalt entfernt werden konnte.

»Sei gegrüßt, Inkarnation!«, freute sich das Schild, als er ein drittes Mal ohne den Monozyklopen vor ihm materialisierte. »Ich bin eine Grenzmarkierung des freien Subterraneums Solicia und heiße dich in den Gefilden der Sonnenflüchter herzlich willkommen!«

Die letzten Worte sprach es in die vom Wasserfall herüberwehende Gischt. Die Stelle, an der der finstere Besucher gestanden hatte, war wieder leer.

»Meister?« Das Sensorium starrte Cutter mit weit geöffneten Objektivblenden an.

»Ruhe!«, donnerte dieser und hieb die Sensenklinge eine Antennenlänge vor den Kameraaugen des kleinen Gefährts in den Hallenboden, woraufhin sich ein meterlanger Riss im Gestein öffnete. Das Mechanikum ließ vor Schreck die Scheinwerfer erlöschen und schoss mit aufheulenden Raupenketten rückwärts. »Herrschaftszeiten, vermaledeite!«, grollte der Schwarzgekleidete. »Das ist doch jetzt wohl ein Witz!«

»Ich erzähle nie dreimal nacheinander denselben Witz«, erklang die Stimme des Sensoriums leise aus der Dunkelheit, nachdem das Echo des Wutausbruchs verstummt war. »Dürfte ich fragen, was Euch widerfahren ist, Meister Thanatos?«

»Das siehst du doch«, knurrte Cutter. »Es ist kein Transport durch den Orb möglich.«

»Aber Ihr habt es doch vollbracht, den Monozyklopen und die Sonde aus dem Aquaroid zu holen.«

»Das war nur ein Katzensprung.«

Das Sensorium schwieg eine Weile, dann fragte es: »Ein was?«

»Vergiss es.« Cutter ließ sich auf einen der riesigen, aus der Hallendecke gebrochenen Felsquader nieder. »So etwas Vermaledeites ist mir seit dem Erstrahlen des temporal-borealen Wirbels nicht mehr passiert«, klagte er. »Es muss an der Rota-Strahlung liegen, oder an der langen Stasis im Nullzeitfeld. Womöglich ist es auch die Kombination aus beidem, die den Sprung verhindert.«

»Dürfte ich frei und offen sprechen, Meister?«, fragte das Mechanikum mit demütig hängenden Sensorfühlern, wobei seine Stimme leicht zitterte.

»Tu, was du nicht lassen kannst, Raupenknecht.«

»Vielleicht liegt es in Wirklichkeit daran, dass Euch der Trickster auf dem Seelenmarkt von Hamporasch übers Ohr gehauen hat …«

»Ich habe keine Ohren.«

»… und Ihr Eures Spiegelbildes verlustig geworden seid«, beendete das kleine Gefährt den Satz. »Von den vier Insignien, die Euer Amt definieren, könnt Ihr inzwischen nur noch zwei Euer Eigen nennen. So etwas zieht Konsequenzen nach sich.«

»Hältst du mich jetzt etwa für eine halbe Portion?«, grollte Cutter.

»Ich zitiere nur eine Weisheit aus dem Buch der Elemente, Meister Thanatos.«

Der Schwarzgekleidete ließ sich von dem Felsquader herabsinken und betrachtete den Monozyklopen. »Na gut, lass uns sehen, wohin das führen soll«, sagte er und löste sich erneut in einer schwarzen Wolke auf.

»Sei gegrüßt, Inkarnation!«, frohlockte das Ortsschild, als der Schwarzgekleidete ein weiteres Mal vor ihm aus dem Orb auftauchte. »Ich bin eine Grenzmarkierung des freien Subterraneums Solicia und …«

»Noch ein Wort, und du warst es die längste Zeit deiner armseligen Existenz«, drohte Cutter und legte seinem Gegenüber die Sensenklinge an den Pfahl. »Also«, sagte er, als er sicher war, dass das Schild tatsächlich schwieg. »Was ist bei euch hier unten los? Ist das ein sphärischer Bannwall, den ihr um die Stadt herum errichtet habt, oder eine Ätherbarriere?«

»Das weiß ich nicht«, gestand das Schild. »Ich stehe hier nur für den Empfang der Entitäten, die versuchen, die Zollkontrolle zu umgehen. Durch die Geisterdimension wurde zu viel Ware in die Stadt hinein und aus ihr heraus geschmuggelt.« Es verstummte, als befürchtete es, für seine Worte bestraft zu werden. Als Cutter die Sense zurückzog, fügte es hörbar erleichtert hinzu: »Ihr seid übrigens die erste Inkarnation seit der Ankunft des erlauchten Quadropheniden von Kaitos im Jahr 23.908 des ewigen Kalenders, die ich vor unseren Toren willkommen heißen darf.«

»Ist er etwa für diesen Hokuspokus verantwortlich?«

»Oh nein, mein Herr, das war ein großzügiges Geschenk der Maschine.«

»Welcher Maschine?«

»Der Maschine, die alle Probleme löst und unsere Sprache spricht.«

»Treib nicht deinen Spott mit mir!«, tadelte der Schwarzgekleidete das Schild. »Dieses monströse Unikum hat diese Welt vor Äonen verlassen.«

»Ich kann nur widergeben, was mir vom Konsul zu erzählen auferlegt worden ist.«

Cutter blickte hinüber zu den Stadttoren. »Heißt das, die obersten Sonnenflüchter haben einen Pakt mit der Maschine geschlossen?«

»Das weiß ich auch nicht«, gestand sein hölzernes Gegenüber. »Ich wurde hier erst aufgestellt, als das Problem bereits gelöst war.«

»Und wie soll unsereins nun mit seiner Ware in die Stadt gelangen?«

»Auf traditionelle Art und Weise.« Das Schild richtete sich auf den tosenden Wasserfall aus, der in der Ferne aus der Felswand hervorbrach. »Über den Fluss und den Katarakt der Seelen, wie es das Gesetz der ersten kosmischen Entitäten fordert.«

»Ich bin eine dieser Entitäten«, murmelte Cutter.

»Na, dann habt Ihr ja nichts zu befürchten. Sucht einen Eingang in die Unterwelt, erwerbt ein Ticket und nehmt eine Fähre.«

Der Schwarzgekleidete richtete seinen Blick auf den Wasserfall. »Wir sehen uns wieder«, sagte er.

»Vergesst nicht, eine Deklarationsmarke zu kaufen und ein ausgefülltes Einfuhrformular für Außenweltsperrgut vorzulegen«, rief das Schild ihm nach, doch da hatte der finstere Besucher sich bereits wieder in Luft aufgelöst.

»Na gut, Raupenknecht«, sagte Cutter, nachdem er in die Reaktorhalle zurückgekehrt war. »Du darfst mich nach Solicia begleiten …«

»Oh, danke, Meister!«, frohlockte das Sensorium und kam mit aufblendenden Scheinwerfern herangerollt.

»… und wirst den Monozyklopen schleppen.«

»Ihr seid zu güt…« Es stockte und beleuchtete den wie ein Berg neben ihm aufragenden Urwelt-Mutanten. »Ich?«, fragte es erschrocken. »Allein?«

»Mir ist es offensichtlich nicht vergönnt.«

»Den ganzen Monozyklopen?« Das Mechanikum wartete auf eine Antwort, dann fragte es leise: »Genügt denn nicht nur sein Kopf?«

»Nein!«

Das kleine Gefährt umrundete langsam Sloterdykes Körper. Schließlich blieb es wieder neben seiner rechten Schulter stehen und fragte: »Wozu benötigt Ihr überhaupt das Wissen dieses Kolosses?«

»Das geht dich nichts an.« Cutter trat neben die separierte Sonde und betrachtete den Kugelleib mit seinen vier Greifarmen. »Was ist mit ihr?«, fragte er. »Bist du fähig, sie zu reparieren?«

Das Mechanikum rollte zu dem reglosen Apparat und tastete seinen Kugelleib ab, bis es eine geeignete Öffnung gefunden hatte, dann schob es vorsichtig seine sensorischen Fühler ins Innere. Eine Zeit lang verharrte es in dieser Stellung, zog die Fühler schließlich wieder zurück und richtete einen seiner Strahler auf Cutter. »Ich kann ihre Schaltkreise reinigen, den Prozessor reaktivieren und die Basisfunktionen wiederherstellen«, erklärte es. »Aber ich fürchte, jenes Persönlichkeitsmuster, das sie einst beherbergt hat, bleibt verloren.«

»Von seinesgleichen geistern in diesem Gemäuer noch etliche herum«, sagte der Schwarzgekleidete. »Der Verlust wird sich also in Grenzen halten.«

I 3 I

Chronistora

oder

Die Kunst, einen Planeten zu verlieren

TEIL 1

Von den elf Epochen, die seit dem Fall der Urwelt und dem Ende des Goldenen Zeitalters erblüht und vergangen waren, gehört die Periode des temporal-borealen Wirbels, dessen Horden auch unsere Welt nicht verschont hatten, zweifellos zu den finstersten Kapiteln.

Unser spärliches Wissen über diese wahrhaft verwirrende Epoche verdanken wir dem leuchtenden Allfabulus Aurorius und seinem Spätwerk Chronistora oder Die Kunst, einen Planeten zu verlieren. In den erhaltenen Fragmenten der Chronistora, die vom Historiker und Sedimenttunnler Molerus nach den Wirbelkriegen aus den Ruinen der ersten dynamoltanischen Bibliothek geborgen werden konnten, eröffnet sich uns ein Schreckensszenario von wahrhaft kosmischer Auszehrung und Rotation.

Es ist nicht bekannt, wo und wann der temporal-boreale Wirbel sich zuerst geöffnet hatte. Lückenhafte, transkripierte Niederschriften über astronomische Beobachtungen lassen darauf schließen, dass er aus mindestens sechs Vortexvektoren gleichzeitig gewachsen war. Was wir jedoch wissen, ist, dass seine physische Präsenz nur auf die nördliche Hemisphäre unserer Welt beschränkt war, was zweifellos ausschlaggebend für Aurorius’ Benennung des Phänomens gewesen sein dürfte. Als ebenso erwiesen gilt, dass sein sicht- und messbarer Vortex den Spiralarm auf einer Länge von mindestens 76 Lichtjahren durchzogen hatte, vom Polypnebel bis zu den Olwizischen Boxazeifferlitzen, die als Heimat von Pikdot dem Dezimierer betrachtet werden.

Da der Vortex jenseits der Zeifferlitzen dereinst jedoch hinter einer für die Teleskope unserer Ahnen undurchdringlichen Dunkelwolke verschwand, ist es denkbar, dass seine tatsächliche Länge weit über das verzeichnete Maß hinausgereicht haben könnte und sein wahrer Ursprung sogar außerhalb unserer Galaxie gelegen hatte.

In den erhalten Fragmenten betont Aurorius mehrmals, dass der temporal-boreale Wirbel auch der Grund dafür gewesen sei, weshalb die sagenumwobene Maschine, die alle Probleme löst und unsere Sprache spricht, unsere Welt verlassen habe. Berichte zeitgenössischer Chronisten und Astronomen erzählen, man hätte ihren Schatten letztmals vor der Sonne gesehen. Andere behaupten, sie wäre vom sich schließenden Wirbel verschluckt worden oder hätte sich absichtlich in das Kontinuum der Horden gestürzt, um das Problem von der anderen Seite aus zu lösen.

I 4 I