Doppelkorn und Damenwahl - Andreas Pietzsch - E-Book

Doppelkorn und Damenwahl E-Book

Andreas Pietzsch

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Beschreibung

Der vom Dienst suspendierte Lehrer Felix Hohndorf wird Schlammfahrer in einem Chemiebetrieb. Er freundet sich mit dem Malocher Josef an und die blonde Sibylle, die vielen Männern treu ist, will ihn verführen. Die rothaarige, üppige Laborantin Brigitte angelt sich den sexuell ausgehungerten Felix zum Spielen, und Johann, Heizer an den Röstöfen und Zeuge Jehovas, steht ihm bei seiner Eingewöhnung ins ungewohnte Proletarierleben zur Seite. Während einer Reise an den Balaton trifft er Helene, die einzige Frau, die er wirklich geliebt, die ihn verlassen hat und die er nie vergessen kann. Nach erneuter Trennung von ihr spielt Felix mit dem Gedanken, das Land zu verlassen.

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Der vom Dienst suspendierte Lehrer Felix Hohndorf wird Schlammfahrer. Er freundet sich mit dem Malocher Josef an, die blonde Sybille, die vielen Männern treu ist, will ihn verführen, und Elli, die in Hoheneck einsaß, weil sie einen Parteisekretär geohrfeigt hat, entweickelt mütterliche Gefühle für den jungen Mann. Die rothaarige, üppige Laborantin Brigitte angelt sich den sexuell unterversorgten Felix zum Spielen und Johann, Heizer an den Röstöfen und Zeuge Jehovas, steht ihm bei seiner Eingewöhnung ins ungewohnte Proletarierleben zur Seite.

Während einer Reise an den Balaton trifft er unversehens Helene, die erste Frau, die er geliebt, die ihn verlassen hat und die er nicht vergessen kann. Nach erneuter Trennung von ihr spielt Felix mit dem Gedanken, das Land zu verlassen.

Nachdem Christiane, seine neue Liebe, stirbt, geht Felix nach Dresden und kehrt in seinen Beruf als Lehrer zurück. Dort lernt er Svenja, eine attraktive Kollegin kennen, deren Familie, bis auf eine Ausnahme, fest an den Sieg des Sozialismus glaubt.

Doch so wie das sozialistische System zu krieseln beginnt, krieselt es auch in der Ehe von Svenja und Felix.

Horst A. Jacopie wurde 1937 in Dresden geboren. Er war Chemiearbeiter und Heizer, arbeitet auf dem Bau und in der Landwirtschaft. Er studierte Naturwissenschaften und Pädagogik und wurde Lehrer. Sein Buch „Man kann nicht früh genug auf die Bescherung warten“ ist der zweite Roman der Trilogie um den unbotmäßigen und renitenten Felix Hohndorf.

Die in diesem Roman agierenden Personen sind vom Autor frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt

Inhaltsverzeichnis

Kapitel I

Kapitel II

I

Das giftige Rasseln des Weckers biss mir wie eine Sandviper ins Trommelfell. Ich hatte miserabel geschlafen, mich von einer Seite auf die andere geworfen. Mein Bettlaken war zu einem feuchten Strick zusammen gerollt, das Kopfkissen lag als zerknüllter Klumpen an die Wand gepresst. Schwere Albträume hatten dafür gesorgt, dass meine Schweißdrüsen ihren Fünfjahrplan in einer Nacht erfüllten.

Mir war kalt und elend und ich fühlte mich wie ausgekotzt.

„Reiß dich zusammen, Alter, bist selbst Schuld an der Kacke, in der du jetzt sitzt“, knurrte ich, während ich mich aus meiner feuchtwarmen Koje schwang. Ich riss das Fenster weit auf, machte zwanzig Kniebeugen, ging rüber in die Küche und klatschte mir eiskaltes Wasser ins Gesicht.

„Rasieren fällt aus, Herr Proletarier!“ Ich grinste mein Konterfei in dem halbblinden Spiegel über der Gosse an. Felix Hohndorf, geexter Pädagoge, ein politisches Windei, für die Erziehung der jungen sozialistischen Generation vorübergehend ungeeignet. Zur Bewährung in die Reihen der Arbeiterklasse abgeordnet.

Schlammfahrer!

Mir fiel das Gespräch vom Freitag ein. Ich hatte vor der nicht ganz geschlossenen Tür des Parteisekretärs gestanden.

„Was machen wir mit dem Knaben?“, hatte eine Stimme gefragt.

„Der soll riechen, wie Scheiße stinkt, der Arschpauker“, knurrte eine andere Stimme.

„Also Schlammfahrer?“

„Schlammfahrer!“, grunzte der Knurrhahn.

Ich hatte an die Tür geklopft und war eingetreten. Hinter einem verkeimten Schreibtisch saß ein bleichgesichtiger Mann mittleren Alters. Die Gesichtshaut war so grobporig und schwammig wie ein leergemolkenes Kuheuter. Ein zweiter Mann saß kippelnd an der Wand. Er war massig mit breiten Schultern und einem viereckigen Schädel.

„Guten Morgen, Felix Hohndorf!“

Die Männer sahen mich schweigend an.

Arschlöcher, dachte ich, blieb stehen und sah aus dem offenen Fenster.

Nach einer Weile erhob sich Bleichgesicht und sagte: „Holzapfel, Parteisekretär“, und streckte mir die Hand entgegen.

„Ganzauge“, knurrte der Kippler.

Ich schätzte ihn auf fünfzig.

Fünfzig Salem pro Tag.

„Dein Meister“, sagte Holzapfel.

„Du gehst zu den Schlammfahrern. Montag, Frühschicht.“ Der Knurrhahn erhob sich. Ich stellte erstaunt fest, dass er nur wenig größer war als ich, aber den Körperbau eines Wasserbüffels hatte. Allein der Brustkorb, Himmel, Arsch und Zwirn.

Er ging Richtung Tür, blieb stehen, sah mich an und reichte mir die Hand. Es war ein Fehler, ihm die Hand zu geben, hätte seine Flosse besser übersehen sollen. Ich spürte jetzt noch das Knirschen meiner Handwurzelknochen.

Jedenfalls würde ich Schlammfahrer werden, was immer das auch sein mochte.

Ich goss mir eine Tasse Tee auf, biss in das Leberwurstbrot, das ich mir gestern Abend noch gemacht hatte, fuhr in Hose und Pullover, verbrannte mir die Lippe am heißen Tee und kippte ihn wütend in den Ausguss. Ein Glück, dass ich gestern noch nach meiner alten Tretmühle gesehen hatte. Die Reifen waren fast platt gewesen. Ich zerrte das Rad aus dem ehemaligen Schweinekoben und schwang mich auf den alten, knochenharten Ledersattel.

Zehn Kilometer. Ich hätte den Bus nehmen können, mit dem die meisten Arbeiter zur Chemiebude fuhren, aber ich hatte keine Lust auf blöde Fragen früh am Morgen.

Außerdem sollte Radfahren eine der gesündesten Sportarten sein.

Als ich an der Schule vorbeiradelte, packte mich urplötzlich so etwas wie Heimweh. Ein Glück, dass es erst kurz nach fünf Uhr war. Kein Lehrer, kein Schüler. Montag, 2. September. Das neue Schuljahr fing heute an.

Ich hatte lange überlegt, was ich machen sollte. Zurück nach Leipzig zu meinen Eltern. Nie und nimmer. Ich hatte ihnen nichts von meinem Rausschmiss aus dem Schuldienst gesagt, obwohl Vater mich verstanden hätte. Aber meine Mutter, nee, lieber nicht. In eine ganz andere Stadt, ging kaum. Wohnungen waren Mangelware. Ich hätte einen Antrag auf Zuweisung einer Wohnung stellen müssen.

Warten.

Warten auf die Realisierung des Wohnraumvergabeplanes.

Wieder warten.

Dann die Absage.

Für ein Subjekt wie einen geexten, politisch unzuverlässigen Lehrer gab es garantiert keine Zuzugsgenehmigung.

Möbliertes Zimmer. Nie wieder!

Also blieb ich.

Und radelte.

Beim Pförtner nannte ich meinen Namen, da ich noch keinen Betriebsausweis hatte. Der Mann sah mürrisch in eine Liste und sagte: „Meisterbereich sechs.“

Ich blieb stehen.

„Hörst du schwer, du Kaffer“, plärrte der Mann mich an.

„Nö“, sagte ich freundlich lächelnd, „hab nur keine Ahnung, wo Afrika ist, du Hottentotte.“

Der Mann stand auf, kam aus seiner Pförtnerbude und ich sah, dass er humpelte. Holzbein, dachte ich. Als er vor mir stand, grinste er mich an, zeigte in Richtung Fabrikstraße, die das weitläufige Gelände in der Mitte zerteilte und sagte: „Dritte Seitenstraße links, du Kaffer.“

„Danke, du Zulu.“

„Zulu ist gut“, lachte Holzbein. „Muss ich mir merken.“

Er schlug mir leicht auf den Hintern, als ich mich umgedreht hatte und losmarschierte.

„Drittes Haus“, rief er mir nach. Ich hatte das Gefühl, als hätten sich seine braunen Glubschaugen an meinem Hintern festgesaugt.

Gummistiefel, drei Paar graue Fußlappen, ein Säureanzug. Ich unterschrieb den Wisch, den mir der Meister auf den Tisch legte.

„Fünf vor sechs an den Filterpressen. Die Garderobe ist an der Straße, links, viertes Haus.“

Scheiße, dachte ich, wie sollst du dich in diesem Gewirr aus Straßen, Seitenstraßen und Gebäudenummern jemals zurecht finden. Irgendwie fand ich´s. Das Haus war ein graues, heruntergewirtschaftetes Gebäude, von dem an allen Ecken der Putz abbröckelte. Eine Treppe führte in ein Untergeschoss, eine andere Treppe führte nach oben. An der oberen Tür stand SPEISERAUM, an der unteren Tür stand UMKLEIDE.

Umkleide!

Klang irgendwie nach Theater.

Puder, Parfüm und animalischer Duft erhitzter Frauenkörper.

Als ich die Tür öffnete, schlug mir ein Schwall warmer, infernalisch stinkender Luft entgegen und verschlug mir den Atem. Ich taumelte einen Schritt zurück und stieß gegen einen Burschen.

„Oh de Kolonsch“, grinste der Kerl, der einige Jahre jünger als ich war.

„Eher Affenscheiße mit Elefantenpisse verrührt“, muffelte ich.

Er schob mich durch die Tür.

„Bist du der neue Schlammfahrer?“

„Bin ich, Hohndorf, Felix.“ Ich atmete so flach ich konnte. Der Gestank war umwerfend „Josef.“ Er streckte mir die Hand entgegen. Ich bückte mich schnell und murkste an meinem Schnürsenkel herum. Mir tat meine Hand noch vom Freitag weh.

Josef schob mich durch den Raum. In der Mitte standen in Reihe sechs große, runde, steinerne Waschgelegenheiten mit einem Durchmesser von schätzungsweise anderthalb Metern. Oben an einer Säule befanden sich die Wasserhähne.

Die Männer von der Nachtschicht standen um die überdimensionalen Waschbecken herum, wickelten ihre saftstrotzenden, stinkenden Fußlappen von den Füßen und wuschen sich mit Kernseife ihre dampfenden Quanten.

Mir war so übel, dass ich schlucken musste.

Josef grinste und zog mich zu den Spinden auf der linken Seite.

„Nur eine Frage der Gewöhnung. Nach fünf Minuten riechst du das nicht mehr, und wenn du eine Weile hier gearbeitet hast, wird dieser Männerduft zu etwas Heimischen, wie der Geruch brennender Kerzen am Weihnachtsbaum.“

Ich sah Josef an, als hätte er den Jagdschein erster Klasse.

Josef erwiderte ernsthaft meinen Blick, dann brach er in schallendes Gelächter aus.

„War`n Scherz, Kumpel. Der Gestank bleibt haften. Hab neulich `ne Alte abgeschleppt. Hab die Kirsche im Hausflur an die Wand gelehnt und grad so richtig ihre Titten massiert und wollt`n reinstecken, da schiebt die mich weg und sagt, dass ich stinke. Die hatte recht. Wenn du nicht ausgiebig geduscht hast, kommt der Gestank aus der Haut gekrochen, sobald sich dein Blut erhitzt.“

Josef zeigte auf einen Spind mit der Nummer 134.

„Deiner. Schloss musst du dir noch besorgen. Ist besser, die Brüder klauen dir sonst die neuen Fußlappen. Manchmal tauschen sie auch ihre kaputten Gummistiefel gegen die neuen in deinem Spind. Kannst dein Zeug nach der Schicht erst mal bei mir reinstellen.“

Josef zog sich aus und stieg in seinen Säureanzug.

Der Mensch lernt am schnellsten durch Nachahmung, dachte ich, und tat das Gleiche.

Josef schlang die grauen Lappen, die mich an Scheuerhader erinnerten, um seine Füße und fuhr in die Gummistiefel.

Tat ich ebenfalls.

Josef grinste. „Wenn du das so machst, kannst du in einer Stunde nicht mehr laufen, Blödmann.“

„Selber Blödmann“, knurrte ich zurück.

„Heb deine Stelze!“, fuhr mich Josef an.

Ich hob meinen Fuß und stellte ihn auf die Bank an der Wand. Josef schnappte sich einen meiner Fußlappen.

„Flosse hoch!“

Ich hob den Fuß.

Josef legte den Scheuerhader zurecht.

„Flosse runter!“

Ich stellte meinen Fuß auf den Lappen.

Josef schlug das vordere Teil über meine Zehen, schlang die Seiten über den Spann und zerrte die hintere Ecke um die Ferse.

„Halt fest und fahr in den Stiefel.“

Tat ich.

Saß gut.

Links machte ich selbst.

„Riechst du noch was?“, feixte Josef.

Tatsächlich, ich hatte mich dran gewöhnt.

Draußen bot ich Josef eine F6 an, dann marschierten wir Richtung Filterpressen.

„Damit du Bescheid weißt“, mein Kompagnon war stehen geblieben, „die Blonde oben an den Pressen gehört mir.“

„Seid ihr verlobt?“

„Verlobt? Meinst du, ob ich die schon gefickt habe?“

Ich sagte nichts.

„Hab ich noch nicht, aber `s wird bald soweit sein.“

Wir gingen schweigend weiter.

Plötzlich sagte Josef: „Du bist doch der Beschäler von der Bäckerjule?“

Mir fiel die Kippe aus den Fingern.

War ich schon Stadtgespräch?

„Wie kommst du da drauf?“

„Hat sich rumgesprochen. Ist doch in Ordnung. Mir wär die zu alt, muss ich sagen. Aber `ne Figur hat die Alte schon, da wächst dir der Hammer in der Hose.“

Und ich Idiot dachte, dass keiner was gemerkt hatte.

Wir gingen schweigend weiter.

„Hier“, sagte Josef und zeigte auf eine Halle mit weit geöffneten Torflügeln. Schmalspurschienen führten von innen über die Fabrikstraße in Richtung eines hohen, sandfarbenen Berges. Unter den nebeneinander stehenden drei Filterpressen standen Kipploren. Zwei Frauen mit Schabern standen rechts und links an der ersten Presse und ließen den hellbraunen Schlamm in die unten stehende Lore klatschen.

Die Frauen trugen die selben schönen, steifen Anzüge wie wir. Eine war blond, hatte Schillerlocken und strahlend blaue Augen. Sie musterte mich vom Kopf bis zu den Gummistiefeln. Ihr Blick hatte trotz des strahlenden Blaus etwas Leeres, Glasiges.

Ich sah ihr direkt in die Augen.

Sie schob das Becken ganz leicht nach vorn.

Ich ließ meine Blicke langsam nach unten gleiten. Unter dem groben Stoff zeichneten sich ihre Brüste ab, die einiges versprachen.

Scheinbar unbewusst zog sie ihre Säurejacke vorn glatt.

Ich hatte mich nicht getäuscht. Da war `ne Menge Holz vor der Hütte. Bei der brauchst du nicht lange zu baggern, mein lieber Josef, dachte ich. Die legt sich schneller hin, als du die Hosen runter hast. Und nicht bloß für dich, Kumpel. Liebling, was hast du für schöne Augen, ich seh ein Bett!

Die zweite Frau war ein grobschlächtiges Weib mit strähnigem grauem Haar, das zu einem Pferdeschwanz gebunden war.

„Glotz nicht so, Sibylle“, fuhr die Alte die Junge an, „der hatt`n garantiert genauso zwischen den Beenen hängen, wie die ander`n Kerle och. Schab lieber das Tuch auf deiner Seite ab.“

Ein letzter Rest Schlamm klatschte in die darunter stehende Kipplore.

„Hol das Ding vor!“, kommandierte Josef.

Ich zog die Lore nach vorn.

Josef hatte die unter der zweiten Presse vorgeholt und ich zerrte die dritte nach vorn. Josef schob jetzt die erste Kipplore in Richtung Ausgang. Ich schnappte mir die zweite und schob sie hinter Josef her zu einer Drehscheibe, in der drei Spuren ankamen, und von der nur eine Spur über die Straße zum Berg führte. Als alle drei Loren hintereinander auf den Feldbahnschienen standen, hing sie Josef aneinander.

„Ich geh jetzt hoch an die Winde. Wenn ich winke, sperrst du die Straße und stellst dich dann auf die letzte Karre. Klar, Pauker?“

Ich nickte.

Die sozialistische Arbeiterklasse schien noch nicht begriffen zu haben, dass die Verbindung von Prolet und Intelligenzler den wahren Kommunisten ausmacht, dachte ich. Wirst es nicht ganz leicht haben, Felix.

Oben am Berg sah ich Josef winken.

Ich hing den Seilhaken an die erste Lore und stellte mich mit ausgebreiteten Armen in die Mitte der Straße. Als die letzte Lore an mir vorbeirumpelte, stellte ich mich hinten auf den Eisenrahmen und ließ mich mit nach oben ziehen. Der Berg, schätzte ich, musste ungefähr vierzig Meter hoch sein.

Herrlich, so nach oben gezogen zu werden.

Jedenfalls wusste ich jetzt, was ein Schlammfahrer war. Und so übel, wie es klang, schien es nicht zu sein.

Oben koppelte Josef die letzte Lore ab.

„Du schiebst hinter mir her, bis an den Rand.“

Josef schnappte sich die ersten zwei Karren und schob ab. Ich nahm die dritte Lore und schob hinterher. Am Ende der Feldbahnschienen kippte Josef die Loren, und der Schlamm klatsche den Hang hinunter. Als ich aufgerückt war, kippte ich die Wanne an. Ging nicht so leicht, wie ich dachte. Ich stemmte mich unter den Lorenrand und drückte die Seite hoch. Ehe ich begriff, was passierte, kippte die ganze Lore um und rollte den Hang hinunter.

„Blödmann“, grinste Josef, „hättest du den Schwerpunkt nicht vorher berechnen können? Bist doch Mathepauker, oder?“

Das Grinsen in seinem Gesicht führte dazu, dass ich meine geballte Rechte in die Hosentasche steckte.

„Scheiße“, sagte ich.

„`n Kasten Bier“, sagte Josef.

„Was?“

„`n Kasten Bier, Blödmann, und ich sage, das Gleis war locker.“

„Sauhund“, sagte ich. Macht der wahrscheinlich mit jedem Anfänger.

„Blödmann“, lachte Josef.

„Wenn du das noch mal sagst, hau ich dir paar auf die Fresse!“ Ich war ganz dicht an dieses proletarische Arschloch herangetreten. Josef war eher klein und schmal.

„Is` ja gut, Blödmann.“

Ich nahm die Faust aus der Hosentasche.

„War`s letzte Mal.“

Wir fuhren mit den zwei verbliebenen Kipploren zurück zur Winde und wieder nach unten. Josef zerrte aus einem Anbau eine neue Lore und das Ganze begann von vorn. Nur mit einem Unterschied, ich musste den Berg hoch latschen und Josef ließ sich ziehen.

Halb neun.

Frühstückspause. Mir knurrte mörderisch der Magen. Meine neuen Kollegen setzten sich in die Frühstücksecke. Uralte Eckbank, zerkratzter Tisch, zwei Holzkisten mit alten Decken. Über der Eckbank eine Sperrholzplatte mit Ansichtskarten: Thüringer Wald, Sächsische Schweiz, Lausitz, Riesengebirge, Balaton, Ostsee.

Die Oberkante der Tafel zierte der Spruch: „Deine Friedenstat – erfüllte Pläne.“

Ich zog meine zerdrückte Schachtel F6 aus der Tasche.

„Erst wird was gegessen, Herr Lehrer“, fuhr mich die robuste Alte an, „dann kannste von mir aus qualmen.“

Das Problem war, dass ich nichts Essbares dabei hatte. Ich legte meine F6 auf den Tisch, erhob mich und studierte völlig hingebungsvoll die Postkarten an der Tafel. Das Grinsen meiner neuen Kollegen nahm ich nur aus den Augenwinkeln wahr und ignorierte es, bis mich die Alte anstieß. Sie hielt mir ihre Brotbüchse entgegen.

„Greif zu, du Hungerleider“, grinste sie mich an.

Ich griff zu.

Zieren war hier nicht.

Leberwurst.

„Himmel, Arsch und Zwirn“, lachte die Blonde, „der kaut ja überhaupt nicht.“ Sie hielt mir ihre Brotbüchse entgegen.

Fleischsalat.

Ich sah in ihre himmelblauen Augen und murmelte:

„Danke.“

Plötzlich schlurfte ein gebeugtes Männlein, das eine zweirädrige Karre hinter sich her zog, an unseren Tisch.

„Tschuldigung, bin spät.“ Er stellte vor jeden von uns eine Flasche Milch auf den Tisch.

„Macht nichts, Hansi, Hauptsache, du vergisst uns nicht ganz.“ Die Alte klopfte der gebeugten Gestalt auf den Rücken.

„Du bist lieb, Elli“, murmelte Hansi und schlurfte weiter.

„Schwer unterbelichtet, der arme Kerl, stammt aus Dresden,“ klärte mich Elli auf. „War als Kind am 13. Februar verschüttet. Ist mit der Mutter nach den Fliegerangriffen in Neustadt bei Verwandten gelandet. Wird so mit durchgeschleppt. Armer Kerl, aber herzensgut.“

Irgendwas berührte meine Wade. Ich blickte unter den Tisch. Ein Gummistiefel, Blondies Gummistiefel.

Elli warf ihrer Kollegin einen missbilligenden Blick zu, griff ihre Milchflasche, trank sie in einem Zug leer und erhob sich.

„An die Arbeit, Kollegen, so wie wir heute Schlamm schaben, werden wir morgen leben.“

Den Spruch kannte ich etwas anders.

An der Rückwand der Bretterbude oben am Berg stand eine gepolsterte Holzkiste, deren Deckel man hochklappen konnte. Die Kiste hatte einen doppelten Boden. Josef zog gegen Mittag zwei Flaschen Bier aus der Kiste, drückte mir eine in die Hand, schloss den Deckel, und wir setzten uns in die Septembersonne.

„Prost, Felix.“

„Prost, Josef.“

„Du sollst politisch nicht ganz sauber sein, wird gemunkelt.“ Josef sah mich fragend an.

„Kommt drauf an, was man unter politisch sauber versteht.“ Ich hatte nicht die Absicht, mich in irgend einer Weise vor irgendjemand zu rechtfertigen.

„Versteh ich nicht“, bohrte Josef weiter. „Der ganze politische Mist ist mir scheißegal, Hauptsache, meine Moneten stimmen am Freitag.“

Ich nahm einen weiteren Schluck aus der Pulle und sah in den Himmel.

Schweigen.

Nach einer Weile nahm Josef das Gespräch wieder auf.

„Weißt du, warum dir Elli was von ihrem Frühstück angeboten hat?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Die mag dich.“

Ich sah Josef an und wischte mit der Hand vor meiner Stirn hin und her.

„Die hat ein Bild von dem Tschechen, diesem Dubcek oder wie der Kerl hieß, an unsere Ferienkartenwand geklebt, heimlich“, fuhr Josef fort.

„Na und?“ Ich tat völlig uninteressiert.

„Der Parteinik hat es genauso heimlich wieder abgemacht und zerknüllt.“

„Und das war alles?“

„Weiter ist nichts passiert“, sagte Josef.

„Hm…und wer hat dir das erzählt?“ Ich war neugierig geworden. Komischer Parteinik.

Josef öffnete die Kiste erneut, kramte eine Weile darin herum und zog dann einen alten Feldstecher hervor.

„Damit kannste in die Weiberumkleide gucken.“

„Und in die Frühstücksecke?“

„Kannste.“ Josef drückte mir das völlig verkeimte Fernglas in die Hand. „Guck in die Umkleide.“

Tatsächlich, man sah durch die oberen, nicht weiß gestrichenen Scheiben den gesamten Waschbereich der Frauen ein.

„Altes Ferkel“, grinste ich.

„Was meinst du, was du da alles mitkriegst“, feixte Josef. „Die beiden Weiber von der Spätschicht hier sind lesbisch. Wenn die allein in der Umkleide sind, befummeln die sich und knutschen sich ab. Dabei ist Waltraud verheiratet.“

„Alter Spanner“, murmelte ich und richtete den Feldstecher auf das Bürogebäude.

Holzapfel, das Kuheutergesicht, saß an seinem Schreibtisch und telefonierte. Nach einer Minute legte er den Hörer auf die Gabel zurück, öffnete eine Tür des Schreibtisches und hielt eine Flasche in der Hand. Er ging zum Waschbecken in der Ecke, nahm ein Glas von der Ablage, goss ein und schluckte.

Daher die aufgedunsene Visage.

Schnapsdrossel, oder die Partei ist nur im Suff zu ertragen.

Ich gab Josef das Fernglas zurück.

„Elli hat gesessen.“

„Was?“ Ich hatte mich sicher verhört.

„Zwei Jahre Hoheneck, Weiberknast.“ Josef nahm einen Schluck und fuhr fort: „Elli stammt aus Ostpreußen, musste im Januar 45 mit ihrer Mutter vor den Russen fliehen. Waren aber nicht schnell genug. Die Mutter war im 7. Monat schwanger. Hat die Russen aber nicht gestört. Elli hat`s überlebt, die Mutter nicht.“

„Und was hat das mit mir zu tun?“ Vom Hörensagen kannte ich solche Geschichten. Frauen waren im Krieg immer übel dran. Auf beiden Seiten.

„Eigentlich nichts, nur, Elli hasst die Russen, und als die in Prag einmarschiert sind, ist Elli ebenfalls einmarschiert, aber in die Bahnhofskneipe, und hat sich die Kante gegeben. Soll ein Bild von diesem Dubcek an ihr Bierglas gestellt und „machs gut, Alex“ gesagt haben. Der Wirt hat das Bild an sich genommen und unauffällig verschwinden lassen.“

„Und was hat das nun mit mir zu tun?“, wiederholte ich meine Frage.

Josef sagte nichts, grinste mich nur an.

Buschfunk, dachte ich, die wissen alles über mich, siehe Jo.

„Elli hat früher in Leuna gearbeitet“, fuhr Josef fort, „ihre Brigade sollte Kollektiv der sozialistischen Arbeit werden. Der Parteisekretär war der Meinung, dass dann alle Kollegen auch Mitglieder der Deutsch Sowjetischen Freundschaft sein sollten. Als er Elli das erste Mal daraufhin ansprach – sie war die Einzige, die nicht Mitglied in dem Verein war – ließ sie ihn einfach stehen. Beim zweiten Mal, als er sie zu agitieren versuchte, knallte sie ihm eine vor den Latz. Der Herr Parteisekretär fiel unglücklich und brach sich den Arm.“

Wir tranken unser Bier aus.

„Hat Elli angezeigt. Tätlicher Angriff auf die Staatsmacht. Zwei Jahre Hoheneck.“

Ich sah auf meine Uhr. Kurz vor eins. Mir taten inzwischen so ziemlich alle Knochen weh. Knappe Stunde noch. Zweimal hoch, zweimal runter.

***

In meiner Bude schmiss ich mich auf die Liege und war weg. Ich erwachte, als es draußen bereits dunkelte. Meine Beine, mein Rücken und meine Arme mussten irgendjemand Anderem gehören, denn sie gehorchten mir nicht. Ich legte mich auf die Seite und schob ganz langsam das linke Bein nach vorn, dann das rechte. Irgendwie schaffte ich es in den Stand, schleppte mich in die Küche und holte mir ein Bier. Schmeckte nach Fußlappen. Der Gestank schien sich in meiner Nase festgefressen zu haben. Ich schmiss mich wieder hin. Eigentlich hatte ich Jo versprochen, heute Abend bei ihr aufzukreuzen, aber daraus würde wohl nichts werden. Jo, meine Lehrmeisterin in Sachen Sex, wollte wissen, wie mir der erste Arbeitstag bekommen war. Langsam kam ich mir wie verheiratet vor, was nicht so ganz meinen Vorstellungen von der Zukunft entsprach. „Au!“ Ich hatte mich auf die andere Seite gedreht.

Knurrhahns frommer Wunsch hatte sich erfüllt. Ich wusste jetzt, wie Scheiße riecht. Zumindest wie Fußlappen riechen, die acht Stunden bei Sonnenschein an dampfenden Füßen in Gummistiefeln gesteckt hatten.

Ich nahm noch einen Schluck Bier, aber die Brühe schmeckte immer noch nach alter Socke. Ich schlief wieder ein und träumte, wie mir die Blonde mit der Hand am Bein hoch fuhr.

Der Traum wurde genau an der Stelle unterbrochen, wo die warme Hand ihr Ziel erreicht hatte.

„Das stinkt ja wie im Affenhaus“, riss mich eine Stimme aus meinem Traum.

Jo.

Sie riss das Fenster weit auf und setzte sich auf den Rand der Liege. Es war das erste Mal, dass sie mich in meiner Bude besuchte. War mir eigentlich nicht so ganz geheuer.

„Wolltest du nicht vorbeikommen, Felix?“

„Der Geist war willig…“, murmelte ich.

Jo kramte in ihrer Tasche und drückte mir eine eiskalte Flasche Radeberger in die Hand.

Ich stellte sie auf den Fußboden. „Schmeckt im Moment alles nach alten Lumpen.“

Jo kramte weiter und hielt mir dann eine Schachtel Club entgegen. Meine Lebensgeister erwachten wieder. Ich griff zu, brannte mir eine an und drückte sie sofort wieder aus.

Jo sah mich verwundert an.

„Schmeckt alles nach alten, vergammelten Kartoffelsäcken.“

Jo beugte sich über mich und küsste mich.

„Wie schmeckt das?“, flüsterte sie, obwohl hier niemand zuhörte.

„Gut, wie immer“, log ich. Nur der Geruch, der von ihrem Ausschnitt in meine Nase stieg, belebte mich.

Zimt.

Jos Hand kroch ganz langsam unter meine Decke und dabei küsste sie mich. Ich schob beide Hände unter ihre Bluse.

Der Zimtgeruch wurde stärker.

Jo nahm ihre Hand zurück und öffnete zwei Knöpfe. Ich hob den Kopf an, ließ ihn aber wieder sinken. Es knirschte zwischen meinen Halswirbeln. Jo beugte sich zu mir herunter und ihre warmen, duftenden Brüste berührten mein Gesicht.

Meine Turnhose spannte sich.

Plötzlich tat mir nichts mehr weh.

Wenn du eines Tages in die Grube fährst, dachte ich, und die trauernde Damenwelt kurze Röcke trägt, kann es durchaus passieren, dass sich der Sargdeckel hebt.

Ich strampelte die Decke ab.

Jo nahm ihn in die Hand und küsste das nackte, geschwollene Köpfchen. Es gab für mich nichts auf der Welt, was diesem Gefühl auch nur annähernd gleich kam. Ich begann mich zu bewegen, presste mich Jo entgegen.

Als ich zu stöhnen begann, löste sie sich von mir, stand auf, schob ihren engen, schwarzen Rock nach oben bis zur Taille und stieg aus ihrem Slip. Sie setzte sich auf mich, mit geradem Rücken wie eine Turnierreiterin und sah mich an. Ich griff ihre prallen Brüste mit beiden Händen und fuhr mit den Daumen langsam über ihre Brustwarzen.

Jo schloss die Augen. Ich hob den Kopf und küsste ihre Spitzen. In Jos Unterleib kam Bewegung. Sie schob sich auf mir ganz leicht nach links und rechts. Ich ließ ihre Brüste los, packte ihr Hinterteil und presste sie fest auf mich. Jo wollte sich bewegen, aber ich hielt sie fest. Sie öffnete die Augen. Wir sahen uns an, bis ich meinen Griff lockerte. Jo stützte sich mit ihren Armen ab und begann mich zu reiten. Ich griff wieder nach ihren Brüsten, hob meinen Kopf und presste ihn dazwischen. Ihre Bewegungen wurden schneller und schneller, sie hob ihren Körper leicht an und ließ sich wieder fallen.

Plötzlich sah ich Elli mit nacktem Unterleib auf einem Tisch liegen und um sie herum Soldaten, die ihre Hosen öffneten.

Die Fahnenstange kippte ab. Ich roch wieder Fußlappen. Jo lag noch immer schwer atmend auf mir. Ich schob sie vorsichtig von mir runter, stand auf, ging in die Küche, und drehte den Wasserhahn auf. Ich hielt meinen Kopf unter das eiskalte Wasser und die scheußlichen Bilder verschwanden aus meinen Gehirnwindungen. Dann ging ich zurück ins Wohnzimmer, setzte mich ans Fenster und brannte mir eine Zigarette an.

Der penetrante Gestank in meiner Nase war Gott sei Dank verschwunden.

Die Lunte schmeckte wieder nach Tabak

Ich griff die Bierflasche und nahm einen Schluck.

Schmeckte ebenfalls wieder.

Ich legte mich neben Jo. Sie drehte mir den Rücken zu.

Es ging wieder.

Kaum hatte ich angefangen, mich in Jo zu bewegen, kam ich. So heftig, dass es fast schmerzte.

Ich ließ mich auf den Rücken fallen und starrte an die Decke

„Probleme?“, fragte Jo nach einer Weile.

„Nichts von Bedeutung:“

„Felix, Felix, irgendwas stimmt mit dir nicht.“

Der sechste Sinn, Jo hatte ihn. Ich fühlte mich manchmal eingeengt und wurde das Gefühl nicht los, dass sie anfing, zu klammern. Sie wollte immer öfter wissen, wo ich war, was ich machte, mit wem ich meine Zeit verbrachte, was ich dachte, wenn ich nicht dachte, und das beunruhigte mich allmählich. Dazu kam noch, dass sie mehrfach von einer Bekannten erzählte, die vor kurzem geheiratet hatte. Und dieser Besuch hier in meiner Rumpelbude? Unser fröhlicher Sex begann sich in Routine zu verwandeln, wurde zur Gewohnheit. Es war nicht so, dass es mir keinen Spaß mehr gemacht hätte, aber das brillante Sexfeuerwerk mit den in den Himmel aufsteigenden und in Goldregen zerplatzenden Raketen war allmählich in das leise Puffen von Knallerbsen übergegangen.

Sei ehrlich, Felix, und schieb es nicht auf Jo, rief ich mich zur Ordnung. Du Versager bist unzufrieden mit dir selbst. Bist nichts, kannst nichts, hast nichts aus dem Stroh gebracht bisher. Wolltest die Welt verändern, hast deine Zeit mit Saufen und Vögeln vertan und den Status eines Schlammfahrers erworben. Wenn du dich jetzt aufhängst, kräht kein Hahn nach dir.

„Sag was“, riss mich Jos Stimme aus meinen Gruftgedanken.

„Womit?“, lachte ich und drückte mich an sie.

„Denk einfach, dass das Ding, das man im allgemeinen Seele nennt, ein Staubsaugerbeutel ist. Dreh`s um und schüttel den Dreck aus dem Fenster, Felix.“

Wenn das so einfach wäre. Nur gut, dass bei mir solche depressiven Störungen nicht lange anhielten.

Ich trank das Bier aus und schlief wieder ein.

***

Die ersten zwei Wochen meines neuen Lebens vergingen wie im Flug, und ich hatte mich an Josef, Elli und Blondie Sibylle gewöhnt. Freitag bekam ich mein erstes Geld. Es war mehr, als ich erwartet hatte.

„Chemie hat gute Tarife“, feixte Josef, als er mein verdutztes Gesicht sah. „Kannst du als Pauker nie verdienen, und wenn du ab und an noch ein paar Zusatzschichten machst, stimmt die Knete.“

Wir waren nach der Schicht in die Bahnhofskneipe eingerückt, und ich hatte meinen Einstand gegeben. Gegen Abend kannte ich die Lebensläufe meiner neuen Kollegen.

Josef war Ungarndeutscher. Sein Vater, der bis zuletzt mit den Pfeilkreuzlern sympathisiert hatte, war nach fünfundvierzig zur Zwangsarbeit in der Sowjetunion auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Josef war als Kind mit der Mutter von Südungarn in die sowjetisch besetzte Zone verfrachtet worden, hatte die Schule bis zur achten Klasse absolviert und war in der Chemiebude gelandet.

Elli erzählte nichts von sich, aber dafür hatte Josef geplaudert. Er hatte mir auf dem Klo auch von Sibylle erzählt.

Sibylle war mit acht Geschwistern irgendwo im Thüringischen Eichsfeld auf einem Bauernhof aufgewachsen. Fünf Jungen, drei Mädchen, der Vater bei Stalingrad gefallen. Sibylle war die Hübscheste. Sie hatte das Gesicht eines Engels und den Verstand eines Dackels. So war es für die beiden älteren Brüder kein Problem, Sibylle für ihre pupertären Fantasien zu benutzen. Sie hatten ihr eingeredet, dass der liebe Gott es gerne sah, wenn sich Bruder und Schwester nackt zusammen ins Bett legten. Sie hatten abwechselnd jede Nacht mit ihr gevögelt, manchmal hatten sie es auch zu dritt gemacht und dem Mädchen hatte es gefallen. Der liebe Gott hatte ihr das, was er bei ihr an Verstand eingespart hatte, zwischen den Beinen mit auf den Lebensweg gegeben. Irgendwann hatte sie mitgekriegt, dass die Sache nicht ganz koscher war und sich auf den Weg zu einer weitläufigen Verwandten nach Neustadt gemacht.

Josef hatte glänzende Augen, als er von ihr sprach.

„Ich sag dir noch was, Felix, aber behalt`s für dich.

Hab in der Nachtschicht mit ihr hinter den Lösegefäßen rumgefummelt. Die ist scharf wie `ne sibirische Sense, sag ich dir. Hat mich allerdings nur mit den Fingern rangelassen. Will`s nur mit Pariser machen, hat Angst, dass sie schwanger wird. Hab mir schon welche aus dem Automaten geholt.“

Gegen zehn Uhr machten wir die Mücke.

Ich war besoffen. Wir nahmen Sibylle in die Mitte und schwankten heimwärts. Elli hatte den Bus genommen. Ich sah, wie Josefs Hand auf Sibylles rechter Brust lag. Ich hatte meinen Arm um ihre Taille gelegt.

Als wir am Lindenpark vorbeikamen, blieb Sibylle stehen, zeigte auf eine Bank und kicherte. „Soll ich mich hinlegen?“ Sie sah erst Josef, dann mich an.

Ich war schlagartig wieder nüchtern.

„Leute, ich muss“, sagte ich, „morgen früh ist die Nacht um.“

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„Prost, Felix!“

„Prost, Klaus!“

Morgenschoppen in Meisners Garten. Meisner, mein Freund und Kollege war der Signaldraht, der mich noch mit der Schule verband.

„Wie läuft`s denn so für den renitenten Herrn Pädagogen im Schoß der sozialistischen Arbeiterklasse?“, grinste Meisner.

„Geht so. Vierzehn Tage Schlamm fahren, da ist dir egal, ob der Sozialismus siegt oder siecht“, grinste ich zurück. „Der Klassenkampf spielt sich in der Lohntüte ab. Dabei ist der Prolet der größte Feind des Proleten. Wehe, einer hat zwei Mark mehr als der Klassenbruder, sofort wird er zum Klassenfeind. Marx hätte vielleicht ein Jahr als Schlammfahrer arbeiten müssen, wer weiß, wie das Manifest dann ausgesehen hätte.“

„Felix, Felix, Ich fürchte, die Arbeiterklasse wird an ihrer Aufgabe, dir die Bedeutung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands bei der Verwirklichung der Aufgaben der von Marx, Engels und Lenin klar aufgezeigten Ziele der revolutionären Arbeiterbew…“

„Prost, Klaus, des kleinen Mannes Sonnenschein ist Vögeln und Besoffensein. Die Leute, die ich dort bis jetzt kennengelernt habe, interessieren sich einen Dreck für die politische Großwetterlege.“

„Die sich gerade gravierend zu verändern scheint“, unterbrach mich Meisner. „Die Schmuddelflecke auf dem Sternenbanner werden immer größer. Der Vietnamkrieg löst immer heftigere Proteste aus und das nicht nur in der größten DDR der Welt. Es gärt, die politischen Unruhen spitzen sich zu. Kennedy ermordet. King ermordet, Dutschke angeschossen und an den Unis ist der Teufel los…“

„Aber nur im bösen Westen, denke ich.“

„Dank der führenden Rolle der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands,“ grinste Meisner.

„Prost, Klaus. Wo ein Genosse ist, ist die Partei.“

„Prost, Felix. Übrigens Genossen, du erinnerst dich doch noch an diese Anke, die Tripperschnalle, die Eichinger das Genick gebrochen oder besser gesagt, seine Pfeife in Brand gesetzt hat?“

„Na sicher, hätte ja auch mich erwischen können.“ Mir lief jetzt noch ein kalter Schauer über den Rücken, wenn ich daran dachte.

„Rat mal, was die jetzt ist.“

Ich zuckte die Achseln.

„Stellvertrende Schulleiterin an der Maxim Gorki“, grinst Meisner.

„Wundert mich eigentlich nicht, bei der nymphomanen Tussi.“ Ich nahm noch einen kräftigen Schluck. „Hat wahrscheinlich einen Bedürftigen in der Abteilung erwischt und ihn von ihrer allseitig perfekt ent-wickelten Persönlichkeit überzeugt.“

Meisner sah mich eine Weile an, ohne dass ich seinen Blick deuten konnte. Er goss noch mal aus der Doppelkornflasche nach, hob sein Glas und sagte: „Ich soll Aktivist werden, Felix.“

Mir fiel das Schnapsglas aus der Hand.

„Du?“ entfuhr es mir.

Meisner sah nicht sehr glücklich aus.

„Eigentlich hättest du das werden müssen.“

„Ich?“

„Die wollen diese Projektarbeit von dir publik machen, und da ich mit drin hänge und meine Klasse bei der letzten Matheolympiade den ersten Platz belegt hat, bin ich auserkoren.“ Meisner sah mich ziemlich schief an.

„Hängt da noch was dran, Klaus?“

„Ich soll mich aktiver in der Zivilverteidigung an der Schule beteiligen.“

„Wirst du?“

„Hm.“

„Was macht eigentlich Knochentussi?“

„Hat in den Sommerferien den neuen Pionierleiter geheiratet.“

„Brettschneider, das versoffene Arschloch?“

„Brettschneider“, bestätigt Klaus, „die sägen jetzt mit vereinten Kräften an Sockentrudes Stuhl. Wenn das Duo an die Spitze rücken sollte, wechsele ich die Schule.“

„Nimm erst mal die Aktivistenknete mit und lad mich zu einer ordentlichen Sause ein.“

„Worauf du dich verlassen kannst, Felix.“

„Ich glaub, bei euch ist das Essen fertig.“ Aus Meisners Küchenfenster hing ein Handtuch. Utes Signal.

Ich erhob mich.

„Auf den Aktivisten des sozialistischen Bildungssystems.“

„Mir ist nicht ganz wohl dabei, Felix.“

War es mir auch nicht. Schließlich war es mein Projekt.

***

Scheißsonntag. Die Stadt war zum Tode verurteilt. Verlassene Straßen, geschlossene Geschäfte, und nach dem sonnigen Vormittag hatte ein leichter Nieselregen eingesetzt.

Grüner Heinrich oder Mittagsschlaf. Ich wählte Letzteres. Jo hatte mich zwar zum Essen bei sich eingeladen, aber ich hatte abgelehnt. Die Kiste wurde mir zu eng. Ich machte mir eine Sternchensuppe, trank noch ein Bier und schmiss mich in die Koje.

Als ich erwachte, begann es bereits zu dunkeln. Der Sommer war vorbei, und das Elend eines grauen, trüben Herbstes stand mir bevor.

Jo oder nicht Jo, das war hier die Frage. Ich hätte ein geordnetes Leben. Der Sonntag würde mit einem guten Frühstück beginnen, dann wäre das Stück Garten hinterm Haus dran. Mittagessen, Mittagsschlaf. Am Nachmittag ein Spaziergang über die Hauptstraße, ein Eis im Eisgarten, Kaffeetrinken. Gegen Abend Kino oder Fernsehen. Vorm Schlafen ein Pflichtnümmerchen, und schon wäre Montag.

Garantiert nicht mein Ding. Ich wollte was Anderes, wusste aber nicht was. So trostlos konnte ich mir den Rest meines Lebens nicht vorstellen. Immer öfter quälte mich eine Sehnsucht nach Etwas, das ich nicht definieren konnte. Manchmal war es die große weite Welt, die ich erobern wollte, manchmal war es Sehnsucht nach Liebe, dann wieder das Gefühl, dass ich berühmt werden musste. Dieses Jedermannleben konnte nicht mein Leben sein. Fang wieder an zu schreiben, Felix, aber mir fiel nichts ein. Was mir im Moment einfiel, war der Grüne Heinrich. Ich brauchte morgen erst zur Nachtschicht.

Am Freitag war Knurrhahn Ganzauge, der Schichtmeister, an den Pressen aufgetaucht und hatte mich zu sich beordert.

„Du gehst ab Montag an die Röstöfen, Nachtschicht.“

Ich hatte den Meister wie einen Außerirdischen angesehen.

„Karl ist krank, kann `ne Weile dauern.“

„Ich hab keine Ahnung von Röstöfen.“

„Macht nichts, du läufst zwei Schichten mit Johann mit.“ Er sah mich eine Weile an, zückte dann seine Schachtel Salem, bot mir eine an und knurrte: „Sollst dich ja ganz gut machen.“

Mannomann, und das von diesem Knochen.

Knurrhahn hatte sich umgedreht und war verschwunden.

Also Nachtschicht ab Montag. Kannst du morgen ausschlafen, Felix. Musst nur noch den Abend totschlagen.

Im Grünen Heinrich war es rappelvoll.

Sonntagschönsaufen.

Ich stellte mich an die Theke. Nach dem dritten Bier drängelte sich Gummiarsch zwischen mich und Rolf, der im Bauamt arbeitete.

Gummiarsch war an die fünfzig, hatte noch verdammt stramme Titten, eine durchaus passable Figur und einen festen, prallen, runden Hintern. Eben Gummiarsch.

„Sonntagskoller ersäufen, Bruni?“ Rolf klopfte ihr leicht auf das Hinterteil. Er wusste, dass sie diese derbe Art des Flirtens genoss, aber auch fuchsteufelswild werden konnte, wenn es einer tat, den sie nicht mochte.

„Was macht meine Genehmigung?“

„Ist in Arbeit, Bruni, aber das dauert.“

„Verdammte Sesselfurzer in diesen Ämtern, hab ich recht, Herr Lehrer?“

Bruni sah mich abschätzend an. „Bist unter die Proleten gegangen, wie man so hört?“

Ich sagte nichts.

Von Rolf wusste ich, dass die Frau aus Böhmen stammte und im Januar 46 mit drei Kindern ihren Bauernhof und das Land verlassen musste. Den Mann hatte ein wütender Mob gleich nach Kriegsende erschlagen. Zwei der Kinder hatten Hunger und Kälte nicht überlebt. Die überlebende Tochter war kurz vor dem Mauerbau nach Dortmund gegangen. Brunhilde hatte einige Jahre später wieder geheiratet, aber der Mann war vor zwei Jahren an Nierenkrebs gestorben. Sie wurde umtriebig, hielt es in ihren vier Wänden nicht mehr aus und begann auf der Jagd nach Liebe durch die Kneipen zu ziehen.

„Zigarette?“ Bruni hielt uns eine Schachtel Marlboro vor die Nase.

Ich zog den Rauch so weit ein, dass wahrscheinlich noch der Dickdarm davon profitierte – oder geschädigt wurde.

„Zwei Schachteln, Rolf, wenn ich nächste Woche die Genehmigung habe.“

„Vier“, sagte Rolf, „zwei für meinen Chef.“

„Eine Stange“, sagte Brunhilde, „wenn du noch…“

„Macht`s gut, Leute, ich hau ab.“ Was die beiden da miteinander kunkelten, interessierte mich nicht weiter.

Draußen nieselte es wieder, und es war ziemlich kühl geworden. Ich machte, dass ich in meine Bude kam.

Jetzt bei Jo.

Die Versuchung war groß.

Ich biss die Zähne zusammen und dachte an morgen Abend.

Röstofen.

Ich konnte mich ganz entfernt daran erinnern, dass wir im Studium über Röstöfen gesprochen hatten, aber das waren Drehrohröfen zur Gewinnung von Schwefeldioxid für die Schwefelsäureproduktion. Das Problem hier war nur, dass wir keine Schwefelsäure herstellten. Die kam in Kesselwagen an und wurde in riesigen, mit Blei ausgekleideten Vorratsbehältern neben den Bahngleisen gelagert. Die Alten in der Chemiebude erzählten immer wieder von einem Kollegen, der beim Anschließen der Stutzen an die Kesselwagen durch die Abdeckung gebrochen war, und von dem man später nur noch den goldenen Ehering gefunden hatte.

Mach dich nicht verrückt, Felix, morgen ist auch noch ein Tag. Ich machte mich bettfertig, holte mir noch eine Flasche Bier aus der Küche, schmiss mich in meine Kapsel und begann zu lesen.

`Erziehung vor Verdun` von Arnold Zweig. Für das Buch hatte ich acht Mark vierzig ausgegeben, von meinem ersten Lohn als Prolet. „Die Erde ist eine gelbgrüne gefleckte, blutgetränkte Scheibe…“

Eine Scheibe, mein lieber Herr Zweig, wenn das Aristoteles liest, der kommt zurück und dreht dir den Hals um.

Mir fielen die Augen zu. Mein letzter Gedanke war, das ich mir für solche trostlosen Abende einen Fernseher zulegen sollte.

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Montag Abend halb zehn. Es war stockdunkel und es nieselte immer noch. Die funzlige Lampe vor dem ersten Ofen warf einen flackernden Lichtschein auf Knurrhahn Ganzauge und Johann Weinreich. Ich bot beiden eine Jubilar an. Johann lehnte ab.

„Du läufst zwei Nächte mit Johann mit“, knurrte Ganzauge. „Ich zeig dir die Öfen.“ Wir stiegen drei Treppenstufen nach unten und betraten einen hellen, warmen, langgestreckten Raum.

„Drei Röstöfen“, begann Ganzauge, „jeder hat zwei Feuerungen. Die Öfen haben sechs Etagen, in denen der Ton erst entwässert und dann gebrannt wird. Deine Aufgabe ist es, die Temperatur bei 680 Grad zu halten. Kohle holst du dir drüben an den Schuppen. Für jede Kipplore gibt`s zwanzig Pfennig extra, Ton vierzig.“

Ganzauge trat an den ersten Ofen und öffnete die Feuerungstür.

„Nach der Schicht entschlackst du die Roste.“

Mir war übel. Diese Scheißöfen waren mindestens fünf Meter im Durchmesser und verdammt hoch.

„Wir gehen nach oben.“ Ganzauge stiefelte eine Treppe aus Riffelblech hoch und ich hinterher.

„In der Mitte dreht sich die Königswelle“, erklärte Ganzauge, „an der Welle sind in jeder Etage gusseiserne Rührarme angebracht. Die schräg daran befindlichen Kratzer transportieren den Ton automatisch von Etage zu Etage. Kann dir aber egal sein. Du musst die Temperatur halten und einmal pro Schicht hier hoch und die Buchsen aus der Kartusche mit Staufferfett füllen. Vergiss das nicht, gibt sonst Ärger.“

Wir stiegen wieder nach unten.

Ganzauge reichte mir die Hand: „Hals und Wellenbruch!“

Fort war er.

Ich setzte mich zu Johann auf die Holzbank und holte meine F6 raus. Johann schüttelte den Kopf und bot mir einen Prim an. Ich spuckte das Ding nach zwei Minuten in den Kohlehaufen. Mein ganzer Mund war