Auch alte Wunden können heilen - Dami Charf - E-Book

Auch alte Wunden können heilen E-Book

Dami Charf

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Beschreibung

Dieses Buch ist für alle, die das Gefühl haben, so, wie sie sind, nicht »richtig« zu sein. Sie leiden etwa an unerklärlichen Schuldgefühlen, können eigene Bedürfnisse kaum benennen, keine Grenzen setzen oder spüren ihren Körper nicht. Die Ursache können seelische Verletzungen aus den ersten Lebensjahren sein. Manchmal durch ein schlimmes Ereignis ausgelöst, viel häufiger jedoch dadurch, dass das Aufwachsen ohne sichere Bindung und Zugehörigkeit erfolgte. Die erfahrene Trauma-Therapeutin Dami Charf hilft Betroffenen, in Kontakt mit sich zu kommen, Verständnis für sich selbst zu entwickeln, neue Möglichkeiten zu erkennen und innere Stabilität und Freiheit zu erfahren.

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Seitenzahl: 373

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Das Buch: Vom verletzten Kind zum selbstbewussten Erwachsenen

Dieses Buch ist für alle, die das Gefühl haben, so, wie sie sind, nicht »richtig« zu sein. Es ist für die, die an unerklärlichen Schuldgefühlen leiden oder dem Gefühl, nicht wirklich im Leben zu stehen; für die, die sich einsam und abgeschnitten fühlen.

Die Ursache für dieses Leiden hat fast immer mit frühen Kindheitserfahrungen zu tun. Die Traumatherapeutin Dami Charf zeigt einen Weg, diese in die eigene Biografie zu integrieren, damit alte Wunden nicht länger das Leben bestimmen. So wird es möglich, sich selbst besser zu verstehen und sich endlich wieder lebendig und verbunden zu fühlen.

Die Autorin

Dami Charf, geboren 1964, ist Begründerin der körper- und bindungsorientierten Therapiemethode Somatische Emotionale Integration®, SEI. Nach einem Studium der Sozialpädagogik und der Sozialen Verhaltenswissenschaften hat sie Ausbildungen u. a. in Transformativer Körperpsychotherapie, Somatic Experiencing, Bodynamic und Sensorymotoric Psychotherapy absolviert. Sie ist Heilpraktikerin für Psychotherapie, arbeitet als Traumatherapeutin in Göttingen und bietet Gruppen und eine eigene Ausbildung an.

www.traumaheilung.de

www.einfachmenschsein.com

DAMI CHARF

Auch alte Wunden können heilen

Wie Verletzungen aus der Kindheit unser Leben bestimmen und wie wir uns davon lösen können

Kösel

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2018 Kösel-Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Cover: Weiss Werkstatt München

Covermotiv: © watin/shutterstock

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-22054-9V004

www.koesel.de

Inhalt

Auch alte Wunden können heilen

Wie frühe Wunden auf unser Leben wirken – und warum das Problem selten das Problem ist

Was sind frühe Wunden?

Das Tier im Menschen

Wie eine Traumatisierung entsteht

Wie erkennt man eine Traumatisierung?

Entwicklungstrauma – alte Schmerzen, tief verborgen

Selbstregulation – das Thermometer des Lebens

Nervensachen

Das Toleranzfenster – der Rahmen unseres Lebens

Selbstregulation durch Kontakt

Am Anfang steht die Co-Regulation

Der Zauber gegenseitigen Kontakts

Die Regulation der emotionalen »Temperatur«

Selbstregulation ist erlernbar

Verbindung ist Leben

Muster der Liebe

Die vier Bindungsmuster

Dem Leben vertrauen können

Der »Fremde-Situations-Test«

Bindung in Liebesbeziehungen

Die sichere Bindung im Erwachsenenalter

Die unsicher-vermeidende Bindung im Erwachsenenalter

Die unsicher-ambivalente Bindung im Erwachsenenalter

Die desorganisierte Bindung im Erwachsenenalter

Traumatische Bindung

Die Bindungsfalle

Die fünf Lernaufgaben

Unser Körper bestimmt unser Leben

Sicherheit und Willkommensein – wie das Leben beginnt

Die Geburt – ein unterschätztes Ereignis

Verloren zwischen den Welten

Die Angst vor Vernichtung

Die Spuren im späteren Leben

Die innere Rage

Leben außerhalb des Körpers

Bedürfnisse und Sattwerden – der Mangel an Zuwendung und die Folgen

Nicht sattwerden können

Stärke aus Bedürfnislosigkeit schöpfen

Die Falle der Reinszenierungen

Sucht und Depression

Hilfe annehmen können – mit Unterstützung die Welt entdecken

Bevormundung statt Hilfe zur Selbsthilfe

Innere Leere durch falsche Spiegelung

Selbstständigkeit und Verbundenheit – was geschieht, wenn Kinder nicht in ihre Kraft gehen dürfen

Liebe und Sexualität – wie die Einheit gelingt

Verletzte Herzen

Frühe Wunden heilen – wie Integration möglich wird

Traumatic Growth

Veränderung ist schwer

Die Struktur des Gehirns

Unser Frühwarnsystem – das Stammhirn

Sitz der Emotionen – das limbische System

Integrationszentrum – der Neokortex

Wenn wir »die Nerven verlieren«

Überzeugungen oder Realität

Der Körper, unser Freund und Helfer

Dissoziation

Die strukturelle Dissoziation

Wieder zu Hause im eigenen Körper – von der Dissoziation zur Assoziation

Wie wir Gefühle lernen

Wider den Stress – Resilienz und Selbstregulation

Wir erschaffen unsere Gedanken und Gefühle, also können wir sie auch ändern

Ressourcen wirklich nutzen

Emotionen – Fluch und Segen

Instinkte – das Tier in uns

Alte Emotionen im Hier und Jetzt

Scham und frühe Wunden

Der Zauber des Lebens – Verletzlichkeit

Dein Herz und deine Liebe gehören dir

Ohne Sicherheit ist alles nichts

Sicherheit durch Kontrolle

Sicherheit durch Verleugnung

Sicherheit durch Vertrauen

Sicherheit durch Beziehung

Gesunde Grenzen

Die Entwicklung von Grenzen in der Kindheit

Grenzen für Fremde und Vertraute

Grenzüberschreitungen führen zum Trauma

Die Grenzen des eigenen Raums austarieren

Psychotherapie als Weg

»Der Körper lügt nicht« – die Körperpsychotherapie

Das Ziel der Therapie: von der Co-Regulation zur Selbstregulation

Mythos Psychotherapie

Dank

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Für alle, die noch fühlen wollen und sich trauen, Mensch zu sein – unsere einfachste und schwerste Aufgabe überhaupt.

Auch alte Wunden können heilen

Immer mehr Menschen leiden. Lange. Und sie wissen nicht, weshalb. Das Leiden hat unterschiedliche Ausdrucksformen: Manchmal verkleidet es sich als Depression oder Burn-out, manchmal als Angststörung oder chronische Verspannung. Noch viel häufiger tritt es in Erscheinung als inneres Gefühl von Abgeschnittenheit oder Anderssein, von Unzufriedenheit, Sinnlosigkeit und Einsamkeit.

So suchen viele seit Jahren nach Lösungen für ihre Symptome und ihr Leid. Manche haben jahrelange Therapien hinter sich, und ihr Lebensgefühl hat sich dennoch nicht wesentlich verbessert. Nicht selten bleibt (nur) das Gefühl zurück, falsch und unfähig zu sein, und dass alle anderen es besser schaffen als sie selbst. Es gibt unzählige Menschen, die nicht wissen, was mit ihnen los ist, und die keine Hilfe erfahren und keine Lösung finden, weil ihnen die Ursache ihres Leidens nicht bewusst ist.

In unserer Gesellschaft ist das Bild entstanden, dass Glück, Schönheit und beständiger Spaß die Regel seien, und dass, wer dies nicht so erlebt oder fühlt, gescheitert ist. Schlankheit ist das Synonym für Gesundheit und Schönheit, Geld das Synonym für Erfolg und Spaß das Synonym für Glück.

Schauen wir genauer hin, so sehen wir, dass diese Fassade überall bröckelt. Schmerzen, Ängste, Depressionen, Burn-out, innere Leere, Einsamkeit, Entfremdung, Schlaflosigkeit, Beziehungsfrust, Dauerstress und andere Symptome und Probleme greifen immer weiter um sich. Leider denken viele Menschen – darunter auch zahlreiche Therapeuten –, dass all diese Symptombilder unterschiedliche Ursachen haben. So fühlen sich die Betroffenen noch zusätzlich überwältigt, weil sie denken, dass sie für jedes Symptom einzeln eine Lösung finden müssten. Auf diesem Weg wird dann viel ausprobiert, und immer wieder ist das frustrierende Fazit, dass sich doch nichts wirklich zu ändern scheint.

Das fehlende Puzzlestück ist nicht die Lösung von Problemen und auch nicht die Behandlung von Symptomen. Es hat mich Jahre gekostet, das missing link, das fehlende Puzzlestück zu finden. Die Ursache für das Leiden liegt jenseits unserer Muster und Glaubenssätze. Es gibt Hunderte Angebote in Büchern und Workshops, in Therapien und Seminaren, die uns helfen wollen, diese Muster und Glaubenssysteme zu erkennen und abzulegen. Wenn das funktionieren würde, wären wir alle glücklich. Irgendwo muss also ein Haken sein.

Der Haken ist: Damit Menschen bestimmte Veränderungen einleiten können, brauchen sie bestimmte Voraussetzungen, die ihnen aber gerade nicht zur Verfügung stehen. Die Ursache für unser Leid liegt tief in uns und unserem Körper. In diesem Buch möchte ich diese Erkenntnis für alle verständlich darlegen und hoffe, dadurch lange und womöglich frustrierende Leidenswege zu verkürzen.

Die Erfahrungen, die uns am stärksten geprägt haben, reichen zurück in unsere ersten Lebensjahre, in eine Zeit also, an die wir uns normalerweise nicht erinnern können. Das macht es für viele Menschen schwer, zu erkennen, welch existenzielle Bedeutung diese Phase für uns hat. In den ersten Lebensjahren werden die wichtigsten Grundlagen für ein erfülltes Leben geschaffen. Frühe Wunden verhindern die Entstehung dieser Grundlagen oder schränken sie ein und werfen so einen langen Schatten auf das Leben vieler Menschen.

Diese alten Verletzungen bezeichne ich in diesem Buch als Entwicklungstrauma. Lass dich bitte nicht von dem Begriff »Trauma« abschrecken! Ich bin mir sicher, du wirst dich bei der Beschreibung früher Wunden wiederfinden. Als Erwachsene ist uns oft nicht bewusst, wie schwerwiegend manch scheinbar normale Kindheitserfahrung uns geprägt hat und uns heute im Wege steht. Unter Traumata werden leider bis heute meist nur sogenannte Schocktraumata verstanden, also einmalige überwältigende Erlebnisse.

Gerade bei frühen Verletzungen zeigt sich, dass das Wissen um die eigene Geschichte nicht ausreicht, um eine Veränderung herbeizuführen. Viele Menschen können alles erklären und kommen doch nicht wirklich weiter.

Das ist Teil des missing link.

Ginge es allein um Erkenntnis, also um den Verstand, stünden wir alle kurz vor der Erleuchtung. Erkenntnis ist der erste Schritt, aber ohne Erfahrung nützt sie leider wenig. Doch ohne Erkenntnis können wir keine neuen Wege gehen. Ich hoffe, dass dieses Buch möglichst vielen Menschen dabei hilft, sich selbst auf einer tieferen Ebene zu verstehen und liebevoller im Umgang mit sich selbst zu werden.

Ich möchte darstellen, welche Auswirkungen unsere frühen Erfahrungen auf uns und unser Leben haben und wie diese alten Verletzungen heilbar sind. Heilung ist ein großes Wort, deshalb möchte ich erläutern, was ich darunter verstehe.

Was immer wir im Lauf unseres Lebens erfahren haben, ist nicht zu löschen. Man kann es nicht »loswerden«, und es ist nicht zu widerrufen. Es ist Teil unserer Geschichte. Heilung bedeutet also nicht, keine Narben zurückzubehalten – sonst wäre auch in der Medizin keine Heilung möglich. Heilung ist für mich gleichbedeutend mit Integration. Sie bedeutet im besten Fall, dem, was geschehen ist, einen Sinn zu geben, es erfolgreich in die eigene Biografie zu integrieren und neue Erfahrungen zu machen, damit alte Wunden und Verletzungen nicht länger das Leben bestimmen. Heilung beziehungsweise Integration bedeutet, immer mehr Freiheit darüber zu erlangen, was wir fühlen wollen, und im Hier und Heute zu leben und immer mehr zu agieren, statt zu reagieren. Letztendlich bedeutet Integration, sich lebendig zu fühlen und verbunden.

Mit diesem Buch möchte ich Mut machen; ich möchte zeigen, dass es möglich ist, auch unter widrigen Umständen ein erfülltes Leben zu führen. Ich arbeite inzwischen seit 30 Jahren mit Menschen. Im Lauf der Zeit habe ich auch meine eigene (traumatische) Geschichte aufgearbeitet und integriert. Ich habe viel gelernt – vor allem, dass wir fragile, verletzliche und zarte Wesen sind. Ich habe verstanden, dass wir alle einander brauchen und niemand allein heil werden kann. Beziehung und Kontakt stehen deshalb im Mittelpunkt meines Denkens, Fühlens und Arbeitens. Ich bin davon überzeugt, dass nur über diese Schnittstellen Veränderungen möglich werden.

Nun ist es an dir, liebe Leserin, lieber Leser, das Wissen, das ich dir in diesem Buch zur Verfügung stelle, zu deinem eigenen zu machen! Viel Freude dabei!

Dami Charf

Im August 2017

Noch zwei Anmerkungen: Es ist schwierig, ein in der Ansprache von Leserinnen und Lesern politisch korrektes Buch zu schreiben, das auch noch flüssig lesbar ist. Ich habe den Weg gewählt, manchmal nur die weibliche Form und manchmal nur die männliche Form zu benutzen. In beiden Fällen meine ich sowohl Frauen als auch Männer.

Ich schreibe oft in der Wir-Form, doch manchmal spreche ich meine Leserinnen und Leser direkt an. In diesen Fällen verwende ich das Du, weil es mir am meisten entspricht. Ich bitte dich, dies nicht als Respektlosigkeit zu verstehen.

Wie frühe Wunden auf unser Leben wirken – und warum das Problem selten das Problem ist

Was sind frühe Wunden?

Jedes schwerwiegende Problem hat seine Wurzeln in unserer Kindheit. Das scheint ein abgedroschenes Klischee zu sein, und doch ist vieles daran wahr. Ich wünschte, es wäre anders, doch die jahrelange Arbeit mit mir selbst und anderen Menschen bestätigen diesen Satz. Allerdings vielleicht ganz anders, als die meisten von uns glauben. Unsere frühe Kindheit – damit meine ich die Zeit, an die wir uns nicht erinnern können – hat gravierende Auswirkungen auf unser Lebensgefühl als Erwachsene. In den ersten Lebensjahren erwerben wir einige Fähigkeiten – oder eben nicht –, die uns selten bewusst sind, unser Leben jedoch entscheidend bestimmen. Trotz ihrer außerordentlichen Bedeutung sind diese Fähigkeiten nicht allgemein bekannt. Ich möchte dazu beitragen, dass dieses Spezialwissen zum Allgemeingut wird, damit sich immer mehr Menschen selbst verstehen und einen Weg finden können, ihrem Leid oder ihrer Lebenslangeweile zu entkommen.

Frühe Wunden prägen unser Leben auf vielerlei Arten und Weisen. »Wunde« heißt im Griechischen trauma. Trauma – das Wort ist inzwischen sehr bekannt, wird aber gleichzeitig immer noch verkannt. Mit diesem Begriff verbinden wir im Allgemeinen schreckliche und grausame Erlebnisse wie etwa Krieg, Vergewaltigung und Folter. Dies ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Traumata sind weit verbreitet, und es gibt nur wenige Menschen, die völlig ohne traumatische Erlebnisse durchs Leben gehen.

Überdies hat das Trauma durch vereinzelte furchtbare Erlebnisse gewissermaßen eine Schwester, die sich »Entwicklungstrauma« nennt. Darunter fallen die frühen Verletzungen, die wir aus der Erwachsenenperspektive gewöhnlich als »nicht so schlimm« ansehen. Dennoch haben sie sich auf uns als Babys oder Kinder oft verheerend ausgewirkt. Entwicklungstraumata entstehen durch die Art, wie Eltern mit ihren Kindern umgehen. Das hat häufig nichts mit Grausamkeit zu tun, sondern mit Unwissen, Vorurteilen oder mangelnden Fähigkeiten.

Ich kann es nicht oft genug wiederholen: Nach meiner Meinung und Erfahrung sind Entwicklungstraumata sehr weit verbreitet. Ich wünsche mir, dass durch dieses Buch möglichst viele Menschen endlich eine Erklärung für ihr Leben und ihr Lebensgefühl finden. Schauen wir uns zunächst an, wie wir als Menschen mit extremem Stress und empfundener Lebensgefahr umgehen.

Das Tier im Menschen

Um die Folgen von bestimmten Ereignissen verstehen zu können, müssen wir als Erstes begreifen, wie wir auf Gefahr reagieren. Diese Reaktionen sind tief in unserem biologischen Erbe verankert, und sie sind weder pathologisch noch unnormal. Sie gehen zurück auf unsere Instinkte, die bei Gefahr das Steuer übernehmen und – im Idealfall – unser unbeschadetes Überleben sichern sollen. Die Reflexe, die zu diesen Überlebensmechanismen gehören, sind inzwischen recht bekannt: Kampf oder Flucht oder bei Überwältigung: Erstarrung.

Die Fight or flight-Reaktion beschreibt die rasche körperliche und seelische Anpassung von Lebewesen in Gefahrensituationen. Geprägt wurde dieser Begriff von dem amerikanischen Physiologen Walter Cannon im Jahr 1915 in seinem Buch Wut, Hunger, Angst und Schmerz: Eine Physiologie der Emotionen. Neben Hans Selye gehört Cannon zu den Pionieren der Stressforschung.

Stellen wir uns als Gefahrensituation folgendes Szenario vor: Ich mache einen Waldspaziergang in Kanada. Plötzlich höre ich ein Geräusch. Darauf reagiert mein Körper mit einer eingespielten reflexhaften Reaktion, dem Schreckreflex, der zu einer Kontraktion der Beugemuskulatur führt: Ich zucke zusammen. Danach geschieht etwas, das den wenigsten Menschen bewusst ist: Der Körper streckt sich, und ich orientiere mich zu dem Geräusch hin. Orientierung ist eine ganz wichtige Reaktion, die uns die Antwort darauf geben soll, ob wir uns wieder entspannen können oder nicht. In dieser Situation werde ich wach und aufmerksam, und mein Fokus liegt voll und ganz darauf, herauszufinden, ob eine Gefahr droht oder nicht.

Angreifen oder fliehen?

Zurück im Wald. Es hat geraschelt. Ich bin erschrocken zusammengefahren und habe in die Richtung geschaut, aus der das Geräusch kam. Ich entdecke einen Bären. Sofort schaltet mein Körper auf Alarmreaktion.

Was passiert dabei in meinem Körper? Als Erstes wird meine Aufmerksamkeit ganz klar auf den Reiz fokussiert, vielleicht erlebe ich das sogar als »tunnelig«. Das heißt, mein Blick wird eng, und ich bin hellwach für das, was in dieser Situation passiert. Ich denke zum Beispiel nicht darüber nach, welche Farbe die Fliesen in meiner neuen Küche haben sollen. Gleichzeitig versucht der Überlebensmechanismus meines Körpers, große Mengen an Energie bereitzustellen, um angemessen auf die Situation reagieren zu können.

Diese Prozesse laufen im Körper erstaunlicherweise in Sekundenschnelle ab. Er macht sich bereit – für Kampf oder Flucht. Willentliche Entscheidungen sind jetzt praktisch ausgeschlossen – in einem solchen Moment übernehmen die sehr alten Anteile unseres Gehirns das Ruder und leiten komplexe physiologische Prozesse ein, um den Körper für die Notfallreaktionen vorzubereiten.

Kehren wir zurück in den Wald. Hier können nun verschiedene Szenarien ablaufen.

Variante eins: Der Bär wendet sich leise brummend ab und zieht seiner Wege. Mein Körper schaltet wieder herunter in die Normalfunktion. Das dauert einen Moment und ist von den klassischen Nebenwirkungen eines Adrenalinstoßes begleitet: Ich bekomme weiche Knie, vielleicht fühle ich mich zittrig, und wahrscheinlich habe ich das Bedürfnis, jemandem von dem Erlebnis zu erzählen und mich in den Arm nehmen zu lassen.

Variante zwei: Der Bär trabt angriffslustig auf mich zu. In diesem Fall kommt der älteste Teil des Gehirns, das Stammhirn, zum Zuge. Es greift sowohl auf ähnliche abgespeicherte Erfahrungen mit Bedrohungen zurück als auch auf eine Schnellauswertung der Situation. Wichtig ist: Nicht das bewusste Denken trifft die Entscheidung über unsere Reaktion. Es gibt in einer solchen Situation keine Zeit für eine abwägende Plus-Minus-Liste, denn hier geht es ums Überleben.

Wenn uns ein Bär angreift, wird sich das Stammhirn vermutlich fürs Weglaufen entscheiden. Wir rennen, so schnell wir können, vor der Gefahr davon.

Wenn nichts mehr geht

Leider sind Bären schneller als Menschen – was passiert, wenn der Bär den Menschen einholt? Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass dann eine sogenannte Erstarrungsreaktion eintritt. Im schlimmsten Fall wird der Mensch ohnmächtig oder kollabiert. Im Tierreich ist diese Reaktion sinnvoll, weil die Jäger unter den Tieren einen bewegungslosen Körper häufig übersehen oder ihn als Aas wahrnehmen und deshalb nicht auffressen. Das heißt, die biologische Erstarrungsreaktion erhöht für das angegriffene Lebewesen potenziell die Wahrscheinlichkeit zu überleben.

Für uns Menschen hat diese Reaktion jedoch schwerwiegende Folgen. Meist ist sie gekoppelt mit einer sogenannten Dissoziation. Viele Betroffene beschreiben diese Phase wie eine Nahtoderfahrung: Ihr Geist koppelt sich vom Körper ab, sie empfinden keinen Schmerz und haben nicht das Gefühl, dass ihnen das alles gerade selbst widerfährt. Sie nehmen Raum-Zeit-Veränderungen wahr, das Geschehen verlangsamt sich, und es können akustische Veränderungen auftreten. Man könnte sagen, dass die Dissoziation eine Gnade der Natur ist, die uns ermöglicht, gewissermaßen »nicht dabei« zu sein, wenn wir Erfahrungen machen, die unser physisches oder psychisches Überleben bedrohen.

Heute weiß man, dass diese Dissoziationserfahrung zu den stärksten Indikatoren für später einsetzende posttraumatische Symptome gilt. Und da unser Körper und unsere Psyche sehr lernfähig sind, werden sie in Zukunft diese dissoziative Reaktion, die mindestens einmal das Überleben erfolgreich gesichert hat, immer wieder wählen – und zwar auch in Situationen, die in der Realität nicht lebensbedrohlich sind, aber mit ähnlichen Emotionen oder Körperempfindungen einhergehen, wie sie unser Bären-Beispiel hervorruft.

Kampf-, Flucht- und Erstarrungsreaktionen gehören zu unserem evolutionären Erbe. Sie erscheinen in unserer heutigen hoch technisierten Zeit wie befremdliche Relikte, und doch haben wir bis heute keine anderen Reaktionen auf Stress und Gefahr entwickelt. Daraus entstehen einige Schwierigkeiten bei unserer Anpassung an das moderne Leben: Durch Umwelt- und Lebensfaktoren werden so häufig Stressreaktionen ausgelöst, dass es für uns nicht gesund sein kann.

Eine Traumatisierung bedeutet im Grunde, dass der Körper nicht mehr aus einer Schreckreaktion herausfindet, die ein bestimmtes Ereignis ausgelöst hat, sondern darin verharrt.

Wie eine Traumatisierung entsteht

Wenn in der Öffentlichkeit über Trauma gesprochen wird, so ist in fast allen Fällen das Schocktrauma gemeint, und unter Trauma-Therapien werden dementsprechend nahezu immer Schocktrauma-Therapien verstanden.

Ein Schocktrauma ist ein singuläres, also einmaliges Erlebnis im Leben eines Menschen. Es ist klar abgegrenzt und wird meist als überwältigende Erfahrung wahrgenommen, die lebensbedrohlich sein kann. Hier noch einmal die Stressreaktion in vertiefter Darstellung:

Kampf oder Flucht: Solange unser Stammhirn noch eine Chance sieht, werden wir kämpfen oder fliehen. Immerhin hat sich unser gesamter Körper, wie oben beschrieben, dafür bereit gemacht.

Vorübergehende Erstarrung: Werden wir jedoch überwältigt, so erstarren wir. Dabei ist es wichtig, zwischen zwei verschiedenen Formen der Erstarrung zu unterscheiden. Zunächst einmal fallen wir in eine Form von Erstarrung, die noch immer hochgradig sympathikoton ist (das heißt, vom sympathischen Zweig des Nervensystems gesteuert, der für Energie und hohe Erregung zuständig ist). Das bedeutet, dass unter der Erstarrung enorm viel Energie gehalten wird.

Wohl jeder von uns kennt eine ähnliche Form von hoch angespannter Starre in einer Situation, in der man einen Moment lang nicht weiterwusste, aber dennoch komplett angespannt war.

Totstellreflex: Hält die Überwältigung an, so verlässt plötzlich jede Spannung den Körper, und der Mensch kollabiert. Diese Form der Erstarrung ist eine Art Totstellreflex, der vom parasympathischen Nervensystem gesteuert wird, also von dem Teil des autonomen Nervensystems, das für Entspannung zuständig ist. Es ist die älteste zur Verfügung stehende Reaktion auf Lebensgefahr, die wir in unserem Stammhirn gespeichert haben. Je jünger ein Mensch zum Zeitpunkt des traumatisierenden Ereignisses war und je hilfloser er sich in dieser Situation gefühlt hat, desto wahrscheinlicher hat die zweite, die parasympathische Reaktion stattgefunden.

Es ist wichtig, die Unterschiede zwischen den beiden Formen der Erstarrung hervorzuheben: Im ersten Fall haben wir noch Kraft, wir sind noch bereit, uns zu verteidigen, auch wenn wir vorübergehend nicht weiterwissen. Im zweiten Fall ist jede Art von Energie verschwunden, und der Muskeltonus erschlafft.

Schauen wir uns noch einmal im Einzelnen an, was bei einem überwältigenden Erlebnis abläuft: Zunächst einmal wird unglaublich viel Energie im Körper bereitgestellt. Es ist so, als würde ein Blitz in ein Haus einschlagen. Zunächst einmal sind die Stromleitungen, die auf 220 Volt ausgelegt sind, vollkommen überlastet. Die Notabschaltung greift und die Sicherungen fliegen heraus.

Etwas Ähnliches geschieht in dem Moment in unserem Körper, in dem ein Ereignis für uns nicht mehr handhabbar ist und alles viel zu schnell geht oder wir komplett überwältigt werden. Dann tritt unsere Notsicherung in Kraft und unser Körper schaltet über das parasympathische System ab. Dieser Vorgang, der uns auch vor den schrecklichen Gefühlen schützt, die mit dem Ereignis verbunden sind, kann sofort eintreten oder auch erst, nachdem wir gekämpft haben und nicht gewinnen konnten.

Zu den zahlreichen klassischen Symptomen von Schocktraumata gehören zum Beispiel sogenannte Flashbacks und Intrusionen, das heißt, dass Erinnerungen und Bilder auf einen Menschen einstürmen. Sehr viele Klienten haben allerdings gar keine derart spezifischen Symptome, bei ihnen sind die Anzeichen der Traumatisierung subtiler ausgeprägt, ohne deshalb weniger Leid zu verursachen.

Um festzustellen, ob es sich bei einem Erlebnis wirklich um ein Schocktrauma handelt, achte ich darauf, ob die betroffene Person von dem auslösenden Ereignis erzählen kann. Wenn das der Fall ist – auch wenn sie dabei traurig ist und weint –, handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach zwar um ein schreckliches Erlebnis, aber nicht um eine traumatische Erfahrung. Bei traumatischen Ereignissen können Menschen nicht darüber reden, ohne zu sich selbst und zu ihren Emotionen auf Distanz zu gehen – zu dissoziieren. Ich möchte es so erklären: Wenn jemand von einem traumatischen Erlebnis erzählt, wird er oder sie von Gefühlen und Bildern überflutet und kann das genauso wenig aushalten wie bei dem Ereignis selbst.

Dann bleiben zwei Möglichkeiten: Einerseits kann die Person dissoziieren, sich also von ihren Gefühlen abspalten, um nicht mehr davon erdrückt zu werden. Das äußert sich zum Beispiel in einer sehr flachen Tonlage. Wenn ältere Menschen vom Krieg erzählen, wird ihre Stimme oft ausdruckslos. Ihnen fehlt dann völlig der Zugang zu den Gefühlen, die sie bei diesen Erlebnissen empfunden haben. Manchmal kommt es sogar vor, dass Menschen beim Erzählen an Stellen lächeln, an denen es einen als Zuhörer kalt überläuft. Oder sie erzählen von den Ereignissen in einer unpassenden Weise.

Die andere Möglichkeit besteht darin, dass die Gefühle beim Erzählen ganz und gar nicht abflachen. Sie sind so stark, dass der Mensch sie nicht halten kann und gewissermaßen unter ihnen zusammenbricht. Das geht über gewöhnliche Traurigkeit hinaus – es ist, als würde die betroffene Person weggeschwemmt.

Eine traumatische Reaktion entsteht, wenn der Körper keine Meldung bekommen hat, dass das Ereignis vorüber ist und eine Normalisierung der Stressreaktion stattfinden kann. Das Lebensgefühl des betroffenen Menschen entspricht dann einer Fahrt mit der Achterbahn. Sein Nervensystem befindet sich nicht mehr oder nur noch höchst selten im Gleichgewicht, sondern schwankt von einem Zustand der Übererregung zu einem Zustand der Untererregung.

Unsere Physiologie bestimmt in hohem Maße unsere psychische Verfassung.

Wie erkennt man eine Traumatisierung?

In einigen Fällen normalisiert sich dieser Zustand nach spätestens einem halben Jahr wieder. Bei manchen Menschen jedoch besteht er für den Rest ihres Lebens weiter. Dies äußert sich in den verschiedenen eingangs erwähnten Symptomen, die auch in den Klassifikationsystemen aufgeführt sind, mit denen Ärzte und Psychotherapeuten arbeiten.1 An dieser Stelle möchte ich auf Auswirkungen traumatischer Erlebnisse eingehen, die wesentlich weiterverbreitet sind.

Symptome, die auf eine sympathikotone Übererregung hinweisen:

Ständig etwas tun und in Bewegung sein, nicht zur Ruhe kommen können: »Ich tue, also bin ich.«NervositätKonzentrationsschwächeWutausbrücheSchlaflosigkeitAngespanntheitSchwierigkeiten, anderen zu vertrauenMisstrauenVieles auf sich selbst beziehenArbeitssucht: »Ich arbeite, also bin ich.«Suche nach dem »Adrenalin-Kick«Probleme, den Fokus zu haltenSelbstmedikation mit allem, was beruhigt

Symptome, die auf eine parasympathische Übererregung hinweisen:

DepressionEin Gefühl von SinnlosigkeitSich »anders« fühlenIn Trance gehen (zum Beispiel vor dem Fernseher oder Computer oder beim Lesen)Kraft- und EnergielosigkeitSich allein und abgeschnitten fühlenSich vom Leben wie durch eine Glaswand getrennt fühlen

Die betroffenen Menschen schwanken beständig von einem Zustand in den anderen. Der zeitliche Abstand ist dabei unterschiedlich, aber irgendwann finden sie sich auf der »anderen« Seite wieder. Durch den Achterbahneffekt gibt es nur selten Phasen, die von reiner Lebensfreude und Entspannung geprägt sind – und das macht das Leben ungeheuer schwer.

Entwicklungstrauma – alte Schmerzen, tief verborgen

Anders als beim Schocktrauma, das auf ein einmaliges Erlebnis zurückgeht, beruht das Entwicklungstrauma auf sich wiederholenden Ereignissen, die ein hohes Stressniveau ausgelöst haben. Entwicklungstraumata sind meiner Meinung nach heute ein epidemisch auftretendes Phänomen. Sie sind inzwischen zu einem Merkmal unserer Gesellschaft geworden. Und leider ist die Art und Weise, wie wir mit Kindern, Babys und Geburten umgehen, nicht dazu angetan, dies zu ändern. Entwicklungstraumata können zum Beispiel entstehen, weil das Kind nach der Geburt aus gesundheitlichen Gründen nicht zur Mutter durfte oder im Krankenhaus bleiben musste. Sie können entstehen, weil das Kind von klein auf zu wenig Körperkontakt bekommen hat und die Mutter oder die Bezugsperson nicht in der Lage war, empathisch zu reagieren. Immer noch werden Babys schreien gelassen oder im Nebenzimmer zum Schlafen »abgelegt«. All dies ist für die Kinder höchst bedrohlich. Wenn sie allein gelassen werden, empfinden sie förmlich Todesangst.

Solche sich wiederholenden Stressoren haben eine völlig andere Wirkung auf Menschen als ein Schockerlebnis, denn sie werden zu einem Teil ihrer Persönlichkeit. Ich versuche dies immer so zu verdeutlichen: Ein Schocktrauma ist wie ein falschfarbiger Faden in einem sonst gut gewebten Teppich. Zieht man ihn heraus, ist der Teppich immer noch in Ordnung. Bei einem Entwicklungstrauma müsste man so viele Fäden ziehen, dass sich der Teppich in Form und Farbe verändern würde. Durch lang anhaltenden Stress prägen sich das gesamte Weltbild und Selbstbild eines Menschen vollkommen anders und tiefgreifender als durch einen Schock. Meine Erfahrungen in der Praxis haben mir allerdings gezeigt, dass die beiden Traumaformen nur sehr selten einzeln vorkommen. Unter einem Schocktrauma verbergen sich meist auch Entwicklungstraumata.

Wir sind uns heute bewusst, dass es außer unserem Gehirn im Kopf noch ein »Bauch-Hirn« und ein »Herz-Hirn« gibt. Beide senden Informationen an unser Kopf-Gehirn, die wir unbedingt benötigen, damit unser Leben gelingt. Man könnte diese Informationen als Intuition bezeichnen, da sie unterhalb der Bewusstseinsschwelle liegen und wir sie nur wahrnehmen können, wenn wir unseren Körper wirklich gefühlt wahrnehmen.

Bei allzu großen – auch seelischen – Schmerzen verlassen wir unseren Körper. Diese Abspaltung oder Dissoziation kann zu einem bleibenden Zustand werden, der den meisten Menschen kaum bewusst ist, weil sie noch immer in der Lage sind, ihren Alltag zu meistern und zu »funktionieren«. Viele bemerken erst dann, dass etwas nicht stimmt, wenn sie Schmerzen haben, die sich nicht erklären lassen, ein Burn-out entwickeln oder ihre Urlaubszeit überwiegend mit Krankheiten verbringen.

Fehlt der Zugang zum eigenen Körper, spüren wir die eigenen Bedürfnisse und Gefühle wenig, und so werden diese oft vernachlässigt. Die innere Wahrnehmung des Körpers ist ein wesentlicher Bestandteil dessen, was wir für ein zufriedenes und erfülltes Leben brauchen. Wenn wir unseren Körper nicht mehr spüren, entgehen uns viele Hinweise darauf, wann wir Grenzen setzen oder Pausen machen sollten, wann wir essen sollten oder nicht und vieles mehr.

Leider besteht der Preis für die Abspaltung des Körpers auch in einer Verflachung aller Gefühle. Das ist natürlich einerseits sinnvoll, da alte Schmerzen auf diese Weise eingekapselt werden und nicht mehr wehtun. Andererseits können dann auch positive Gefühle nicht mehr in ihrer ganzen Fülle erlebt werden. Die betroffenen Menschen sind gewissermaßen im Kopf und in einer Welt des Intellekts gefangen. Sie empfinden das nicht zwingend als Gefangenschaft – als Freund oder Freundin erkennt man jedoch, dass dem anderen etwas fehlt.

Muster, die die Welt bedeuten

Durch Entwicklungstraumata werden Muster angelegt, wie wir die Welt wahrnehmen. Wer beständig in der Erwartung von Gefahr lebt, beobachtet seine Umgebung genau und nimmt diese durch eine Brille wahr, die darauf ausgerichtet ist, entsprechende »gefährliche« Signale auszulesen. Wer kennt das nicht? Wir erwarten von unserem Gegenüber ein bestimmtes Verhalten, und dieses tritt in den meisten Fällen auch ein. Der Grund: Unsere gesamte Wahrnehmung ist darauf ausgerichtet, unsere Erwartung bestätigt zu bekommen. Besonders deutlich wird das, wenn zwei Menschen in eine Beziehungskrise geraten. Plötzlich bemerken sie nur noch unangenehme Eigenschaften an der einst so geliebten anderen Person. Natürlich ist den wenigsten klar, dass sie eine selektive Brille tragen. Sie glauben, sie würden den anderen erst jetzt »richtig« sehen, woran sie zuvor eine falsche, rosarote Brille gehindert habe.

In vielen Versuchen hat sich jedoch bestätigt, dass es so etwas wie objektive Realität nicht gibt. Unsere Sicht der Wirklichkeit ist immer abhängig von der individuellen Brille, durch die wir in die Welt schauen. Diese Brille ist zum einen von dem geprägt, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten, und zum anderen von unserer Vorerfahrung, die praktisch die Farbe der Brille bestimmt. Dieses Phänomen zeigt sich sehr eindrucksvoll in dem Experiment mit dem »unsichtbaren« Gorilla: Dabei wurde den Versuchspersonen ein Video gezeigt, in dem zwei Teams von jeweils drei Personen sich einen Basketball zuwerfen. Die Versuchspersonen waren aufgefordert, die Ballabgaben zu zählen. Im Video lief eine Person, die als Gorilla verkleidet war, mitten zwischen den Spielern hindurch und klopfte sich auf die Brust. Nach Betrachtung des Videos wurden alle Versuchspersonen befragt, ob sie etwas Ungewöhnliches gesehen hätten. Rund die Hälfte von ihnen hatte nichts Ungewöhnliches wahrgenommen: Ihre Aufmerksamkeit hatte etwas anderem (dem Zählen der Ballabgaben) gegolten. – Wir glauben gern, dass uns das nicht passieren würde, doch Menschen neigen nun einmal dazu, ihre eigenen Fähigkeiten und Leistungen zu überschätzen und die der anderen zu unterschätzen.

Ein Mensch, der seine Aufmerksamkeit beständig darauf richtet, Gefahren auszumachen, weil er die Welt aus Erfahrung für einen gefährlichen Ort hält, wird sich wesentlich anders durch sein Leben bewegen und auf andere Menschen zugehen als jemand, der davon überzeugt ist, dass ihm die Leute freundlich gesonnen sind und die Welt es gut mit ihm meint.

Dies ist sicherlich eine der gravierendsten Folgen aus traumatischen Erlebnissen. Am stärksten ausgeprägt ist sie bei Menschen mit sehr frühen Traumatisierungen. Bei ihnen ist diese innere Wahrnehmung von Gefahr sozusagen in die »Persönlichkeits-DNA« eingraviert.

Zwischen Über- und Untererregung – die traumatische Achterbahn

Es gibt allgemeine Symptome, die sowohl bei einem Schocktrauma als auch bei einem Entwicklungstrauma auftreten können. Sie haben mit Über- und Untererregung zu tun. Wie beschrieben können sie sich darin äußern, dass sich das ganze Nervensystem ständig auf einem sehr hohen Aktionsniveau befindet. Auch starke Wechsel zwischen extremer Erregung und einem Mangel an Erregung, wie zum Beispiel bei einer Depression, sind möglich.

Ein Leben mit einer Traumatisierung ist sehr anstrengend, denn diese zeigt sich praktisch in allen Lebensbereichen. Sie beeinflusst den Umgang des Menschen mit sich selbst, mit seinen Lebenszielen und allen Beziehungen. Ein Trauma durchwirkt unser Leben auf eine so grundlegende Art und Weise, dass es kaum noch wahrgenommen wird, weil es so normal erscheint. Es gibt allerdings einige Symptome, die in unserer Gesellschaft immer häufiger in den Vordergrund treten:

Schlafstörungen und Unruhe. Ein Körper, der ständig Gefahren erwartet, hat selbstverständlich Schwierigkeiten, zur Ruhe zu kommen, sich zu entspannen oder gar einzuschlafen. Ich frage neue Klienten häufig, wie es sich für sie anfühlen würde, wenn sie sich einfach auf die Couch setzten und nichts täten. Die meisten können es sich nicht einmal mehr vorstellen, einfach nichts zu tun. In dem Moment, in dem sie äußerlich zur Ruhe kommen, spüren sie ihre innere Unruhe, die oft auch unangenehme Gefühle hochspült. Deshalb ist es viel leichter, tätig und in Bewegung zu bleiben. Manche Menschen werden auf diese Weise sehr erfolgreich – und unsere Gesellschaft belohnt Workaholics mit Karriere, Geld und Status.

Angst und Panik. Angstzustände und Panikattacken zählen für viele Trauma-Therapeuten zu den Symptomen von Traumata. Panikattacken können wir erklären, indem wir uns daran erinnern, dass der viel zu hohe innerliche Energielevel einer Person diese ununterbrochen in einem Zustand der Übererregung festhält. Diese Übererregung wird meist durch hohe Muskelspannung und viel Ablenkung und »Funktionieren« »gemanagt«.

Wenn durch die innere Brille ständig Gefahr erwartet und die sehr hohe Energie als Angst interpretiert wird, sucht das Gehirn nach einem Grund für diese Angst. Evolutionär gesehen, sind wir leider darauf geeicht, die Auslöser für Angst immer in unserer Umwelt zu suchen. Vereinfacht gesagt, sind Panikattacken Momente, in denen der innere Zustand der Übererregung nicht mehr zu halten ist und wie ein Dampfkessel hochkocht. Das Übersprudeln dieses bereits brodelnden Zustands kann dann durch praktisch alles ausgelöst werden. Nach einer Panikattacke kehrt kurz Entspannung ein, bis das alte Niveau der Übererregung wieder erreicht ist und es von vorne losgeht.

Die meisten Betroffenen entwickeln eine genaue Selbstbeobachtung. Die eigenen Gefühle werden immer sensibler analysiert, und so entwickelt sich das Ganze zum Selbstläufer: Der Mensch nimmt Spannung wahr und interpretiert diese als Angst. Er will das Gefühl kontrollieren, merkt, dass er dazu nicht in der Lage ist, die Angst wächst, und so geht es weiter, wie bei einer Lawine, die langsam in Gang kommt.

Wut. Manche Menschen spüren keine Angst, haben dafür aber Wutanfälle. Sie sind für ihre Umgebung manchmal schwer auszuhalten und sehr unberechenbar im Umgang. Vom Ablauf her ist es wie bei den Panikattacken, aber die innere Übererregung wird anders interpretiert: Die Person reagiert auf alle Reize von außen mit Wut, weil sie sich angegriffen fühlt.

Eine Verbesserung dieser Symptome kann erst dann eintreten, wenn ein Mensch anfängt, seine innere Unruhe zu fühlen und wahrzunehmen, ohne sie zu interpretieren. Er oder sie lernt, die Unruhe rein physiologisch als Körperempfindung wahrzunehmen und nicht mit Gefühlen zu verbinden.

Sprunghaftigkeit, Schreckhaftigkeit und Hyperaktivität. Dies können weitere Symptome nach traumatischen Ereignissen sein. Für manche Menschen ist es extrem schwierig, sich zu konzentrieren. Ihre innere Unruhe ist so groß, dass sie nicht sehr lange bei einer Sache bleiben können. Einige meiner Klienten kostet es beispielsweise große Mühe, ein Buch zu lesen.

Untererregung, Kollaps und Depression. Der Zustand der Übererregung ist enorm anstrengend. Nach einer Weile schaltet der Körper von sich aus das Sicherungssystem ein. Die Sicherungen brennen durch, und die Person landet am anderen Ende der Achterbahn in der Untererregung oder im Kollaps und fühlt sich regelrecht »abgeschaltet«.

Sehr häufig fallen Menschen nach der Arbeit in diesen Kollaps. Erstaunlicherweise verwechseln viele diesen Zustand inzwischen sogar mit Entspannung. Dabei ist echte Entspannung ein angenehmer körperlicher Zustand, in dem der Muskeltonus nachlässt, man innerlich »runterfährt« und sich dennoch präsent fühlt.

Bei vielen meiner Klienten, bei denen Ärzte eine Depression oder sogar eine bipolare Störung – also eine manisch-depressive Erkrankung – diagnostiziert hatten, stellte sich heraus, dass dahinter traumatische Ereignisse lagen, die nicht integriert waren. Häufig empfinden Menschen in einem Zustand der Untererregung oder des Kollapses eine tiefe Sinnlosigkeit, das Gefühl der Abgeschnittenheit von anderen Menschen, emotionale Taubheit oder einen unergründlichen Schmerz, der nichts mit ihrem aktuellen Leben zu tun hat. Die tiefe Erschöpfung, die damit einhergeht, ist das Ergebnis der ständigen Übererregung, die irgendwann die Energiereserven eines jeden Menschen aufgebraucht hat.

Der Wechsel von Über- und Untererregung kann in langen Abständen erfolgen oder auch in sehr kurzen. Manche Menschen sind in ihrem Beruf sehr leistungsfähig, während sie abends in ihrem Privatleben zu nichts mehr zu gebrauchen sind. Andere wirken während des Tages oft überhaupt nicht präsent und sind auch nicht emotional anwesend, können aber nachts durch innere Unruhe nicht schlafen.

Bei all diesen Zuständen neigen wir zur Selbstmedikation. Wir greifen auf künstliche Beruhigungsmittel zurück, um bestimmte Dinge nicht wahrnehmen zu müssen: Alkohol, Essen, Computer, Fernsehen und Rauchen sind wohl die am weitesten verbreiteten Methoden, um die innere Unruhe nicht mehr zu spüren oder sie zumindest besser aushalten zu können.

Je länger das Nervensystem in einem solchen dysregulierten Zustand bleibt, desto erschöpfter fühlt sich der betroffene Mensch. Kein System kann auf Dauer im Zustand der Erregung bleiben, und auch der ständige Wechsel zwischen extremer Über- und Untererregung bleibt nicht folgenlos. Wer würde sich in einen Porsche setzen und gleichzeitig auf Gas und Bremse treten? Das Ergebnis wäre lediglich ein extrem hoher Benzinverbrauch und auch sonstiger Verschleiß, ohne dass man irgendwo hinkäme.

Bei Stress schöpft die Leber all ihre Reserven aus, um genügend Energie bereitzustellen. Geschieht dies allerdings ständig, ist sie irgendwann völlig erschöpft. Das Gleiche gilt für die Nebennieren, die viel zu häufig Adrenalin produzieren müssen. So werden auch die Nieren überanstrengt, und dies führt zu einem chronisch abgekämpften Zustand, in dem die nötige Energie fatalerweise nur durch noch mehr Adrenalin bereitgestellt wird. Medizinisch gibt es für diesen Zustand inzwischen den Begriff chronischer Erschöpfungszustand oder Burn-out.

All die beschriebenen körperlichen und seelischen Aspekte können Hinweise auf eine Traumatisierung sein. Sie müssen es aber nicht – die therapeutische Psychologie ist eben keine exakte Wissenschaft. Aber wenn jemand Leidensdruck empfindet, sich nicht mehr fallen lassen kann, Probleme mit Vertrauen hat und sich ständig in Anspannung befindet, dann ist das wohl ein guter Zeitpunkt, das Ganze näher zu untersuchen. Denn wenn wir zu lange im Funktionsmodus verharren, fühlen wir uns irgendwann erschöpft, ausgebrannt und freudlos.

Selbstregulation – das Thermometer des Lebens

Leiden Menschen mehr, als sie aushalten können, suchen sie nach Lösungen. Sie sehnen sich danach, von ihrem Leiden beziehungsweise den Symptomen buchstäblich erlöst zu werden. Unser Denken über Symptome und die Kategorisierung in Krankheiten führt leider häufig in die Irre. Wir suchen dann nach einer Lösung, die das Symptom verschwinden lässt. Aber unsere Psyche funktioniert nun einmal nicht nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung. Wir müssen damit beginnen, uns als einen Prozess, als ein vielschichtiges System zu verstehen.

Die moderne Medizin geht nicht selten so vor, als hätte der Patient einen Stein im Schuh, der ihm Schmerzen bereitet. Also bekommt er Schmerztabletten. Aber wenn er die Schmerzen nun nicht mehr fühlt, ist die Ursache dann beseitigt? Selbstverständlich nicht – und doch ist das Denken, auf dem dieses Vorgehen beruht, sehr verführerisch.

In der Psychotherapie geschieht Ähnliches. Die Therapeuten widmen sich den Symptomen und den Problemen, die ein Klient mitbringt. Je nach Therapieform wird versucht, das Symptom – meistens die Symptome – dadurch zu mildern, dass man nach der Ursache forscht und diese aufdeckt. Es sollen also durch Erkenntnis Symptome zum Verschwinden gebracht werden. Ein anderer Weg besteht darin, die Verhaltensmuster der Klienten so zu verändern, dass die Symptome nicht mehr auftreten, oder Medikamente zu verschreiben, die die Symptomatik verschwinden lassen oder mildern.

Diese Ansätze gehen meiner Meinung nach auf unseren Wunsch nach Linearität und Logik zurück. Nicht selten allerdings auch auf die Ohnmacht, mit der wir letztendlich der Komplexität eines menschlichen Wesens gegenüberstehen.

Bettina Schroeter, eine meiner ersten Ausbilderinnen, hat einmal gesagt: »Neurosen können wir ein ganzes Leben lang bearbeiten. Sie sind wie eine Hydra – haben wir eine bearbeitet, zeigt sich bereits die nächste.« Aus irgendeinem Grund hat mich dieser Satz besonders berührt, und ich habe ihn mitgenommen, obwohl ich ihn damals überhaupt noch nicht verstand. Doch ich habe gespürt: Darin liegt eine Wahrheit.

Der wichtigste Begriff, über den ich auf meiner Forschungsreise nach dem Kern unseres Leidens während einer Fortbildung gestolpert bin, ist Selbstregulation. Das erste Mal davon gehört habe ich durch meinen Kollegen Johannes B. Schmidt, und das Wort packte mich genauso wie Jahre zuvor die Sätze von Bettina. Selbstregulation – das klang wahrhaftig. Plötzlich fielen all die Puzzlestücke meiner Erfahrungen mit mir selbst und meinen Klienten an eine andere, richtigere Stelle. Die Beschäftigung mit den bewussten und unbewussten psychischen Vorgängen der Selbstregulation beantwortete die wichtige Frage, warum viele Menschen praktisch alles über sich wissen und verstehen und dennoch nicht glücklich leben können. Weshalb sie sogar häufig das Gefühl haben, dass sich nach Jahren der therapeutischen Arbeit fast nichts bewegt hat.

Was also ist Selbstregulation? Verkürzt gesagt, umfasst sie folgende Fähigkeiten:

die Fähigkeit, sich bei emotionalem Aufruhr selbst zu beruhigen,die Fähigkeit, sich zu erholen und zu entspannen,die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit auszurichten und zu halten,die Fähigkeit, Impulse zu fühlen, zu kontrollieren und gegebenenfalls zurückzustellen,die Fähigkeit, mit Frustrationen umzugehen,die Fähigkeit, Absichten zu verwirklichen und Ziele zu verfolgen, die Fähigkeit, Freude zu empfinden und die Welt erkunden zu wollen, sowiedie Fähigkeit, eine Pause zwischen Reiz und Reaktion zu machen.

Menschen sind den ganzen Tag über darauf angewiesen, sich innerlich so regulieren zu können, dass sie in einem guten Zustand bleiben. Das Leben hält ständige Herausforderungen für uns bereit und verlangt, dass wir uns dauernd auf Situationen einstellen, mit anderen Menschen umgehen, arbeitsfähig sind und uns sozial angemessen verhalten. Dabei unterscheide ich sehr stark zwischen gefühlter Lebendigkeit und einem »Funktionsmodus«. Viele Menschen bewältigen ihren Alltag in einem Funktionsmodus, in dem sie zwar noch allen Anforderungen genügen, sich aber kaum spüren und erst recht nicht ihr Leben genießen.

Damit wir den Anforderungen unseres Lebens gerecht werden, greifen wir bewusst oder unbewusst auf Ressourcen – funktionale und dysfunktionale – zurück. Mit »Ressourcen« meine ich Dinge, mit deren Hilfe wir uns im Alltag ablenken, beruhigen, aufputschen oder auf irgendeine andere Weise unsere Stimmung verändern.

Funktionale Ressourcen. Das sind Aktivitäten, die uns wirklich guttun. Dazu gehören Spaziergänge, Meditationen, gute Gespräche, Kontakt, zur Ruhe kommen oder uns einem Hobby widmen.

Dysfunktionale Ressourcen. Genauso häufig wie die oben genannten Ressourcen nutzen die meisten Menschen auch solche, die sich zwar gut anfühlen, jedoch nicht unbedingt gut sind. Dazu gehören Rauchen, Alkohol trinken, Essen, vor dem Fernseher oder Computer sitzen, Shoppen gehen etc.

Wie schnell ein Mensch auf Ressourcen zurückgreift und wie viel Glück und Stress er oder sie zulassen kann, hängt von der Fähigkeit zur Selbstregulation ab. Sie ist die ausschlaggebende Fähigkeit, die unser Leben schön oder anstrengend macht. Sie ist der tiefe Ozean, auf dem sich unser Leben abspielt, die Unterströmung unseres Lebens. Die Symptome oder Diagnosen sind nur die Dinge, die sich an der Oberfläche zeigen. Ganz gleich, wie viele von ihnen wir bearbeiten – solange wir die Strömung nicht verändern, wird sich unser Leben nicht grundlegend verbessern.

Nervensachen

Schauen wir uns also genauer an, was Selbstregulation ist und wie sie entsteht. Dafür müssen wir eintauchen in die Welt des Körpers und des Nervensystems.

Im täglichen Leben werden die meisten unserer Aktionen von den älteren Teilen des Gehirns und des autonomen Nervensystems, aber auch des endokrinen Systems gesteuert.2 Dabei hat das autonome Nervensystem die Aufgabe, unsere Erregung zu steuern und zu modulieren, also sowohl unsere Wach- als auch unsere Entspannungszustände. Es heißt »autonom«, weil es sich dadurch auszeichnet, dass es nicht direkt willentlich beeinflusst werden kann.

Die beiden Zweige des autonomen Nervensystems (ANS) heißen Sympathikus und Parasympathikus. Der Sympathikus ist für Erregung und der Parasympathikus für Entspannung und Ruhe zuständig. Sympathikus und Parasympathikus, der hauptsächlich vom Vagusnerv repräsentiert wird, steuern praktisch alle Organe an und regulieren diese. Würde man alle Nerven der beiden Teile des ANS abbilden, so würden sie ziemlich genau unseren Körperumriss zeigen. Grob gesagt sind Sympathikus und Parasymphatikus Gegenspieler, die sich gegenseitig in Schach halten und die Aktivitäts- und Entspannungszyklen im Körper lenken. Ist der eine aktiver, so ist der andere inaktiver (dies ist eine vereinfachte Darstellung). Für unser Wohlbefinden sind beide gleich wichtig.

Ein angemessen innervierter (aktivierter) Sympathikus sorgt für:

angenehme Erregung,Neugier,Freude,Wachheit,Aktionspotenzial.

Sein Gegenspieler, der Parasympathikus, sorgt für:

angenehme Entspannung,erholsamen Schlaf,meditative Ruhe,ein Gefühl von Verbundenheit.

Ein gesundes autonomes Nervensystem zeichnet sich vor allem durch Flexibilität aus. Es ist fähig, in beide Richtungen zu schwingen und sich den jeweiligen Gegebenheiten anzupassen. Die Schwingungsbreite des ANS, das heißt, dessen Möglichkeit, unterschiedlich weit zu schwingen, ist bei jedem Menschen verschieden. Wie stark sich die Schwingungsbreite herausbildet, hängt in sehr hohem Maße davon ab, wie die Geburt und die frühe Kindheit verlaufen sind.

Das Toleranzfenster – der Rahmen unseres Lebens

Man kann sich das Ganze wie einen Fensterrahmen vorstellen, in dem die Erregung mal schwach und mal stürmisch hin und her schwingt, sich dabei jedoch innerhalb des Rahmens bewegt. Das nennt man das Window of Tolerance.

Menschen mit einem großen Toleranzfenster können mehr Gefühle, das heißt, Erregung zulassen, ohne dass es sie stresst. Sie können stärkere Glücksgefühle empfinden und auch mehr Stress aushalten als Menschen mit einem schmalen Toleranzfenster. Letztere stoßen sehr schnell im wahrsten Sinne des Wortes an ihre Grenzen.

Wir alle fühlen uns am wohlsten, wenn wir uns im Rahmen unseres Toleranzfensters bewegen, und streben diesen Zustand an. Das bedeutet gleichzeitig, dass wir uns ununterbrochen so regulieren müssen, dass wir innerhalb des Fensters bleiben. Die ideale Voraussetzung dafür wäre, wenn wir uns die ganze Zeit spüren und Kontakt mit unserem Körper, unseren Gefühlen und Bedürfnissen halten würden. Dann wären wir in der Lage, eine innere Dysregulation sofort auszugleichen und würden nicht »aus dem Rahmen fallen«.

Ein »gesundes«, anpassungsfähiges Nervensystem stellt sich etwa so dar:

Abbildung 1: Schwingungen eines flexiblen und anpassungsfähigen autonomen Nervensystems im breiteren Toleranzfenster

Die Schwingungen sind verschieden und unterscheiden sich in ihrer Intensität. Sie bewegen sich jedoch immer innerhalb des Rahmens. Während eines stressigen Tages hält sich die Schwingung mehr im oberen Bereich. An einem anderen Tag, den man auf der Couch verbringt, orientiert sich die Schwingung mehr nach unten, ohne größere Ausschläge nach oben.