Au-pair in Paris - Noor van Haaften - E-Book

Au-pair in Paris E-Book

Noor van Haaften

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Beschreibung

In diesem inspirierenden Geschichtenband geht es um ungewöhnliche Begegnungen und Erfahrungen. Mit ihrem wunderbaren Erzählstil malt die Niederländerin Noor van Haaften farbenfrohe Bilder vor Augen. Sie entführt in andere Zeiten, andere Länder, andere Kontinente. Sogar alltägliche Beobachtungen im eigenen Garten werden zu etwas ganz Besonderem. Allen Geschichten ist eines gemeinsam: Sie laden uns ein, mit offenen Augen durchs Leben zu gehen und Gottes Spuren in unserem Alltag und in dieser Welt zu entdecken. Dabei sind gut die Hälfte der Geschichten neu, die restlichen bereits in anderen Publikationen erschienen.

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Seitenzahl: 156

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Über die Autorin

Noor van Haaften, Jahrgang 1948, ist bekannt durch ihre zahlreichen Buchveröffentlichungen und Vortragsreisen. Die Niederländerin studierte an der Universität Utrecht und am britischen Missionsinstitut All Nations Christian College und war in der christlichen Studentenarbeit sowie als Moderatorin und Regisseurin bei einem niederländischen R/TV-Sender tätig. Sie lebt in den Niederlanden.

Die Geschichten in diesem Buch stammen teilweise aus früher erschienenen (und bereits vergriffenen) Bänden:

Das Kästchen im Kleiderschrank (Gerth Medien, 2015): Oma und ich / Erdbeben in der Nacht / Das Leben feiern / An der Küste Donegals / Dolores  Die hellblauen Schuhe (Gerth Medien, 2019): Nur weitermachen / Einundzwanzig Diakonissen im BoxringGeschichten für zwischendurch (SCM R. Brockhaus, 2006): Die BadezeremonieNeue Geschichten für zwischendurch (SCM R. Brockhaus, 2008): Spannung in der Kirche / Eine Antenne für Gott / Eine besondere Begegnung Dir gehört mein Lob (SCM Collection, 2013): Singt dem Herrn (Originaltitel: Ein neues Lied) / Die Kraft eines Liedes / Der Bienenchor / Summen tut gutDu schenkst mir Mut zum Leben (SCM Verlag, 2015): Der Eimer gefüllt / Du schenkst mir Mut zum Leben

Alle weiteren Geschichten sind neu und bisher in keiner Veröffentlichung erschienen.

Inhalt

Vorwort

1. Unerwartete Stunden am Strand

2. Nur weitermachen!

3. Überrascht auf dem Weg nach Santiago de Compostela

4. Spannung in der Kirche

5. Eine Nacht im Wald

6. Einundzwanzig Diakonissen im Boxring

7. Unruhe im Studio

8. Unsere Gerda

9. Der Eimer gefüllt

10. Oma und ich

11. Nicht alles ist machbar …

12. Vom Müllwagen verfolgt

13. Erdbeben in der Nacht

14. Die Turteltauben

15. Der Tankwart und die Polin

16. Eine Hochzeitssuite in meinem Haus

17. Singt dem Herrn!

18. Die Badezeremonie

19. Eine Antenne für Gott

20. Jäger am Parkplatz

21. Die Kraft eines Liedes

22. Eine besondere Begegnung

23. Das Leben feiern

24. Bibeln auf dem Flohmarkt

25. Meine Nachbarin

26. An der Küste Donegals

27. Das Stimmenorchester

28. Au-pair in Paris

29. Der Bienenchor

30. Sag’s dem Herrn

31. Dolores

32. Fremdsprachen üben

33. Die Stecknadel

34. Eine neue Perspektive

35. Das Quiz

36. Ausschau halten in der Nacht

37. Summen tut gut

38. Händel im Kreißsaal

39. Beschenkt

40. Auf dem Bauernhof in den Bergen

Vorwort

Als ich gefragt wurde, Geschichten für ein neues Kurzgeschichtenbuch zu schreiben, lag die Coronazeit relativ kurz hinter uns. Die Welt war aus ihrem Lockdown erwacht und das Leben hatte sich wieder (einigermaßen) normalisiert, als ich durch eine Erkrankung gezwungen wurde, mich noch eine Weile fern vom aktiven Leben zu halten. Als ich nach einigen Monaten wieder fit war, fragte ich mich, worüber ich eigentlich schreiben sollte. Ich hatte lange Zeit wenig oder nichts unternehmen können, es hatte keine Vortragsreisen gegeben und ich hatte wenig Aufregendes erlebt. Schlange zu stehen für eine Impfung, sich mit Mundschutz durchs Leben zu bewegen und Begegnungen wenn möglich aus dem Weg zu gehen und dann noch einige Zeit nicht fit zu sein, das alles hat doch wirklich nicht viel in sich für eine nette Geschichte!

Im Rückblick hat die Zeit, in der ich zu Hause war, mir manches gegeben, was inspirierend war. Ich erlebte eine Art Sabbatperiode, in der ich weder meine Koffer packen und mich auf dem Weg machen musste noch den Druck mancher Deadlines erfuhr. In dieser ›geschenkten Zeit‹ kamen nicht nur neue Impulse und Gedanken, sondern es kamen auch Erinnerungen an Erlebtes aus meiner Kindheit und Jugend wie auch an Vorfälle jüngeren Datums hoch. Im Grunde bekam ich die ersten neuen Geschichten schon in dieser stillen Phase auf dem Präsentierteller angeboten!

Ich hatte wieder mit meinem Reisedienst begonnen, als ich mit dem Schreiben der Geschichten anfing. Die Mehrzahl schrieb ich zu Hause, andere während eines traumhaften Urlaubes auf einem Bauernhof in den Bergen.

Mit »Au-pair in Paris und andere wahre Geschichten« halten Sie eine bunte Mischung von leichten und ernsthaften Erzählungen in der Hand. Bei einigen werden Sie schmunzeln, während andere nachdenklich machen. Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen (oder beim Vorlesen)!

Noor van Haaften, Ende 2023

1.  Unerwartete Stunden am Strand

Zu den vielen kostbaren Erinnerungen aus meiner Jugend gehört der Tag, an dem unsere Mutter fröhlich ankündigte, dass es heute dran war, die Schule zu schwänzen. Meine Schwester und ich waren zu dieser Zeit etwa acht und neun Jahre alt, und wir waren selbstverständlich nicht darauf gefasst, dass unsere Mama so etwas Unerhörtes ankündigen würde. Ihre Beweggründe waren aber durchaus verständlich und überzeugend, denn es war ein herrlicher sonnenüberfluteter Morgen, und es wäre tatsächlich zu schade gewesen, die nächsten Stunden in der Schulbank zu verbringen. Und so rannten wir zu unserem Zimmer und tauschten unsere Schulkleidung ein gegen einen Badeanzug mit einem sommerlichen Kleidchen darüber. Unsere Mutter hatte inzwischen ein Picknick vorbereitet und Badetücher, Eimer, Schaufel und ein Fischnetz für uns eingepackt. Sie selbst nahm ein dickes Buch und Strickzeug für sich mit.

Unser Haus befand sich fast direkt hinter den Dünen, die das Meer von unserem Wohnort trennten. Wir brauchten nicht mehr als zehn Minuten, um den Strand zu erreichen. Für viele Leser dieses Büchleins hört sich das wahrscheinlich an wie ein Traum, wir selbst fanden es normal. Der Strand und das Meer wie auch die Dünen waren (und bleiben) uns vertraut. Und lieb, das natürlich auch.

Und so fuhr eines Tages ein alter DKW mit einer fröhlichen Mama, zwei Schulschwänzerinnen und einem ausgelassenen Hund an den Strand. Einmal dort angekommen, suchten wir einen Platz mit einem Wind- und einem Sonnenschirm und einem Liegestuhl für die Mama. Es war ein herrlicher, stiller Vormittag. Der Gedanke, dass unsere Freunde in der Schule waren, war für meine Schwester und mich sowohl aufregend als auch etwas beängstigend. Wir waren Schulschwänzer, wie sollten wir unserem Lehrer am nächsten Tag erklären, dass wir am Strand gewesen waren? Unsere Mutter schien diese Frage nicht wirklich zu bewegen, es war ihr deutlich anzusehen, dass sie diese Auszeit mit ihren zwei Mädchen genoss. Auch unser Hund war völlig entspannt und höchst erfreut. Er war gleich schwimmen gegangen, und als er zu uns zurückkam, schüttelte er sich ausgiebig und sprühte dabei reichlich sandiges Meereswasser über unseren Picknickkorb, was zur Folge hatte, dass wir ihn fortscheuchten und versuchten, ihn zu fangen. Er liebte dieses Spiel und ließ uns immer ganz nahe kommen. Sobald wir ihn aber ergreifen wollten, sprang er auf und sauste grinsend und bellend davon.

Wir erlebten einen unvergesslichen Tag. Meine Schwester und ich sammelten Muscheln und Krabben, und wir studierten die Quallen am Strand. Wir gruben tiefe Löcher im Sand und bauten am Meeresrand ein imposantes Sandschloss mit einem Graben ringsum. Wir sahen zu, als die Flut kam und der Graben sich mit Wasser füllte, und wir trauerten, als unser Schloss sich allmählich im Wasser auflöste. Es faszinierte uns, dass die scheinbar leblosen Quallen »erwachten« und zu schwimmen begannen, als sie vom Wasser mitgenommen wurden. Als nachmittags ein Garnelenfischer mit seinem Schleppnetz vorbeikam, der uns sein Metier erklärte, waren wir überglücklich.

Meine Mutter nannte das alles Anschauungsunterricht. Wir hatten an diesem Tag Biologie, so wie wir auch einmal Kultur und Geschichte als Fächer hatten, und zwar an unserem zweiten Schwänztag, als unsere Mutter entschied, dass es uns guttun würde, einen Stadtbummel zu machen in der Residenzstadt Den Haag. An dem Tag besuchten wir vornehme Geschäfte und wir sahen unter anderem die Parlamentsgebäude und die Statue von den niederländischen Gebrüdern Johan und Cornelis de Wit, die am 20. August 1672 aus politischen Gründen in den Haag ermordet wurden. Zu Mittag waren wir im Kino. Auch dieser Schwänztag war unvergesslich.

Wenn Sie meinen, dass diese Aktionen meiner Mutter pädagogisch gesehen zumindest fraglich (oder sogar unmäßig) sind, bin ich einerseits mit Ihnen einverstanden. Anderseits sind mir die Erinnerungen an diese beiden Tage (mehr waren es nicht) so kostbar, weil es so total extravagant war, gemeinsam mit unserer Mutter etwas zu unternehmen, das unangemessen war. Sie verbarg ihre Aktion übrigens nicht, denn sie hatte nach den beiden Schwänztagen ein Gespräch mit dem Schuldirektor, wobei sie ihm erklärte, dass sie es in dem Moment für nötig gehalten hatte, ihren zwei Töchtern eine besondere Erfahrung zu ermöglichen. Der Schuldirektor kannte sie als eine Mutter, die die Erziehung ihrer Kinder ernst nahm, und er konnte das Geschehen mit Humor betrachten. Ich selbst rechne unsere zwei Schwänztage als eine kostbare Erinnerung an meine liebe und spontane Mutter, die dann und wann das Bedürfnis hatte, die üblichen Wege zu verlassen und etwas Verrücktes zu tun.

»Da ist das Meer, so groß und weit ausgedehnt …«

Psalm 104,25

2.  Nur weitermachen!

Der Pianist Ignacy Jan Paderewski wurde 1860 in Kurylówk in der Ukraine geboren und starb 1941 in New York. Er war ein genialer und vielseitiger Mensch: ein begnadeter Musiker, ein kompetenter Politiker und Staatsmann, ein brillanter Redner und Linguist (er beherrschte sieben Sprachen) und noch einiges mehr. Ein »superlativer Mensch«, so hat ihn der Autor Charles Phillips im Jahr 1934 beschrieben.

Paderewskis künstlerische Karriere begann, als er 27 Jahre alt war, und brachte ihn rund um die Welt. Er gab Konzerte in Europa, Australien, Afrika und den Vereinigten Staaten. Allein in Amerika trat er mehr als 1500 Mal auf. Und immer waren die Konzertsäle überfüllt. Wenn er per Zug reiste (in seinem eigenen Pullman-Waggon mit mehreren Klavieren und Flügeln, weil er unterwegs übte und komponierte), waren immer ganze Volksmengen auf den Beinen, um ihn am Bahnhof zu begrüßen und zum Konzertsaal zu begleiten (oder um ihm zuzuwinken, wenn er vorbeifuhr).

Der Pianist liebte es, gefeiert zu werden, aber er wurde dadurch in keinerlei Weise eingebildet oder unnahbar. Als einmal ein Zug aus Montana von einem Schneesturm aufgehalten wurde, soll er erst mit seinem Recital begonnen haben, nachdem alle Reisenden angekommen waren und ihren Sitzplatz eingenommen hatten. Und wenn sein Publikum ihn am Ende eines Konzerts nicht gehen lassen wollte (was immer wieder vorkam), war er durchaus bereit weiterzuspielen, manchmal sogar noch über eine Stunde lang.

Eine Geschichte, die mich besonders bewegt, hat sich in einem Konzertsaal irgendwo in Amerika ereignet. Wie üblich waren die Zuhörer in großer Zahl angereist, es war kein Platz mehr frei. Im Publikum befand sich eine Mutter mit ihrem etwa achtjährigen Sohn. Der Kleine hatte ganz kurze Zeit Klavierunterricht gehabt, aber nun fehlte ihm die Lust zum Weitermachen. Seine Mutter, die das sehr bedauerte, hatte ihn in dieses Konzert mitgenommen in der Hoffnung, dass er durch das Hören und Sehen des großen Pianisten motiviert würde, seine Klavierstunden wieder aufzunehmen. Ob das tatsächlich geschehen ist, ist nicht bekannt. Doch an diesem Abend erlebte die Mutter einen gleichzeitig haarsträubenden und unvergesslichen Moment: den ersten (und vielleicht auch letzten) musikalischen Auftritt ihres Sohnes.

Während die Anwesenden sich in der Erwartung des Dirigenten und Solisten miteinander unterhielten, war auch die Mutter des Jungen mit ihrer Nachbarin im Gespräch. Es war eine so rege Unterhaltung, dass sie gar nicht bemerkte, wie ihr Sohn vom Stuhl neben ihr hinunterrutschte und verschwand … Groß war das Erstaunen des Publikums, als ein kleiner Junge auf dem Podium erschien, zielstrebig auf den Flügel zulief und auf dem Schemel Platz nahm. Als ob ihm gar nicht bewusst wäre, dass er das nicht durfte, begann er arglos, mit zwei Fingern eine bekannte Melodie für Anfänger zu spielen. Im Konzertsaal stieß man sich aufgeregt an und hielt den Atem an. Die Mutter des Jungen war starr vor Entsetzen.

Als Paderewski hinter den Kulissen erfuhr, was sich gerade auf der Bühne ereignete, zögerte er keinen Moment. Er ging nach vorne, stellte sich hinter den kleinen Jungen, beugte sich über ihn und fing an mitzuspielen. Im Saal wurde es mucksmäuschenstill, als die zögerlichen Töne des Jungen zu einem wunderschönen Klavierstück wurden. Nur der hörte, was Paderewski ihm beim Spielen zuflüsterte: »Spiel weiter, Kleiner! Hör nicht auf. Hörst du, wie schön das klingt, wenn wir gemeinsam spielen?!«

Der große Pianist ist wie unser himmlischer Vater. Während wir in aller Gebrechlichkeit unsere Noten spielen, umfängt er uns mit seinen Armen und flüstert: »Weitermachen!« Er umgibt uns mit seiner Liebe und segnet das Werk unserer Hände.

»Achtet doch auf ihn …, damit ihr nicht müde werdet und den Mut verliert!«

Hebräer 12,3

3.  Überrascht auf dem Weg nach Santiago de Compostela

Der spanische Ort Santiago de Compostela, wo sich der Legende nach das Grab des Apostels Jakobus befinden soll, wird jedes Jahr von einer immer zunehmenden Anzahl von Pilgern besucht. Diese Pilgertour ist so beliebt, dass aus ganz Europa ein fächerförmiges Netzwerk von Wegen in Richtung der Pyrenäen geht. Von hier aus formiert sich an der spanischen Seite des Grenzgebirges der Camino de Santiago bzw. der Weg, der zum vermeintlichen Grab des Jakobus in Santiago führt. Man kann von fast jedem Ort Europas aus loswandern und findet einen Weg nach Santiago.

Die Menschen, die diesen Pilgerweg gehen, haben alle ihre eigenen Gründe. Viele wollen der Hektik ihres Alltags entfliehen, andere wollen ihr Leben überdenken oder sie stehen vor wichtigen Entscheidungen. Einige machen sich auf den Weg, um sich mit einem schmerzhaften Verlust auseinanderzusetzen. Für andere ist diese Pilgerreise, die man gehen oder radeln kann, vor allem eine physische Herausforderung. Für alle gilt, dass die Wochen, die man unterwegs ist, lebensverändernd sind und dass es, wenn man wieder zu Hause ist, Zeit braucht, um sich wieder zurechtzufinden. Nachdem man sich Wochen oder sogar Monate lang um nichts anderes kümmern musste als um ein Bett für die Nacht und eine Mahlzeit unterwegs, ist es ein Schock, wieder mit der Hektik des normalen Alltags konfrontiert zu werden.

Vor einigen Jahren begegnete ich zwei Menschen, die sich kennengelernt hatten auf der Pilgertour nach Santiago de Compostela. Ich war im Urlaub und hatte mich auf einer sonnenüberfluteten Terrasse eines Bergrestaurants niedergelassen, als sie mich fragten, ob sie sich zu mir setzen dürften. Einmal gemeinsam am Tisch, kamen wir bald ins Gespräch. Der Mann, ich nenne ihn hier Peter, erzählte, wie er vor Jahren nach Santiago de Compostela gepilgert war, um eine schmerzhafte Phase in seinem Leben abzuschließen. Seine Frau war einige Zeit zuvor gestorben, und es war die Zeit gekommen, um seine Trauer hinter sich zu lassen. Anstatt nur zurückzublicken und sich von dem, was war, fesseln zu lassen, wollte er die Jahre, die vor ihm lagen, umarmen und offen sein für Neues. Und so hatte er sich auf den Weg nach Santiago de Compostela gemacht, um sich darüber zu besinnen.

Es war eine richtige Entscheidung, denn sie tat ihm unendlich gut. Peter erzählte, wie entspannt es während der Pilgertour zuging. Manchmal, so sagte er, ging man einige Stunden oder auch einen ganzen Tag allein, dann aber kam es vor, dass man eine Weile gemeinsam mit anderen wanderte. Er hatte erfahren, dass die Menschen auf dem Camino freundlich und offen füreinander waren. Manchmal kam es zu sehr persönlichen Gesprächen mit unbekannten Menschen, die man nach einigen Tagen wiedersah oder auch nicht.

Peter selbst war auf seiner Pilgertour einer Frau begegnet, mit der er einige Stunden lang gemeinsam gewandert war. Unterwegs hatten sie sich über alles Mögliche unterhalten, darunter auch über die schwere Zeit, die Peter erlebt hatte. Als Peter in der Nacht nach ihrer Begegnung nachsann über die gemeinsam verbrachten Stunden, war er überrascht, dass dieser Kontakt so unkompliziert gewesen war. Er war auch über sich selbst überrascht. Es war lange her, dass er so offen gegenüber einem anderen Menschen gewesen war. Es war, als sei er seit dem Sterben seiner Frau umhüllt gewesen von seiner Trauer. Peter hatte nie wirklich darüber sprechen können. Nun aber hatte er das Gefühl, als habe sich die dunkle Wolkenmasse, die so lange auf ihm gelegen hatte, gelichtet. Es war, als hätte das Gespräch mit der unbekannten Pilgerin es ihm ermöglicht, ganz neu durchzuatmen.

Als Peter am nächsten Morgen die Herberge verließ und sich wieder auf den Weg machte, nahm er sich vor, sich an diesem Tag auf irgendeine Weise von seiner verstorbenen Frau zu verabschieden. Er wollte sie nicht vergessen. Er musste sie aber loslassen, damit er selbst losgelassen werden würde. Er sehnte sich nach einem Neubeginn.

An diesem Tag wanderte Peter allein unter einem offenen Himmel. Es gab keine Wolken, es war ein wunderschöner sonniger Tag. Peter dachte nach über die Zeit, die hinter ihm lag, und er sann darüber nach, wie es sein würde, wenn er an seine Frau denken konnte, ohne von Schmerz überwältigt zu werden. Und auf einmal, als er zum Himmel hinaufschaute, sah er etwas, das ihm wie ein Wunder vorkam. Am Himmel gab es Spuren von Flugzeugen, deren Weg sich gekreuzt hatte. Zwei vertikale Streifen, die von einem horizontalen Streifen durchbrochen wurden – der Buchstabe H.

Als Peter diesen Moment in seiner Geschichte erreicht hatte, schwieg er einen Augenblick. »Ich blieb wie angenagelt stehen«, sagte er dann. »Dieses H kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Es war der Anfangsbuchstabe des Vornamens meiner Frau. Es war ein fast heiliger Moment, ein klares Zeichen, ein Durchbruch. Dieses H am Himmel sagte mir, dass ich mich von meiner Frau verabschieden durfte. Als ich mich wieder auf den Weg machte, war es, als hätte ich einen schweren Rucksack zurückgelassen. Es war, als stünde ich, nachdem ich lange Zeit gebeugt meinen Weg gegangen war, nun wieder aufrecht im Leben. Ich konnte mich freuen an der Umgebung, ich nahm Dinge wahr, die ich lange Zeit nicht mehr wahrgenommen hatte.«

Wir nahmen alle einen Schluck unseres Getränkes. Dann fuhr er fort: »Am nächsten Tag begegnete ich ganz überraschend der Frau, mit der ich mich unterwegs unterhalten hatte. Wir wanderten wiederum eine Weile zusammen – und das tun wir noch immer.« Er wandte sich zu der Frau, mit der er ins Restaurant gekommen war. »Wir sind inzwischen einige Jahre zusammen und sehr glücklich. Der Weg nach Compostela de Santiago wird für uns beide immer ein sehr besonderer Weg sein. Es war der Weg eines Neubeginns.«

Rund um uns auf der Terrasse war es nicht mehr so voll wie vorher. Es war gegen Ende des Nachmittags, es wurde langsam etwas frischer. Die Freunde, mit denen ich an diesem Tag gewandert war (ich hatte mich etwas früher ausgeklinkt, weil die Terrasse mich lockte), waren inzwischen aufgetaucht, es war Zeit, nach Hause zu gehen. Wir entschlossen uns zu einer entspannten Talfahrt mit dem Sessellift. Während ich an einem Stahldraht zwischen Himmel und Erde schwebte, dankte ich Gott für die ergreifende Geschichte, die ein unbekannter Mann mir auf einer Bergterrasse erzählt hatte.

»Er gab mir ein neues Lied in meinem Mund …«

Psalm 40,4

4.  Spannung in der Kirche

Sie saß vor mir in der Kirche. Eine alleinerziehende Mutter mit ihrem Teenager. Er war nicht freiwillig mit zum Gottesdienst gekommen, das war offensichtlich. Seine ganze Haltung drückte Protest aus, sein Zorn war ihm überdeutlich anzumerken. Im einen Moment wandte er seiner Mutter demonstrativ den Rücken zu, im nächsten ließ er höchst dramatisch seinen langen Oberkörper nach vorn sinken und vergrub sein Gesicht in den Händen. Ein oder zwei Mal versetzte er seiner Mutter einen Stoß, sehr subtil, aber doch sichtbar. Und spürbar.