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Was heißt »Todsünde«? Das Wort ist noch heute in jedermanns Mund: Ob in der Politik, beim Sport, in der Wirtschaft und … in der Kirche. Doch woher kommt die Vorstellung von der Todsünde? Wer hat sie er- bzw. gefunden? Warum die Auswahl dieser sieben Taten? Seit wann wird vor ihnen gewarnt und warum? Das alles wird augenzwinkernd erzählt, mit Leichtigkeit, also eine Einführung zum Schmunzeln. Vor allem aber: Auch die Tugenden kommen vor, weil sie uns helfen, gut durch das Leben zu kommen. Ein wunderbar vergnüglicher Lesestreifzug durch die Welt von »Gut&Böse«, von »Laster&Tugend« – immer mit Blick auf den Alltag und was es dem Menschen bringt.
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Seitenzahl: 165
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Matthias Schlicht
Auch die Faulen kommen insParadies
Höllisches und Himmlisches zum Nachdenken und Ausprobieren
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2023
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Als deutsche Bibelübersetzung ist zugrunde gelegt:
Die Bibel. Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Bundes. Vollständige deutsche Ausgabe
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2005
Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, Rohrdorf
Umschlagmotiv: © Franziska und German Neundorfer, Freiburg
Illustrationen: German Neundorfer, Freiburg
E-Book-Konvertierung: ZeroSoft SRL
ISBN Print: 978-3-451-03352-0
ISBN E-Book (EPUB): 978-3-451-82949-9
Für meinen Enkel Jakob
Auf Spurensuche
Hochmut und Demut
Von Pharisäern und hochmütigen Fahrschülern
Maria und ein demütiger Millionär
Geiz und Großzügigkeit
Von Hananias und Saphira und anderen Geizkragen
Der Samariter und großzügige Kinder
Neid und Zufriedenheit
Arbeiter im Weinberg und andere neidische Kollegen
Paulus und zufriedene Hobbybastler
Zorn und Liebe
Kain und Abel und zornige Coronagegner
Der verlorene Sohn und liebende Erfahrungen
Wollust und Zärtlichkeit
König David und das wollüstige St. Pauli
Die Frau mit dem Alabastergefäß und Zärtlichkeiten im Hotel
Maßlosigkeit und Bescheidenheit
Von Kornbauern, einem hohen Turm und gelben Säcken
Jesu Lehre und leichtes Gepäck
Faulheit und Lebensfreude
Das Buch der Sprichwörter und was an Freizeit faul ist
Zachäus und lebensfreudiger Genuss
Die Waagschale
Über den Autor und Illustrator
Es gibt Worte, die sterben niemals aus, während andere Worte im Sumpf des Vergessens untergehen. Zum Beispiel „Lichtspielhaus“ oder „Münztelefon“ oder „Sendeschluss“. Das Wort „Todsünde“ hingegen ist noch immer präsent und wird gerne und oft in unterschiedlichen Lebensbereichen verwendet. In der Politik: „Dass ein Abgeordneter sich persönlich an Schutzmasken bereichert, ist eine politische Todsünde.“ In der Wirtschaft: „Die Vertuschung des Dieselabgasskandals war die Todsünde des Konzerns.“ In der Kultur: „Subventionsbetrug ist die Todsünde eines Kulturbetriebes.“ Im Sport: „Blutdoping ist kein Versehen, sondern die Todsünde des Radsportes.“ Die Liste der möglichen Schlagzeilen ließe sich ohne Probleme verlängern. Die Todsünde ist in aller Munde, aber wie kommt sie uns auf die Zunge? Wann und wo und warum wurde sie „erfunden“? Oder besser gesagt: wurden sie (Plural) erfunden, denn es gibt sie in sieben Spielarten. Machen wir uns auf die Suche.
„Tief ist der Brunnen der Vergangenheit“, schreibt Thomas Mann als ersten Satz in seinem Roman Joseph und seine Brüder. Der Brunnen alter Worte reicht nachweislich zurück bis in die Philosophie der alten Griechen. Die antiken Philosophen untersuchten nicht nur die vorfindliche Natur der Welt, sondern auch das Innenleben der Menschen. Sie schauten auf die menschlichen Taten und unterschieden sie in gut und schlecht oder ganz und gar böse. Was die Griechen bereits angedacht hatten, hat Cicero im besten Latein in seiner Schrift De officiis (Von den Pflichten) im Jahr 44 v. Chr. derart beschrieben: Streben soll der Mensch nach Gerechtigkeit (iustitia), Mäßigung (temperantia), Tapferkeit (fortitudo) und Weisheit (sapientia). Verkehrt man nun diese Worte in ihr Gegenteil, gelangt man zu den Untugenden: Ungerechtigkeit, Maßlosigkeit, Feigheit, Dummheit. Über diese lässt sich Cicero nicht weiter aus; er verbleibt bei den schönen ethischen Werten.
Bekanntlich hat das Christentum die Erkenntnisse der griechischen und römischen Philosophie für sich übernommen und christlich gedeutet – man könnte auch sagen „getauft“. Denn schließlich war der Alltag der Menschen bereits zutiefst von dieser Philosophie geprägt. Es ist noch heute so: Selbst der härteste Atheist kommt in Deutschland nicht darum herum, in einem durch und durch christlich imprägnierten Land zu leben. Die Kirchengebäude in den Orten, die Feste wie z. B. Ostern und Weihnachten, die Bräuche von der Taufe bis zur Beerdigung sind nicht aus der Erinnerung und der Gegenwart verschwunden, nur weil man mit Gott nichts mehr am Hut hat. So war es auch bei den frühen Christen in der griechisch-römisch geprägten Welt des Altertums. Die von alters her bekannten Tugenden waren präsent, auch wenn die einfache Bevölkerung wohl kaum Platon oder Cicero gelesen hat.
Bischof Ambrosius von Mailand hat im 4. Jahrhundert als Erster die alten Tugenden für die christliche Theologie und Ethik übernommen. Zu den alten vier philosophischen Tugenden kommen noch die drei speziell christlichen Tugenden hinzu: Glaube, Liebe, Hoffnung. Vier plus drei macht sieben. Eine „heilige“ Zahl, die sich bekanntlich des Öfteren in der Bibel findet.
Neben der christlichen Auflistung der Kardinaltugenden kam es auch zu einer Aufstellung von Lastern, also von Übeltaten, die unbedingt zu verhindern sind bzw. die man als Christ mit Blick auf das ewige Seelenheil im Jenseits persönlich abwehren muss. Ein solcher „Lasterkatalog“ ist erstmals im 4. Jahrhundert von Euagrios Pontikos überliefert. Er lebte als Mönch und gilt als einer der sogenannten „Wüstenväter“. Er weilte in Nitria, einem Wüstenörtchen im westlichen Nildelta. Um den Versuchungen der Welt zu entgehen – die Großstadt Alexandria mit ihren Verführungen war nicht weit entfernt –, lebte er dort als Asket und konnte in dieser Abgeschiedenheit und Ruhe die Übel des irdischen Lebens beschreiben.
Seine „Achtlasterlehre“ umfasst folgende Taten: Unmäßigkeit, Unkeuschheit, Habsucht, Zorn, Trübsinn, Überdruss, Ruhmsucht, Hochmut. Wie gesagt: acht üble Taten, die Siebenzahl war ihm egal. Erst der Mönchspapst Gregor der Erste hat sie im 6. Jahrhundert wieder auf die Siebenzahl gebracht, indem er Ruhmsucht beim Hochmut einordnete und den Trübsinn unter den Überdruss mischte. Da waren es nur noch sechs, ein Platz war frei für Nummer Sieben: das war für Gregor der Neid. Damit war die Liste komplett und die Lehre und die Rede von den Todsünden wird seither durch die Welt und die Jahrhunderte getragen.
Interessant – auch in psychologischer Betrachtung – ist die Schärfung des Begriffes „Todsünde“. Als solche gilt eine böse Tat nur, wenn sie bewusst und aus freiem Willen getan wird. Dem Täter muss vorher klar gewesen sein, dass er die Untat gegen seine(n) Mitmenschen und Gottes Gebote begeht. Man wird also nicht „zufällig“ zum Todsünder. Es passiert nicht „aus Versehen“, sondern mit Plan und Bewusstsein, mit „voller Schuldfähigkeit“. Es gibt nach der Tat keine Ausreden. Der Täter hat es so gewollt. Nun muss er damit leben; in der diesseitigen Welt und im jenseitigen Leben erst recht.
Nach biblischer Überzeugung hat Gott den Menschen mit Freiheit ausgestattet. Er ist frei, zu wählen, was er tut. Mehr noch: Nach dem „Sündenfall“, bei dem Adam und Eva die Frucht vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen aßen (vgl. Gen 3), haben die Menschen dieses Unterscheidungs- und Entscheidungskriterium mit im Gepäck. Die Aufgabe, Gut und Böse zu unterscheiden, ist den Menschen nach dem Rausschmiss aus dem Garten Eden nicht wieder genommen worden. Damit müssen wir leben. Und danach müssen wir handeln. Wir können uns immer auch für das Schlechte entscheiden. Gegen uns, gegen andere und gegen Gott. Es ist unsere Freiheit. Gott greift nicht in unser Handeln ein, und mit den Folgen müssen wir dann auch selbst fertig werden. Von der Vernunft her ist das ein schöner Gedanke: Wir Menschen handeln autonom, selbstbestimmt. Von unserem Empfinden her aber bleibt ein schaler, kalter Eindruck. Wir sind frei – doch was nützt mir dieses Wissen, wenn ein geliebter Mensch an einer Krankheit stirbt oder gar umgebracht wird? Müsste Gott nicht trotz aller menschlicher Freiheit von sich aus eingreifen? Die Frage bleibt letztlich unbeantwortet, wie die Frage von Jesus am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mt 27,46) Gott schweigt. Er antwortet erst drei Tage später mit der Auferstehung Jesu von den Toten. Für uns Christen ist das der letzte, aber auch der einzige Trost, dass Gott uns im Sterben und im Tod nicht allein lässt. Nur im Glauben, nicht durch die bloße Vernunft, können wir Christen hieraus Trost schöpfen.
Seit Gregor ist die gesamte Theologie- und Kunstgeschichte vom Gedanken der Todsünden begleitet und mehr oder minder durchdrungen. Selbst in modernen Hollywood-Produktionen sind sie immer wieder anzutreffen. Man denke beispielsweise nur an den Spielfilm Seven (1995) von David Fincher (Regie) mit Brad Pitt und Morgan Freeman. Er ist sehenswert und regt zum Nachdenken an, ist aber nichts für schwache Nerven.
In diesem Buch möchte ich die Todsünden einzeln vorstellen. Zunächst mit einem Blick in die Bibel. Denn alle Todsünden sind dort zu finden und teils drastisch beschrieben. Auch wenn es den Begriff dafür noch nicht gegeben hat, veranschaulichen die Geschichten das elementare Unrecht. Doch Todsünden finden sich nicht nur in den alten biblischen Quellen, auch heute sind sie – mitten im Leben – anzutreffen. So möchte ich sie nach jedem biblischen Todsündenbeispiel in unserer Zeit und Alltagswelt an einem selbst erlebten Fall beschreiben. In meinen 30 Jahren als evangelischer Pastor habe ich unzählige Vorkommnisse erlebt, die mir die Präsenz von „Todsünden“ mehr als offensichtlich machten.
Wer von Tod redet, sollte aber auch vom Leben reden. So kommen wir wieder zu den alten Tugenden der griechischen und römischen Philosophen und den christlichen Guttaten zurück, die Ambrosius beschrieben hat. Neben TODsünden gibt es eben auch LEBENstugenden, die unser Leben genauso fördern wie das Leben unserer Mitmenschen. Auch hier gibt es biblische und aktuelle Beispiele, die zum Nachdenken und Ausprobieren geradezu einladen.
Die folgende biblische Geschichte ist eindrücklich, weil man sie sich wie in einem Spielfilm vorstellen kann. Der Ort der Handlung ist der Tempel von Jerusalem. Groß, prächtig, eindrucksvoll, der heiligste Ort im alten Israel. Hier ist die Verbindung zu Gott direkt gegeben. Gott selbst hat diesen Tempel als Begegnungsort mit ihm geplant. Zur Zeit des alten Israel hatte König Salomo den Tempelbau angeordnet und auch zu Ende geführt. Die besten Baumeister seiner Zeit hatte er angestellt; die meisten von ihnen waren „Fremdarbeiter“, Fachkräfte aus dem Ausland. In Phönizien und anderswo war man erprobt, eindrucksvolle Tempel für die jeweiligen Landesgottheiten zu bauen. Auch für den Gott Israels sollte nur das Beste vom Besten erschaffen werden. Und das ist durchaus gelungen.
Zur Zeit Jesu hatte der Tempel von Jerusalem nichts von seiner Berühmtheit und Bedeutung verloren. Die Menschen kommen hierher zum Opfern. Sie bringen ihren Dank und ihre Bitten vor, singen oder vertiefen sich im persönlichen Gebet. Das Buch der Psalmen spiegelt bis heute die Bandbreite der Gefühle wider, die die Menschen in ihren Liedern zum Ausdruck brachten. Aber auch freie Gebete waren möglich. So beschreibt es Jesus in einem Gleichnis (vgl. Lk 18 9–14).
Zwei Männer kommen in den Tempel, um zu Gott zu sprechen. Beide sind zur gleichen Zeit im Tempel und treten vor Gott, doch zwischen ihnen liegen Welten. Unüberwindbare Grenzen. Ein undenkbares Zusammensein. Der eine von ihnen wird im Text als Pharisäer bezeichnet. Er gehört zu einer frommen Glaubensrichtung in Israel. Auch wenn das Wort „Pharisäer“ in der deutschen Sprache einen zwielichtigen und nicht ganz ehrlichen Charakter bezeichnet (man denke nur an den nordfriesischen Kaffee mit verstecktem Rumanteil), sind die Pharisäer zur Zeit Jesu wirklich fromme Leute. Sie sind historisch nicht die Erzfeinde Jesu gewesen, wie so oft behauptet wird. Wie Jesus glauben sie an die Auferstehung der Toten und viele Gespräche zwischen Jesus und einzelnen Pharisäern sind überliefert (z. B. mit Nikodemus). Selbst Joseph von Arimathäa, der sein Grab für den Leichnam Jesu zur Verfügung stellte, war einer von ihnen.
Nun gibt es auch unter den Frommen die Abteilung der Super-Frommen. Die gibt es bis heute. Sie wissen ganz genau, was richtig ist und was Gott verlangt. Manchmal wissen sie es, so kann man meinen, besser als der Herrgott selbst. Sie haben die Haltung des geistlichen Angebers, und ihnen gefällt diese Rolle. Von so einem Pharisäer berichtet Jesus. Im Tempel angekommen, baut er sich vor Gott auf und betet, was das Zeug hält, oder besser gesagt, was er von sich selbst hält. Und das ist: nur das Beste. Alles, was ich mache und tue, ist gut und Gott wohlgefällig. Er sagt: „Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin wie die übrigen Menschen: Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, auch nicht wie dieser Zöllner da.“ (Auf Letzteren, zu dem sich der zweite Mann im Tempel zählt, komme ich gleich zu sprechen.) „Ich faste zweimal in der Woche und ich gebe den Zehnten von allen meinen Einkünften.“ Donnerwetter, da wackeln ja die Tempelwände! An Selbstbewusstsein ist das wohl kaum zu überbieten. Er dankt Gott dafür, dass er nicht sei wie die anderen. Die Doofen, die Sünder, die Unfrommen, diejenigen, die nicht so sind wie er selbst. Mehr Hochmut, mehr Arroganz geht nicht. Dass sich der Pharisäer traut, solche Worte vor Gott auszusprechen, ist für mich persönlich unfassbar. Aber es ist möglich. Es gibt tatsächlich Menschen, die sich für derart besonders und einzigartig fromm empfinden. Da kann ich mich nur wundern.
Jesus kommentiert dieses Verhalten. Er lässt in seinem Gleichnis den zweiten Menschen im Tempel auftreten, den Zöllner. Der Name ist sein Beruf. Vereinfacht gesagt: Die Römer, die das Land Israel besetzt hatten und mit harter Hand regierten, setzten Menschen aus dem Volk ein, die für sie Steuern und andere Pflichtabgaben eintrieben. Da es keine offiziellen Tarife für diese Gebühren gab, konnten die Zöllner sie von Person zu Person selbst nach eigenem Ermessen festlegen. Daher nahmen sie nach eigenem Gutdünken oft mehr Geld als gefordert, um ihre eigenen Einkünfte zu sichern. Das machte sie nicht gerade beliebt. Sie galten als Kollaborateure, als Menschen, die für und mit den verhassten Römern Geschäfte machen. Sie waren verschrien als finanzielle Halsabschneider und sie wurden innerhalb Israels auch gesellschaftlich herabgestuft. So durften sie beispielsweise nicht vor Gericht als Zeugen aussagen, denn sie galten als grundsätzlich unehrlich. Auch Jesus wusste um den schlechten, ja schändlichen Ruf der Zöllner. Das hat ihn jedoch nicht davon abgehalten, mit ihnen in Kontakt zu sein. Und selbst das wurde in Israel nicht gerne gesehen. Zum Unmut der Umstehenden lädt sich Jesus sogar in das Haus des Zöllners Zachäus zum Essen ein. Die Menge schimpft: „Bei einem Sünder ist er eingekehrt!“ (Lk 19,1–10) Dazu mehr im letzten Kapitel dieses Buches.
Anders als der Pharisäer steht der Zöllner im Gleichnis nicht vorne im Tempel, wo ihn jeder sehen und sein Gebet hören kann. Er steht „von ferne“, also ganz hinten, gleich neben dem Eingang an die Wand gedrückt. Er traut sich nicht nach vorne, denn – so meinte man – je weiter man sich dem Altar und dem Allerheiligsten, dem verborgenen Hauptraum des Tempels nähert, umso näher ist man am Heiligen Gott. Messbare Nähe (in Meter und Zentimeter) war damals auch geistliche Nähe (in der inneren Beziehung zu Gott). Je dichter (messbar) du vor Gott stehst, um so dichter ist er auch an deinem Herzen. Umso deutlicher sieht und fühlt Gott dich. Der Zöllner weiß darum, und – so Jesus – traut sich nicht einmal den Kopf zu heben und seine Augen gen Himmel zum Gebet zu richten. Er schlägt sich an seine Brust, was im damaligen Israel ein Brauch war, um sein Kleinsein, aber auch seine Trauer oder seine Schuld anzuzeigen. Sein Gebet murmelt er mit einem einzigen Satz: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ Hier kommen Einsicht in seine Schuld, die Gewissheit des Glaubens und das Vertrauen in den barmherzigen Gott zusammen. In einem einzigen Satz wird all das ausgedrückt. So habe ich mir persönlich diesen Satz zu eigen gemacht. Wenn ich Mist gebaut habe und nicht weiß, was ich beten soll, spreche ich schlicht: „Gott, sei mir Sünder gnädig.“
Jesus kommt in seinem Gleichnis zu folgendem Schluss und bringt damit wohl seine Zuhörer ins Grübeln: „Dieser [der Zöllner] ging gerechtfertigt nach Hause.“ Er ist derjenige, dem Gott wohlgefällig zugehört hat. Vom Pharisäer sagt Jesus nichts. Der hat ja selbst schon alles gesagt. Und den Hinweis von Jesus hätte er wahrscheinlich nicht ernst genommen und wohl auch zurückgewiesen. Gegen Kritik ist jeder Hochmütige bestens gewappnet. Sein Ego ist der beste Trumpf. So meint er jedenfalls. Jesus, mit dem Blick Gottes, sieht das allerdings anders.
„Hochmut kommt vor dem Fall“, so sagt es der Volksmund. Und so habe ich es schon mehrfach erlebt. Zum ersten Mal und sehr eindrücklich bei Klaus. Klaus kenne ich seit Kindertagen. Er lebte mit seinen Eltern auf einem Bauernhof am Ende unserer Straße. Der Bauernhof war riesig. Für mich und alle anderen Kinder ringsum war das ein wunderbarer Spielort. Mit Kühen, Schweinen, Hofhund Henry, Heuboden, Traktoren und vielen Dingen, bei denen es oft hieß: Seid bloß vorsichtig! Hinter dem Hof war eine riesige Wiese. Als wir in der Grundschule waren, erzählte Klaus stolz, wie toll das Gefühl sei, dort im alten, ausgemusterten VW Käfer 1300, „herumzugurken“. Sein Vater hatte ihm das erlaubt, aber er durfte solche Ausfahrten nicht machen, wenn wir zum Spielen dort waren. Kurzum: Klaus konnte bereits Auto fahren, als wir zur 5. Klasse auf das Gymnasium wechselten. Unser junges Leben ging weiter und andere Themen, die wir in der BRAVO lasen, bestimmten mehr und mehr unser Denken. Die schöne Viola wurde wichtiger als ein schnöder VW. Mit 18 Jahren rückte das Abitur näher, zugleich aber auch die Fahrschule. Zunächst die Theorie. Jede Woche ein Mal – Präsenzunterricht! Langweilig, aber natürlich wichtig. Klaus empfand die ganze Fahrschule als lästig. Schließlich konnte er ja seit der Grundschulzeit Auto fahren. Mittlerweile schraubte er sogar am Motor rum. Die theoretische Prüfung bestand er mit Ach und Krach. „Geschafft“, sagte er, als er die Bescheinigung in Händen hielt. „Der Rest ist eigentlich überflüssig. Das kann ich besser als der Fahrlehrer.“ Ein gesundes Selbstbewusstsein in Hinsicht auf PKW-Führung bahnt sich seinen Fahrweg bzw. seine Spur.
Der praktische Prüfungstag war heiß, in jeder Hinsicht. Es war Sommer und unsere Prüfungsgruppe traf sich zum entscheidenden Termin in Harburg. Die Gruppe, das waren zwei Mädchen, Klaus und ich. Die Mädchen waren (nicht nur) mir beim Theorieunterricht aufgefallen. Sie gingen nicht mit uns zur Schule. Die beiden waren auffallend hübsch. Gekleidet im Look der 70er-Jahre mit Batik-Blumen-Shirt, Jutetasche und dem Duft von „My Melodie“ und Apfelschampoo – erstaunlich, woran sich ein Mensch selbst Jahrzehnte später noch erinnern kann!
Der Prüfer erschien mit brauner Aktenmappe unterm Arm. Der Fahrlehrer fragte, wer als Erster die Prüfung ablegen wolle. Klaus meldete sich – natürlich. „Wir brauchen nicht lange“, sagte er mit feixendem Gesichtsausdruck. „Und später lade ich Euch in die Eisdiele ein“, kündigte er mit einer Kopfbewegung in Richtung der beiden Mädels an, und stieg ein. Leider war ich da offenbar ausgenommen. Na ja, that’s life. – C’est la vie. – So ist das Leben.
Was dann passierte, ist das wahre Leben: Nach fünf Minuten war Klaus mit dem Fahrschulwagen wieder da. Die Mädchen und ich staunten: „Mensch, der Klaus ist so gut und erfahren, der brauchte nur so wenige Minuten.“ Die Prüfungsfahrt sollte eigentlich 20 Minuten dauern, so wurde es uns beigebracht. Klaus stieg aus, aber irgendetwas stimmte nicht. Klaus kam nicht stolz wie ein Pfau und mit geschwellter Brust zu uns, sondern ging wortlos auf die andere Straßenseite und verschwand. Irritiert fragten wir unseren Fahrlehrer, was los war. „Tja“, sagte dieser, „das erste Stoppschild hat er sofort überfahren und gleich danach eine Vorfahrt nicht beachtet. Das war’s für ihn. Durchgefallen. Er muss nochmal eine Prüfung machen.“ Oha – wir waren sprachlos und erschüttert.
Nun war ich dran. In Gedanken noch beim angeberischen Klaus, doch dann voll konzentriert beim Stoppschild, bei den Vorfahrtsregeln, beim Nichtüberholen eines Schulbusses, beim Anfahren am Berg und beim Rückwärtseinparken. Nach 20 Minuten fuhr ich wieder auf den Hof und bekam meinen Führerschein ausgehändigt. Mit feuchter Stirn und wackeligen Beinen. Dann waren die Mädchen dran. Ich wusste, dass sie vor dieser Prüfung richtig Angst hatten. Der hochmütige Klaus mit seiner Aufgeblasenheit hat das seinige dazu beigetragen. Aber auch sie haben nacheinander beide bestanden. Im Anschluss gingen wir zu dritt in die Eisdiele. Die Mädchen schienen nichts dagegen zu haben, dass der kleine, schüchterne (oh ja, ich war wirklich schüchtern!) Matthias mit dabei war. Extra großes Walnusseis mit Krokant.
Übrigens: Die zweite Prüfung hat Klaus bestanden. Und er scheint etwas fürs Leben gelernt zu haben. Sein Hochmut war – wie ein Automotor – seither gedrosselt.
Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade,der Herr ist mit dir.Du bist gebenedeit unter den Frauen,und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus.Heilige Maria, Mutter Gottes,bitte für uns Sünderjetzt und in der Stunde unseres Todes.Amen.
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