Auerhuhn - Peter Berthold - E-Book

Auerhuhn E-Book

Peter Berthold

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Beschreibung

Ein Urvogel verschwindet. Das sagt Prof. Peter Berthold, der bekannte Ornithologe und Vogelschützer, über das Auerhuhn. Seit über 65 Jahren beobachtet, erforscht und begleitet er dieses "urige", hierzulande immer seltenere Geschöpf. Emotional und engagiert berichtet er von der dramatischen Geschichte einer Art, die wie kaum eine andere Sinnbild für die Fauna des deutschen Waldes ist. Sein Fachwissen wird bereichert von persönlichen Erzählungen aus sechs Jahrzehnten eindrucksvoller Erlebnisse auf seinen Beobachtungstouren im Schwarzwald.

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Seitenzahl: 366

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Eine Hommage – in Dankbarkeit für 65 Jahre Erleben unserer Urhühner

Inhalt

Eine Hommage

Wald – ein faszinierender Lebensraum

Mein Traum vom Märchenwald

Der abenteuerliche Weg zum „Urhahn“

Wildsee und – der Märchenwald

Das Auerhuhn – ein Porträt

Noch Markantes zum Urhuhn und seinem Wald

Wilde Jahre abenteuerlicher Exkursionen

Keine Kunst: als Hahn unter Hähnen und Hennen

Meine zehn eindrucksvollsten Beobachtungen

Amüsante Begegnungen rund ums Auerhuhn

Düstere Wolken am Auerhuhn-Himmel

Zehn Jahre faszinierende Auerhuhn-Forschung

Balztolle Hähne und Hormone

Maßnahmen zur Rettung der Auerhühner

Der unaufhaltsame Niedergang

Letzte Anläufe – und Abgesang

Die Schuldfrage

Ein hoffungsfroher Ausblick

Epilog

Bildstrecke

Danksagung

Quellen und Literatur

EINE HOMMAGE

Kaiser, Könige, Herzoge, Fürsten und eine Heerschar von Baronen und Freiherren – sie alle haben sich ihm Jahrhunderte lang voller Leidenschaft gewidmet, oft mehr als ihren Mätressen, ihm, dem zum Hochwild geadelten, vor Bauern und Bürgern sorgsam abgeschirmten gefiederten König unserer einstigen Märchenwälder: dem Urhahn. Der kapitale Kronenhirsch und der Auerhahn – als eine Art Krone der Schöpfung unter den Vögeln –, das waren durch Jahrhunderte hindurch die lebendigen Denkmale unserer einst urigen heimischen Waldungen, und beide waren in höchstem Maße begehrt als Trophäen und Wildbret. Was dem biederen Volk etwa der Maientanz und das Oktoberfest bedeuteten, das waren den Hohen Herren die Hahnenbalz im April/Mai und die Hirschbrunft im September/Oktober – und darauf wurde oft das ganze Jahr über hingefiebert16.

Kein Wunder, dass später Millionen von Herrschern über unsere Wälder – Förster, Wildhüter und Jäger – diesen einzigartigen Vogel wie einen kostbaren Schatz gänzlich für sich in Anspruch nahmen. Doch auch dieser mächtigen „grünen Armee“ ist es nicht gelungen – auch nicht mit der später einsetzenden engen Zusammenarbeit mit Naturschützern und Wissenschaftlern – den stetigen Rückgang der Bestände dieses wundervollen Vogels aufzuhalten. Dabei war Bestandsrückgang bereits im 19. Jahrhundert im Gange, ging zunächst sehr langsam vonstatten, und man hätte damit eigentlich viel Zeit für Faktorenanalysen gehabt. Und heute, nachdem das Auerhuhn vom Harz bis zum Alpenvorland und vom Pfälzer Wald bis zum Elbsandsteingebirge längst ausgestorben ist, steht es kurz davor, sich auch aus einer seiner letzten beiden Hochburgen in Deutschland zu verabschieden, nämlich, neben den Alpen mit noch rund 250 Hähnen53, aus dem Schwarzwald, dem größten Mittelgebirge Deutschlands mit der einst stärksten Mittelgebirgspopulation und jetzt nur noch etwa 130 Hähnen. Das passt in das Zeitalter von uns Hühnermördern, die wir derzeit nicht nur die letzten Birkhühner aus unseren Mooren, die letzten Rebhühner aus unseren Feldfluren, sondern nun auch die allerletzten Hasel- und Auerhühner aus unseren Wäldern exterminieren. Bevor das im Schwarzwald der Fall ist, soll unserem Urhuhn hier ein bleibendes Denkmal gesetzt – eine Hommage zuteilwerden, sorgfältig beschreibend und würdigend. Auch wenn das Urhuhn kein Urvogel in Bezug auf die Evolution ist – einer der urigsten Vertreter unserer gesamten Vogelwelt mit ihren derzeit rund 10 000 Arten ist es allemal.

Zu dieser letzten Ehrung fühle ich mich sowohl verpflichtet als auch berufen, denn schließlich war es mir vergönnt, 65 Jahre lang alljährlich Auerhühner beobachten zu können, so intensiv, wie es nur ganz wenigen möglich war, und nicht selten konnte ich mit ihnen zusammen sein wie ein Hahn unter Hähnen und Hennen oder wie unter Vertrauten. Der Weg dafür war vorgezeichnet durch eine Art Waldweihe in meiner Jugend, die Suche nach einem Märchenwald, mein Hang, zu leben wie ein Waldschrat und die glückliche Fügung, dass mich meine Schulausbildung an den Rand des Schwarzwaldes verschlug. Später war es möglich, nach Jahrzehnten von Feldbeobachtungen, auch zehn Jahre lang mit einer idealen Gruppe von wissenschaftlichen und technischen Mitarbeitern schutzrelevante Fragen an Auerhühnern im Labor, im Freiland sowie an in Volieren gehaltenen und dort auch gezüchteten Vögeln durchzuführen, was alles zusammen tiefe Einblicke in die Biologie dieser einzigartigen Vögel ermöglichte. Auf sehr solider Basis vieler von anderen und von uns erarbeiteten Grundlagen konnte ich dadurch auch viele Jahre als Anwalt für unsere Waldhühner fungieren. Dass wir sie trotz aller Bemühungen als Brutvogelart nicht nur in Bälde im Schwarzwald, sondern auch in zersplitterten Restpopulationen in den Alpen und im Bayerischen Wald verlieren werden, hat viele Gründe – sie werden hier sorgsam analysiert.

Die Auerhuhn-Hommage, die ich unserem Urvogel schuldig bin, damit er nicht sang- und klanglos verschwindet, wird keine wissenschaftliche Art-Monografie, sondern vielmehr ein lebendiger Erlebnisbericht durch mehr als ein halbes Jahrhundert hindurch, mit vielen markanten Details zu Biologie und Ökologie der Waldhühner, zu Waldbau, Klimaveränderungen, unserem menschlichen Verhalten und anderem mehr, gewürzt mit einigen Anekdoten. Und – was manch einen wohl überraschen mag: Sie wird nicht enden mit einem wehmütigen oder anklagenden, sondern mit einem eher heiter-hoffnungsfrohen Ausblick – zumindest für Auerhühner!

Hahnenmonat 2021

Peter Berthold

WALD – EIN FASZINIERENDER LEBENSRAUM

Schon von frühester Kindheit an bin ich auf Wald geprägt worden. Als ich gerade mal sechs Wochen alt war, mussten meine Eltern nach den Vorgaben des Großdeutschen Reiches von meiner Geburtsstadt Zittau in Sachsen ins Sudetenland umsiedeln, wo mein Vater als Polizist seinen Dienst in Wiesenberg-Reutenhau anzutreten hatte – einem kleinen Dorf am Rande des Altvatergebirges in einer Landschaft geprägt von Bergwiesen und riesigen Waldungen. Dort bin ich sozusagen in Waldluft aufgewachsen, zumal auch unser Haus an einen Park mit Baumbestand angrenzte – bis 1945, als meine Mutter und ich nach Ende des Krieges Ende Mai von tschechischen Behörden vertrieben wurden. Das hieß für meine Mutter und mich – mein Vater war damals noch auf verlorenem Posten im Krieg – 14 Tage Fußmarsch durch Schlesien zurück nach Zittau, rund 350 Kilometer weit mit den notwendigsten Habseligkeiten auf einem Leiterwägelchen. Wir hatten das Glück, in die großelterliche Wohnung am Stadtrand einziehen zu können – und für mich konnte die Entwicklung zum Waldschrat beginnen, wie vom Kosmos-Verlag auf der Titelseite meines Lebenslaufes „Mein Leben für die Vögel“ formuliert9. Unsere Bleibe lag nämlich am Rande des Westparks, eigentlich ein sumpfiger Auwald mit Teichen, Fluss und Mühlgraben, voller Leben von Flusskrebsen, Fischen, Ringelnattern bis zu artenreicher Vogelwelt mit Bläss-, Reb- und Teichhühnern, Eisvögeln, Pirolen und vielem mehr. In dieses Eldorado tauchte ich wochentags ein, sooft ich konnte, um im Buch der Natur lesen zu lernen.

Am Wochenende aber ging es meistens ins eigentliche Paradies – zu meiner Großmutter väterlicherseits – ins benachbarte Olbersdorf, unmittelbar am Rande des Zittauer Gebirges. Und mit ihr, die mit den tiefen Bergwäldern, die hinter dem Dorf begannen, wie verwoben war, sodass sie meiner Meinung nach der Dichter des Waldes, Adalbert Stifter, als die Waldlerin beschrieben hätte, wurde auch ich sozusagen ein Waldwesen. Wald war ihr wie Lebensraum und Lebensquell, und so sammelten wir hier Leseholz und Zapfen, kämmten dort Heidel- und Preiselbeeren von den Zwergsträuchern und füllten mancherorts ganz Körbe voller köstlicher Speisepilze. Sie konnte sich trotz ihres fortgeschrittenen Alters auch über Stock und Stein geschickt und leise bewegen, wie eine Norne in skandinavischen Wäldern, und hatte Grenzwächter, Zöllner, Förster oder auch harmlosere Waldgänger meist längst entdeckt, bevor sie uns wahrnehmen konnten. Wenn wir – etwa zur Mittagsrast mit Kartoffelsalat und Spiegelei aus dem Rucksack – irgendwo zwischen Felsbrocken, Beerensträuchern und Farnen im Licht- und Schattenspiel der Bäume ruhten, dann schienen bisweilen ihre langen silbergrauen Haarsträhnen mit den Bartflechten alter Baumgestalten zu verschmelzen. Diese Bilder wurden später in mir wieder ganz besonders lebendig, als ich beim Lesen von David Friedrich Weinlands „Rulaman“ der alten Parre begegnet bin.

Damals aber war dieses Ruhen im Walde in oft vollkommener Stille, über halbe Tage ohne jedes Motorengeräusch, in der man etwa das Knacken von in der Sonne trocknenden Zapfenschuppen als laut empfand, nicht nur ein Eintauchen in die Seele des Waldes – ich fühlte mich dann wahrlich wie ein Teil des Waldes, vollkommen geborgen in seinem Schoße. Dieses Gefühl der Waldweihe hat sich tief und unauslöschlich in meine Seele eingebrannt. Dadurch wurde mir Wald wie zu einer Heimat, die ich überall finden kann, wo es herrlichen Wald gibt, ganz unabhängig von der Region, in der er sich befindet. Und diese Waldheimat muss ich auch ganz regelmäßig aufsuchen, um darin Kraft zu tanken, und so hätte ich auch auf Dauer nirgendwo leben können, wo ich nicht Wald immer in meiner Nähe gehabt hätte. In Zeiten von Existenznöten und Überlebensängsten habe ich mir immer vorgestellt, wie ich notfalls im Walde Holz machen und damit einen wenn auch bescheidenen Lebensunterhalt verdienen könnte. Wenn ich heute, mit 82 Jahren, in einem eigenen kleinen Walde noch immer unser gesamtes Brennholz machen kann – vom Bäume fällen, sägen und hacken bis zu ofengerechten Scheiten –, dann empfinde ich stets besonders innig dieses herrliche Gefühl meiner Waldheimat, meines Waldes als Lebensquell.

Diese tiefe Verbundenheit zum Wald hat mich schließlich auch unbeirrt meinen Märchenwald suchen und schließlich finden lassen und dabei auch seinen gefiederten König: den Urhahn! Daraus wurde über Jahrzehnte eine Art Lebensgemeinschaft, über die ich in den folgenden Kapiteln berichten werde.

MEIN TRAUM VOM MÄRCHENWALD

So schön, aufregend, geheimnisvoll und „unermesslich“ die Wälder des Zittauer Gebirges für mich als kleinen Steppke auch waren, so sehr verblassten sie später mehr und mehr zu einem insgesamt recht artenarmen, überlaufenen und in erster Linie auf Holzertrag ausgerichteten Wirtschaftswald, zumeist mit „Stangenplantagen“-Charakter. Eine erste Ahnung von einem sagenumwobenen Märchenwald mit alten knorrigen Baumgestalten bekam ich durch einen Film: „Das kalte Herz“, nach dem Märchen von Wilhelm Hauff in der berühmten deutschen DEFA-Produktion von 1950, den ich noch in Zittau bestaunen konnte. Mich faszinierte daran vor allem der herrliche Wald, von dem es hieß: „In den Tiefen des Schwarzwaldes …“ (wenn auch ganz anderswo aufgenommen, nämlich im Thüringer Wald). Kaum zu glauben: In diesem Film sah ich meinen ersten Auerhahn – lange bevor ich eine Abbildung von ihm in einem Vogelbuch zu Gesicht bekam! Für den Film wurde nämlich ein ausgestopfter Auerhahn so als bewegliches Präparat eingesetzt, dass er sogar fliegend den armen Köhlerburschen Peter von einer grässlichen Schlange befreien konnte, die ihm der Herzen raubende Holländer-Michel an den Hals gehext hatte! Und diesen sagenhaften auerhuhnträchtigen Schwarzwald sollte ich auf wundersame Weise bald in Wirklichkeit kennenlernen dürfen! Dabei hatte ich Glück gehabt: In einer Neufassung des Films von 2014 ist der Auerhahn durch einen Raben ersetzt – für ein Märchen verblüffend realistisch.

1953 mussten meine Mutter und ich nämlich abermals flüchten, diesmal von Ost- nach Westdeutschland, um dort in Baden-Württemberg auf der Schwäbischen Alb mit meinem Vater wieder als Familie in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft zusammenzukommen, die es seinerzeit in Zittau nicht gab. Mich begeisterten die im Vergleich zum Zittauer Gebirge riesigen artenreichen Laub-Nadel-Mischwälder, vor allem an den Hängen des Albabfalls, mit vergleichsweise vielen seltenen Tieren wie Restpopulationen von Haselhuhn und Wanderfalke, einem letzten Uhu im Donautal, verbreitet Wildschweinen und Rudeln von Gämsen und Mufflons auf der Balinger Alb. Aber sie hatten dennoch nicht viel zu bieten von dem, was seit dem DEFA-Film vom urigen, fast verwunschen wirkenden Schwarzwald in meinem Kopf herumgeisterte. Vor ihm stand ich dann, und in ihn hinein konnte ich schließlich meine ersten Schritte tun: 1954 – unweit von Nagold.

Nach Nagold kam ich der Schule wegen. Im Westen Deutschlands begann der Weg zum Abitur auf dem Gymnasium nach der vierten Klasse Volksschule, im Osten hingegen nach Abschluss der gesamten Grundschule. In Nagold bot ein „Aufbaugymnasium mit Heim“ Ostlern wie mir die Chance, nach fünf Jahren „Drill“ zeitgleich mit westdeutschen Oberschülern die Reifeprüfung abzulegen.

Nagold war Grenzstädtchen zwischen den lichten offenen Gäuflächen mit Feldern, Hecken, Halbtrockenrasen und Schafweiden im Osten, und Streuobstwiesen, lieblichem Laubwald und dem anschließenden „dunklen Tann“ des Schwarzwaldes gen Westen. Steht man etwa auf dem Nagold benachbarten Egenhäuser Kapf, dem letzten Muschelkalkvorsprung vor den ausgedehnten Buntsandsteinflächen zur Rheinebene hin, blickt man Richtung Freudenstadt und Bad Wildbad über die sogenannte Nagold-Enz-Platte auf schier endlos erscheinende dunkle Nadelwälder, bei stärkerer Bewölkung fast schwarz erscheinend und an die Wälder Kanadas oder der sibirischen Taiga erinnernd – den Schwarzwald.

Ich brauchte von Nagold aus nur ein Stück die Waldach, einen in den Fluss Nagold mündenden Bach, bis oberhalb von Beihingen hinauf zu radeln, um im Gebiet der Ruine Mandelberg in den „tief dunklen Tann“ eintauchen zu können. Da stand er nun – hoch aufgewachsene Fichten und Weißtannen, dicht bei dicht, das Waldesinnere auch bei voller Sonne düster, sodass nur wenige Sonnenstrahlen den fast kahlen, feuchten, nasskalten Waldboden erreichen und da und dort ein paar Placken vom Wellenblättrigen Schiefbüchsen- oder vom Weißmoos etwas aufhellen konnten. Ein schaurig-schöner Bergwald, mit seiner düster-feuchten Kühle fast etwas das unheimliche Flair einer Gruft aufkommen lassend: Sollte das der seit meiner Kindheit erträumte Märchenwald sein? Zum Glück nicht! Hier war ich vielmehr, wie später noch wird darzustellen sein, in vom Menschen flächendeckend angelegte Monokulturen von Fichten-Tannen-„Stangenplantagen“ geraten. Aber: Bei der nun einsetzenden Suche nach dem gefiederten König des Waldes – dem Urhahn – sollte ich schon im nächsten Jahr auch meinen Märchenwald noch finden!

DER ABENTEUERLICHE WEG ZUM „URHAHN“

Als ich 1954, fünfzehnjährig, nach Nagold kam, kannte ich bereits 75 Vogelarten, die ich in Zittau und Umgebung, auf der Schwäbischen Alb und auf Radtouren zum Bodensee und in die Alpen kennengelernt hatte. Nun, an den Rand des Schwarzwaldes gelangt, standen auf meiner Wunschliste neue Erwartungen – ganz obenauf einer der faszinierendsten Vögel der Welt: der „Urhahn“. Von ihm hieß es, der Schwarzwald sei berühmt für sein reiches Vorkommen – gar als sein Verbreitungsschwerpunkt in den Mittelgebirgen Deutschlands. Wohlan also – wo mochte er stecken?

Von Forstleuten und anderen erfuhr ich, dass es „früher“, in der Zeit der Holzflößerei, nun leider nicht mehr zu datieren, auch im Amtsbezirk Nagold neben seltenen Waldeulen wie Raufuß- und Sperlingskauz sowie Waldschnepfen und Ziegenmelkern noch Hasel- und Auerhühner gegeben habe, wovon Letztere auch gejagt, Trophäen aber als Beleg wohl nicht mehr vorhanden seien. Im Zuge intensivierter Waldwirtschaft, zunehmendem Tourismus usw. habe sich das Auerhuhn mehr und mehr in die Waldungen des Hochschwarzwaldes zurückgezogen, und das nächste derzeit bekannte Vorkommen liege wohl im Gebiet von Oberkollwangen – also nur 20 Kilometer nordwestlich, zwischen Wildberg und Bad Wildbad. Also schrieb ich im Herbst 1954 an den dortigen Bürgermeister und fragte an, ob die Möglichkeit bestünde, im Frühjahr 1955 unter Führung eines Försters oder Jägers an einem Balzplatz im Bereich seiner Gemeinde Auerhühner zu beobachten. Antwort kam – lustigerweise auf einer Postkarte mit eingedruckter Briefmarke, die bereits verfallen war, sodass ich erst einmal Strafporto entrichten musste. Und das auch noch vergebens, denn die Antwort war negativ: Der Balzplatz sei inzwischen verwaist, und wo sonst Beobachtungsmöglichkeiten bestünden, müsse ich selbst erkunden. Wie ich später von den Auerhuhn-Spezialisten Klaus Roth und Karl-Eugen Schroth erfuhr, war ein Balzplatz im Raum Oberkollwangen noch bis 1999 (!) besetzt, aber ich war dort seinerzeit offenbar unerwünscht und abgewimmelt worden. Also war der nächste Anlauf fällig.

Ich hatte das große Glück, dass einer meiner Nagolder Klassenkameraden – Wilfried Haas – meine naturkundlichen Interessen teilte, und zudem war sein Vater, Dr. Gerhard Haas, Lehrer in Bad Buchau und „Chefornithologe“ am berühmten Federsee. Dort gab es seinerzeit, wie auch im Wurzacher Ried, noch einen Restbestand von Birkhühnern, die alljährlich von vielen Interessenten aufgesucht und bestaunt wurden – so auch von Oberforstrat Walter Ebert aus Enzklösterle, der sich dafür regelmäßig mit Kollegen vom „Silbernen Bruch“ in Buchau traf. Vom „Hasenvater“ angesprochen, sagte er uns zu, dass wir im Frühjahr 1955 zu ihm zu einer Auerhahnbeobachtung kommen dürften!

So radelten wir dann in der zweiten Aprilhälfte an einem Samstagnachmittag nach der Schule die rund 30 Kilometer von Nagold nach Enzklösterle wie verabredet. Walter Ebert – Forstmann alter Schule mit einem gewissen militärischen Auftreten – erklärte uns kurz die dreiteilige Balzstrophe des Auerhahns: erst Knappen, schneller werdend bis zum zweiten Teil – dem Hauptschlag –, auf den dann drittens das Wetzen folgt. Und wisset, fügte er bedeutsam hinzu, beim Wetzen ist der Hahn wie liebestoll praktisch taub und blind – und deshalb könne man ihn in dieser Phase, mit jeweils drei Schritten „anspringen“, um ihn etwa zu schießen oder aus der Nähe zu beobachten. Dann setzte er sich auf eine Bank am Ende der Birkenallee des Forsthauses, bedeutete uns, die Allee etwa 50 Meter hinunterzugehen – er würde dann einen Hahn imitieren, und wir sollten beim Wetzen das Drei-Schritte-Anspringen üben. Gehorsam platzierten wir nach dem „telak, telak, telaktelak … tock!“ beim anschließenden „gschigschigschi …“ unsere drei Schritte, bis er uns plötzlich zurief: „Halt – verpatzt, verpatzt – Hahn verpatzt!“ Er hatte nämlich nach einer der Strophen nach dem Hauptschlag kein Wetzen erklingen lassen, aber wir waren trotzdem losgesprungen, da das Wetzen ja nur kurze Zeit dauert und man sich für die drei Schritte beeilen muss. Der Forstmann hatte uns also ausgetrickst, und danach genoss er es ganz offensichtlich, uns zu belehren, dass Hähne bisweilen nach dem Hauptschlag nicht wetzen – wohl aus Sicherheitsgründen, um zu prüfen, ob die Luft rein ist, und das müsse man unbedingt sofort bemerken und wie angewurzelt stehen bleiben, denn ein einziger Schritt in dieser Situation würde ihn verraten und der Hahn würde polternd davonstieben – wäre also verpatzt. Für uns hieß es zurück, Übung von vorn, und nach weiteren Dreisprüngen hatten wir die Reifeprüfung zum Hahn-Anspringen bestanden.

Abends pirschten wir etwa anderthalb Stunden vor Einbruch der Dunkelheit Richtung Hohloh hinauf, nach den letzten Häusern noch knapp eine Stunde, und bezogen seitlich von hohen Fichten, gedeckt hinter Randfichten, Posten. Hier sollten um die bürgerliche Dämmerung herum – also beim letzten Büchsenlicht für Jäger – Auerhähne Schlafbäume beziehen, um am nächsten Morgen in der Nähe zu balzen. Kurz nach 20 Uhr rauschte tatsächlich polternd ein Hahn in eine der Randfichten, worgte, wobei er urig klingende gutturale Laute hervorbrachte, wechselte noch ein paarmal geräuschvoll mit den Flügeln schlagend seinen Standort im Geäst – dann war es still im Walde.

Wir schlichen etwa eine halbe Stunde später von dannen, um den Hahn nicht zu „vertreten“ und radelten nach Rückkehr zum Forsthaus zurück nach Nagold. Um ehrlich zu sein: Das Erlebte ließ uns nicht gerade himmelhoch jauchzen, auch waren wir nicht zu einem morgendlichen Spektakel mit Bodenbalz, Flattersprüngen und stundenlangem Gesang der Hähne eingeladen worden, wie die Hahnenbalz in der Literatur beschrieben wird, die wir inzwischen beschafft hatten, aber immerhin: Wir hatten erstmals unter einem lebendigen Auerhahn gestanden und nicht nur unter einem Stopfpräparat in einem Forst- oder Gasthaus „Zum Auerhahn“. Und viel viel wichtiger: Förster Ebert hatte uns erzählt vom berühmten Auerhahnenstein bei Kaltenbronn unweit oberhalb unseres Beobachtungsplatzes, in dessen Bereich Carl Friederich Großherzog von Baden „am 22. April 1797 Morgens 3 Auerhahnen“ erlegte, wie die Inschrift des Steines besagt, sowie von den Hochmoorseen Hohloh-, Horn- und Wildsee, in deren Umfeld Hähne an etlichen Plätzen in großer Zahl balzen sollten! Dies erfahren zu haben war das eigentliche Geschenk des Besuches in Enzklösterle. Nun hieß es, auf zu neuen Ufern, und als ich tief in der Nacht glückselig in meinem Seminarbett den Auerhähnen nachträumte, wusste ich noch nicht, wie nah ich nun auch meinem Märchenwalde war!

WILDSEE UND – DER MÄRCHENWALD

Am 30. April 1955 war es soweit: Wir bekamen von unserer Schule offiziell die Erlaubnis, nach dem Unterricht gegen 14 Uhr mit dem Fahrrad auf Exkursion zum rund 40 Kilometer entfernten Wildseemoor bei Kaltenbronn aufzubrechen und dort auch im Freien übernachten zu dürfen – natürlich nach vielerlei Ermahnungen, uns im lebensgefährlichen Hochmoor ja absolut vorsichtig zu verhalten!

Zum Radeln wählten wir die kürzeste Strecke über Wart nach Bad Wildbad und von dort über den Sommerberg und Grünhütte zum Moor. Der Aufstieg hinter Wildbad führte durch ähnlich dunklen Fichtenhochwald, wie wir ihn im benachbarten Enzklösterle schon kennengelernt hatten – den typischen „Schwarz“-Wald eben. Aber dann, nach der Weißensteinhütte, tat sich der Himmel auf: Die Bäume schrumpften förmlich zu immer niedrigerer Höhe, standen mehr und mehr lückig, und alsbald lag vor uns ein märchenhafter Waldweiher, der – es war gegen 19 Uhr abends – unter einem rötlichen Himmel mit leichter Gewitterstimmung in einem Farbenmeer von Tiefschwarz über Olivgrün-Braun bis zu Lichtblau-Weiß und Rotgelb spiegelte. Das war eigentlich unbeschreiblich, wie ein Himmelsauge, und dazuhin auf dem Rücken der Berge in fast 1000 Metern Höhe auch wie direkt unter dem Himmel. Diese Pracht, umgeben von niedrigen, urig-knorzigen Baumgestalten von Moor- und Waldkiefern sowie Fichten, die zum Teil wie in Holz erstarrte Waldgeister anmuteten, half uns über eine gewisse Enttäuschung hinweg, dass der erwartete Wild-„See“ eigentlich nur ein größerer Teich war, mit gerademal etwas über einem Hektar Wasserfläche. Und die seines benachbarten Horn-„Sees“ belief sich gar nur auf knapp einen halben Hektar. Aber der Wald! Einfach ein Märchenwald, der an Bilder von urigen Wäldern in Skandinavien, Kanada oder Sibirien erinnerte und eine unbeschreibliche Ausstrahlung hatte. Und dazu kam ein würziger, für Hochmoore typischer Geruch, den man nie mehr vergisst, wenn man einmal richtig in ein solches Moor „eingetaucht“ ist.

Fast unnötig zu sagen, dass wir seinerzeit auf dem Haupt-Pionierweg zum Wildsee (der von 1870 bis 1895 von badischen Pionieren angelegt wurde49) keiner Menschenseele begegnet sind. Heute hingegen ist er bei gutem Wetter meist „verrummelt“, wurde bereits zwei Jahre nach unserem Besuch mit Bohlen ausgelegt und dann später auch noch mit Leitplanken ausgerüstet, um die allein von Kaltenbronn aus an manchen Tagen über 1000 heranströmenden Besucher zu lenken. Damals war es in der vollkommenen Waldeinsamkeit kein Problem, ein Nachtlager einzurichten. Wir stellten etwas westlich vom Wildsee in Ufernähe in einem dichteren Waldbereich mit jüngeren Fichten, vom Weg nicht einsehbar, unsere Fahrräder mit zwei Metern Abstand voneinander auf, legten Äste darüber, die wir mit Fichtenreisig abdeckten, und hatten so rasch eine kleine Waldhütte errichtet. Bettstatt war der feuchte Moosboden, den wir mit Reisig auslegten, um im Trockenen zu ruhen. Schon kurz nach 20 Uhr legten wir uns in unserer Fahrrad-Regenkleidung – im Hinblick auf eventuellen Regen, der allerdings ausblieb – und in Decken zur Ruhe und schliefen rechtschaffen müde alsbald ein.

Nachts hörten wir gegen zwei Uhr etwas Gejohle von Kaltenbronn her – wohl von einem nächtlichen Gelage in den 1. Mai hinein – und vom See her ein paar rufende Stockenten. Kurz vor fünf waren wir wieder auf den Beinen – und nun ging’s auf Erkundungstour. Wir folgten dem neueren Pionierweg (der nach späterer Auskunft von Forstamtmann Erwin Merkel im Forstamt Kaltenbronn im Dritten Reich angelegt wurde), der vom Westufer des Sees in südlicher Richtung ins seinerzeit weitgehend offene Moor hinausführte, reichlich einen Kilometer weit, bis er wieder Hochwald und einen Waldweg erreicht, von dem aus das Schwarzbachtal zum Kegeltal hin steil abfällt. Damals trennte dieser Pionierweg den westlichen Bereich des Hochmoors mit vielen Moorkiefern (Pinus mugo) vom östlichen mit weitgehend offener Moorfläche. Heutzutage ist, wie unten beschrieben, das gesamte Moor stark mit Kiefern und Fichten zugewachsen und der Pionierweg kaum noch zu erkennen. Aber in topografischen Karten ersieht man seinen Verlauf noch sehr gut – er folgt nämlich der dortigen Kreisgrenze durchs Moor zwischen den Landkreisen Calw und Rastatt und damit auch zwischen Baden und Württemberg.

Dieser Pionierweg war beileibe kein Weg, sondern eine Art Schneise, die in gerader Linie durch Moorkiefergruppen hindurchgehauen worden war und in deren Verlauf man versucht hatte, einen Entwässerungsgraben zum Schwarzbach hin anzulegen. Von den seinerzeit und auch noch später immer wieder abgehackten Latschen lagen noch knorrige bleiche Stammstücke am Schneisenrand, die wie Skelettreste von Mammuts oder ähnlichen Großtieren der Nacheiszeit aussahen. Auf ihnen sonnten sich auf dem Rückweg zwei Kreuzottern – eine normal gefärbte und eine fast schwarze „Moor“-Otter. Die Oberfläche des Schneisen-Weges war ein leuchtend grüner Teppich aus Torfmoosen, bei dessen Betreten man bei jedem Schritt mindestens knöcheltief in anstehendes Wasser einsank. Und von der Anlage des Entwässerungsgrabens her gab es zahlreiche noch mehr oder weniger offene Gumpen, in die man – wie in späteren Jahren mehrfach erfahren – bei einem Fehltritt durchaus bis zur Brust einsinken konnte.

Moorkiefern oder -spirken, im Vordergrund Waldkiefer, historische Aufnahme49© Müller, Das Wildseemoor bei Kaltenbronn, Braun, Karlsruhe 1924

Aus dem Legforchen-Urwald, aufgenommen 1917 49© Müller, Das Wildseemoor bei Kaltenbronn, Braun, Karlsruhe 1924

Ein 2,5 Meter tiefer Moorsee oder »Kolk«, am Seeufer schwimmendes Torfmoos, im Vordergrund Wollgrasbüschel, Aufnahme des Wildseemoors von 1906 49© Müller, Das Wildseemoor bei Kaltenbronn, Braun, Karlsruhe 1924

Wir folgten damals dem Schneisenverlauf sehr vorsichtig bis zum Beginn des allmählich zum Hochwald ansteigenden Waldbereichs am Südrand des Moores – und dort fanden wir: ein Paradies, einen wahrhaften Märchenwald! Dieses paradiesische Waldgebiet erreichten wir, als wir vom Pionierweg in östlicher Richtung einschwenkten, und alsbald vor uns ein weiterer sogenannter Kolk lag, also eine neben Wild- und Hornsee dritte offene, noch nicht verlandete Wasserfläche, auch Moorauge genannt. Dieser Kolk maß zwar im Durchmesser nur etwa 25 Meter, hatte sich aber ebenso wie seine beiden größeren Verwandten im offenen Hoch- oder Regenmoor, das das Wildseemoor darstellt, in seiner einige Meter mächtigen Torfschicht offengehalten. Und dieser kleine Kolk bildete das Zentrum einer nahezu unbeschreiblich schönen Idylle. Wenn man sich ihm so weit wie möglich bis auf wenige Meter näherte, stand man auf einem Schwingrasen, wie die Botaniker und Moorspezialisten sagen, d. h. auf einer auf freiem Wasser aufschwimmenden Pflanzendecke aus Torf- und Braunmoosen, Seggen, Binsen und anderen Pflanzen, die wie eine filzige Matte wirkt. Bewegt man sich darauf rhythmisch auf und ab, breiten sich über die Matte Wellen aus – der ganze Rasen schwingt, und daher der Name.

Den dem Kolk nahen Schwingrasen bildeten vor allem verschiedene wurzellose Torfmoosarten, die ihre an kleine Nadelbäumchen erinnernden Triebspitzenköpfchen in herrlichen Farben von leuchtend Meer- und Olivgrün über Weißlich-Gelb (der Bleichmoospolster) bis zu Blut- und Violettrot erstrahlen ließen. Hier wäre ein Aquarellmaler in höchste Verzückung geraten und bei einem eventuellen Freudensprung natürlich durch den Schwingrasen durchgebrochen, was schon vielen Moorbegehern passiert ist. Wenn das geschah, wurde man jedoch nicht, wie oft berichtet, von bösen Moorgeistern unweigerlich langsam in die Tiefe gezogen und vom Moor verschluckt, sondern man muss sich dann langsam – und sicher oft mühsam – wieder auf festen Untergrund hocharbeiten, was aber meistens möglich ist. Ranga Yogeshwar hat uns vor Jahren in der Sendung „Quarks“ im Selbstversuch anschaulich vor Augen geführt, dass man als ins Moor Eingebrochener nicht einfach dem Tode geweiht ist, sondern sich eigentlich immer wieder herauswinden kann, solange man sich nicht in Panik geraten lässt.

Wir sind seinerzeit nicht eingebrochen, sondern haben im Kolkbereich noch eine hochinteressante kleine fleischfressende Pflanze entdeckt, den Rundblättrigen Sonnentau, und uns danach dem Wald zugewandt. Und der begann zu unserem Erstaunen bereits auf dem Schwingrasen, keine 50 Meter vom Kolk entfernt. Dort standen zunächst ganz vereinzelt winzige, nicht einmal einen halben Meter hohe an Bonsai-Pflanzen erinnernde Bäumchen, zumeist Moorkiefern, aber auch einige Waldkiefern und Fichten. Von der Nähe betrachtet zeigte sich, dass es sich dabei nicht um vor kurzem gekeimte Jungpflanzen handelte, sondern vielmehr um in Zwergwuchs vergreiste Pflanzen, die zum Teil schon viele Jahre auf dem Buckel haben mochten (in der Tat bis über 50, wie ich später aus einer speziellen Studie erfuhr 49). Aber in diesem extrem nährstoffarmen und im Wurzelbereich ganzjährig kalten Milieu hatten Bäumchen, auch wenn sie zunächst erfolgreich erkeimt waren, kaum Chancen, tief zu wurzeln und nährstoffreiche Bodenschichten zu erreichen. Und so starben in dieser Kampfzone für Gehölze – damals noch, vor der inzwischen eingetretenen Austrocknung infolge der Klimaerwärmung – fast alle Bäumchen rasch wieder ab, und die Moorfläche blieb offen.

Nur 100 Meter weiter sah es bereits ganz anders aus. Dort standen schon baumähnlichere Gewächse, allerdings durchweg in Strauchform, bald bis etwa mannshoch, und jedes in eigener, teils bizarrer Gestalt mit querliegendem Stamm, verwundenen Ästen, extremen Gabelungen und anderem mehr. Das waren Berg- oder Moorkiefern, deren Synonyme Latschen, Latschen-, Krüppel-, Krummholzkiefer oder Legföhre eigentlich alles über ihre Vielgestaltigkeit aussagen. Letzteres kommt daher, dass die Bäume im moorigen Untergrund nicht fest wurzeln können und durch hohe Schneelast fast jeden Winter erneut zumindest teilweise zu Boden gedrückt werden. Die dicht dunkelgrün bis zum Boden hinunter benadelten Strauch-Baum-Gestalten, die auch „Kuscheln“ heißen, erinnerten etwas an vielgestaltigen Wacholder von Bergheiden. Manche dieser Moorkiefergruppen waren so üppig dicht gewachsen, dass sie praktisch undurchdringlich waren. Wegen ihrer vielgestaltigen Schönheit und ihrer üppig-dichten Benadelung werden sie heutzutage in Zuchtformen auch gern in Gärten angepflanzt.

Wiederum etwa 100 Meter weiter in Richtung südlicher Moorrandwald wechselte das Bild abermals: Nun tauchten zwischen den Moor- auch erste Waldkiefern auf, wenn hier auch recht niedrig und von ebenfalls fast durchweg bizarrer Gestalt mit breiten lichten Kronen, ausladend waagerechten Ästen und viel „Krummholz“. Auch ihnen merkte man an, dass sie sich in dieser Kampfzone für Bäume schwergetan hatten, in Jahrzehnten wenigstens an die zehn, fünfzehn Meter Höhe zu erreichen. Bald hinter ihnen schloss sich dann der Moorrand-Kiefern-Fichtenwald an, der 20 und mehr Meter an Höhe erreichte, auch einige Moorbirken und Weißtannen einschloss, und im Randbereich noch viele Lücken und kleine Blänken aufwies, bis er in hinteren Bereichen sich schließlich zum dichten Schwarz-Wald schloss.

Insgesamt lag vor uns ein Wald, der vom offenen Hochmoor mit seinem Kolk von einzelnen bonsaiartigen Baumwinzlingen über allmählich höher werdende und dichter stehende, zunächst strauchartige Baumgestalten allmählich mit mehr und mehr eingestreuten Hochstämmen an Höhe gewann und schließlich bis zum zuerst lückigen und danach geschlossenen Hochwald aufstieg. Dieser Pionierwald auf dem verlandenden Hochmoor hatte also zwei Gradienten: zum Moorrand hin allmählich höher und zum anderen zunehmend dichter werdend.

Und bei der Bodenbedeckung gab es einen weiteren Gradienten: in der Halb- oder Zwergstrauchgesellschaft, vor allem von Arten der Heidekrautgewächse. Schon im äußeren Schwingrasenbereich tauchten zwischen Torfmoosen kleine aufrechtstehende Pflänzchen mit schmalen, unterseits silbrig-weißen Blättchen und hellrosa Blütenglöckchen auf – der Sumpfrosmarin. Ebenfalls rosa Blüten zierten ein weiteres zartes, auf dem Moosteppich kriechendes, reich verzweigtes Pflänzchen – die Moosbeere. Und an ihrem Netzwerk fanden sich einzelne recht große, tiefrote kugelige Früchte, die den Winter unter dem Schnee überdauert hatten, die angenehm säuerlich-fruchtig schmecken und aus denen vor allem in Skandinavien und Russland köstliche Säfte und Konfitüren hergestellt werden. Im Latschenbereich schlossen sich niederliegende immergrüne Halbsträucher mit sehr kleinen, ebenfalls rötlichen Blüten an, aus denen glänzend schwarze Beeren hervorgehen – Krähenbeeren. Waldwärts, an mehr trockenen Standorten, etwa um Waldkiefern herum, fanden sich zum Teil größere Gruppen von an Blau- oder Heidelbeeren erinnernde Halbsträucher, deren Zweige jedoch braun und nicht grün und die Blätter bläulich gefärbt waren – Rauschbeeren, die später der Heidelbeere ähnliche Früchte tragen. Im lückigen Hochwald dann sprossten viele Heidelbeer-Halbsträucher, an einigen Stellen auch Besenheide-(„Heidekraut“-)Sträuchlein und am Beginn des Schwarzbachtales mit freistehenden Buntsandsteinblöcken an sonnigen, sandig-trockenen Plätzen schließlich Preiselbeeren mit ihren später scharlachroten Beeren.

Das also war der Märchenwald, den wir am 1. Mai 1955 bestaunen konnten. Ein Ur-Wald im wahrsten Sinne des Wortes, der sich hier, nach dem Ende der letzten Eiszeit vor rund 10 000 Jahren, auf dem zunächst auf wenig wasserdurchlässigen Buntsandsteinschichten entstandenen und allmählich verlandenden Hochmoor bilden und weiterentwickeln konnte. In diese seit einigen Tausend Jahren andauernde Entwicklung hatten hier Menschen in einigen Bereichen kaum, an manchen Stellen vielleicht überhaupt noch nie eingegriffen, obwohl an anderen Stellen enorme Anläufe zur „Kultivierung“ des Moores vorgenommen worden sind, wie später gezeigt wird. Es mag damals im Wildseemoor sogar noch Stellen gegeben haben, die noch nie von einem Menschen betreten worden waren – eine Art unbefleckte Wildnis also, und die mitten in unserem Zivilisations-Gewusel! Das zu erleben, in völliger Einsamkeit, vollkommener Ruhe, ohne jeglichen Motorenlärm von Flugzeugen am Himmel oder von Autos auf Straßen der Umgebung ließ uns Schauer der Ehrfurcht über den Rücken laufen! Märchenwald – auf dem Dach des Schwarzwaldes, direkt unter dem helllichten Morgenhimmel, mit einem Glücksgefühl, das uns Ludwig Uhlands „Schäfers Sonntagslied“ (1815) lebendig werden ließ, in dem es heißt:

„Der Himmel nah und fern,

Er ist so klar und feierlich,

So ganz, als wollt‘ er öffnen sich.

Das ist der Tag des Herrn!“

Und in der Tat: Es sollte für uns noch ein Tag des Herrn werden! Vor lauter Verzückung über das Moor und seinen Märchenwald hatten wir fast den Hauptzweck unserer Exkursion vergessen – die Suche nach Auerhühnern! Und da – plötzlich – für uns unbekannte Laute, wie „oak-oak-oak …“ klingend (und an das schwedische Å etwa in Åland erinnernd), keine 50 Meter südöstlich von uns, am Moorrandwald. Wir entdeckten den Rufer, besser die Ruferin, eine Auerhenne oben auf einer Waldkiefer (Pinus sylvestris), die noch eine Zeitlang „gockte“, wie Auerwildspezialisten sagen, bevor sie zum Wald hin abstrich.

Wir, die wir damals wie angewurzelt stehen geblieben waren, rätselten: Hatte die Henne gewarnt, uns eventuell trotz guter Deckung hinter Latschen gesehen? Gab es dort noch mehr Auerhühner? Bald wussten wir mehr. Als wir uns nämlich vorsichtig dem lückigen Moorrandwald näherten, fanden wir vor allem unter Waldkiefern nahezu überall „Würstchen“, hauptsächlich aus ausgeblichenen Nadelbaumnadeln zusammengesetzt – eindeutig Auerhuhnkot, „Auerhuhnlosung“, wie sie uns Förster Ebert vor kurzem gezeigt hatte. Unter einigen Bäumen türmte sich die Losung zu mehr als zehn Zentimeter hohen Hügelchen auf – kein Wunder, denn sie werden bis zu sechsmal pro Stunde ausgeschieden. Neben größeren, bis gegen zehn Zentimeter langen und etwa einen Zentimeter dicken gab es auch deutlich kleinere, nur etwa fünf Zentimeter lange und schmälere Kotwürstchen, die von Weibchen stammten. Diese gelblich-grünlichen Reste verdauter Nadeln rochen zum Teil nach Latschenöl – und verrieten damit ihre Herkunft.

Nachdem wir auch noch eine Reihe alter, schon teilweise verrotteter Großgefieder-Mauserfedern und erst jüngst verlorene Kleingefiederfedern gefunden hatten, war klar: Wir hatten ein Wohngebiet des Auerhuhns entdeckt! Die 1000 Fragen, die sich nun auftaten – wie viele hier wohl leben mochten, wieso heute nur eine Henne zu sehen gewesen war, wann die Hähne balzten, wie man sie am besten beobachten konnte und und und – sie alle sollten sich in den nächsten gut 40 Jahren, bis 1998, als der Auerhuhn-Balzplatz im Wildseemoor erloschen war, beantworten lassen.

Für uns aber wurde es an diesem Tag – mittlerweile war es später Vormittag geworden – höchste Zeit, uns auf den Rückweg zu begeben. Wir wählten dafür die Strecke über Kaltenbronn und Enzklösterle, von wo aus wir ja erst kürzlich nach Nagold geradelt waren. In Sprollenhaus, kurz vor dem Enztal, machten wir Mittag. Sonn- und Feiertags gab’s bei uns im Seminar zum Frühstück Zopf, und wir hatten einen auf unsere Exkursion mitbekommen. Da er in der Fahrrad-Gepäcktasche leider etwas hart geworden war, setzten wir uns am Rand des Örtchens an den Kegelbach und tunkten die Zopfstücke zum Aufweichen in das würzige, leicht bräunliche Wasser, das seine Färbung vom Hochmoor droben auf dem Berg mitbrachte und uns vor kurzem noch in seinen Bann geschlagen hatte. Es war dies nach dem nahezu unfassbar Schönen, das wir erlebt hatten, und auch im Hinblick auf die Vorstellungen, was uns wohl weitere Exkursionen in den Märchenwald bescheren mochten, eine der köstlichsten Mahlzeiten, an die ich mich in meiner Jugendzeit erinnern kann. Wir fühlten uns damals, als seien wir von einer Expedition aus einer anderen Welt zurückgekehrt. Und schließlich konnten wir unser Mittagsmahl noch mit zwei Forellen aufbessern, die wir im Kegelbach mit geübter Hand unter Steinen gefangen und an einem kleinen Lagerfeuer gegart hatten.

Erst viel später haben wir erfahren, wieviel Dusel wir auf unserer ersten größeren Auerhuhn-Erkundungstour gehabt hatten! Zunächst einmal einen für die damalige Zeit extrem schneearmen Übergang April/Mai. In späteren Jahren mussten wir uns um diese Zeit von Kaltenbronn bis zum Märchenwald oft noch über eine mehr als einen Meter hohe Schneedecke durchkämpfen, zum Teil in Watstiefeln, unter gewaltigen Strapazen, wie später beschrieben. Hätten wir uns seinerzeit entschlossen, unsere Exkursion westlich von Kaltenbronn ins Gebiet des Hohlohsees mit seinem berühmten Auerhahnenstein durchzuführen, wären wir im Bereich der Breitlohmüß ebenfalls in herrlichen Hochmoor-Märchenwald mit reichem Auerhuhn-Vorkommen gelangt, hätten aber nicht den Volltreffer gelandet wie im Wildseebereich. Denn: Das Wildseemoor wird noch immer – wenn auch heute sehr stark mit Bäumen und Sträuchern zugewachsen und teilweise ausgetrocknet – als das größte Hochmoor des Schwarzwaldes, Deutschlands, ja sogar Mitteleuropas bezeichnet und der Wildsee als der größte Hochmoorkolk Deutschlands oder sogar Europas. Im Jahr 2000 wurde es als „Kombiniertes Natur- und Waldschutzgebiet Kaltenbronn“ mit 1750 Hektar Moorlandschaft eine Art kleiner Nationalpark für Baden-Württemberg 50.

Das Wildseemoor gehörte zusammen mit dem Wurzacher Ried und einigen weiteren etwa im Waldviertel in Österreich oder im Böhmerwald zu den größten, weitgehend ursprünglich erhaltenen Hochmooren Mitteleuropas, während ähnlich große derartige Moore in Norddeutschland, wie etwa das Teufelsmoor bei Bremen, durch Torfabbau stark beeinträchtigt oder ganz zerstört worden sind. Damit lag man schon richtig, wenn man sich im damals noch weithin offenen Wildseemoor an die riesigen Moorgebiete oder „Sumpfwälder“ des borealen Nadelwaldgürtels, also der Taiga in Sibirien, Finnland, Schweden oder auch Kanada und Südalaska, erinnert fühlte. Und ähnlich konnte man sich wie dort auch im Wildseemoor seinerzeit verlaufen und stundenlang im Kreis herumirren, wie später einige Male schmerzlich erfahren. Dafür reichte es, wenn die randlichen Waldsilhouetten als Orientierungshilfe plötzlich im Nebel oder in Wolken verschwanden, was oft in wenigen Minuten geschehen konnte.

Und schließlich, um den Volltreffer noch zu unterstreichen, lebte damals im Wild-, Horn-, Hohlohseegebiet und in angrenzenden Bereichen, wie sich dann später mehr und mehr herauskristallisierte, noch die größte weitgehend vernetzte Auerhuhn-Population des gesamten Schwarzwaldes mit um die 200 Individuen.

Abschließend noch einmal zurück zum Märchenwald im Wildseemoor. Ich habe diesen Moorrandwald vor allem deshalb so ganz ausführlich bis in kleinste Details beschrieben, weil er den idealen, vollkommenen Lebensraum für Auerhühner darstellt – darin sind sich alle Auerhuhn-Kenner ausnahmslos einig. Im Hauptverbreitungsgebiet der Waldhühner, der russischen Taiga, besiedeln sie den Waldgürtel bei 30 bis 50 Prozent Moorfläche vor allem an den schier endlosen Moorrändern in größter Dichte. Bei uns konnten sie sich im Laufe der nacheiszeitlichen Wiederbewaldung Mitteleuropas, aus von der Eiszeit weniger betroffenen Refugien kommend, perfekt in Moorwälder einnischen. Mehr noch: Sie konnten sich dort bis zu ihrer fortlaufenden, seit dem 18. Jahrhundert einsetzenden Vernichtung auch vielerorts ununterbrochen halten. So wie heute noch in allen größeren intakten, möglichst ausgedehnten, unzerstückelten Waldmoorgebieten Schwedens, Finnlands oder Russlands Auerhühner vorkommen, waren sie folglich bis ins 20. Jahrhundert auch im Schwarzwald Charaktervögel aller dieser mehr oder weniger erhalten gebliebenen Waldmoore, schließlich bis in kleinste, oft von Nutzwald regelrecht eingezwängte Moorinseln hinein. Ich konnte von 1960 bis 1980 mehrere Hundert dieser Schwarzwald-Waldmoore, Moorreste und anmoorigen Urwald-Relikte persönlich durchstreifen – im Südschwarzwald von den größeren, wie dem Brunnmättle- und Turbenmoos und dem Ibacher Moor, über kleinere und kleinste wie dem Horbacher Moor und zahlreichen Moorwaldinseln im Schluchseegebiet, über viele im mittleren Schwarzwald wie das Blessingmoos bei Eisenbach, das Herrenwaldmoos und weitere bei Triberg und eine Fülle von Moorwaldinseln im Raum Neustadt-Villingen und natürlich im Nordschwarzwald wie dem Würzbacher Moor, den Waldmooren im Bereich des Huzenbacher Sees bis hin zu zahllosen Waldmooren und Moorinseln in den ausgedehnten Waldungen im Bereich von Wildsee, Hohloh und angrenzenden Gebieten. Und überall lebten seinerzeit noch Auerhühner!

Wie flächendeckend verbreitet und omnipräsent früher Moore im Schwarzwald waren, geht aus der 2021 publizierten „Bodenkarte von Baden-Württemberg“ hervor 52. Sie listet für alle Regionen des Schwarzwaldes vom südlichsten Süden bis zum nördlichsten Norden selbst heute, nach all den Trockenlegungen, noch überall moorige Regionen auf, nämlich 198 Hoch- und 1186 Niedermoore sowie 806 Anmoorgley-Gebiete. Diese insgesamt 2190 moorigen Flächen betragen zusammen reichlich 60 Quadratkilometer. Dazu kommen weitere 127 Quadratkilometer extrem staunasser Böden mit Torfauflagen 52 und Rilling briefl., sodass alle diese Gebiete zusammen etwa drei Prozent der gesamten Schwarzwaldfläche ausmachen. Noch 1990 nahmen die „Hochmoore auf den Plateaus (im Nordschwarzwald) neun Prozent der Hochlagenwälder ein“ 59. Alle diese Angaben verdeutlichen, dass Auerhühner früher im Schwarzwald überall als Moorrand-Märchenwaldbewohner lebten oder derartige Wälder zumindest aufsuchen konnten – und das waren früher auch durchweg Standorte ihrer bevorzugten Moorkiefern.

Auerhühner haben darüber hinaus nach den Zeiten der großen Waldrodungen und Entwässerungsaktionen im Schwarzwald, dem Waldumbau durch den Menschen von früher verbreitetem Laub- und Mischwald zur flächendeckenden „Verfichtung“ und den großen Waldauflichtungen durch Waldbeweidung mit Vieh auch verschiedenartige Sekundärwälder besiedelt. So etwa die bis vor Jahrzehnten verbreiteten lückigen, mäßig hohen Kiefernwälder mit reichlich Heidelbeerunterwuchs im mittleren oder auch stark mit Buchen bestückte Mischwälder vor allem im Südschwarzwald – aber die wiesen alle erhebliche Nachteile auf, wie später gezeigt werden wird. Die idealen Lebensräume der „Urhühner“ sind die ursprünglichen, urtümlichen Waldmoorgebiete, in denen sie am besten leben können und die deshalb auch heute noch ihr bevorzugter Lebensraum sind – von Mitteleuropa bis über den Polarkreis und den Ural hinaus in den riesigen nordischen und östlichen Waldmoorflächen –, und die bei uns nun immer schneller verschwinden durch Entwässerung und infolge der Klimaerwärmung. Im folgenden Kapitel wird dargestellt, wie die Urhühner im Märchenwald leben und wieso er für sie der ideale Lebensraum ist.

Wer sich einmal ohne große Reiserei in einen dieser märchenhaften Moorwälder „begeben“ möchte, dem seien in der Reihe „Expeditionen ins Tierreich“ (NDR) die Filme „Wildes Skandinavien“ über Schweden und Finnland (von Oliver Goetzl und Ivo Nörenberg) ans Herz gelegt, in dem neben Auerhühnern auch Braunbär, Wolf und sogar Vielfraß zu sehen sind. Dieses Tierensemble kann auch ich für das Wildseemoor nicht mehr beschreiben, auch wenn ich schon 1955 dort beobachtet habe – diese einstige Märchenwaldgesellschaft lebte im Wildseemoor lange vor meiner Zeit. Aber die Urhühner gab es 1955 dort noch, und damals wohl sogar noch in ähnlicher Dichte wie in der besten alten Zeit.

Wenn ich hier vom Wildsee-Moorrandwald als vom „Märchenwald“-Urwald schreibe, wird sich mancher vielleicht denken: wie bescheiden, wie provinziell, da gibt’s doch ganz andere Urwälder! Gibt es – vor allem im Tropengürtel von Amazonien über Zentralafrika bis in den asiatischen Raum und auch bei uns noch zwei: den Bialowieza-Urwald in Polen (allerdings durch menschliche Eingriffe beträchtlich denaturiert) und den völlig ursprünglichen Perucica-Urwald im bosnischen Nationalpark Sutjeska. Letzterer konnte sich in einem schwer zugänglichen Talkessel erhalten, mit vielen, nämlich nahezu allen in Europa vorkommenden Baumarten und vor allem Baumriesen – also Buchen, Schwarzkiefern, Fichten, Ahornen, aber auch Wildbirnen, Vogelkirschen, Baumhaseln u. a., bis reichlich 60 Meter hoch, mit bis gut anderthalb Meter Stammdurchmesser, über 300 Jahre alt – nahezu unbeschreiblich. Dazuhin weisen einige Bereiche Holzvorräte von über 1300 Festmetern pro Hektar auf 26. Und natürlich ist dieses Waldparadies – eingebettet in eine „bukolische Landschaft“ 51 – Heimat für Braunbär, Wolf, Auer- , Haselhuhn und viele andere Wildtiere. Dendrologen sagen mit Recht, wer diesen Urwald nicht erlebt hat, kann sich nicht annähernd vorstellen, welche gewaltigen Wälder hervorzubringen Mitteleuropa einst imstande war – sie halten gut und gerne mit tropischen Regenwäldern oder den Mammutbaumforsten in Kalifornien mit. Aber: Begibt man sich unter die Baumriesen, zwischen denen an feuchten Stellen sogar Stauden wie Telekien übermannshoch aufwuchern und wo vor zig oder Hunderten von Jahren umgefallene Stämme wie ein Riesenmikado nur mühsam kletternd zu überwinden sind, dann kommt man sich schnell vor wie ein Däumling, eine Ameise. Selbst für uns sind die Baumwipfel im Halbdunkel unter den Blättermassen meist so hoch oben, dass man sie kaum zu sehen bekommt. Ganz sicher eindrucksvoll, aber unter diesen Giganten fühlt man sich oft wie hilflos, wie erschlagen. Wie ganz anders empfindet man dagegen im lückigen, sonnendurchfluteten Moorrand- Märchenwald mit seinen Bäumen in gut überschaubarer Größe: Er hat nichts Bedrückendes, gar Erdrückendes, wirkt vielmehr geradezu heimelig – er ist unser Wohlfühlwald der Mittelgebirge, von gleichbleibender Güte, seit uralter Zeit – und ein Friedwald – lange vor seiner heutigen Bedeutung.

DAS AUERHUHN – EIN PORTRÄT

Übersichten über das Auerhuhn in vielerlei Hinsicht – sein Erscheinungsbild, seine Lebensweise, Jagd und Zubereitung bis zu Schutzmaßnahmen und ähnlichem – gibt es in Hülle und Fülle, bessere und schlechtere. Am Ende des Buches sind im Literaturverzeichnis einige empfehlenswerte Werke zusammengestellt (vor allem Monografien und Handbuchartikel wie 22, mit vielen Angaben von 46, sowie 6, 27 u. a.). In diesem Kapitel werden in Kürze die zum Leben und Überleben wichtigsten Aspekte dieser Waldhühner behandelt, damit später klar erkenntlich wird, warum die angedachten und praktizierten Schutzmaßnahmen bei uns zum Scheitern verurteilt sind. Außerdem wird eine Reihe besonders faszinierender Eigenheiten dieser Vögel skizziert, um deren Willen es sich lohnen könnte, unter Umständen einmal Urhühner auf einer Öko-Tourismus-Tour in den Waldweiten des Nordens oder in Russland aufzusuchen. Dort hat dieser „ursprüngliche Taigavogel“, der fast durchweg Nadelwälder bewohnt (Ausnahmen: Laubwälder im Kantabrischen Küstengebirge Spaniens und im Südural), durchaus Überlebenschancen – dort leben derzeit noch etwa vier der insgesamt knapp fünf Millionen Individuen. Wenn in Sibirien Permafrostboden mehr und mehr auftaut, Solifluktionen zunehmen und Fahrzeuge auf Eis und Schnee weniger einsetzbar werden, könnten auch Auerhühner von weniger Holzeinschlag, Jagddruck, Abbau von Bodenschätzen usw. profitieren und bis zur nächsten postanthropozänen Eiszeit überleben.