Der Kanon mechanischer Seelen - Michael Marrak - E-Book

Der Kanon mechanischer Seelen E-Book

Michael Marrak

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Beschreibung

In einer fernen Zukunft wird die Erde nur noch von wenigen Menschen bevölkert. Sie führen in ihren jugendlichen Körpern ein Leben, das viele Jahrhunderte währt, und manche von ihnen besitzen eine Gabe: Einzig durch ihren Wunsch und eine flüchtige Berührung sind sie fähig, Materie zu beseelen. In dieser wundersamen, von einer bizarren Mechafauna dominierten Welt lebt Ninive, die auf der Suche nach uralten Relikten das Hochland durchstreift, um längst vergessenen Dingen Leben einzuhauchen und sich ihre Geschichten anzuhören. Das alles beherrschende Bauwerk ist eine vier Kilometer hohe Mauer, von der niemand weiß, wozu sie einst errichtet wurde und wovor sie die Menschen und Maschinen seit Jahrtausenden schützt – bis ein Gesandter aus der letzten Stadt im Hochland auftaucht, der den Auftrag hat, die Bannmauer zu bezwingen. Und er ist der nicht der Einzige, der die verlorene Passage in die Welt dahinter sucht … Der Kanon mechanischer Seelen ist eine Hommage an Stanislaw Lems "Kyberiade" und seine Robotermärchen, an Miyazaki-Trickfilme wie "Chihiros Reise ins Zauberland" und "Das wandelnde Schloss", an Michael Moorcocks "Am Ende der Zeit", garniert mit einem Schuss "Alice hinter den Spiegeln". Das SF–Romanereignis des Jahres - Gewinner des Seraph und des Kurd Laßwitz-Preises als "Bester Roman"

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© 2017 Amrûn Verlag

Jürgen Eglseer, Traunstein

Umschlaggestaltung & Illustrationen: Michael Marrak

Lektorat/Korrektorat: Lilly Rautenberger und André Piotrowski

Alle Rechte vorbehalten

ISBN – 978-3-95869-257-2

Besuchen Sie unsere Webseite:

http://amrun-verlag.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar

MICHAEL MARRAK

DER KANONMECHANISCHERSEELEN

INHALT

Prolog

Teil 1 : Das Genetrix-Tier

Teil 2 : Das Lied der Wind-Auguren

Teil 3 : Coen Sloterdykes diametral levitierendes Chronoversum

Teil 4 : Floribundus

Teil 5 : Das Licht am Ende der Träume

Teil 6 : Der quantenmechanische Dybbuk

Teil 7 : Hinein, hindurch und daraus hervor

Teil 8 : Die andere Seite der Welt

Teil 9 : Sonne, Tod und Sterne

Teil 10 : Von der Schöpfung und Tilgung der Dinge

Teil 11 : Das Ende aller Geheimnisse (und ein paar Wunder)

Epilog

Danksagung

Für Strombo, den Kybrack,Halazon, den Elektrowisser,Erg Selbsterreg, den Elektritter,Ruhmraff Megawatt, den Oszillator,Protheseus und seine Funkenschlucker,den Astrodeur Perpetuan und seine Galaxenreiterei,und den myriadenarmigen Schmerl im Zwischensternland.

Ehre sei den Helden!

Stanislaw LemROBOTERMÄRCHEN

| PROLOG |

Das Summen der Gleichzeittransformatoren hallte von den Wänden wider, als Präsident Velocipedior III. über den von seinen Sekretären gestützten Steg auf die Ringempore rollte. Der Saal war erfüllt vom Raunen und Munkeln der Ratsmitglieder und ihrer Kontoristen. Leise klimperten Wimpern-Imitatoren, schnalzten Geduldsfedern, trommelten metallene Fingerkuppen nervös auf jahrtausendealtes Holz.

An seinem Platz angelangt, seufzte Velocipedior III. leise und musterte die versammelte Ratschaft. Anlässlich der historischen Zeitmarke hatten sich alle Bezirksvertreter im Sitzungssaal des Dynamoreons eingefunden: Paxreich Quantenpuls aus der Domäne Luminos, zuständig für urbane Erleuchtung und Bracklichtverklappung; Konsul Quellweiß Wasserspiel aus dem Klär-Sektor, Leiter des Ministeriums für fluide Angelegenheiten; Baronin Penelope von Schießer, in deren Ressort alles fiel, was positives Denken und Zentrifugalkraft nicht mehr im Orbit halten konnten; Barnabas Radab aus der Unterstadt, Leiter des Dampfturbinenmuseums und verantwortlich für Straßentuning und Verkehr; Transmutator Tesla aus der Radiozone, Minister für mechanisches Wetter und Gegenwetter; und nicht zuletzt der Konversationsbeauftragte Bass Kahn aus dem Distrikt Monogol – um nur einige der versammelten Ratsmitglieder zu nennen.

Selbst Magistrat Ohm aus der faradayschen Käfigexklave Statikon hatte es trotz seines vollen Terminkalenders geschafft, pünktlich an seinem Platz zu stehen – wenngleich er den Eindruck erweckte, als ob ihm sein letzter Ölwechsel nicht bekommen wäre.

Ein Blick auf den Saalchronometer verriet dem Präsidenten, dass bis zum Beginn der Sitzung noch ein wenig Zeit blieb. Er knöpfte seinen Frack auf, öffnete die Spulenverkleidung an seinem Bauch, schob das vordere Kupfermodul zur Seite und drückte seinen Magnetrotor gegen das an der Außenvertäfelung des Ringpults laufende Ladeband. Mit geschlossenen Objektiven genoss Velocipedior III. die ihn erfüllende Energie.

Kleine, mit politischen Informationen, Fragen, Ratschlägen oder Kundendienstrezepten angereicherte Lichtbögen wanderten knisternd entlang der zweipoligen Dialogschienen, die über der Sichtschutzblende des Ringpults schwebten. Sie wurden von ihren Empfängern abgepasst, eingespeist, analysiert und modifiziert an die Absender zurückgeleitet. Zwischen den vertraulichen Daten wanderten kleine Elektrosnacks in den Geschmacksrichtungen Tang, Mango, Terpentin, Altöl und Magnolium.

Der Präsident hob seinen Blick und betrachtete die leuchtenden, in Endlosschleife über den Köpfen der Bezirksräte kreisenden Buchstabenkolonnen.

WEISHEIT UND WAHRHAFTIGKEITERLEUCHTEN DEN GROSSEN DYNAMO

verkündete die Ratsmaxime samt Fußnotenverweis und illuminierte das zwölfköpfige Plenum mit unheilvoll-beruhigendem Saphirblau. Gegenläufig dazu rotierte darunter in kleinen, kaum noch zu entziffernden Lettern der Hinweis:

AUSSER BEI SONNENFINSTERNIS, IONENSTURM,QUECKSILBERREGEN UND DANKEGIBSUNS.

Auf die Sekunde genau begann die Oberkante der Sichtblende rot zu leuchten und signalisierte Velocipedior III. den Start der Sitzung. Mit drei Schlägen gegen einen kleinen Tischgong eröffnete er die Runde. Dann wartete er geduldig, bis im Saal Ruhe eingekehrt war und er sich der ungeteilten Aufmerksamkeit aller Anwesenden sicher sein konnte.

»Hochverehrte Räte«, richtete er sein Wort schließlich an die Gemeinschaft. »Geschätzte Echomagneten, Polkombinatoren und Spiral-Freidioden, seid innig umschlungen. Wir schreiben den 146. Tag im Jahr 23.911 des ewigen Kalenders.« Der Präsident legte eine Kunstpause ein, um seine Worte wirken zu lassen. »Auf den Tag genau eintausend Jahre ist es her, dass ein Reisender auf der Suche nach einem Nautikus an die Tore unserer Ahnenfeste klopfte«, fuhr er fort. »Das seltsame Wesen war keiner der Ihren gewesen, aber auch kein Wandler oder Seelenfresser, sondern ein leibhaftiges Urzeitgeschöpf. Ein Exemplar jener geheimnisvollen Spezies, die diese Welt vor dem Kataklysmos bevölkert hatte. Ein ganz und gar Organischer, erfüllt mit dem Wissen über das wundersame Goldene Zeitalter, aber ohne die Gabe, Materie zu beseelen oder zu entseelen. Ein reines Menschending, wie es leibte und lebte, bevor die große Flut nahezu alles verschlungen hatte.

Groß waren auch das Erstaunen und die Skepsis unserer Vorfahren gewesen, als ihr Besucher erzählte, er stamme aus dem mythischen Urstromtal jenseits der Bannmauer, dem gelobten Land, wo Öl und Äther fließe und das Metall nie roste.

Unglücklicherweise wusste zur Zeit unserer Ahnen niemand, was ein Nautikus ist, und auch von den sonderbaren Werkzeugen, um die der Fremde bat, hatte damals noch nie jemand etwas gehört. So überredete er letztlich eine Schar hydraulischer Herkuleronen, mit ihm ins Hochland aufzubrechen, um sein verletztes Reisegefährt zu bergen.

Als die Gruppe die Seen erreichte, war dieses jedoch weit abgetrieben und versunken. Womöglich war es des Nachts Opfer eines kapitalen Wildmechanoids geworden, der sich im Schutz der Dunkelheit über es hergemacht und in die Tiefe gezerrt hatte. Alle Versuche, es aufzuspüren, blieben bis zum heutigen Tag erfolglos, was die Zweifel am Wahrheitsgehalt der Begebenheiten im Laufe der Jahrhunderte zunehmend wachsen ließ.

Während der unfreiwillig gestrandete Reisende nach einem Weg suchte, in seine sagenumwobene Heimat zurückzukehren, lehrte er unsere Ahnen das Urzeitwissen, von dem bis dahin nur Ruinen zeugten, Legenden erzählten und Historiker Hunderte von Generationen lang träumten. Barna war es, der den Grundstein für die Mauern unserer Stadt legte und unseren Vorfahren den Glauben zurückgab, Wohlstand schaffen und dem Himmel entgegenstreben zu können. Und nun seht, welch prunkvolle Kronstadt in diesem Millennium entstanden ist ...

Für seine Verdienste wurde der Fremde vom königlichen Großplanierer Lokomotorus zum Entwicklungsritter geschlagen. Sein goldener Nimbus konnte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass er im Laufe der Jahre viel schneller verschliss als unsereins oder die Äonenkinder. Besorgt darüber, dass sein gelehrtes Wissen nach seinem Tod erneut in Vergessenheit geraten könnte, schrieb er es nieder. Doch der mit Einfluss und Luxus wachsende Hochmut unserer Ahnen begann diesen Erkenntnisschatz schon bald nach dem Tod des Reisenden zu vernachlässigen. Ihr Dünkel, alles Erlernbare gelernt, gespeichert, verinnerlicht und archiviert zu haben, ließ sie nachlässig werden. Hunderte von Seiten vergilbten, das Papier verrottete und die Barna-Chroniken fielen schleichend der Zeit anheim.«

Velocipedior III. legte eine rhetorische Pause ein und musterte die Räte. »Fürwahr, unsere Stadt ist groß und bedeutend«, fuhr er fort. »Aber trotz ihrer Pracht sind wir selbst arm an Wissen über jene Epoche, die wir das Goldene Zeitalter nennen, jene sagenumwobene Welt vor dem siebten Kataklysmos, dessen Fluten so viel mit sich gerissen und für immer unter Schlamm begraben hatten. Selbst vom vollständigen Namen unseres Stadtvaters Barna gingen in den Irren und Wirren der vergangenen eintausend Jahre mindestens neun Buchstaben verloren.

Der Ruhm dieser Stadt und ihrer Bewohner ruht auf einem brüchigen Fundament, unter dem ein Abgrund klafft.

Zahllose Impulsschneller, Affektfederer und Idealistomimen hatten im Laufe der Jahrhunderte vergeblich versucht, das verlorene Wissen für uns zurückzugewinnen – mit Physik, Biologie, Mathematik und perpetueller Mobile-Alchemie.

Da war Roberto Nebelmund, der siebzehn Jahre nach Barnas Dahinscheiden ein Schwindelklettermodul konstruiert hatte, um die Mauer mit viel medialem Tamtam zu erklimmen. In knapp drei Kilometern Höhe war jedoch seine Brennkammer erloschen und die Hydraulik eingefroren. So war ihm nichts anderes übrig geblieben, als die im Gestein verankerten Sicherheitshaken zu lösen. Von einem Fallschirm stabilisiert und zwei Triebwerken gebremst, wollte er sein Modul an der Mauerwand sicher wieder hinabgleiten lassen. Unglücklicherweise hatte Nebelmund beide Sicherheitssysteme auf der jeweils falschen Seite seiner Apparatur installiert, sodass er den ausgelösten Fallschirm überfahren und die gen Himmel strahlenden Triebwerke seine Talfahrt auf Mach 1,4 beschleunigt hatten.

Das daraus resultierende, unvermeidliche Finale furioso hatten die städtischen Gazetten dereinst lakonisch als ›perfekte Transformation von kinetischer in thermische Energie‹ bezeichnet ...

Wir erinnern uns an Metronomet Dreitakt, der sich im Jahr 101 nach Barna anschickte, die Mauer mit einem Gleichstrombläserich zu überfliegen. Man fand ihn und sein windverwehtes Vehikel zwei Tage später nahe der Westküste in einer Baumkrone, knapp sechzig Kilometer von seinem eigentlichen Reiseziel entfernt.

Unvergessen bleibt auch Okulator Janus Zwinker, der ein leidenschaftlicher Chansonier war und zu Lehramtszeiten zwei einander gegenübersitzende Hochschulklassen simultan zu unterrichten vermochte. Von ihm blieben uns nur seine legendären Fixsterngesänge, ein paar Falschfarbenhologramme und ein Denkmal als stummer Ort der Andacht.

Wir erinnern uns an Analog Schlosserbart, der einst allein ins Hochland aufgebrochen und fünf Wochen später zu siebt wieder in die Stadt zurückkehrt war. Und der bis zum Tag seines Dahinscheidens keiner mechanischen Seele verraten hatte, wie ihm dieses Dilemma, über das sich einzig die städtische Steuerbehörde zu freuen wusste, eigentlich passiert war.

Dies, verehrte Kollegen, waren nur vier der zahllosen Drunter- und Drübergänger, die sich in den vergangenen eintausend Jahren aufgemacht hatten, die Bannmauer zu bezwingen. Viele ruhmreiche Aspiranten waren am monströsen Erbe unserer Urahnen gescheitert. Die Bannmauer hatte ihnen im wahrsten Sinne des Wortes die Grenzen aufgezeigt. Und einige von ihnen waren nie zu uns zurückgekehrt ...

Obwohl Jahrhunderte verstrichen sind, stellen wir uns immer noch die gleichen Fragen: Hatten jene, die bis zum heutigen Tag als verschollen gelten, das Unmögliche vielleicht doch vollbracht und die andere Seite erreicht? Falls ja, was hatte sie dann dazu bewogen, für immer in der Fremde zu bleiben? Unverhofftes Glück, Krankheit oder Gefangenschaft? War es Unvermögen gewesen – oder hatte ihnen einfach nur der letzte Schneid gefehlt, die Mauer ein weiteres Mal zu bezwingen?«

Der Präsident analysierte die Emotionsdiagramme jener Ratskollegen, deren Köpfe noch immer skeptisch gegen den Uhrzeigersinn rotierten, dann erhob er seine Stimme und sprach:

»Im schatt’gen Sumpf hinter der Mauer,liegt stets ein Untier auf der Lauer.Und ruht es mal nicht gänzlich still,frisst’s blanken Fels, solang es will.

So erzählt es uns der erste Vers eines Kinderliedes, das Mütter ihren neu gespulten, jungfräulich montierten oder frisch geschmiedeten Söhnen und Töchtern vorsingen, während sie sie in den Schlaf kurbeln.

Nun, anlässlich des sich heute zum tausendsten Mal jährenden Barna-Talfahrt-Gedenktages habe ich uns hier zusammenfinden lassen, um im Rahmen der Jubiläumsfeierlichkeiten über das Wohl oder Weh einer neuen, vielleicht letzten Hochlandexpedition abzustimmen. Einer Grenzreise, die Erfolg verspricht, wo alle vorangegangenen Exkursionen scheiterten.«

Die Räte schwiegen verdutzt, allesamt starr und sprachlos vor Verwunderung. Selbst einige der Kontoristen blickten verstohlen empor, als hätte Velocipedior III. nicht mehr alle Drähte auf der Spule.

»Ich hoffe, Ihr beliebt nur zu scherzen«, meldete sich schließlich Transmutator Tesla zu Wort.

»Mitnichten.«

»Aber die Erfolgsstatistik ist desaströs«, erinnerte ihn Magistrat Ohm. »Was bewog Euch zu dieser wahnwitzigen Kopfgeburt?«

Der Präsident sah in die Runde. »Einer unserer Dolmetscher ist beim Übersetzen der restaurierten Fragmente auf Textpassagen gestoßen, die seit Äonen in Vergessenheit ruhten. Sie schildern Barnas Reise aus einer gänzlich unerwarteten Perspektive und lassen seinen wahren Weg erahnen. Doch beurteilt selbst.«

Er generierte zwölf Lichtbögen und schickte sie in die Runde. Wissbegierig pflückten die Ratsmitglieder sie von den Dialogschienen und lasen die in ihnen gespeicherten Dokumente ein.

»Ich bin nicht sicher, ob das eine gute Idee ist«, bemerkte Transmutator Tesla, nachdem er seine Akte gesichtet und analysiert hatte. »Die in der Übersetzung enthaltenen Andeutungen sind vage, die Sprache zu geschüttelt und blumig. Alles in allem ein recht zweifelhaftes, in Metaphern und Versrätseln gehaltenes Werk. Womöglich bringt es dem Expeditionsreisenden mehr Schaden als Nutzen. Ein weiterer Fehlschlag könnte einen folgenreichen Verlust unserer Glaubwürdigkeit nach sich ziehen.«

Velocipedior III. maß sein Gegenüber mit Blicken. »Dann müssen wir eben Mut zum Risiko beweisen!« Er hob zwei seiner sechs Arme und deutete auf das über den Köpfen der Ratschaft leuchtende Dogma. »Hat jemals ein unreifes Dekret, ein unausgegorenes Urteil oder ein windschiefer Erlass diese Mauern verlassen?«, fragte er.

»Nein«, erklang es unisono.

»Haben wir jemals eine falsche Entscheidung getroffen?«

»Nein!«

»Haben wir uns jemals geirrt?«

»Nein!«, donnerte es nun durch den Saal.

»Waren wir jemals nicht einer Meinung?«

»NEIN!«

Die Ratsmitglieder sprangen auf, ließen heulend ihre Säulenköpfe rotieren und riefen: »Sator! Sator! Sator!«

Velocipedior III. riss alle sechs Arme empor, was fast die Hochratshaube von seinem Haupt hüpfen ließ, und forderte die Runde mit gebieterischer Geste zum Schweigen auf. Innerhalb weniger Augenblicke hörte man im Saal nur noch das Surren der Gyroskope aus den Bäuchen der Räte.

Mit stoischer Ruhe korrigierte Velocipedior III. den Sitz seiner Kopfbedeckung. »Sind wir also unfehlbar?«, fragte er schließlich Silbe für Silbe und so leise, dass die restlichen Anwesenden sie erst verstanden, als die Wände sein Flüstern verstärkt reflektierten.

Der Präsident blickte sich um. »Nein, das sind wir nicht«, beantwortete er seine eigene Frage. »Dennoch gebietet uns der Kodex, einer dogmatischen Perfektion so nahezukommen wie nur möglich. Notfalls bis zur Transzendenz.«

»Gibt es überhaupt schon einen Kandidaten, der den gefürchteten Widrigkeiten dieser Reise zu trotzen vermag?«, wollte Magistrat Ohm wissen.

»Wahrlich, den gibt es«, verkündete Velocipedior III. »Doch wir werden diesmal keinen der Unseren in den Norden schicken, sondern einen fluxbegabten Ureinwohner.«

»Euch ist hoffentlich bewusst, welche Gefahren im Hochland auf einen Organischen lauern«, gab Bass Kahn zu bedenken. »Raubtiere, beseelte Elemente, Mechamakrophagen, Urwelt-Titanomaten und streitsüchtige Zeitmeridiane ...«

»Und das Ding aus dem Orb!«, rief die Baronin mit schriller Stimme.

»O ja, der Sensenschreck!«, pflichtete Bass Kahn ihr bei. »Es heißt, allein den Weg zu kreuzen, den er Tage zuvor beschritten hat, lasse einen dahinscheiden. Mit dieser Entität ist am allerwenigsten zu spaßen!«

»Unersättlich, unberührbar, unentseelbar und unzerschmetterlich.« Paxreich Quantenpuls schüttelte sich grausend. »Ein schauriges Unwesen!«

»Nun, meines Wissens kann man dieses Unwesen durchaus berühren«, widersprach ihm der Präsident. »Wenngleich nur einmal ...« Er schlug erneut den Tischgong. »Bei aller Begeisterung für provinzielle Legenden bitte ich das Kollegium, seine Energie nun wieder auf das Kernanliegen zu fokussieren.«

Als die Ratsmitglieder verstummten, schlug die Stunde der Kontoristen. Erfahrungen wurden ausgetauscht, Bedenken über das Ringpult gesandt, Standpunkte gekreuzt und leidenschaftlich utopie- und distopiegeschwängerte Kugelblitze hin und her geschossen. Einige lobten, dass der Kandidat bereits zwei Beine und die dazugehörigen Füße vorweisen konnte, andere regten an, ihm sicherheitshalber das Fliegen beizubringen. Manche plädierten gar dafür, ihn mit drei weiteren Beinpaaren auszustatten, sodass er für jedes Naturelement über das passende Fortbewegungsmittel verfügte. Plasmabögen knisterten, Quantenklumpen flackerten, Gedanken kreisten im Rund, und im Rathausbrunnen gebar eine Elektroschnepfe einen Quappwurm. Zu guter Letzt tauschten alle untereinander noch mehrmals die Köpfe, um zu einem möglichst unbefangenen Urteil zu kommen.

»Hat der Rat zu einer Entscheidung gefunden?«, fragte Velocipedior III., nachdem die Debatten beendet waren, und blickte erwartungsvoll in die Runde.

»Das hat er«, antworteten die übrigen Mitglieder wie aus einem Mund.

»Und wie lautet sein Urteil?«

»Die Millenniumexpedition wird bewilligt!«

TEIL 1

DAS GENTRIX-TIER

Aus einem edlen StammeSproß er, der Junker Dampf;Das Wasser und die Flamme,Sie zeugten ihn im Kampf;Doch hin und her getragen,Ein Spielball jedem Wind,Schien aus der Art geschlagenDas Elementenkind.

Theodor FontaneJUNKER DAMPF

| 1 |

Mühsam setzte Ninive einen Fuß vor den anderen, die Finger um die Träger ihres Rucksacks geklammert und den Blick starr auf den Boden gerichtet. Es waren ihre letzten Schritte im Windschatten des Bergrückens. Noch bevor sie den Scheitelpunkt erreicht hatte, traf der Sturm sie mit voller Wucht und trieb ihr die Tränen in die Augen. Er zerrte an ihrer Kleidung und riss tief hängende Wolkenfetzen mit sich, die wie flüchtende Gespenster über den Hügelkamm jagten.

Erschöpft blieb Ninive für einen Moment stehen und blickte hinab ins Tal. Sie hätte auch den bequemen Weg entlang des Flussufers nehmen können, doch die Auen boten nur auf den ersten Blick eine unbeschwerliche Route durch das Hochland. Ninive kannte Flodd und seine Launen bereits viel zu gut. Er wollte sich nicht als geistloser Fluss verstanden wissen, sondern als Elementarkünstler. Und als solcher konnte er es absolut nicht ausstehen, wenn jemand daherkam und sein liebevoll ausbalanciertes Ökosystem durcheinanderbrachte, indem er ihn durchquerte oder auf ihm herumpaddelte. Bevor Ninive es daher riskierte, einen jener Tage zu erwischen, an denen Flodd alles zu ersäufen versuchte, was einen Fuß in sein Wasser setzte, nahm sie lieber den kräftezehrenden Weg über den Bergrücken. Jeder, der schon einmal schlecht gelauntes Wasser getrunken oder gar darin gebadet hatte, wusste, warum.

Leider war es auch mit Flodds Gedächtnis nicht weit her, da seine Erinnerungen unaufhörlich fortgespült wurden. Sie strömten flussabwärts, verdrängt von arglosem Wasser aus dem Oberlauf. Daher war es nicht möglich, eine verlässliche Vereinbarung mit ihm zu treffen, um ohne Drama von einem Ufer ans andere zu gelangen.

Ninive hatte jedoch kein Auge für das Panorama und die urtümliche Landschaft, die sich unter ihr erstreckte. Ihre Aufmerksamkeit galt einer seltsamen Schleifspur, die sich von den fernen Seen bis hinauf in die Hochebene zog und aussah, als hätte jemand einen großen Schlitten durch das Marschland gezogen. Allerdings schien ihr Verursacher in den Hügeln die Orientierung verloren zu haben, denn die Spur verlief in Kurven und Schleifen ziellos durchs Tal, ehe sie hinter der südlichen Bergflanke verschwand.

Ninive wusste, was im Hochland umherstreifte. Etwas, das derartige Abdrücke hinterließ, gehörte zweifellos nicht dazu. Weit konnte der ominöse Eindringling jedoch nicht entfernt sein, denn als die den Hügel vor wenigen Stunden in entgegengesetzter Richtung erklommen hatte, war von den Furchen noch nichts zu sehen gewesen.

Ninive öffnete die Verschlüsse der Spanngurte, woraufhin das Felleisen auf ihrem Rücken ungeduldig hin und her zu rutschen begann.

»Okay, kurze Pause«, sagte sie. »Ich brauche das Fernglas.«

Der Rucksack löste sich von Ninives Schultern und kletterte an ihren Beinen flink hinab auf den Boden. Dort beugte er sich vornüber und entleerte seinen Inhalt ins Gras

»Blieb in der Nähe, Pagg«, rief sie ihm nach, als er davonkroch. »Ich will nicht wieder den halben Berg nach dir absuchen.«

Hektisches Klicken und Klackern, dann war der Rucksack auch schon im sturmgepeitschten Buschwerk verschwunden.

Ninive verzog die Mundwinkel. In nicht einmal fünf Minuten würden die äußeren Reize seine Erinnerung verschwimmen lassen, und bald darauf würde er vergessen haben, wer Ninive überhaupt war. Der alte Flodd war nicht der Einzige mit gravierenden Erinnerungslücken. Viele Beseelte hatten Probleme mit dem Kurzzeitgedächtnis oder – in Ermangelung eines natürlichen Gehirns – mit dem Denken an sich ... Ninive würde den Rucksack also wohl oder übel suchen müssen, so wie immer. Nicht selten erwartete sie dabei noch eine unangenehme Überraschung, denn er liebte es, zu sammeln. Oft fand sie ihn voller fleischfressender Pflanzen, giftiger Grundschleicher, stinkender Käfer oder noch seltsamerer Dinge wieder. Manchmal kam es sogar vor, dass sie ihn sich mit dem ganzen Kriechgetier gedankenverloren wieder aufsetzte ...

Nachdem Ninive eine windgeschützte Stelle gefunden hatte, legte sie sich ins Gras und suchte das Flussufer und die tiefer gelegenen Hänge mit dem Fernglas ab. An der Flanke der gegenüberliegenden Hügelkette graste eine Herde Makula-Tiere. Jedes von ihnen hatte sechs spindeldürre Metallbeine und ein riesiges, langsam in seinem Körper rotierendes Zahnrad, das ihm wie ein Drachenkamm aus dem Rücken ragte. Ihre Vergaser stießen in regelmäßigen Abständen kleine Rauchwolken aus, die in der Höhe zu einem nach Maschinenöl und heißem Metall stinkenden Dunstschleier verschmolzen. Mit ihren nagelgespickten, wie Fresswalzen rotierenden Kiefertrommeln weideten sie den Talgrund ab und hinterließen dabei meterbreite Schneisen im Gras. Diese ähnelten jedoch in keiner Weise der geheimnisvollen Schleifspur, die kreuz und quer durch das Hochland führte.

Um Ninive herum wurde es plötzlich eine Nuance dunkler, fast so als hätte sich eine Wolke vor die Sonne geschoben. Sie setzte das Fernglas ab, um einen Blick in den Himmel zu werfen, und nahm aus dem Augenwinkel heraus einen mächtigen Schatten neben sich wahr. Im Liegen wirbelte sie herum, ihre abwehrend emporgestreckten Hände trafen auf etwas Kaltes, Metallisches. Innerhalb eines Wimpernschlages erstarrte das, was sich ihr lautlos bis auf eine Armlänge genähert hatte, und rührte sich nicht mehr. Dennoch beeilte sie sich, rückwärts von dem regungslosen Ungetüm fortzukriechen. Als der erste Schreck sich gelegt hatte, stieß Ninive die angehaltene Luft aus und erhob sich. Dann ging sie neugierig um das fremde Ding herum und betrachtete es von allen Seiten. Es war kein verirrtes Makula-Tier, so viel war sicher, aber auch keines der anderen Hochlandgeschöpfe. Zwar sah es nicht besonders gefährlich aus, doch allein seine Monstrosität machte es zu einer Bedrohung.

Das seltsame Ding war gut zwanzig Fuß lang und hatte einen gedrungenen zylinderförmigen Körper mit einem turmartigen Aufbau, der an einen geschlossenen Kamin erinnerte. Vom Boden bis zu seiner Spitze waren es gut neun oder zehn Fuß. Womöglich hatte es einst als Brennofen gedient oder als Tank für Gase oder Flüssigkeiten. Aber das musste lange her sein, denn die ehemals wohl leuchtend rote Farbe hatte sich in eine nahezu schwarze, von teils faustgroßen Rostblasen entstellte Kruste verwandelt. Der tonnenartige Körper bestand fast vollständig aus Metall, lediglich das vordere Ende war aus dickem, transparentem Kunststoff gefertigt und erinnerte an ein riesiges Bullauge. Ninive beugte sich hinab und versuchte, einen Blick ins Innere zu werfen, doch die Oberfläche war zu zerkratzt, um dahinter etwas erkennen zu können. Statt auf Beinen stand das Ungetüm auf zwei langen, dicken Kufen, welche just jene Art von Furchen im Boden zurückließen, die sich durch das Tal zogen. Irgendetwas an dem Koloss kam Ninive vertraut vor. Sie hatte etwas Derartiges schon einmal gesehen, aber ihr wollte nicht einfallen, wann und wo.

Unentschlossen kaute sie auf ihrer Unterlippe, dann trat sie heran und legte eine Handfläche an den riesigen Körper. Als das Metall unter ihren Fingen zu erzittern begann, brachte sie rasch ein paar Meter Abstand zwischen sich und das Ungetüm, hoffend, dass es sich nicht ausgerechnet von Menschen ernährte oder mit giftigen Pfeilen schoss.

Der reanimierte Metallkoloss schüttelte sich träge und schien sich umzusehen, als müsse er sich orientieren. Dann begann er auf seinen Kufen über den Boden zu robben wie eine riesige, fette Insektenlarve, wobei er sich von Ninive fortbewegte. Etwa zwanzig Schritte entfernt verharrte er schließlich. Ninive hoffte, dass er aus Respekt auf Distanz gegangen war und nicht, um Anlauf für einen Angriff zu nehmen. Womöglich war er aus einem fernen Land eingewandert, nachdem er für seinen einstigen Besitzer nutzlos geworden war. Allerdings schien er mit seiner gewonnenen Freiheit nicht viel anfangen zu können. Blieb die Frage, ob es Anhänglichkeit oder Einsamkeit war, die ihn dazu getrieben hatte, ihre Nähe zu suchen – oder der Hunger auf Menschenfleisch.

»Kannst du sprechen?«, rief sie, als das Ungetüm sich längere Zeit nicht geregt hatte.

»Sprechen«, wiederholte es mit monotoner, blecherner Stimme. Ninive konnte nicht erkennen, wie es die Worte erzeugte und woher sie kamen. Es wippte mit seiner Bullaugenschnauze ein paarmal auf und ab, dann fragte es: »Genetrix?«

Ninive blinzelte den Metallkoloss irritiert an. »Was?«

Zu ihrer Verwunderung robbte er nun langsam heran, bis er nur noch zehn Schritte von ihr entfernt war. »Genetrix?«, wiederholte das Ungetüm, wobei Ninive das Gefühl hatte, es starre sie an.

»Bist du hungrig?«, fragte sie.

Ihr massiges Gegenüber schwieg einen Moment, als müsse es scharf nachdenken, dann fragte es erneut: »Genetrix?«

»Du lieber Himmel ...« Ninive ließ ihren Blick über die Landschaft schweifen, doch nirgendwo war ein weiterer dieser Apparate zu sehen. Der niedrige Sonnenstand bewog sie schließlich dazu, den Rucksack einzusammeln und sich auf den Heimweg zu machen. Das Ungetüm schien ein zwar bizarrer, aber harmloser Eindringling zu sein, bei dessen Beseelung offenbar etwas gehörig schiefgelaufen war. Sobald Ninive sich ihm näherte, robbte es rückwärts von ihr fort. Blieb sie stehen, hielt es ebenfalls inne, doch kaum wandte sie sich ab, um ihren Marsch fortzusetzen, machte es kehrt und folgte ihr wieder. Erst nachdem sie die Tiefebene erreicht hatte, ließ es sich langsam zurückfallen. Als sie sich ein letztes Mal umsah, war zu ihrer Verwunderung weit und breit nichts mehr von ihm zu sehen.

| 2 |

Ninives Domizil stand im Zentrum eines kleinen Laubwaldes, der das gesamte Anwesen wie ein natürlicher Schutzwall umschloss. Einst war es kaum mehr gewesen als eine leere Ruine, ein hohler, dreistöckiger Granitquader mit toten Fenstern und zwei Rundtürmen, die von moosbewachsenen Kegeldächern gekrönt wurden. Es hatte Jahre gedauert, bis das halb verfallene Herrenhaus sich unter ihrer Ägide wieder in eine bewohnbare Bleibe verwandelt hatte, und Jahrzehnte, bis Ninive jene Behaglichkeit geschaffen hatte, die es für sie bis heute zu erhalten galt.

Noch bevor sie den gepflasterten Weg durch den Garten erreicht hatte, öffnete sich die Haustür, und Luxas ewiges Licht erschien im Eingang.

»Willkommen zu Hause, Ivi!«, begrüßte Clogger sie, nachdem Luxa die Tür hinter ihr geschlossen hatte. »Wir schreiben Tag 154 im Jahr 23.911 des ewigen Kalenders. Die Lufttemperatur beträgt 18,2 Grad Celsius, es geht ein leichter Nordostwind, und die Strahlung betrug bei Sonnenaufgang 3398,2 Thon.«

»Danke, meine Gute.«

»Stets zu Diensten!« Clogger vollführte eine halbe Pirouette und begann über den Flur zu taumeln. Seit Jahren haderte Ninive mit sich, ob es nicht ein Fehler gewesen sein mochte, sie zu beseelen. Eine Standuhr war eindeutig nicht zum Laufen konstruiert. Mit gemischten Gefühlen beobachtete Ninive, wie Clogger auf ihren vier winzigen Holzbeinen vor ihr hertrippelte. Ständig musste sie dabei das Bedürfnis unterdrücken, nach vorne zu springen und sie aufzufangen, so sehr schwankte sie hin und her.

»Ist etwas Besonderes passiert, während ich weg war?«, fragte Ninive.

»Keine Vorkommnisse der Kategorie 1«, antwortete Luxa, eine ehrwürdige Stehlampe, die sich auf ihrem Bronzefuß nur hüpfend fortbewegen konnte. »Es gab wieder einige Lichterscheinungen auf der Mauer. Clogger glaubt, sie stammen von Kristallen, die das Sonnenlicht reflektieren. Ein Feder-Dool hat sich gestern im Keller eingenistet, und Guss glaubt, heute Morgen einen Schwarm Feuerasseln gesehen zu haben.«

»Es waren Zikaden, keine Asseln!«, rief Guss aus dem Kaminzimmer. »Zikaden!«

»Na, meinetwegen«, murmelte Luxa und stellte sich in ihre Ecke.

Clogger nahm die Kurve zur Küche so rasant, dass sie für einen Moment in bedrohliche Schräglage geriet. Ninive hielt schützend die Arme auf, doch da hatte die Standuhr sich bereits wieder gefangen. Irgendwann, so befürchtete die Wandlerin, würde sie das Gleichgewicht verlieren und umkippen.

»Wo Feuerzikaden schwärmen, ist der Sommer nicht fern«, erklang hinter ihr die brummige Stimme von Guss. »Alte Heizerweisheit.« Er kam rasselnd und klappernd auf sie zugewatschelt, wobei er eine Spur aus Ruß auf dem Flurboden zurückließ.

»Du sollst doch dein Rohr nicht aus dem Kamin ziehen!«, tadelte Ninive den Ofen. »Ständig muss Wipp deinen Schmutz aufkehren.«

»Wipp ist krank«, rief Luxa. »Hatte ich vergessen zu sagen, entschuldige.«

Ninive verdrehte die Augen. Kaum war sie zwei Tage aus dem Haus, spielte das gesamte Inventar verrückt.

Guss, Luxa, Clogger und der übrige von ihr beseelte Hausrat hatten zu jenen Relikten gehört, auf die sie während der Restaurierung der von Wind, Wetter und dem Zahn der Zeit in Mitleidenschaft gezogenen Hausruine gestoßen war. Von ihrer Hand beseelt, hatten sie einen nicht unwesentlichen Anteil daran gehabt, dass das Gebäude wieder zu dem wurde, was es einmal gewesen war. Danach hatte Ninive es nicht übers Herz gebracht, das lieb und vertraut gewordene Inventar wieder zu entseelen. Und heute wusste sie nicht einmal mehr, wie viele Jahre genau verstrichen waren, seit sie sich entschieden hatte, das Herrenhaus zu ihrem neuen Heim zu machen.

»Ich bin hungrig, Ivi«, klagte Guss und klapperte mit seiner Heizluke. »Füttere mich!«

»Wir haben keine Kollektorkerne mehr im Haus«, entgegnete Ninive. »Es gab in den vergangenen Wochen kaum Gewitter.«

»Vielleicht hat ein anderer Wandler die Wolken versklavt«, überlegte Clogger laut. »Und lässt sie nun ausschließlich für sich arbeiten.«

Ninive schüttelte müde den Kopf. »Die Blitzsammler sind so gut wie leer.«

»Besser wenig Brennstoff als gar keiner«, argumentierte Guss.

»Na schön«, seufzte die Wandlerin. »Ich gehe morgen früh auf den Berg und bringe mit, was die Kollektoren gesammelt haben.«

»Versprochen?«

»Versprochen.« Ninive ließ den Rucksack abspringen und massierte sich die schmerzenden Schultern.

»Vortrefflich, vortrefflich!« Guss machte kehrt und watschelte zufrieden zurück ins Kaminzimmer. Auf der Türschwelle blieb er jedoch noch einmal stehen und rief: »Du solltest ihre Erdungsanker lichten, Ivi. Dann kommen sie vielleicht von selbst runter, sobald sie voll sind.«

Ninive winkte ab. »Das habe ich bereits vor Jahrzehnten versucht«, erklärte sie. »Aber kaum hatte der erste Blitz eingeschlagen, lagen alle Kollektoren tot im Gras. Es hatte mich viel Zeit gekostet, für Ersatz zu sorgen.«

»Oh«, machte Guss. »Das ist bedauerlich.« Er schwieg für einen Moment, dann sagte er: »Na ja, ist vielleicht auch besser so. Wer weiß, was die Sippe dort oben alles anstellen würde, sobald es dunkel ist?« Damit wandte er sich ab und watschelte weiter.

»Sie würden das Weite suchen«, antwortete Ninive, ohne Wert darauf zu legen, dass Guss sie hörte. »Noch vor dem ersten Gewitter wären sie über alle Berge. Wie geht es unseren Brass-Nymphen?«

»Tot«, antwortete Clogger. »Alle tot. Möchtest du einen Tee?«

»Was?«

»Tee«, wiederholte die Uhr. »Wir haben Feldwiesel, Hagebutte, Pantoffel, Redalza ...«

»Sei still!«, schnitt Ninive ihr das Wort ab. »Vorgestern waren die Nymphen noch gesund und munter. Wieso sind sie heute tot? Wie konnte das passieren?«

»Balthazaar hat sie aufgegessen«, erklärte Luxa, während sie um die Ecke geschlichen kam. »Er hat sie zerkaut, runtergeschluckt und verdaut. Darum sind sie jetzt tot. Das ist eine simple Kausalkette.«

Ninive schloss die Augen und massierte ihre Lider. Von alten Wandlern hatte sie Geschichten darüber gehört, wie verfressen die unbeseelten Tiere der alten Welt gewesen wären, doch nie hätte sie für möglich gehalten, welchen Appetit beseelte Kammerjäger hatten.

»Apropos Essen: Du hast Besuch.« Clogger deutete mit allen Zeigern zur Tür des Gesellschaftszimmers. »Er wartet im Salon.«

»Und das fällt dir erst jetzt ein?«, wunderte sich Ninive. »Wann ist er gekommen?«

»Kurz nachdem du ins Hochland aufgebrochen bist.« Luxa beleuchtete verlegen die Holzdecke.

»Ihr beiden lasst ihn hier seit zwei Tagen warten?«

»Aus den Augen, aus dem Sinn«, entschuldigte sich Clogger. »Verzeih unsere Vergesslichkeit.«

»Ich glaube nicht, dass es ihm etwas ausmacht zu warten«, fügte Luxa hinzu. »So wie er aussieht, hat er alle Zeit der Welt.«

»Keine Ahnung, ob er überhaupt noch da ist«, gestand Clogger. »Vielleicht ist er bereits wieder gegangen ...«

»Wieso habt ihr ihn überhaupt reingelassen, wenn ich nicht da bin?« Ninive sah in die Runde.

»Ich wollte ihn aussperren, aber er hat mich gar nicht benutzt«, verteidigte sich die Tür.

Die Wandlerin blickte vorwurfsvoll zum Südfenster.

»Und ich war zu!«, rechtfertigte sich dieses. »Die ganze Zeit.«

Ninive sah verwundert von einem zum anderen. »Wie ist er dann reingekommen?«

»Durch die Wand«, erklärte Clogger.

»Ehe wir uns versahen, war er durchgeschlüpft, genau dort!« Luxa beleuchtete die Stelle zwischen Fenster und Eingangstür.

»Na, großartig.« Ninive fuhr sich mit der Hand müde über das Gesicht. »Habt ihr ihn wenigstens verköstigt?«

»Das ist nicht unser Ressort«, wich Clogger aus. »Geh und frag das Essen. Es ist entweder im Garten oder im Kühlschrank. Ich glaube allerdings nicht, dass es bei ihm war.«

Ninive setzte zu einer weiteren Strafpredigt an, winkte stattdessen jedoch resignierend ab und lief in Richtung Salon. Egal ob klein oder groß, metallen oder hölzern, fest oder flüssig: Die größte Unzulänglichkeit aller beseelten Dinge war zweifellos ihr miserables Gedächtnis. Bereits seit Jahrhunderten zerbrachen sich die ältesten Wandler den Kopf darüber, wie das Problem gelöst werden könnte – und seit ebenso vielen Jahrhunderten scheiterten sie daran.

Vor der geschlossenen Tür zum Gästezimmer blieb Ninive noch einmal stehen und fragte: »Hat unser Besuch einen Namen?«

»Hat er uns nicht verraten«, rief Guss. »Aber er sieht ziemlich schräg aus.«

»Groß, schwarze Kutte, der reinste Finsterling«, bestätigte Clogger.

»Und bewaffnet ist er«, warnte Luxa. »Also sieh dich vor!«

Ninive bedachte die beiden mit einem tadelnden Blick, dann drückte sie die Klinke nieder und betrat den Raum.

| 3 |

Im Salon sah kaum noch etwas so aus, wie Ninive es in Erinnerung hatte. Wenige Schritte hinter der Tür torkelte ein halbierter Esstisch über das Parkett und bemühte sich, auf seinen zwei verbliebenen Beinen die Balance zu halten. Der meterhohe Spiegel, normalerweise an der gegenüberliegenden Wand zwischen zwei Wandlüstern angebracht, stand – von sieben Ohrensesseln gestützt – in der Mitte des Zimmers. Die riesige Speisetafel, welche gewöhnlich die Mitte des Raumes für sich einnahm, hing kopfüber von der Decke und tat bei Ninives Eintreten so, als hätte sie mit der ganzen Sache unter ihr nichts zu tun. Im achten Sessel saß Ninives Besucher und spielte mit seinem Spiegelbild Schach. Seine Sense hatte er zusammen mit einem großen Stundenglas an den Wandhalter gehängt.

»Cutter!«, rief die Wandlerin verdutzt. »Was machst du denn hier?«

Die schwarze Gestalt im Sessel ließ sich durch Ninives Eintreten nicht aus der Ruhe bringen. »Hallo, Ivi«, begrüßte sie stattdessen Cutters Spiegelbild, das gerade nicht am Zug zu sein schien. »Willkommen daheim. Schön, dich wohlauf zu sehen. Wir mussten den Schachtisch leider in zwei Hälften hacken, sonst hätte er nicht bündig an den Spiegel gepasst. Ich hoffe, das bereitet keine zu großen Umstände. Falls doch, wird mein Alter Ego sich selbstverständlich um die Reparatur kümmern.«

»Nimm nicht so ernst, was er sagt«, vernahm sie leise die Stimme der realen Cutter-Version. »Dieser Nachtgeck glaubt nach wie vor, er sei das Original und ich seine Spiegelung.«

»Daran gibt es auch nicht den geringsten Zweifel«, bemerkte sein Ebenbild. »Eines meiner zahllosen Spiegelbilder kam vor langer Zeit auf die glorreiche Idee, die Positionen zu tauschen, um das Original erfahren zu lassen, wie es sich anfühlt, eine Reflexion zu sein und umgekehrt. Das ging ein paar Jahrtausende hin und her, und heute weiß keiner mehr, wer eigentlich das Original ist.«

»Oder es einmal war ...«, fügte der diesseitige Cutter hinzu. Dann beugte er sich ein Stück vor und wechselte mit einem seiner Läufer auf ein gegnerisches Feld hinter dem Spiegel. »Schach!«, verkündete er.

»Zefix!«, brummte seine Reflexion. »Ich war abgelenkt.« Sie starrte auf das Spielbrett, dann bewegte sie ihren Springer und sagte: »Patt!«

»Ach, zum Geier ...« Cutter wandte sich zu Ninive um. »Willst du wissen, was mir die Gewissheit gibt, das Original zu sein?« Er wandte sich den Ohrensesseln zu und sagte: »Um dreißig Grad neigen!«

Die Sessel kippten den Spiegel ein Stück nach hinten, woraufhin Cutters Spiegelbild mit einem Laut der Überraschung rückwärts aus dem Sichtfeld rutschte. Sekunden später erklang lautes Krachen und Poltern.

»Schachmatt!«, rief Cutter.

»Arschloch!«, kam es aus den Tiefen des Spiegels zurück.

»Tut mir leid«, meldete Ninive sich zu Wort, während die Sessel sich anschickten, den Spiegel zurück an seinen Platz zu tragen. »Ich wollte euch nicht das Spiel verderben.«

»Das ist dein Heim, schon vergessen?« Cutter wandte sich zu ihr um. »Du bist die Hausherrin, ich der Gast. Zudem war das jetzt schon das neunzehnte Remis. Irgendwann muss Schluss sein.«

»Wartest du schon lange?«

»Einen Wimpernschlag. Nicht der Rede wert.«

Ninive wusste nie genau, ob Cutter sie ansah, die Spinnen an der Decke zählte oder womöglich sogar schlief. Unter der Kapuze waberte nur Dunkelheit, finsterer als das Schwarz seiner Kutte. Dennoch war es mehr als nur eine Ahnung, dass sein Blick in diesem Moment auf ihr ruhte.

»Schön, dass du mal wieder vorbeischaust«, sagte sie. »Woher kommst du?«

»Aus dem Obertal.«

»Du warst hinter der Mauer?« Ninive setzte sich vor ihm auf die Tischkante. »Erzähl, wie sieht es dort aus?«

Cutter zuckte mit den Schultern. »Eigentlich genauso wie hier.«

»Und?«, hakte Ninive nach, als er nichts mehr hinzufügte.

»Ich habe dir bereits mehr verraten, als ich dürfte.«

»Ach bitte, Cutter! Du kannst mir nicht den Mund wässrig machen und dann kein Sterbenswort mehr sagen.«

»Ich habe die Gesetze nicht geschrieben, kleine Wandlerin. Wäre es im Sinne der Erbauer gewesen, euch Zugang zu gewähren, hätten sie die Passagen für Menschen geschaffen und nicht für die Elemente.«

»Passagen?«, staunte Ninive. »Es gibt Wege durch die Mauer?«

»Aber ja«, bestätigte Cutter. »Vier, um genau zu sein. Doch sie sind gefährlich. Selbst freihändig über die Krone zu klettern wäre für einen Menschen wie dich sicherer. Zudem liegen sie in fast vier Kilometern Höhe. Also verschwende besser keinen weiteren Gedanken daran, sie zu benutzen.«

»Hat denn noch niemand versucht, die Mauer in einem Ballon zu überfliegen?«

»Doch, aber keiner von ihnen hat dieses Abenteuer überlebt. Die Fallwinde aus den Bergen sind zu stark und verursachen mächtige Wirbel und Turbulenzen. Sie treiben selbst die Sturmvögel von der Mauerkrone weg.«

»Könntest du mich denn nicht mal ins Obertal mitnehmen?«

»Könnte ich«, nickte Cutter. »Aber dazu müsstest du tot sein.«

Ninive erhob sich und strich mit den Fingern durchs Haar. »Niemand weiß, was an den Legenden wahr ist und was nicht«, klagte sie.

»Ich schon – aber ich darf nicht darüber sprechen.«

»Wer sagt das?«

»Darüber darf ich ebenfalls nicht sprechen.«

Ninive faltete beschwörend die Hände vor der Brust. »Könntest du freundlicherweise auch mal eine Frage ohne Wenn und Aber beantworten?«

»Natürlich, Ivi – sofern du die richtigen Fragen stellst.« Cutter beugte sich ein Stück vor und fragte verschwörerisch: »Hast du denn noch nie versucht, die Bannmauer zu beseelen?«

»Doch« gestand sie. »Aber sie ist viel zu groß für eine einzige Wandlerin. Lediglich zwei Mauerblöcke waren damals zum Leben erwacht.«

»Und?«

Ninive zuckte mit den Schultern. »Sonderlich begeistert waren sie nicht gewesen. Der eine hatte seine Lage im Fuß der Mauer als äußerst bedrückend empfunden, der andere hat sich am Genörgel seines Nachbarn gestört. Am Ende haben die beiden begonnen, sich zu streiten. Ich hab mich dann verdrückt.«

Ninive bildete sich ein, unter Cutters Kapuze ein amüsiertes Grinsen zu erkennen. Zweifellos ein Trugbild, dann nach wie vor waberte dort nur Schwärze.

»Kann ich dir irgendetwas anbieten?«, fragte sie, um das Thema zu wechseln.

»In Anbetracht der Tatsache, dass ich keinen physischen Gaumenfreuden zu frönen vermag, erübrigt sich diese Frage. Falls du allerdings noch einen Eimer von diesem köstlichen gelöschten Kalk mit einem Schuss Essig im Haus hast, wäre ich nicht abgeneigt.«

Ninive wandte sich zur Tür um, blieb jedoch noch einmal stehen und fragte: »Muss ich mir Sorgen machen?«

»Wie meinst du das?«

»Sei mir nicht böse, ich freue mich wirklich über deine Besuche«, bemühte sie sich um eine diplomatische Erklärung. »Aber jedes Mal, wenn du hier auftauchst, geschieht irgendein Unglück.«

»Nun, ich halte die Umschreibung ›geschieht etwas Bedeutendes‹ für weitaus adäquater.«

»Was wird diesmal passieren?«

»Das weiß ich nicht, Ivi. Ich bin nicht der Agitator, sondern folge nur morphogenetischen Feldern und Schicksalsmeridianen.«

»Das hast du beim letzten Mal auch gesagt«, erinnerte sich Ninive. »Und dann war dieser riesige Eisenwaldfräser aufgetaucht und hat das halbe Hochland geschreddert.«

»Ja, das war lustig ...«

»Ach ja?«

»Tut mir leid, Ivi. Berufsethos.«

| 4 |

Während Ninive grübelnd über die Flure lief, riss ein Poltern an der Haustür sie aus ihren Gedanken. »Lass nur, ich gehe selbst«, sagte sie zu Clogger, die sich bereits auf den Weg gemacht hatte.

»Könnte sein, dass wir Wipp versehentlich ausgesperrt haben«, rief Luxa.

Ninive schritt zum Eingang, zog die Tür auf – und starrte in das riesige Frontbullauge des Metallungetüms aus den Hügeln. »Genetrix?«, fragte es. Seine Stimme klang, als würde ein riesiger Gong sprechen.

Erschrocken warf Ninive die Tür wieder zu und lehnte sich mit dem Rücken dagegen.

»Alles in Ordnung, Ivi?«, erkundigte sich Clogger, die sich bis auf wenige Schritte herangeschlichen hatte. »Dein Gesichtsausdruck befremdet mich.«

»Äh ... ja, klar, alles bestens!«

»Wer war es?«

»Ach, niemand.« Ninive quälte sich zu einem schiefen Grinsen. »Ich meine, nichts. Und niemand. Also keiner.«

Die Standuhr schwieg einen Moment. »Na ja, wahrscheinlich wieder einer dieser verzogenen Bälger aus dem Geräteschuppen«, brummte sie und machte wieder kehrt.

»Ja, das wird es wohl gewesen sein ...«

Mit flauen Knien wartete Ninive, bis Clogger außer Sichtweite war, dann zog sie einen Hocker herbei, stellte sie sich auf Zehenspitzen darauf und blickte durch den kleinen Lichtgaden, der über der Tür ins Mauerwerk eingelassen war. Als sie sah, dass der rote Koloss sich langsam rückwärts vom Eingang entfernte, atmete sie erleichtert auf. Gleichzeitig hoffte sie, dass ausgerechnet jetzt niemand aus dem Inventar auf die Idee kam, einen Blick durchs Fenster zu werfen – und Wipp, falls er tatsächlich ausgesperrt worden war, nicht panisch Alarm schlug. Minutenlang lauschte sie nach verdächtigen Geräuschen, doch draußen blieb alles still. Als sie die Tür einen Spaltbreit aufzog und hinausspähte, war von dem Metallungetüm weit und breit nichts mehr zu sehen. Insgeheim hoffte Ninive, dass dessen Auftauchen und Cutters Besuch in keinem Zusammenhang standen. Es wäre fatal, wenn dasselbe morphische Feld, dem Cutter gefolgt war, auch das Hochlandtier hierher gelockt hätte.

Betont gelassen schlich sie an Luxa und Clogger vorbei in die Küche und schloss die Tür. Ihre Hände zitterten, Schweiß stand ihr auf der Stirn. Sie warf einen Blick aus dem Fenster, konnte den roten Koloss jedoch nirgendwo erspähen. Dennoch fühlte sie, dass er noch irgendwo dort draußen herumlungerte, wahrscheinlich auf der gegenüberliegenden Seite des Hauses oder irgendwo im nahen Wald. Grübelnd füllte Ninive Kalk in einen Blecheimer, wobei ihr Blick immer wieder zum Fenster wanderte.

»Hast du einen Schleifstein?«, erklang hinter ihrem Rücken eine Stimme, während sie Wasser in die Waschwanne pumpte.

Ninive fuhr mit einem Aufschrei herum und schleuderte ein Fleischermesser in Richtung der Küchentür. Es schoss durch den Eindringling hindurch und blieb federnd im Türrahmen stecken. »Verdammt, Cutter!«, stöhnte sie. »Kannst du nicht ganz normal durchs Haus laufen und an die Tür klopfen, bevor du den Raum betrittst?«

»Wozu ein Ereignis künstlich verzögern, das kurz darauf ohnehin passiert?«, fragte dieser. »Ihr Menschen verschwendet viel zu viel Zeit mit aufgeblasenen Bräuchen und lasst euch von sinnlosen Gepflogenheiten die Lebenszeit rauben.«

»Es ist eine Sache der Höflichkeit und Diskretion«, erklärte Ninive und ließ sich auf einen Stuhl sinken.

Cutter neigte sein Kapuzenhaupt. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er. »Du siehst so tot aus.«

»Bitte?«

»So bleich, meinte ich. Bleich. Freud’scher Versprecher. Das Amt, du weißt schon. Ich bin nur ein Opfer der Umstände, so wie jeder von uns.« Und murmelnd fügte er hinzu: »Wahrlich ein Jammer, dass die ganze Welt kopfsteht.«

Ninive hielt mit Rühren inne. »Wie meinst du das?«

»Ich vermisse die Sterblichkeit, Ivi.« Cutter begann hinter ihr auf und ab zu wandeln. »Damals, als es noch Städte gab, waren die Gesetze des Lebens in Stein gemeißelt. Menschen wurden geboren, Menschen starben – ein großartiges Zeitalter! Damals glaubten alle auch noch an etwas, das sie Dunkle Materie nannten. Sie hielten es für eine geheimnisvolle, unsichtbare Kraft, die das Universum zusammenhält. Umso erstaunter waren sie, als sie herausfanden, was wirklich dafür verantwortlich ist ...«

»Was war passiert?«

»Sie hatten begonnen, damit herumzuexperimentieren, wie immer, wenn sie etwas Neues entdeckt hatten. Wohin das geführt hat, siehst du, wenn du aus dem Fenster schaust.«

Ninive warf einen fragenden Blick zu Cutter, dann zog sie die Gardinen beiseite und sah nach draußen. Vor dem Haus weidete eine Herde Rothenkel-Kaffeemaschinen. Thermoskannen, und Eintagsautomaten hatten sich unter sie gemischt und stellten den paarungsreifen Weibchen nach. Ninive konnte beim besten Willen nichts Besonderes entdecken. Der Himmel war oben, die Welt unten, dazwischen schwebten Wolken, Dampfgeister und Telos-Feldlinien. Alles sah aus wie immer – bis unvermittelt ein massiger, mit Nieten beschlagener Metallhöcker am Fenster vorbeiglitt und Ninive erstarren ließ.

»Der eigentliche Plan war ja, dass alles gesichert und versiegelt sein sollte, bevor sie mit dem Zeug zu experimentieren begannen«, fuhr Cutter, der nichts von dem Geschehen bemerkt zu haben schien, in seinem Monolog fort. »Aber irgendwann muss irgendwo im Zeitwerk irgendetwas gewaltig schiefgegangen sein, woraufhin alles ein wenig durcheinandergeriet, und dann ... na ja. Gerüchte besagen, der ganze Schlamassel hätte etwas mit der Bannmauer zu tun, aber so genau weiß das niemand.«

Vor dem Haus begann das Ungetüm aus dem Hochland damit, Kaffeemaschinen und Eintagsautomaten umherzuscheuchen.

»Die Ironie daran ist, dass ich nichts dagegen unternehmen kann«, sprach Cutter zu der Wand, vor der er stehen geblieben war. »Das Problem existiert zwar, ist aber nicht lebendig, weshalb ich auf die Lebenden angewiesen bin. Statt euch das letzte Geleit zu geben, muss ich euch am Leben halten, ohne zu wissen, ob ich nicht selbst nur ein Teil dieser Groteske bin. Das ist ein Witz! Ich würde mich ja totlachen, wenn ich’s nicht selbst wäre.«

Ninive hievte den Eimer mit dem Kalkbrei aus der Wanne und stellte ihn mit einem gequälten Lächeln vor Cutter ab. Statt ihn jedoch zu nehmen, um seinen Inhalt auszulöffeln oder auszutrinken, hob ihr Besucher lediglich seine Kutte ein Stück an und stieg in den Behälter.

Es waren keine Füße, die Ninive dabei für einen kurzen Augenblick erkennen konnte, aber auch keine formlose Finsternis. Irgendwie war es von beidem etwas, wobei es unentwegt seine Form änderte und wieder zerfloss.

Ninive schloss die Augen, als ihr von dem Anblick schwindelig wurde, und schüttelte überfordert den Kopf. Entweder aß Cutter mit den Füßen, oder das, was Ninive an ihm bisher für unten gehalten hatte, war in Wirklichkeit oben.

»Ich verstehe nicht, wozu das gut sein soll«, gestand sie, als er begann, mit den Füßen im Kalk zu stampfen.

»Kosmetik.«

»Zeigst du mir, wie du wirklich aussiehst?«

»Das darf ich nicht, Ivi. Einzig jene, deren letzte Stunde geschlagen hat, können in mein wahres Angesicht blicken. Und glaub mir, den wenigsten gefällt, was sie dabei sehen.«

Für eine Weile lauschte Ninive den Geräuschen aus dem Garten, dann fragte sie: »Sag mal, hast du das Wort Genetrix schon einmal gehört?«

Cutter hielt für einen Moment inne. »Hm ... ja, aber das ist sehr lange her.«

»Ist das ein Name oder ein Ort?«

»Halichondria genetrix war eine Art Tier«, erklärte Cutter. »Aus dem Goldenen Zeitalter. Es lebte im Meer und verbrachte nahezu sein gesamtes Leben damit, an ein und derselben Stelle zu sitzen und Wasser zu strudeln.«

»Ach, ein Tier.« Ninive warf einen verstohlenen Blick aus dem Fenster. Ihr monströser Besucher robbte vor dem Haus auf und ab und war auf dem besten Wege, den Garten umzupflügen. »Wie sah so ein Genetrix-Tier denn aus?«

»Na ja, wie fast alle seiner Art: mehr breit als hoch und ziemlich unförmig, im Sommer rot oder gelb, im Winter grün, blau oder grau.«

»Hatte es Kufen?«

»Kufen? Nein, Poren und Röhren natürlich. Damit konnte es ...« Cutter schwieg einen Moment, dann fragte er verdutzt: »Wie kommst du denn auf Kufen?«

Ninive seufzte schwer. »Schau’s dir selbst an«, sagte sie und deutete aus dem Fenster.

Cutter stieg aus dem Eimer und trat lautlos heran. »Potztausend!«, staunte er, als er den unförmigen Apparat im Garten erblickte. »Wo kommt das denn her?«

»Hab’s im Hochland gefunden«, erklärte Ninive. »Ist mir nachgelaufen.«

»Das muss ich mir unbedingt näher ansehen.« Er machte einen Schritt vorwärts und war durch die Wand verschwunden.

»Oh, Cutter!«, rief Ninive genervt und rannte aus der Küche. Es gab Augenblicke, in denen sie nichts sehnlicher wünschte, als einige der Fähigkeiten ihres Besuchers zu teilen. Dann müsste sie nicht durchs halbe Haus rennen, um ihm zu folgen. Als sie im Garten ankam, war Cutter bereits dabei, das Metallungetüm eingehend zu inspizieren. So ganz geheuer schien diesem die Neugierde der schwarzen Gestalt jedoch nicht zu sein, denn es war bemüht, ihr beharrlich die Frontpartie zuzuwenden.

»Vielleicht ist sein Besitzer gestorben«, sagte Ninive. »Oder hat es ausgesetzt.«

»Gut möglich«, murmelte Cutter. »Vielleicht ist es aber auch einfach nur ausgebüxt.« Er schwieg einen Moment, dann fügte er hinzu: »Was allerdings bedeuten würde, dass wahrscheinlich jemand nach ihm sucht.«

»Möglicherweise kann man ja darauf reiten.«

»Reiten?! Ivi, das ist ein Urwelt-Vehikel! Die wurden nicht zum Reiten gebaut.«

»Du lieber Himmel!«, entfuhr es Clogger, der gemeinsam mit Luxa in der Haustür aufgetaucht war. »Ist das der neue Landschaftsarchitekt?«

Das Ungetüm richtete sich plötzlich auf, als hätte es eine Witterung aufgenommen. Sekundenlang stand es reglos auf der Stelle, dann wandte es sich um und robbte davon, über Ninives Beete hinweg geradewegs in den Wald. Das Krachen im Gehölz war noch zu hören, als es längst nicht mehr zu sehen war.

»Scheint, als habe es irgendeine Art von Signal empfangen«, staunte Cutter.

»Es hätte wenigstens außen herum kriechen können«, ärgerte sich Ninive beim Anblick der Schneise, die es durchs Unterholz gewalzt hatte.

Cutter blickte hinauf in den Abendhimmel. »Das ist wahrlich erstaunlich. Sollte nach so langer Zeit tatsächlich noch ...« Er ließ den Rest des Satzes offen.

»Nach so langer Zeit tatsächlich noch was?«, hakte Ninive nach.

»Ach, nichts«, winkte Cutter ab. »Nur so ein Gedanke.«

»Es hätte zumindest den Waldweg benutzen können«, ärgerte sich Clogger. »Andererseits produziert es gerade reichlich Brennholz für Guss.«

»Prächtig, prächtig!«, rief der Ofen, den der Radau ebenfalls an die Tür gelockt hatte. »Das lobe ich mir!«

Ninive lauschte dem leiser werdenden Bersten und Brechen. »Das sah fast so aus, als wäre es von irgendwoher gerufen worden«, murmelte sie.

»Funk«, sagte Guss. »Habe vor langer Zeit mal etwas darüber gelesen. Hat irgendwie mit Frequenzen zu tun. Wurde der alten Welt zum Reinigen von Schmelzöfen verwendet, war aber auch eine Methode, um Signale mit etwas zu übertragen, das sie Radiowellen nannten. Der Richtung nach, in die das Metallungeheuer sich bewegt, müsste diese Wellenmaschine irgendwo im Hochland stehen.«

Ninive sah auf die Bresche, dann machte sie auf dem Absatz kehrt und eilte zurück ins Haus. Als sie wieder vor die Tür trat, trug sie ihren Mantel und ihren Rucksack.

»Was hast du vor?«, fragte Cutter.

»Ich will wissen, warum dieses Ding es so eilig hat«, erklärte sie im Vorübergehen. »Und wohin es rennt.«

»Na, ob das eine kluge Idee ist, Ivi«, rief Clogger ihr nach.

»Ich habe das Recht zu erfahren, wem dieses Ungetüm gehört«, rief Ninive über ihre Schulter, während sie auf die in den Wald gewälzte Bresche zulief. »Und warum es sich hier herumtreibt! Niemand hat in meinem Land irgendwelche Signale zu senden, die nicht für mich bestimmt sind, oder Urwelt-Maschinen durch meinen Garten zu lenken, die nicht von mir beseelt wurden! Ich habe in den Hügeln sowieso noch etwas zu erledigen.«

| 5 |

Der Wald war lichter geworden. Im Schatten der Virolen und ihrer riesigen, rotbraunen Blätter tummelten sich Diodenfalter und Motordachse. Es würde nicht schwer sein, das Metallungetüm aufzuspüren. Ninive brauchte nur den Furchen im Boden zu folgen. Die Schneise, die der Metallkoloss geschlagen hatte, rief in ihr eine unschöne Erinnerung daran wach, wie vor Jahren ein hundertblättriger Elektrowälzer sein Unwesen in den Wäldern getrieben und dabei fast identische Spuren der Zerstörung hinterlassen hatte.

Innerhalb weniger Minuten hatte Ninive den Ringwald durchquert und freien Blick auf die Ebene, doch obwohl der Vorsprung des Ungetüms nicht groß gewesen sein konnte, war jenseits der Baumgrenze nichts mehr von ihm zu sehen. Die Richtung, in die seine Schleifspur führte, verhieß zudem nichts Gutes.

Um Ninive herum erstreckte sich Grassteppe, so weit das Auge reichte. Manchmal trieb der Wind die Wolken so tief über das Marschland, dass man glaubte, nur einen Arm in die Luft strecken zu müssen, um sie berühren zu können. Blickte man nach Südwesten, schien die Ebene an kein Ende zu gelangen. Wie die Dünung eines Meeres wogte das Gras bis zum Horizont und darüber hinaus, sporadisch überragt von schmalen Baumstreifen, die längst versiegte Wasserläufe säumten. Es gab so wenige Landmarken, dass man sich zu verirren drohte, sobald man nur ein paar Kilometer weit geradeaus lief, und genötigt war, auf Baumstümpfe zu klettern, um sich zu orientieren. Selbst die schwersten Schritte hinterließen in diesem grünen Ozean keine Abdrücke, denn das Gras federte stets zurück und stand wieder aufrecht wie zuvor.

Sich in den von Makula-Tieren abgeweideten Schneisen zu bewegen war die sicherste Methode, um die Ebenen zu durchstreifen. Die schwerfälligen Kolosse hatten ein untrügliches Gespür dafür, wo der Untergrund sicher war und wo nicht. Hier und da reckte ein Radpfaff sein Seerohr aus dem Gräsermeer. Obwohl die Tiere aufrecht stehend fast zwei Meter groß waren, vollbrachten sie es, die Ebenen nahezu ungesehen zu durchstreifen, den Kopf immer dicht über dem Boden und bereit, nach vorbeihuschenden Exoiden oder Kieswieseln zu schnappen. Letztere legten dicht unter der Oberfläche riesige Labyrinthe aus Erdröhren an, in die unvorsichtige Wanderer einsinken und sich den Fuß oder das Bein brechen konnten. Oder sie riskierten eine Blutvergiftung, falls die rostigen, scharfkantigen Überreste der einstigen Bewohner ihnen ins Fleisch schnitten. Unzählige kleiner Metallskelette ruhten unter der Oberfläche, meist nur bedeckt von einer Handbreit Erdreich oder knöchelhohem Gras. Kein vernünftiger Wanderer riskierte es daher, ohne festes Schuhwerk die Ebenen zu durchstreifen. Manche der Wieselhöhlen öffneten sich an den Hängen von Anhöhen und waren so geräumig, dass ein Mensch darin Zuflucht vor Stürmen oder Wolkenbrüchen finden konnte.

Das Marschland war wie ein kunstvoll gewirkter Teppich, doch es bestand nicht nur aus dem Grün der Gräser, sondern bildete hier und da weite, farbenprächtige Flächen aus violetten, gelben, roten und weißen Blüten. Zumeist war das Gras nur knöchel- bis hüfthoch, doch es gab Stellen, in denen es einem Menschen bis zur Brust reichte – und tückische Senken, in denen es meterhoch wuchs und seine gezahnten Ränder tief ins Fleisch schnitten, sobald man versuchte, sich daraus zu befreien. Ninive hatte Wanderer gesehen, die in einem dieser Grassümpfe versunken und nie wieder daraus aufgetaucht waren.

Wurde man von einem Wolkenbruch überrascht und wanderte dabei unbewusst durch ein überwuchertes Flusstal, konnte es gut sein, dass man plötzlich von einer Flutwelle mitgerissen wurde. Oder das Wasser strömte aus allen Richtungen herbei in die Senke, die man gerade durchwanderte, und ehe man sich versah, trieb man inmitten eines Sees. In den Sumpfflächen lungerte zudem Getier herum, auf das man nicht unbedingt treten sollte. Ninive beeilte sich daher, das Marschland zu durchqueren und höheres Terrain zu erreichen.

| 6 |

Als sie die Flussauen erreichte, hatte das Wetter umgeschlagen. Der Wind war abgeflaut, die Berge wolkenverhangen, und kalter Nebel kroch aus den Tälern des Hochlands. Noch ehe das Ufer in Sichtweite kam, erregte ein verdächtiges Glitzern Ninives Aufmerksamkeit und ließ sie ihren Schritt verlangsamen. Was sich ihr näherte, war einer von Flodds Landspähern, ein flüssiger, drei Meter langer Wassertentakel, der durch die Auen schlich und dabei das Licht reflektierte. Er umkreiste Ninive, dann kroch er davon, ohne sie weiter zu beachten. In einiger Entfernung schlängelten sich drei weitere Wasserschlangen durchs Gras, fast so als ob sie etwas suchten. Es war überaus ungewöhnlich, dass Flodd so viele Späher an Land schickte.

Am Flussufer angelangt, bestätigte sich, was Ninive befürchtet hatte: Die Schleifspur des Metallungetüms führte geradewegs in den Fluss und setzte sich am gegenüberliegenden Ufer fort. Von ihrem Verursacher war jedoch weiterhin nichts zu sehen. Dabei hatte er nicht den Anschein erweckt, sich bei Gefahr im Boden vergraben oder davonfliegen zu können. Ninive ließ ihren Blick über das Wasser schweifen. Falls sie Glück hatte, war Flodd so sehr mit der Betreuung seiner Landspäher beschäftigt, dass er sie gar nicht bemerkte. Vorsichtig setzte sie einen Fuß ins Wasser, dann watete sie so bedächtig wie möglich in den Fluss. Sie war jedoch keine zehn Schritte gelaufen, als sie plötzlich das Gefühl hatte, bis zur Hüfte in dickem Morast zu stecken.

»Lass mich los, Flodd!«, bat Ninive genervt.

»Damit du noch mehr von meinen kostbaren Schlamm aufwühlst?«, hielt das Wasser ihr vor. »Kommt gar nicht infrage. Jeder trampelt nur in mir rum, wäscht seinen Schmutz in mir ab, frisst meine Fische oder lässt irgendwelchen Krempel auf mir schwimmen. Ihr Landbewohner seid eine einzige Plage!«

Die Wasseroberfläche hob sich, als würde Flodd tief Luft holen, dann spuckte er Ninive in weitem Bogen zurück ans Ufer, wo sie im Regen einer Gischtfontäne unsanft ins Gras landete.

»Du bist schlimmer als der Styx!«, rief sie, als der Schauer sich gelegt hatte.

»Kenne ich nicht«, antwortete Flodd. »Interessiert mich nicht.«

Verärgert folgte Ninive dem Flusslauf bis zu einem lichten Galeriewald am Fuß der Hügel, wo sie eine der Kranpappeln beseelte, die das Ufer säumten. Nachdem sich deren erste Verwirrung über das neu gewonnene Bewusstsein gelegt hatte, begann diese in baumtypischer Gemächlichkeit die Umgebung zu bestaunen, ohne der Wandlerin am Flussufer Beachtung zu schenken.

Ninive verzog die Mundwinkel. Das wahrlich Frustrierende an der Gabe der Wandler war die Undankbarkeit der Beseelten, die traurige Erkenntnis, dass frisch beseelte Materie in dem Moment, in dem sie zu Bewusstsein kam, nichts für ihre Schöpfer übrig hatte. Zwar begriffen die meisten Tiere, Pflanzen und Dinge, was mit ihnen geschehen war, doch sie vermochten nicht zu erkennen, wem oder was sie dies zu verdanken hatten. Während die meisten Beseelten anfangs einfach nur verwundert, eingeschüchtert oder verwirrt waren, reagierten manche äußerst ungehalten, ja fast schon wütend angesichts ihres neuen Daseinszustandes. Andere hingegen waren dermaßen entsetzt, dass sie schreiend Reißaus nahmen oder sofort tot umfielen. Im Laufe der Jahrhunderte hatte Ninive gelernt, was bedenkenlos beseelt werden konnte und wovon sie besser die Finger ließ.

Zu den umgänglichen Gewächsen zählten Kranpappeln, denn sie verfügten über eine friedliebende, wenn auch etwas zu harmoniebedürftige Natur. Allerdings hatten sie ein Problem damit, etwas in ihrem näheren Umfeld wahrzunehmen, das sich mit ihnen nicht auf Augenhöhe befand. Am liebsten starrten Bäume beim Umherlaufen in den Himmel und achteten nur selten darauf, was unter ihnen geschah. Manchmal kam es daher vor, dass ein unvorsichtiger Wandler just von jenem Baum, den er Augenblicke zuvor beseelt hatte, zertrampelt wurde, als dieser mit seinen Wurzeln über ihn hinwegschritt. Um zu vermeiden, dass ihr das gleiche Schicksal widerfuhr, begann sie an der Pappel emporzuklettern, bevor diese ihre Wurzeln aus dem Erdreich gezogen hatte.

»Hinüber!«, befahl sie, als sie die Baumkrone erreicht hatte. »Auf die andere Seite.«

Die Pappel blieb am Ufer stehen, die Wurzelspitzen ins Wasser getaucht, und starrte in den Fluss. Offenbar irritierte die schimmernde, sich bewegende Oberfläche sie. Schließlich trat sie zaghaft hinein. Ein Baum ihrer Größe benötigte höchstens vier Schritte, bis er das gegenüberliegende Ufer erreicht hatte – doch so weit kam sie nicht. Ihre Bewegung stoppte so plötzlich, dass Ninive fast aus der Baumkrone geschleudert wurde. Mehrere Wassertentakel waren aus Flodd gewachsen und hatten sich um ihre Wurzeln umschlungen. Die Pappel bog sich hin und her, um sich aus der Umklammerung zu befreien, dann senkte sie ihre Krone und starrte ins Wasser, um herauszufinden, was sie festhielt.

»Zieh deine Dreckswurzeln aus mir raus!«, schnauzte Flodd den Baum an, wobei seine gesamte Oberfläche in weitem Umkreis vibrierte. »Ich bin kein Waschknecht! Raus, zack, zack!«

»Wirf mich!«, befahl Ninive, als die eingeschüchterte Pappel Anstalten unternahm, rückwärts zu laufen. »Wirf mich rüber, schnell!«

Während sie den Atem anhielt und sich an eine Astgabel klammerte, bog der Baum seine Krone zurück. Für einen Lidschlag wurde Ninive wie von einer riesigen Schleuder durch die Luft katapultiert. Land und Himmel wirbelten vor ihren Augen, dann schlug sie am anderen Ufer auf, rollte sich blitzartig zusammen, um die Wucht des Sturzes abzufangen, und schlitterte schließlich meterweit durchs Gras. Als die Bewegung endete, öffnete sie die Augen, starrte in den Himmel, atmete tief durch und murmelte schon beinahe flehend: »Warum tust du dir das eigentlich seit dreihundert Jahren an, Ivi ...?«

Nachdem sie ihren ramponierten Mantel begutachtet und die wenigen Blessuren versorgt hatte, marschierte sie zurück bis zu der Stelle, an der die Schleifspur des Genetrix-Tieres wieder aus dem Fluss führte. Dabei hielt sie gebührenden Abstand zum Ufer, um Flodd nicht noch mehr zu provozieren. Schließlich musste sie ihn ein weiteres Mal überqueren, um wieder nach Hause zu gelangen. Die nächste Überraschung erwartete sie, nachdem sie den Furchen im Boden ein paar Hundert Meter weit bis zum Fuß des Bergrückens gefolgt war, auf deren höchster Kuppe die Kollektoren ihren Frondienst verrichteten: Von einem Moment zum anderen endete die Schleifspur, als hätte das Metallungetüm sich in Luft aufgelöst. Irritiert sah Ninive sich um. Der plumpe Koloss konnte unmöglich fähig sein, sich in die Luft zu erheben und zu fliegen. Argwöhnisch blickte sie in den Wolkendunst. Hatte ihn etwas vom Boden gepflückt; etwas, das lautlos über ihr schwebte und weitaus größer war als er selbst?

Die tief hängenden Wolken waren so dicht, dass sie keine zehn Schritte weit zu blicken vermochte. Sie lauschte nach einem fernen Scharren oder dem Schlagen großer Schwingen, doch der Nebel schluckte alle Geräusche. Ratlos verweilte sie noch eine Weile am Hang, dann zog sie die Riemen ihres Rucksacks stramm und begann mit dem Aufstieg.

| 7 |

Der Hügel, auf dem das Sammler-Kollektiv arbeitete, gehörte zu den auffälligsten Landmarken des Hochlands. Alle umliegenden Berge überragend und auf drei Seiten von steilen Felswänden umgeben, führte der einzige sichere Aufstieg über einen schmalen, steilen Grat an seiner Südflanke. Auf halber Höhe zum Gipfel legte Ninive eine Verschnaufpause ein. Seit Jahren spielte sie bereits mit dem Gedanken, eine von Makula-Tieren getriebene Seilbahn zu errichten und zwei der Kreaturen zu Gondeln umzubauen. Dass es möglich war, sie zu domestizieren, wusste sie, doch für die Umgestaltung der Makulas benötigte sie die Hilfe eines Ingenieurs.