Auch Kanada blieb nur ein Traum - Andreas Pietzsch - E-Book

Auch Kanada blieb nur ein Traum E-Book

Andreas Pietzsch

0,0

Beschreibung

Es gab drei Dinge, die im Winter 1947 das Leben der beiden unzertrennlichen 14-jährigen Jungen Alex und Ecki bestimmten: Essen, Rache an Hagedorn und Mädchen. Wobei sich die Reihenfolge allmählich zugunsten der Mädchen verschob. Nachdem ein Pferd der Besatzungsmacht geschlachtet wurde, erteilt die in Liebesdingen bereits erfahrene Franzi den großmäuligen, aber völlig ahnungslosen Jungen den ersten Sexualunterricht und der verhasste Zuträger und Hilfspolizist Hagedorn wird ermordet. Als Alex Freundin Pia und Kumpel Ecki über Nacht aus seinem Leben verschwinden, verwandelt sich seine Seele in ein schwarzes Loch, das für lange Zeit all seine Regungen und Gefühle in sich verschließt. Viele Jahre später treffen sich die Jugendfreunde wieder. Es wird ein Wiedersehen voller fröhlicher und schmerzhafter Überraschungen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 300

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Es gab drei Dinge, die im Horrorwinter 1947 das Leben der beiden unzertrennlichen 14-jährigen Jungen Alex und Ecki bestimmten: Essen, Rache an Hagedorn und Mädchen. Wobei sich die Reihenfolge allmählich zugunsten der Mädchen verschob. In diesem eiskalten Winter wird ein Pferd der Besatzungsmacht geschlachtet, die in Liebesdingen bereits erfahrene Franzi erteilt den großmäuligen, aber völlig ahnungslosen Jungen den ersten Sexualunterricht und der verhasste Zuträger und Hilfspolizist Hagedorn wird ermordet.

Als Alex` Freundin Pia und Kumpel Ecki über Nacht aus seinen Leben verschwinden, verwandelt sich seine Seele in ein schwarzes Loch, in dem für lange Zeit all seine Gefühle verschlossen bleiben.

Viel Jahre später gibt es ein Wiedersehen, das voller Überraschung und Überschwang beginnt und doch schmerzhaft endet.

Der Autor

Horst A. Jacopie wurde 1937 in Dresden geboren, arbeitete als Chemiearbeiter, Heizer, auf dem Bau und in der Landwirtschaf. Er studierte Naturwissenschaftten und Pädagogik und wurde Lehrer.

Von Jacopie bereits erschienen: „Dreifuffzig die Nacht und keine Damenbesuche“, „Doppelkorn und Damenwahl“ und „Ruf doch einfach mal Ricarda an“.

Die in diesem Roman agierenden Personen sind vom Autor frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden und verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

I

Das Pferd tat mir leid. Aber was willst du machen? In den Nächten biss uns der Frost und am Tage der Hunger. Richtiger Hunger, der dir die Eingeweide zerfrisst. Hunger eben, wie ihn nur die kennen, die das Jahr 1947 erlebt hatten.

"Was ist", fragte Ecki, "machen wir rüber zur Villa?"

"Klarer Fall", sagte ich.

In der Villa, die bis Kriegsende der Familie Hellendorf, "Guß und Stahlerzeugnisse", gehört hatte, saßen jetzt russische Offiziere.

"Der Graue wird schon warten", sagte ich.

"Hoffentlich hat der sein Brot noch nicht gefressen", murmelte Ecki.

In dem Stall, der am Ende des riesigen Parks stand, waren drei Pferde untergebracht, um die sich kaum einer der Russen kümmerte. Nur gefüttert wurden die Gäule regelmäßig - und nicht gerade schlecht. Möhren, Rüben, Kohlstrünke und altes Kommissbrot. Die Möhren und das Brot mussten sie mit uns teilen. Sozusagen als Deputat für geleistete Unterhaltung in Form von Mähne streicheln und Hals klopfen. Wobei das kleinere, zottige und zutrauliche Panjepferd immer besser wegkam als die beiden stumpfsinnigen, schweren Ackergäule. "Wenn man nicht genau wüsste, dass das ein Pferd ist, würde ich eher auf Hund tippen“, sagte ich, als wir über die Brücke mit dem breiten Eisengeländer marschierten. Irgendwo in der Mitte musste noch ein Stück Haut von meiner Zunge hängen. Mutprobe bei fünfzehn Grad minus in der vierten Klasse. Obwohl das fast vier Jahre her war, konnte ich mich an den Schmerz noch gut erinnern.

"Ist schon merkwürdig, wie der auf dich zu warten scheint", lachte Ecki, "wie die Braut auf den Bräutigam."

Manchmal dachte ich, Panje lässt sein Brot extra für uns liegen. Ohne die Futterreste wäre unser Kohldampf wahrscheinlich nicht auszuhalten gewesen. Dafür bekam er seine Extrastreicheleinheiten. Und wie es aussah, schien ihm das Geschäft zu gefallen. Wir besuchten die Pferde fast jeden Tag ohne dass die Russen was merkten. Ein paar Schrauben an der Rückwand des Schuppens gelöst, und eine Sperrholzplatte ließ sich herausnehmen.

Heute hatten wir getrödelt. Draußen war es bereits schummrig und es fiel eine Art Eisregen aus dem fast schwarzen Himmel. Panje begrüßte uns mit einem freudigen Wiehern. Die Ausdünstungen der Pferde und die animalische Wärme des Stalls umfingen uns nach der feuchten Kälte draußen wie ein mit einer Wärmflasche angewärmtes Bett.

Ich fuhr Panje mit der Hand über die feuchten Nüstern und blies ihm meinen Atem in die Nasenlöscher. Panje atmete tief ein, machte den Hals lang und rieb seinen Kopf an meiner Schulter.

"Und jetzt küssen", feixte Ecki.

„Nur keinen Neid“, agte ich, „wer hat der hat.“

„Hauptsache schön warm, sagte der schwule Beduine bei Karl May und stellte sich dicht hinter sein Kamel."

"Selber schwul", knurrte ich.

Ecki sammelte inzwischen nicht oder nur mäßig angeknapperte Möhren und halbwegs erhaltene Brotstücke zusammen. Ich ging noch zu den Ackergäulen, strich ihnen über die Kruppe und klopfte ihnen den Hals.

Keine große Gegenliebe. Panje schaute argwöhnisch herüber.

Bevor wir mit unserem Futtersack verschwanden, drückte ich meine Wange noch einmal an seinen Kopf.

"Mach`s gut, Alter", sagte ich leise in sein Ohr.

"Man kann`s auch übertreiben", grinste Ecki.

Als wir an der Brücke waren, hörten wir ein Geräusch hinter uns. Wir drehten uns um. Da kam Panje mitten auf der Straße hinter uns hergelaufen. Wir hatten vergessen, die Sperrholzwand wieder festzuschrauben und diese Gelegenheit hatte er sich für einen Ausflug nicht entgehen lassen.

"Schöne Scheiße", sagte Ecki.

"Ich bring ihn zurück", sagte ich.

"Bist du blöd oder was", fuhr Ecki auf mich los.

"Wenn dich die Russen mit dem Gaul erwischen, bist du dran. Diebstahl von Militäreigentum! Sibirischstes Sibirien! Todsicher! Im wahrsten Sinn des Wortes!"

"Was machen wir?"

"Nichts", sagte Ecki, "der findet sich allein zurück.

Aber da sollte er sich geirrt haben.

Wie gesagt, Panje tat mir leid. Aber es war Winter. Winter 47. Hatte ich ja schon gesagt. Soll auch keine Entschuldigung sein. Höchstens eine Erklärung – eine mierable noch dazu. Ich fand bis heute keine bessere, außer dass Winter war. Winter 47! Wie gesagt.

Was jetzt in dieser Samstagnacht geschah, prägte meine Erinnerung wie das glühende Eisen die Haut des Rindes. Immer wenn die Winternächte sich wie eisige Schmierseife anfühlen, habe ich den süßlichmetallischen Geruch des Pferdeblutes in meiner Nase und sehe Annis schwere Brüste am Hals des ahnungslosen Tieres.

Anni hielt Panje an einem derben Strick und Fritz wog den schweren Vorschlaghammer in den Händen. Panje blickte mich mit seinen großen braunen Augen verwundert an und begann unruhig zu tänzeln. Anni drückte ihren Oberkörper gegen den Hals des Pferdes, schob es näher an das Waschhausgeländer und band es daran fest. Dann trat sie zur Seite.

Ich hatte das Gefühl, der größte Verräter des Universums zu sein.

Fritz hob den Hammer. Es gab einen dumpfen Schlag. Panje stieß einen markerschütternden Schrei aus und begann zu taumeln. Das linke Auge des Tieres war eine blutige Masse, das rechte Auge schien aus seiner Höhle zu quellen. Fell war aufgerissen und Knochen lagen blank. Anni riss Fritz den Hammer aus der Hand, schwang ihn hoch über ihrem Kopf und schlug zu. Panje brach mit einem schauerlichen Röcheln erst in die Knie und fiel dann wie in Zeitlupe seitlich gegen das Waschhausgeländer. Dabei schien das hervorquellende Auge in maßlosem Entsetzen und unsäglicher Traurigkeit direkt auf mich gerichtet zu sein.

Mir war so schlecht, dass ich mich auf eine der Treppenstufen setzen musste. "Mensch, Alex, du siehst vielleicht Scheiße aus!", Ecki setzte sich neben mich. "Hätt` ich ihn bloß zurückgebracht", sagte ich leise und der Kloß in meinem Hals schnürte mir die Luft ab.

Ecki klopfte mir auf die Schulter und zog mich hoch. Das schwerste Stück Arbeit kam jetzt. Das Pferd musste in die Waschküche bugsiert und dort zerlegt werden. Mein Vater und die zwei anderen Männer des Hauses, die den Krieg unbeschadet überstanden hatten, knoteten eine Wäscheleine um den Hals des Tieres und zogen mit vereinten Kräften in Richtung Waschhaustreppe. Ecki, mit dem ich seit acht Jahren in eine Klasse ging, stand neben mir, und auf Annis Kommando schoben wir von hinten. Dabei hatten wir Annis prallen Hintern direkt vor uns.

"Mann, oh Mann", stöhnte Ecki neben mir. Ich musste trotz meines Elends grinsen, da ich wusste, was Ecki dachte. Ich dachte dasselbe.

Anni gab weiter leise Kommandos und schob neben mir. Der Geruch des toten Tieres, vermischt mit Annis Achselschweiß, machten mich schwindlig. Meine Arme verwandelten sich in Pudding. Ich taumelte und fiel und versuchte mich an Annis Hinterteil festzuhalten. Die gab mir eine Kopfnuss, Ecki feixte blöd und ich begann wieder zu schieben.

Endlich war das Pferd in der Waschküche. Aus dem großen Kessel, in dem sonst die Wäsche kochte, stiegen Dampfwolken und brachten die eiskalten grünen Ölwände des Raumes zum Schwitzen.

Die Männer schlugen sich auf die Schultern, umarmten sich und Anni und tranken quietschsauren Apfelwein, den mein Vater im vergangenen Jahr angesetzt hatte. Ecki und ich mischten uns Himbeersirup mit Wasser.

"Also, dann mal ran an die Buletten", sagte Anni.

Das war Humpels große Stunde. Humpel-Fritz hatte während des Krieges eine Lehre bei Fleischermeister Döblin auf der Bahnhofstraße angefangen. Im letzten Lehrjahr hatte er den Unfall mit dem Bolzenschussgerät beim Schwarzschlachten und seit dem Tag fehlte ihm die vordere Hälfte seines linken Fußes. Man munkelte, der Meister sei an dem Tag wohl nicht ganz nüchtern gewesen, aber die Sache blieb für den Fleischermeister ohne Folgen, da Fritz den Unfall nicht so tragisch nahm. Immerhin ersparte es ihm die Teilnahme an der sich immer schwieriger gestaltenden Vaterlandsverteidigung und brachte ihm auch in den Nachkriegstagen eine, wenn auch magere, Wurstversorgung ein. Und den Spitznamen Humpel.

Humpel war unser Experte für sexuelle Angelegenheiten.

"Eh, Humpel, wie war das mit dem Meister und der Verkäuferin?"

Das genügte, um Humpel in Fahrt zu bringen.

Wenn die Meisterin donnerstags in der Mittagspause zum Frisör ging, kam die stramme Elli ins Schlachthaus und der Meister schickte Fritz in die Küche, die unmittelbar daneben lag. Fritz hatte sich anfangs nichts weiter dabei gedacht, bis er eines Tages Ellis lautes Stöhnen hörte. Er war erschrocken aufgesprungen, weil er annahm, dass der Verkäuferin etwas zugestoßen war. Durch die Scheibe der Küchentür sah er dann, was im Schlachthaus wirklich ablief.

"Mann, hat der einen behaarten Arsch", erzählte Humpel uns die Geschichte wohl zum hundertsten Mal und erfand immer neue Details.

"Alles voller Haare wie Schweinsborsten, bis zur Musrinne! Und gerammelt hat der die Elli, immer feste, bis die gestöhnt hat, dass ich dachte, die kratzt ab. Dann hat er sie umgedreht und von hinten weiter gemacht."

Spätestens an dieser Stelle drohten uns die Hosen zu platzen. Bei mir trat erst wieder Ruhe ein, wenn Humpel erzählte, dass der Meister mit Vorliebe zum Frühstück Bulleneier verspeiste, leicht angebraten, innen rosa, mit Pfeffer und Salz. Pfui Teufel!

Jetzt zückte Fritz sein Fleischermesser und schnitt dem Pferd in einem Zug die Kehle durch. Blut quoll mit einem gurgelnden Geräusch aus dem Hals des Tieres und über das Fell liefen wellenartige Schauer. Anni hielt eine Schüssel unter den Blutstrom und die Männer pumpten am rechten Hinterbein des Pferdes.

Mir stand die Himbeerlimo im oberen Teil des Halses. Ein Blick zu Ecki, grünes Gesicht und heftige Schluckbewegungen. Humpel setzte jetzt das Messer erneut an und führte es mit einer einzigen Bewegung vom Hals bis zum Geschlechtsteil des Tieres. Mit einem klatschenden Geräusch fiel das Gedärm auf den Zementfußboden.

Ich erreichte gerade noch die oberste Treppenstufe, dann kotzte ich Himbeerlimo mit irgendetwas auf die gefrorene Wiese. Ecki hatte es nicht mehr bis nach oben geschafft und reiherte in einen alten Blumenkasten.

"Gibt im Frühjahr herrlichen Sauerampfer", krächzte ich zwischen zwei heftigen Rülpsern.

"Kotzgrün und fein säuerlich im Geschmack", gab Ecki seinen Senf dazu.

Die kalte Luft brachte uns schnell wieder auf die Beine. Ich hatte das Gefühl, als würde mir der Schweiß auf dem Rücken gefrieren. Wir machten, dass wir wieder in die Waschküche kamen.

"Na, geht`s wieder?", fragte mein Vater, der gerade an einem der Pferdebeine herumfuhrwerkte.

"Geht schon", sagte ich, während Ecki nur nickte.

"Kotzt mir bloß nicht auf die Fleischstücke, ihr Helden", lachte Anni.

Humpel war dabei, die Därme zu wenden und zu säubern und es roch nach Blut und Pferdescheiße. In mir tobte es wie im Popocatepetel kurz vor dem Ausbruch, nur dass die Lava schon raus war. Anni hatte in der feuchtheißen Luft des Waschhauses ihre Wattejacke ausgezogen und die obersten Knöpfe des am Körper klebenden Männerhemdes aufgeknöpft.

Soweit ich sehen konnte, trug sie nichts darunter und das lenkte mich etwas von meinem Elend und meinem schlechten Gewissen ab.

Humpel schnitt inzwischen Fleischstücke aus dem Kadaver und klatschte das blutige Pferdefleisch auf den großen Waschtisch. Mein Vater stand an der Tür, die in das Hausinnere führte und schmiss jeder der Frauen, die leise und ängstlich in der Waschküche erschienen, einen Brocken in die mitgebrachten Schüsseln.

"Nur nachts braten!", gab er jeder der Frauen mit auf den Weg.

"Klar", sagten die Frauen und verschwanden ebenso leise, wie sie gekommen waren.

So ziemlich als die letzten kamen Mutter und Großmutter. Als Mutter das Blut roch und den abgetrennten Pferdekopf in der Ecke sah, wurde sie leichenblass und wäre sicher umgefallen, wenn Großmutter sie nicht gestützt hätte.

"Das arme Tier", flüsterte meine Mutter.

"Not kennt kein Gebot", sagte meine pragmatisch veranlagte Großmutter, die für fast alle Lebenslagen einen Spruch auf Lager hatte. Mir fielen die Zehn Gebote aus dem Konfirmationsunterricht ein und was man so alles nicht begehren sollte und da war auch irgendwo vom Vieh die Rede. Ich konnte nur hoffen, dass Großmutters Notgebot die anderen vorübergehend außer Kraft setzen würde.

Anni hatte inzwischen eine Art Fleischwolf aufgebaut und begann, die rötliche Masse aus der großen Schüssel durchzudrehen und in die ausgewaschenen Därme zu füllen. Es roch heftig nach Majoran. Hatte Humpel organisiert.

Ich ging rüber zu Anni und fragte: "Kann ich helfen?"

Anni grinste und nickte: "Kannst das Wasser am Kochen halten und die geplatzten Würste rausfischen."

Ich schob Holz nach und fuhrwerkte mit einer Art Paddel, mit dem die Frauen sonst in der Kochwäsche herumstocherten, im Kessel herum.

"Nicht so heftig, Jungchen! Du zerrammelst ja diese feinen, prallen Dinger!"

Anni grinste und ich wurde rot.

Dann starrte ich wie gebannt auf Annis Hand. Aus dem Loch, das sie mit Daumen und Zeigefinger formte, glitten sanft und geschmeidig die feuchtglänzenden Würste. An ihrer Bluse hatte sich ein weiterer Knopf geöffnet und die großen schweren Brüste schwangen bei jeder Kurbeldrehung hin und her. In meinem Unterleib spannte der Teufel seinen Bogen.

Da rief mein Vater. Mit einem Blick auf meine Hose murmelte er:

"Junge, Junge!", aber das klang eher verwundert als tadelnd.

"Alex, hör gut zu. Du machst dich jetzt mit Ecki runter zu Kohlenarno und gibst ihm das Paket!"

Damit drückte mir Vater einen Klumpen Pferd in Packpapier in die Hände.

"Du sagst nur, beim Aschengrubenräumen alles wie abgesprochen, Gruß Martin!"

Wir starteten. Aus dem dunklen Nachthimmel rieselte ganz leicht feiner Schnee und puderte die Landschaft.

"Ein Glück, dass das jetzt erst anfängt", sagte Ecki.

"Kannst du aber annehmen." Ich dachte an die Spuren, die wir hinterlassen hätten.

Wir schlichen dicht an den Hecken entlang bis zur ersten Kreuzung. Im Eckhaus von Schneiders Kolonialwarenladen war alles dunkel. Gegenüber, in der Reichskrone, brannte noch eine trübe Funzel. Als wir gerade die Straße überqueren wollten, ging die Tür der Kneipe auf und eine dunkle Gestalt torkelte die Treppe herunter.

Ich erkannte Hagedorn. Flurschutz, Hilfspolizist und Zuträger.

Mir fiel Großmutters Spruch ein, wenn von solchen Leuten wie Hagedorn die Rede war: Hüte dich vor kaltem Wind und vor Leuten, die nichts können und trotzdem was geworden sind!

Ich zog Ecki hinter einen alten Apfelbaum. Er hatte Gott sei Dank nicht mitgekriegt, wer da besoffen die Kneipentreppe runter getaumelt kam.

Eckis Reaktionen auf Hagedorns Anblick waren unberechenbar.

Wir wechselten auf die andere Straßenseite, da die zwei Meter hohe, fast schwarze Mauer, die das Betriebsgelände von Dachdeckermeister Kotsch umschloss, den Fußweg in völlige Dunkelheit hüllte.

"Der Arsch ist Klasse", sagte Ecki und ich wusste, warum er Hagedorn nicht erkannt hatte.

"Nicht nur der", sagte ich.

"Hm", grunzte Ecki und ich merkte, das er ziemlich woanders war.

In der alten Färberei, die an das Dachdeckergelände anschloss, brannte noch Licht. Hier wurde oft bis in die späte Nacht gearbeitet. Gleich nach Kriegsende war die Färberei einer der gefragtesten Betriebe der nahen und weiteren Umgebung geworden. Es musste viel, sehr viel umgefärbt werden. Auch jetzt wurde noch viel gefärbt. Das Motto lautete: Aus Alt mach Neu! Denn ganz Neu war nicht.

Am Ende unserer Straße, bevor das Brachgelände anfing, lag auf der linken Seite als letztes Gehöft Arnos Kohlen- und Holzhandel, kurz Kohlenarno genannt.

Aschenarno wäre treffender gewesen, denn das Wort Kohle hatte sich zu einem Fremdwort entwickelt. Inzwischen wurde alles verheizt, was brennbar war. Gartenzäune, Holzschuppen, Bäume, die keine essbaren Früchte trugen, Kellertüren, Bodenzwischenwände, alte, ausgemusterte Möbel, kurz alles, was sich in Wärme verwandeln ließ.

Kohlenarno hatte sich auf das Räumen von Aschengruben spezialisiert und dieses Geschäft bis weit in die Stadt hinein ausgedehnt. Er war der einzige Unternehmer, der einen dreirädrigen Holzgaser besaß.

Im Erdgeschoss brannte noch Licht. Wir schlichen über den Hof, vorbei an alten Schrottautos und Hängern ohne Bereifung. Ich pochte leise an die Haustür. Kohlenarno öffnete sofort und nahm mir das Paket ab. Ich sagte meinen Spruch auf.

"Geht in Ordnung, sag`s deinem Vater!", Tür zu, Licht aus.

Wir traten den Rückweg an. Die Kälte hatte nachgelassen. Es schneite jetzt in großen, weichen Flocken und die Nacht war heller geworden.

"Mensch, hattest du Schwein", sagte Ecki, "direkt vor den Möpsen!"

"Rosa", setzte ich noch einen drauf, "und prall wie die Handballblasen in der Turnhalle." Unwillkürlich formte ich mit den Händen, was meine Augen gesehen hatten.

"So was müsste man mal anfassen können", murmelte Ecki.

Stimmt, dachte ich und war mir sicher, dass wir beide garantiert eine unruhige Nacht haben würden. Wobei wir sowieso von unruhigen Nächten geplagt waren, es sei denn, wir erledigten bestimmte Dinge noch vor dem Einschlafen.

***

Als wir von unserer Pferdefleischverteilungstour zurück waren, flogen gerade die letzten Knochen in die Aschengrube. Die Waschküche sah aus, als wäre gerade jemand mit der großen Wäsche fertig geworden. Nichts verriet, dass ich meinen Freund verraten hatte, und ich dachte kurz an Judas Ischariot, von dem uns Pfarrer Böhme erzählt hatte und den wir alle gleichermaßen abgründig verabscheuten, den Judas, natürlich.

Ecki verschwand mit seinem Fleischpaket Richtung dritte Etage und ich ging mit Vater hoch in unsere Wohnung im Erdgeschoss.

In der Küche saßen meine verängstigte Mutter, meine Großmutter und mein Großvater.

"Wenn die Russen das Pferd suchen…", sagte meine Mutter gerade.

"Pferde laufen manchmal weg", erwiderte Großvater.

"Aber wenn die Russen das Pferd suchen… ", fing meine Mutter wieder an.

"Kommt Zeit, kommt Rat", sagte Großmutter.

"Kann man Pferd überhaupt essen?", wollte Mutter wissen.

Sie war sehr vorsichtig und ängstlich seit ihrer lebensgefährlichen Gelbsucht. Irgendwer im Hause hatte fünfundvierzig ein Fass Öl vom Güterbahnhof organisiert. Hundert Liter Öl. Feinstes Fischöl. Oder eher so eine Art dünnflüssigen Lebertran.

Im Winter, als der Hunger erbarmungslos zuschlug, stank unsere Straße bis hinunter zu Kohlenarno nach Fisch. Hafenstraße mit verwesendem Wal. Es gab Bratkartoffeln in Fischöl, Plinsen in Fischöl, Puffer in Fischöl, arme Ritter in Fischöl, kurz alles, was gebraten werden musste, wurde in Fischöl gebraten. Der Gestank war infernalisch.

Mutter wurde krank. Schwere Gelbsucht. Meine drei Jahre alte Schwester starb. Bei meinem Vater und mir wurde lediglich das weiße in den Augen gelb. Großmutter und Großvater waren resistent. Die hatten schon Anderes erlebt.

"Wenn die Russen…!"

"Schluss jetzt! Ab in die Betten!", mein Vater schob Mutter vor sich her in Richtung Schlafzimmer.

Ich verzog mich in meine Bude. Mir taten alle Knochen weh und ich war todmüde. Ein Glück, dass die Schule Kälteferien machte. Ich fiel ins Bett und war weg.

Irgendwann kam der Traum. Anni stand mit hochgerafftem Rock in einer weißen Wolke aus Wasserdampf. Die Bluse hatte sie ausgezogen und darunter war sie nackt. Ihre großen, schweren Brüste leuchteten mir weiß und auffordernd entgegen. Als ich meine Hände danach ausstreckte, kam Panje mit aufgeschlitzter Kehle angetrabt und drängte sich zwischen uns. Plötzlich stand ein Soldat mit angelegter Maschinenpistole vor Anni und schoss. Die Kugeln, von denen ich jede einzelne deutlich sehen konnte, flutschten unter ihren Rock. Anni lachte und stieß kleine, kehlige Schreie aus. Dann wurde es still. Das Pferd war weg, der Russe war weg. Nur Anni und ich waren noch da. Ich hatte eine von Annis festen Brüsten mit beiden Händen umfasst und rieb mich an ihrem Oberschenkel. Als mein Mund die Spitze der Brust umschließen wollte, löste sich etwas in mir und der Soldat begann wieder zu schießen.

Ich erwachte. Meine Hose war feucht und klebrig. Die Schüsse kamen von der Aschengrube. Alle Frauen des Hauses leerten ihre Müll- und Ascheeimer an diesem Sonntagmorgen und das Zufallen des Eisendeckels hatte mich aus meinem Traum gerissen.

Sonntag. Ich hasse diesen Tag. Heute noch. Sterilität pur!

"Mach dich nicht schmutzig, Alex, heute ist Sonntag!"

"Seid nicht so laut im Hof, heute ist Sonntag!"

"Kämm dir die Haare, heute ist Sonntag!"

Scheißsonntag!

Die Gartenwege geharkt, das Treppenhaus frisch gescheuert, der Hof gekehrt oder wie heute Morgen bereits Schnee geschoben, Kirchenglocken, keine Sau draußen. Totensonntag. Jeder Sonntag war Totensonntag. Das einzig Gute daran war, dass man nicht aufstehen musste am Sonntag. Aber das war zur Zeit sowieso egal, da wir Kälteferien hatten.

Ich quälte mich trotzdem aus dem Bett, stopfte meine feuchte Hose in die hinterste Schrankecke, zog meine altgediente, schon zwei Mal ausgelassene Manchesterhose an, streifte den restlos verfilzten Schafwollpullover über und schlich in die Küche.

Großmutter stand am Herd. Zwischen den gusseisernen Ringen zuckten Flammen und in der blechernen Kaffeekanne summte es.

"Moin", knurrte ich.

"Guten Morgen, mein liebes Alexchen. Hat der Herr gut geruht?"

`Mein liebes Alexchen` brachte mich derart auf die Palme, dass ich augenblicklich hellwach war. Groß-mutters Trick funktionierte immer wieder.

"Bin ich ein Meerschwein?", fauchte ich wütend und sah aus den Augenwinkeln, wie Großmutter grinste. Ich ging zur Gosse, putzte mir die Zähne, spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht und setzte mich an den Küchentisch.

Das dunkelgrüne Linoleum hatte Brandflecke von Großvaters Zigarettenkippen und die Holzkante zeigte Kerben meiner frühen Holzschnitzkünste. Die Küche war der einzige Raum der Wohnung, der im Winter beheizt wurde, und so spielte sich das gesamte Familienleben in diesem Raum ab.

"Sirup oder Stalinbutter?", fragte Großmutter.

"Schinken", sagte ich.

"Dann zieh schon mal die Hosen runter", lachte Großmutter, zeigte mit ihrem Küchenmesser auf mein Hinterteil und schob mir eine dicke Scheibe graues, spelzendurchsetztes Brot mit Stalinbutter vor die Nase. Majoran!

Dieser ganz weit entfernt nach Leberwurst riechende Brotaufstrich wurde von den Hausfrauen aus Paraffin, einer Messerspitze Margarine, Zwiebeln, viel Majoran und einer Mehlschwitze hergestellt. Das Zeug war außerordentlich magenfreundlich. Es rutschte glatt durch den Verdauungstrakt und landete manchmal in der Unterhose, ohne dass man es merkte.

Ich schlang wortlos das Brot runter und spülte mit Muckefuck nach.

"Danke", murmelte ich, denn ich wusste, dass ich wieder einmal eine Scheibe Brot gegessen hatte, die sich Großmutter vom Munde abgespart hatte.

In der Regel wurde bei uns sonntags halb neun gefrühstückt - und zwar alle zusammen.

"Feste Gewohnheiten halten die Welt zusammen." Großmutter!

Käse, quadratischer! Wir frühstückten seit Jahren jeden Sonntag zusammen und die Welt war trotzdem in tausend Stücke geflogen.

Trost-und Hoffnungssprüche eben. Der Regulator über der Küchentür zeigte sieben Uhr und ich verschwand wieder im Bett.

Robinson! Das Tagebuch faszinierte mich. Ich las unter dem fünften November, wie Robinson mit Hund und Flinte bewaffnet, eine wilde Katze erlegt und ihr das Fell abzieht. Ich sah augenblicklich wieder Panje und den gestrigen Abend vor mir und hatte große Mühe, meinen Mageninhalt unter Kontrolle zu halten.

Ich las schnell weiter. Für scheußliche Situationen hatte ich mir Ablenkungspraktiken angeeignet. Eine davon war Lesen. Konzentriert lesen. Selbst wenn die Gedanken zurück wollten, lesen!

Nur dass Katzenfleisch ungenießbar sein sollte, nahm ich Robinson nicht ab. In unserer gesamten Umgebung war schon lange keine Katze mehr zu sehen.

Aber Panje essen. Nie und nimmer!

"Lies weiter, Alex", sagte ich laut zu mir. Aber es klemmte.

Panje essen wäre mir wie schlimmster Kannibalismus vorgekommen.

***

Halb zehn. Großmutter hatte verhindert, dass ich zum offiziellen Sonntagsfrühstück geweckt wurde. Wo doch das Jungchen so spät ins Bett gekommen war!

Ich verdrückte noch eine Scheibe Brot mit schwarzem Rübenhonig und ging hoch zu Wünschmanns.

Ecki schlürfte irgend einen grauen Brei in sich hinein und biss zwischendurch krachend von einem alten Kommisskanten ab, der mir bekannt vorkam.

"Friss nicht so viel", sagte ich, "du wirst eindeutig zu fett."

Eckis Mutter, die am Herd herumhantierte, drehte sich um und warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. Sie mochte unseren Straßenjargon nicht, hatte aber längst resigniert.

Wünschmanns hatten bis Kriegsende in der Villa gegenüber dem Bahnhof gewohnt. Rechts neben der Villa stand das Fabrikgebäude aus rotem Backstein mit den typischen gusseisernen, in kleine Quadrate unterteilten Fenstern.

Über dem Eingang prangte in vergoldeten Eisenlettern: Otto Wünschmann - Chemische Fabrik

Die Wünschmannsche Klitsche (mein Vater) stellte bis Kriegsende Schuhcremes her. Am bekanntesten war Wünschmanns Stiefelwichse für die Deutsche Wehrmacht. Auf den runden, schwarzen Dosen stand in Goldschrift:

Norden, Osten, Süden, Westen, Wünschmanns Wichse ist am besten!

Darunter prangte ein glänzend gewichster Knobelbecher.

Ende Mai fünfundvierzig flogen Wünschmanns aus der Villa, und die Russische Kommandantur in Person eines mittelgroßen, prasseldürren Majors zog ein. Wünschmanns bekamen eine Wohnung in unserem Haus zugewiesen.

Im Juni holten die Russen Herrn Wünschmann ab.

Hinter vorgehaltener Hand wurde das Wort Bautzen geflüstert. Wenig später munkelte man, dass der jetzige Hilfspolizist Hagedorn seinen ehemaligen Chef, den Fabrikanten Wünschmann, bei den Russen denunziert hätte.

Hagedorn, der dank seiner Trinkgeldpfote (die linke Hand war nach hinten verdreht und zeigte mit der Handfläche nach oben) nicht eingezogen worden war, hatte in der Wünschmannschen Fabrik gearbeitet und war vierundvierzig wegen wiederholter Trunkenheit am Arbeitsplatz entlassen worden.

Rache ist Blutwurst!

"Na, Alex, wie gehts der Familie?", fragte Frau Wünschmann. Ich wusste, dass sie das in Wirklichkeit nicht die Bohne interessierte.

"Danke der Nachfrage", sagte ich. Blöder hatte ich`s nicht. Alltagsfloskel! "Geht ganz gut so", schob ich nach.

Ecki kaute an den letzten Bissen und verdrehte die Augen. Er wusste so gut wie ich, dass seine Mutter, seit ihr Mann verschwunden war, in ihrer eigenen Welt aus Hoffnung und Verzweiflung lebte.

"Also, wir verschwinden jetzt", sagte Ecki immer noch kauend.

"Denkt dran, heute ist Sonntag", gab uns Frau Wünschmann mit auf den Weg. Von Eckis Augen war nur noch das Weiße zu sehen.

Auf dem Hof sagte Ecki: "Mann, hab ich einen Scheiß geträumt. Als Humpel dem Gaul die Kehle durchgeschnitten hatte, war das plötzlich Hagedorn, der da auf dem Boden lag."

"Ich hab Anni obenrum nackig gesehen", sagte ich.

"Im Traum", feixte Ecki und formte mit den Händen zwei große Kugeln vor seiner Hühnerbrust.

Es gab drei Dinge, die unsere Fantasie beschäftigten und unser Leben bestimmten: Essen, Rache an Hagedorn und Mädchen. In diesem Jahr hatte sich die Reihenfolge eindeutig zu Gunsten der Mädchen verschoben. Das wirklich Dumme an der Sache war, dass wir nicht die geringste Ahnung hatten, was so zwischen Männlein und Weiblein in Wirklichkeit ablief. Unser bisheriges Wissen setzte sich aus den Ungereimtheiten zusammen, die wir von den Größeren aufschnappten, speziell von Humpel. Und was dabei herauskam, sollte sich noch zeigen.

"Machen wir rüber zu den Russen?", fragte Ecki.

"Klarer Fall", sagte ich.

Wir marschierten fast jeden Tag rüber zu den Russenkasernen nach Nickern. Die Soldaten schmissen ihre Abfälle, meist Graupen, die bei uns Kälberzähne hießen, und Kohlsuppe, in große Fässer, die an der Rückwand der Kaserne standen. Wir waren nicht die Einzigen, die sich aus dieser Quelle ernährten und am Leben erhielten. Um die Mittagszeit kamen aus allen Himmelsrichtungen Jungen wie wir und füllten ihre zwei Kochgeschirre oder Milchkannen. Einmal Eigenbedarf, einmal Bevölkerungsbedarf.

Im Park, gegenüber dem Bahnhof, warteten täglich alte Leute bereits voller Gier auf unsere Suppe. Schande über uns! Wir nahmen Geld und Zigaretten für Leben.

Geben ist seeliger denn Nehmen, predigt Pfarrer Oehme.

Wer nicht arbeitet, muss auch nicht essen, sagt Josef W. Stalin.

Jeder ist sich selbst der Nächste, sagt meine Großmutter.

Mach was draus, sagten wir und verschenkten manchmal einen Schlag Suppe. Wenn einer gar nichts hatte, uns aber was versprach. Ecki zog zwei zerknautschte Zigaretten mit langem Pappmundtück aus seiner Manteltasche.

Machorka. Bahndamm, dritte Ernte, wie Großmutter zu sagen pflegte, wenn Großvater das Zeug qualmte.

Ich nahm den Glimmstengel, steckte ihn aber ein. Bei der Kälte qualmen, ich hätte mich totgehustet.

Auf der Bergstraße kamen uns von oben zwei ältere Frauen entgegen. Als sie etwa noch hundert Meter von uns entfernt waren, wechselten sie die Straßenseite. Kein Wunder bei unserem Anblick. Ecki trug einen schwarz umgefärbten, viel zu großen Wehrmachtsmantel. Ich hing in der dunkelblauen Wattejacke meines Vaters. Galeere!

"Mal was von deinem Vater gehört?"

"Kannst du vergessen", sagte Ecki, "meine Mutter rennt jede Woche zur Kommandantur oder zur Gemeinde. Nichts! Absolut nichts! Wenn die so weiter macht, ist die eines Tages genau so verschwunden wie mein Vater."

Ecki spuckte aus und schmiss die Kippe in den Straßengraben.

"Hagedorn, das Schwein, hat schon so was angedeutet. Jetzt, wo der fast das letzte Stück Schmuck aus meiner Mutter herausgeholt hat, lässt der die Maske fallen. Verdammte Hyäne!", knirschte Ecki mit den Zähnen, "hätten wir besser den geschlachtet!"

Eckis Augen waren fast schwarz vor ohnmächtiger Wut.

"Bin gespannt, wann die Schule wieder los geht", lenkte ich ab.

Ecki brummte irgendetwas.

Seit wir bei Polenta Zeichnen, Deutsch und Sport hatten, konnte es der größte Teil der Jungen kaum erwarten, dass die Schule wieder anfing.

Fräulein Polenta war ein Traum. Der Traum einer Horde von Jungen in der schönsten Pubertät. Noch nie hatten wir so über unseren Hausaufgaben gesessen. Die vom Glück begünstigten, deren Aufgaben kontrollie verließen rt wurden, waren in den Pausen umlagert wie die Märchenerzähler aus Tausendundeinernacht.

Fräulein Polenta beugte sich bei der Korrektur über unsere Aufgaben und ihr weit ausgeschnittener Pullover heizte unsere Fantasie an. Dazu der weiche Geruch nach Zimt, der aus ihrem Ausschnitt heraus in unsere gierigen Nasen stieg. Mann, oh Mann! Nachts lagen wir in den Betten und wurden von feuchten Träumen geplagt. Ich hatte mein erstes sexuelles Erlebnis gleich zu Anfang der siebenten Klasse am Kletterseil. Obwohl ich für mein Alter ziemlich groß und kräftig war, bin ich nie ein Sportass gewesen. Ich quälte mich mehr schlecht als recht am Seil hoch, während Fräulein Polenta den Knoten unten festhielt. Knapp zwei Meter über der Matte begann in meinem unteren Bauchbereich ein merkwürdiges Ziehen. Mit jeder Reibung des Seiles zwischen meinen Oberschenkeln verstärkte sich dieses Gefühl. Ein Blick nach unten in den prall gefüllten Pullover gab mir den Rest. In dem Moment, wo es in meine Turnhose spritzte, durchflutete mich ein Gefühl, das ewig in meinem Gedächtnis blieb. Mich sämtliche Kräfte und ich fiel wie eine überreife Pflaume senkrecht nach unten.

Fräulein Polenta konnte meinen Sturz mit Körpereinsatz bremsen, fiel aber mit mir auf die Matte. Ich lag mit dem Kopf in ihrem Schoß. Es roch nach Zimt und ich stellte mich tot. Dann wurde mein Kopf vom Paradies auf die stinkend Matte gelegt.

Ich war eine Woche die Nummer Eins in der Klasse. Dass ich vor Schwäche vom Seil gefallen war, hätte mir sowieso keiner abgenommen. Bei der Beschreibung von Fräulein Polentas Zimtgeruch musste ich wohl übertrieben haben, denn nach dieser Woche hatte ich meinen Spitznamen weg: Zimt! Kurz und bündig: Zimt!

Wir stapften, jeder in das Netz seiner Gedanken eingesponnen, weiter in Richtung der Kasernen.

Plötzlich blieb Ecki stehen.

"Wenn du Unkrautex zwischen das Schwarzpulver mischst und den Schwefelanteil erhöhst, kannst du was erleben. Das geht ab durch den Sauerstoff wie Sau. Kannst du Häuser in die Luft jagen, jede Wette!"

Vor allem so Behelfsheime in Gartenanlagen, dachte ich.

Hagedorn!

Ecki war in seinem Element. Experimente, bei denen es knallte und stank, waren seine Welt.

Die Umwelt verformt den Menschen, sagt meine Großmutter.

Ecki hatte schon als Kind am liebsten im Labor seines Vaters gespielt. Glänzende Reagenzgläser, Erlen-meyerkolben, Bechergläser, Messzylinder, Pipetten und Büretten hatten ihn mehr fasziniert als elektrische Eisenbahnen oder Fußball. Ätz, unser Chemie-, Klassen- und Neulehrer, hatte sehr schnell Eckis Leidenschaft für das Fach erkannt und ihn kurzerhand zum Chemiehelfer ernannt. Ätz war nur wenig älter als wir, und ihn mit seiner chemische Kurzausbildung auf uns loszulassen war an sich schon ein Experiment.

Seine Feuertaufe, im wahrsten Sinn des Wortes, hatte Ätz mit Eckis Hilfe glänzend bestanden. Bei dem Versuch, Natrium mit Wasser zur Reaktion zu bringen, hatte Ecki ein ziemlich großes Stück des weichen Metalls mit dem Messer abgeschnitten.

Ätz hatte das Stück ohne zu zögern in ein Becherglas mit Wasser geschmissen.. Ecki war vorsichtig zwei Schritte zurück getreten. Das Natrium verwandelte sich im Wasser in eine silberglänzende Kugel, die wie ein Motorboot mit betrunkenem Steuermann über das Wasser zischte.

Dann gab es einen Knall, das Becherglas zersprang in tausend Stücke und Wasser und Natrium sausten an die Klassenzimmerdecke, und zurück. Etwas Natrium landete auf dem Kopf von Ätz. Aus der dunklen Lockenpracht stieg Qualm und es zischte.

Ätz stand zur Salzsäule erstarrt am Lehrertisch. Ecki nahm ein zweites Becherglas mit Wasser und goss es Ätz über den Kopf. Der Natriumrest landete auf dem Tisch und verzischte.

"Danke, Ecki", sagte Ätz.

Und an uns gewandt: "Denkt dran, Jungs, beim Experimentieren immer nur kleine Substanzmengen verwenden, manche Stoffe sind ätzend."

Das Gebrüll der Klasse klang wie eine zweite Explosion. Wir lagen auf den Bänken und trommelten mit den Fäusten.

Ätz lachte mit.

Ätz war geboren!

Und Ecki war ein Held!

Topschote bei späteren Klassentreffen!

Inzwischen waren wir bei den Kasernen angekommen und füllten unsere Kochgeschirre. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie zwei junge Soldaten auf uns zukamen.

"Scheiße", murmelte ich zu Ecki.

"Ruhe bewahren", sagte Ecki. Dann standen die beiden Russen vor uns. Der größere hatte wasserhelle Wimpern, wasserhelle Augen und ein rotbackiges Gesicht. Der Kleinere war ein dunkelhäutiger Kalmücke.

Der Wasserhelle lachte mich an und sagte: "Wodka?"

Ich schüttelte den Kopf und sagte: "Nix Wodka!"

Der Wasserhelle lachte weiter und sagte: "Du Wodka, du Chleb!"

Aha, dachte ich, Wodka gegen Brot. Nicht schlecht, aber woher sollten wir Wodka kriegen?

Ich schüttelte den Kopf und wiederholte: "Nix Wodka!"

Inzwischen hatte der Kalmücke Ecki eine der Pappmundstückzigaretten angeboten.

"Du Wodka, du Papyrossa", sagte er zu Ecki.

Ecki nahm die Zigarette, schüttelte aber nur den Kopf.

Der Wasserhelle klopfte mir auf die Schulter, fuhr mit dem Zeigefinger zwischen sich und mir hin und her und wiederholte.

"Du Wodka, du Chleb!"

"Abgang", flüsterte ich Ecki zu. Dabei lachte ich die beiden Russen an und sagte: "Doswidanja." Dann machten wir, dass wir fortkamen.

Auf dem Rückweg sagte Ecki: "Wenn wir Wodka hätten, könnten wir das Geschäft unseres Lebens machen!"

"Haben wir aber nicht", knurrte ich.

"Könnten wir aber herstellen", hielt Ecki dagegen.

"Mann, die Fässer in der Hütte!", rief ich.

"Du hast es erfasst, Alter", sagte Ecki.

"Wie willst du aus der Brühe Wodka machen?", dachte ich laut.

"Destillieren", grinste Ecki.

Am Bahnhof angekommen, gingen wir in den Park und verscherbelten jeder ein Kochgeschirr Beutesuppe gegen Bares oder Zigaretten an unsere Stammkunden.

Als wir in unseren Hof kamen, war dort der Teufel los.

„Wo ist Pferd?“, schrie der russische Major. Sein Kopf war puterrot und drohte zu platzen. Am Hofeingang standen zwei Soldaten mit schussbereiten Maschinenpistolen.

"Wo ist Pferd?", tobte der Major weiter. Der Kopf war inzwischen blaurot.

"Wenn Pferd nicht da, alle Weiber…!", schrie der Major außer sich. Dabei stand ihm der weiße Wutgeifer auf den Lippen und er fuhr mit dem Zeigefinger der rechte Hand in dem Loch, das er mit Daumen und Zeigefinger der anderen Hand gebildet hatte, raus und rein.

Er schien kurz vor einem Schlaganfall.

Mein Vater trat einen Schritt vor und sagte: "Was Pferd?"

Das war zuviel. Der Major stürzte sich wie ein wilder Pavian auf meinen Vater und nestelte an seiner Pistolentasche.

Anni trat dazwischen und sagte: "Ich dir zeigen Pferd, komm!" Dabei nestelte sie an den Knöpfen ihrer Bluse, drehte sich um und ging mit schaukelnden Hüften in Richtung Haustür. Der Major rief den Muschkoten einen Befehl zu und folgte Anni.

Der Hof leerte sich. Wir setzten uns auf die Bank, die neben der Aschengrube stand.

"Möchte wissen, was die mit dem Major macht?", grübelte Ecki.

Ich hatte keine klare Vorstellung, was da ablaufen könnte, sagte aber trotzdem: "Die wird sich pimpern lassen."

"Hm", gab Ecki von sich und ich wusste, dass er genau so wenig wusste wie ich.

Kurz gesagt, wir schmissen mit schweinischen Ausdrücken nur so um uns, obwohl wir von Tuten und Blasen keine Ahnung hatten. Was wir im Überfluss besaßen, war Fantasie. Fantasie und Magazine. Die Magazine hatten wir beim Stöbern auf dem Dachboden entdeckt. In einem alten Wäschekorb voller Gerümpel. Unter dem Gerümpel lag ein Grammophon, ein gewaltiger Stapel von Schellackplatten mit Filmmusik und rosafarbene Magazine mit fast nackten, rosafarbenen Frauen.

Grammophon, Platten und Magazine befanden sich jetzt in unserer Hütte. Nur von den Magazinen hatten wir einige mit in unsere Zimmer genommen. Die Bilder der rosa überhauchten Frauen auf rosa Bettlaken in Zimmern mit rötlichen Vorhängen waren die Vorlagen für unsere nächtlichen Trockenübungen, die immer feucht endeten.

"Guck dir das an!", Ecki stieß mir den Ellenbogen in die Rippen und holte mich zurück.