Vögel füttern, aber richtig - Peter Berthold - E-Book

Vögel füttern, aber richtig E-Book

Peter Berthold

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Beschreibung

Ganzjährig füttern – ganzjährig helfen. Professor Peter Berthold und Gabriele Mohr von der Vogelwarte Radolfzell haben in vielen Jahren erforscht: Wer den gefiederten Gästen ganzjährig gutes Futter anbietet, schadet ihnen nicht, sondern leistet einen wichtigen Beitrag zum Vogelschutz! Die Autoren stellen die wichtigsten Arten, die Futterstellen besuchen, vor und informieren über die Zufütterung für Wildvögel, die Anlage von Futterstellen zur Winter- oder Ganzjahresfütterung, gesunde Futtermischungen und den Umgang mit kranken Vögeln. Die zahlreichen Tipps und konkreten Angaben zur individuellen Fütterung je nach Art machen dieses Buch zum wertvollen Ratgeber für alle, die unsere heimischen Vögel beobachten und schützen möchten

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Seitenzahl: 276

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Inhalt

Vögel füttern

Vögel füttern – heute überlebenswichtig

Der dramatische Rückgang der Vogelwelt

Artenschwund bei allen Mitlebewesen in aller Welt

Lässt sich der Artenrückgang stoppen?

Re-Ökologisierung: eine Utopie

Die Geschichte der Fütterung

Der Haussperling: Paradebeispiel zum Verständnis

Was Vögel zum Leben brauchen

Wie Vögel leben und was sie brauchen

Vögel füttern: wissenschaftliche Grundlagen

Vögel füttern in der Praxis

Planung: Vögel füttern

Futterspender

Futtermittel

Grundfutter

Optimales Zusatzfutter

Saisonspezifische Futtermittel

Lebend- und Weichfutter, Fleisch

Ungeeignete Futtermittel

Was kann man selbst sammeln?

Futter selbst herstellen

Futterstellenbesuch und -verbrauch im Jahreslauf

Nützliche Tipps für die Urlaubszeit

Musterbeispiel: der Star

Wenn Vögel von der Futterstelle wegbleiben

Unerwünschte Gäste an Futterstellen

Ist das Füttern von Wasservögeln sinnvoll?

Hygienemaßnahmen

Kranke oder tote Vögel – was tun?

Rechtliche Grundlagen der Wildvogelfütterung

Ergänzende Vogelschutzmaßnahmen

… ein vogelfreundlicher Garten

Die attraktivsten Gartenpflanzen

An Nistplätze denken

Kann ein naturnaher Garten das Zufüttern ersetzen?

Fazit und Ausblick

Einige bemerkenswerte Besprechungen …

Vögel an der Futterstelle

Meisen

Goldhähnchen

Finkenvögel

Zaunkönige

Sperlinge und Braunellen

Ammern

Spechte

Drosseln

Kleine Drosselvögel

Kleiber und Baumläufer

Rabenvögel

Stare

Tauben

Hühnervögel

Lerchen

Grasmücken und Laubsänger

Stelzen und Pieper

Rallen

Möwen

Greifvögel

Störche

Seltene Gäste

Die wichtigsten Neuigkeiten

Zwei „Meilenstein“-Publikationen

Neue Studien

Land-Stadt-Gefälle

Zwei Großprojekte

Eine aufschlussreiche Spezialstudie

Alte und neue Krankheit

Zwei Schnappschüsse vom Futterhaus

Kurzmitteilungen

Ganzjährig füttern – von Adalbert Stifter

Service

Literatur

Quellen für Futtermittel und Futterspender

Danksagung

Fettfutter selbst gemacht

Das ideale Futterhaus

Autoren

Wichtiger als je zuvor: Vögel füttern

Impressum

LIEBE VOGELFREUNDE!

Mit den neuen Auflagen von „Vögel füttern – aber richtig“ erhalten Sie in Layout und Inhalt ein weitgehend neues Buch – im Einzelnen:

— Der gesamte Text wurde überarbeitet.

— Die Situation unserer Vogelwelt seit 1800 wird dargestellt, ebenso der allgemeine Artenrückgang in aller Welt, seine Ursachen und Möglichkeiten, ihn noch zu stoppen.

— Die Bedeutung des Zufütterns von Vögeln als Artenschutzmaßnahme wird klar herausgearbeitet.

— Die Bedürfnisse unserer Vögel im Jahresverlauf – insbesondere ihr Energiebedarf – werden dargestellt.

— Die wissenschaftlichen Grundlagen des Vogelfütterns und die Fülle an durchweg positiven Forschungsergebnissen werden zusammengefasst.

— Alle Aspekte der Praxis vom Fütterungsplan über Futterspender, Futtermittel, Hygienemaßnahmen bis zu rechtlichen Grundlagen und Vogelschutzmaßnahmen vor allem im Garten werden umfassend behandelt.

— Nahezu alle an Futterstellen zu erwartenden Vogelarten werden in Wort und Bild zur sicheren Bestimmung dargestellt.

Auch die 4. Auflage von „Vögel füttern …“ wurde in Rezensionen wieder durchweg positiv bewertet (sogar als „in brillanter Sprache“ verfasster „Klassiker“, Ornithol Beob bzw. FreizeitIllustrierte 2017). Aber nach fünf Jahren gibt es triftige Gründe für eine Neuauflage:

1. sind zwei Meilenstein-Veröffentlichungen erschienen, die die Ganzjahresfütterung auf fundamentale Säulen stellen, sozusagen unerschütterlich machen. Sie werden mit weiteren Neuigkeiten ab hier behandelt.

2. konnten wir eine Mitautorin gewinnen – Bärbel Oftring –, für unser Buch bestens qualifiziert: Diplom-Biologin und wiederholt ausgezeichnete Publizistin, mit breitem, auch einschlägigem Fachwissen, u. a. Autorin des 2019 erschienenen Fachbuchs über „Vogelfutterpflanzen aus Natur und Garten“, und zudem hat sie unser Buch seit der 1. Auflage als Lektorin hervorragend mitgestaltet. Sie ist im Autorenteam der „Jungbrunnen“, der in Zukunft die Fortführung dieses Ratgebers bei Kosmos sichern wird.

3. sind inzwischen wieder Hunderte von Arbeiten erschienen, die die Fütterung freilebender Vögel betreffen und ab hier behandelt werden. Das gilt auch für leider neue Vogelkrankheiten.

4. Weitere dramatische Umweltverschlechterungen – vor allem Waldsterben – verlangen Gegenmaßnahmen.

Auch wer schon die 4. Auflage besitzt, sollte sich die 5. unbedingt besorgen – sie enthält viele neue hilfreiche Informationen.

Wir wünschen allen Lesern (weiterhin) viel Freude und Erfolg mit unserem Buch und freuen uns wieder auf Kommentare und anderes mehr.

April 2021 Peter Berthold, Gabriele Mohr und Bärbel Oftring

FÜTTERN MACHT FREUDE

Was ist es für eine Freude für Alt wie Jung und gerade auch für viele, die nicht mehr in die Natur hinauswandern können, im Winter in der warmen Stube zu sitzen und draußen am Futterhaus einer bunten Schar unserer gefiederten Freunde zuzuschauen, wie sie behände klettern, sich kopfüber an Meisenknödel oder Erdnussspender hängen und sich gütlich tun. Wenn man so viele von ihnen auf einmal sieht – all die Meisen, Finken und Ammern, Kleiber und Buntspecht, Rotkehlchen und Heckenbraunelle und im zeitigen Frühjahr die ersten Stare –, dann kann man sogar für eine Weile vergessen, wie entsetzlich unsere einst so herrliche artenreiche Vogelwelt inzwischen in unserer gebeutelten Natur zusammengeschrumpft ist. Und Freude kommt auf, wenn man sich vorstellt, wie die in eisiger Kälte lebenden Vögel das von uns angebotene Futter dankbar annehmen als Ersatz für das, was wir ihnen in unseren ausgeräumten Landschaften an Nahrungsgrundlage inzwischen alles weggenommen haben, und dass sie gottlob auch mit unserem Ersatzfutter durch die bitterkalten Winternächte kommen können.

Für viele von uns gänzlich unverständlich ist in letzter Zeit die Vogelfütterung so manchem vermiest worden durch Behauptungen, sie sei nicht nur unnötig, sondern häufig sogar bedenklich oder gar tödlich gefährlich. Das hat viele gutherzige Menschen verunsichert und große Ratlosigkeit hervorgerufen. Nun hat mein Freund und Mitstreiter in Sachen Naturschutz, Prof. Dr. Peter Berthold, sich der Sache angenommen. Als ehemaliger Direktor des Max-Planck-Instituts für Ornithologie, der Vogelwarte Radolfzell, ist er wie kaum ein anderer dazu berufen, die Probleme der Vogelfütterung zusammen mit seiner Frau ins rechte Licht zu rücken, zumal sie sich jahrzehntelang mit der Ernährung unserer Vögel, Bestandsveränderungen und praktischen Vogelschutzfragen intensiv beschäftigt haben. So ist ein wunderbares Buch entstanden, das auf den heute verfügbaren wissenschaftlichen Grundlagen aufbaut und eindeutig zeigt: Vogelfütterung – sowohl als Winterfütterung und besser noch als Ganzjahresfütterung – leistet, verantwortungsvoll durchgeführt, einen überaus wertvollen Beitrag zum Vogelschutz und zum Erhalt unserer Artenvielfalt. Deshalb wird die Heinz-Sielmann-Stiftung künftig auch die Vogelfütterung nachhaltig unterstützen.

Der vorliegende Ratgeber möge zweierlei bewirken: zum einen gutherzige Menschen in ihrem Bestreben, Vögeln durch Fütterung zu helfen, von ihren guten Taten wieder voll und ganz zu überzeugen und zum anderen für die Vogelfütterung und über sie viele neue Freunde der Natur zu gewinnen, damit wir das noch Vorhandene davon gemeinsam nachhaltig schützen und vielleicht sogar wieder vermehren können.

Herzlich

Ihr Heinz Sielmann

Vorwort von Heinz Sielmann zur 1. Auflage dieses Buches, 2005

© Fotonatur.de/Sönke Morsch

VÖGEL FÜTTERN – HEUTE ÜBERLEBENSWICHTIG

Als das Füttern wildlebender Vögel bei uns vor mehr als 200 Jahren gebräuchlich wurde, war es eigentlich unnötig. Vielleicht entwickelte es sich seinerzeit als Ausdruck einer gewissen Barmherzigkeit oder auch schlechten Gewissens, wenn man etwa im Winter allzu aufdringliche Spatzen vom Hühnerhof verjagte und damit in den Hunger trieb. Dabei hatten damals die meisten Vögel in noch weitgehend natürlichen Lebensräumen voller Insekten, mit Samen tragenden Kräutern und Stauden und reich mit Beeren behangenen Büschen überall ihr Auskommen. Zudem konnten Ausfälle in harten Wintern in der weitgehend intakten Natur bald wieder ausgeglichen werden.

Das traf auch noch überwiegend zu, als das Füttern um 1900 allmählich volkstümlich wurde. Dass es sich dann in einer Art Volksbewegung etablierte, hatte vor allem drei Gründe: Viele der sich der Natur durch Verstädterung entfremdenden Menschen erfreute es, wenn sonst scheue Vögel im Winter bis vor die Fensterscheiben an Futterstellen kamen und sich dort in aller Ruhe beobachten ließen. Lehrer und Erzieher erkannten den hohen Bildungswert von Futterhäuschen zur Bestimmung der diversen Vogelarten und fügten das Vögelfüttern (wie auch das Nistkästenbauen) flugs in ihre Lehrpläne ein. Und nicht wenige begannen auch damals schon Vögel zu füttern, weil sie das Gefühl hatten, damit der im Winter „notleidenden Kreatur“ Gutes zu tun als Ausgleich für das, was wir ihnen durch Vernichtung ihrer Lebensgrundlagen mehr und mehr wegzunehmen begannen.

Heutzutage gibt es neben Futterhäusern allerlei Futtersilos, mit denen sich viele Vogelarten gut versorgen lassen.© Frank Hecker

Ab den 1960er-Jahren hat das Zufüttern wildlebender Vögel einen ganz neuen Stellenwert bekommen: Es ist inzwischen – wie gezeigt wird – für viele Arten und Individuen absolut notwendige Überlebenshilfe geworden, wenn wir zumindest Restbestände vieler Vogelarten erhalten wollen.

Durch die Intensivierung der Landwirtschaft, die weitgehend Züge marodierenden Raubbaus angenommen hat, wird die „Kultur“-Landschaft bis auf Monokulturen von Nutzpflanzen regelrecht ausgeräumt, „Un“-Kräuter und „Un“-Geziefer werden mit Bioziden exterminiert, und was dieser Landbewirtschaftungs-Holocaust an Lebensraum für alle wildlebenden Tiere und Pflanzen nicht vernichtet – für Tiere wie Vögel vor allem auch an Nahrung – besorgen zudem Überbauung, Verkehr, Lichtverschmutzung, grenzenlose Freizeitaktivitäten und ähnliches. Einiges davon wird hier näher behandelt. Wer sich jedoch für die ganze Bandbreite dieser Faktoren interessiert, dem empfehlen wir das Buch von Peter Berthold, das 2017 erschien unter dem Titel „Unsere Vögel – warum wir sie brauchen und wie wir sie schützen können – Jeder Gemeinde ihr Biotop“33.

Es wäre sicher reizvoll, einmal in einem Fotowettbewerb festzuhalten, welche Akrobatik Buntspechte und andere Arten zum Futter führt.© Frank Hecker

Nachdem die Ernährungssituation für viele Vögel inzwischen so prekär geworden ist, dass sie zumindest ihre Jungen nicht mehr erfolgreich aufziehen können, hat Zufüttern nichts mehr mit Gefühlsduselei zu tun, sondern ist, wie wir sehen werden,

— ein absolut notwendiger, wertvoller und erfolgreicher Beitrag zum Arten- und damit zum Naturschutz,

— die derzeit einzig mögliche wirkungsvolle Soforthilfe für unsere Vögel und

— eine moralische Verpflichtung für jeden, der begriffen hat, dass wir intakte Natur und Artenvielfalt zum Überleben ebenso brauchen wie Nahrung, Wasser und Luft aus sauberer Umwelt.

Dass wir dabei von Ganzjahresfütterung sprechen – wie sie in aller Welt von England über Australien, Asien, Südafrika und die USA seit Jahrzehnten praktiziert wird –, und nicht nur von kärglicher Winterfütterung, versteht sich eigentlich von selbst. Zweifel daran werden vergehen, wenn klar wird, dass unseren Vögeln inzwischen Nahrung rund ums Jahr fehlt und dass ihr Energiebedarf im Sommerhalbjahr am größten und deshalb die Zufütterung zu dieser Zeit wichtiger ist als im Winter.

DER DRAMATISCHE RÜCKGANG DER VOGELWELT

80 % WENIGER VÖGEL SEIT 1800

Die „galoppierende Schwindsucht“, in der Vogelbestände in Deutschland und aller Welt derzeit schrumpfen, hat viele aufgeschreckt. Die jüngste Bilanz für unser Land: Seit 1800 ist die Siedlungsdichte von Vögeln in Deutschland um 80 % zurückgegangen! Wo früher einmal zehn Vögel gesungen haben, hört man heute nur noch zwei. Und niemand kann sagen, wie lange sie noch singen werden. Damit hat der „leise“ Frühling längst Einzug gehalten und der „stumme“52 steht nicht weit vor der Tür. Dazu detaillierte Angaben: Von den 268 Brutvogelarten Deutschlands sind zehn bereits ausgestorben, 141 oder 55 % nehmen im Bestand ab, 44 oder 17 % sind in etwa stabil und 73 oder 28 % haben (wieder) zugenommen. Bei den zurückgehenden Arten betrug die Bestandsabnahme in den letzten 25 Jahren bei 20 Arten mehr als 50 %, bei 36 Arten über 20 %. Diese Zusammenbrüche betreffen auch einst so kommune Arten wie Kiebitz, Schwalben, Feldlerche, Star, Sperlinge, Stieglitz oder Hänfling. Bedauernswerte Rekordhalter sind Rebhuhn und Seggenrohrsänger mit rund 95 % Abnahme seit 1950. In Zahlen bedeutet das: Von einst Millionen von Rebhühnern in unseren Feldfluren sind gerade ein paar Zehntausend übriggeblieben – bei dieser Art ist der Völkermord eingeleitet33, 97. Wie konnte es so weit kommen?

TROTZ FRÜHWARNUNG: HALBHERZIGE REAKTIONEN

Bis gegen 1800 war die Welt für unsere Vögel weitgehend in Ordnung. Die menschliche Landnahme hatte ab dem Mittelalter die artenarmen nacheiszeitlichen Wälder – mit nur rund 50 Vogelarten selbst in größeren Gebieten – aufgelockert und mit Feldern, Wiesen, Weinbergen usw. in eine strukturreiche Mosaiklandschaft verwandelt. In sie wanderten viele neue Tier- und Pflanzenarten aus Süden und Osten ein, bei den Vögeln Ammern, Lerchen und viele weitere Offenlandbewohner, was zur Blütezeit des Artenreichtums in unserem Land führte24, 34. In jener Zeit extensiver Landwirtschaft mit Feldern voller Wildkräuter, Brachflächen (Dreifelderwirtschaft), üppig blühenden Wiesen reich an Schmetterlingen, Wildbienen usw. konnte sich die Anzahl der Vogelarten etwa verdoppeln, und alle hatten zusammen mit uns ihr Auskommen.

Eine typische intensiv genutzte Wiese: keine Rede mehr von einem Meer bunter Blüten voller Insekten, und ob die Gräser die Samenreife erreichen, ist fraglich – hier gibt’s für Vögel kein Futter.© Bärbel Oftring

Aber bald kam die Wende. Bereits 1849 – so früh wie in keinem anderen Land – prangerte der Altmeister der Vogelkunde, Johann Friedrich Naumann, in seiner „Beleuchtung der Klage: Über Verminderung der Vögel in der Mitte von Deutschland“162 den bereits „starken“ Rückgang vieler Vogelarten an – bedingt v. a. durch Intensivierung der Landwirtschaft und beginnende Industrialisierung. Bald danach setzte Aktionismus ein: von staatlicher Seite Schutzverordnungen wie z. B. 1888 das „Reichsgesetz zum Schutze von Vögeln“, von privater Seite die Gründung von Schutzverbänden (1899 „Deutscher Bund für Vogelschutz“, heute NABU), dann die Entwicklung einer Naturschutzideologie, die 1935 zum „Reichsnaturschutzgesetz“ und inzwischen zur Einrichtung von fast 10 000 Naturschutzgebieten führte. Dabei entwickelte sich ein Wettlauf zwischen einerseits immer mehr Bestandsrückgängen bei Tieren und Pflanzen und andererseits zunehmenden Maßnahmen wie Erlassen, Gesetzen, Konventionen usw. – insgesamt Tausende, die aber nicht fruchteten. Sie arbeiten nämlich durchweg halbherzig nach dem Feuerwehrprinzip: versuchen zu löschen, wo es brennt, wurden aber nie vorausschauend präventiv.

So kam es, wie es kommen musste: Mit dem Wirtschaftsaufschwung und der Industrialisierung der Landwirtschaft gerieten wir ab den 1960er-Jahren in das Zeitalter des Artensterbens, das inzwischen katastrophale Ausmaße angenommen hat – in Deutschland wie in aller Welt.

HORRORSZENARIEN – ABER NOCH KEIN EINLENKEN

Für keine Region Deutschlands ist der Vogelrückgang nach dem Zweiten Weltkrieg besser dokumentiert als für das Dorf Möggingen am Bodensee. In dem Buch „Mein Leben für die Vögel und meine 60 Jahre mit der Vogelwarte Radolfzell“ hat Berthold (2016)32 beschrieben, wie dort bis in die 1960er-Jahre die Welt noch in Ordnung war und wie es der Vogelwarte Radolfzell nach ihrer Umsiedlung aus Rossitten 1946 ein Paradies mit unglaublich reichhaltiger Vogel-, Tier- und Pflanzenwelt bescherte. Die akribischen Aufzeichnungen der Vogelwartemitarbeiter ermöglichten eine einmalige Analyse der Bestandsentwicklungen von 1946 bis 200326, die ergab: Von ehemals 110 Brutvogelarten sind 35 % ganz verschwunden oder brüten nur noch unregelmäßig, weitere 20 % nahmen im Bestand ab, und nur etwa 10 % zeigten Bestandszunahme oder haben sich neu angesiedelt. Auf einer Probefläche von 4 km24 war die Individuenzahl von ursprünglich rund 3300 Vögeln auf 2100 zurückgegangen und die Vogel-Biomasse von einst ca. 240 kg auf nur noch 150 kg. Hauptursache war damals schon starke Abnahme der verfügbaren Nahrung – bei Heuschrecken und Wildkräutersämereien von etwa 90 %. Derzeit verschwinden weitere Brutvögel aus Möggingen: Rauchschwalbe, Gartenrotschwanz und Grauschnäpper, und weitere werden folgen.

Fangzahlen von 35 Vogelarten der Bodensee-Fangstation der Vogelwarte Radolfzell: Die Gerade zeigt eine jährliche Abnahme von rund einem Prozent an.© Frank Hecker

Seit 1965 nimmt auch bei der häufigen Kohlmeise der Bruterfolg in England langsam, aber stetig ab. Ursache dafür ist vor allem Futtermangel: Für die Aufzucht fehlen mehr und mehr die Insekten.© Frank Hecker

Einen derartigen Vogelschwund von rund 1 % pro Jahr hatte auch die von der Vogelwarte Radolfzell von 1972 bis 2005 durchgeführte „Volkszählung“ an 35 Kleinvogelarten aufgedeckt21, 27. Obwohl sie bereits 1987 unter dem Motto „Der stille Einzug des ‚stummen Frühlings‘“ zu einer ausführlichen Pressemitteilung der Max-Planck-Gesellschaft führte, über die fast alle Zeitungen in Deutschland berichteten33, blieben wirksame Maßnahmen zur Eindämmung des Artensterbens aus. Der schleichende Verlust der Biodiversität wurde „übersehen“ wie alle sich anbahnenden katastrophalen Ein- und Umbrüche in unserer Umwelt: Klimaerwärmung, Wasserverknappung, Überfischung der Weltmeere usw. Die Gründe dafür liegen im Verhalten unserer egozentrischen Homo-horribilis-, Homo-imperfectus- und Homo-suizidalis-Gesellschaft33. Viele Bürger sind der Meinung, sie könnten doch nichts dagegen ausrichten, Politiker – fast durchweg eingebuttert in Wohltaten von Lobbyisten – haben nahezu immer „Wichtigeres“ zu tun, als für Umweltzwecke einschneidende Maßnahmen zu verhängen, die Wählerstimmen und damit ein angenehmes Leben kosten, Bio-Wissenschaftler forschen zumeist lieber weiter, um noch „genauere“ Unterlagen zu bekommen, als sich durch Anklagen unbeliebt zu machen, und selbst die Naturschutzverbände gefallen sich zumeist mehr im Feiern kleiner Teilerfolge als wirkungsvollen Feldzug gegen die Naturvernichtung zu führen, vor allem auch, um Zuschüsse und Privilegien nicht zu gefährden. So kam es, dass selbst „Allerweltsarten“ wie die einst als Pestvögel verfemten Spatzen heutzutage dahinschrumpfen, sodass wir derzeit für keine einzige Vogelart mehr sagen können, ob sie in einigen Jahrzehnten noch bei uns heimisch sein wird.

Mit zunehmender Verstädterung erscheinen auch Ringeltauben – unsere größten heimischen Wildtauben – an Futterplätzen.© Fotonatur.de/Sönke Morsch

ALLERWELTSARTEN VERSCHWINDEN: NOCH KEIN ALARM

Hätte man vor 100 Jahren gefragt: Wenn die in Millionen von Individuen in unserem Land vorkommenden „Allerweltsarten“ wie Rebhuhn, Star, Rauchschwalbe, Feldlerche und Spatz aus unserer Umwelt „verschwänden“ – würde dann ein Aufschrei nach besserem Naturschutz aus der Bevölkerung kommen, hätten die meisten mit Sicherheit geantwortet: Die Frage ist unsinnig, aber wenn – dann ja, natürlich, absolut! Heute ist es bald soweit – alle die genannten Arten haben seither um 70 % und mehr im Bestand abgenommen, wurden noch bis in die 1960er-Jahre als Schädlinge an ihren Schlafplätzen mit Dynamit in die Luft gesprengt (Stare) oder bis in die 1970er-Jahre massenweise vergiftet (Sperlinge), ihre Bestände nehmen außerdem weiter z. T. rapide ab, und es ist völlig offen, wie lange manche Arten bei uns überhaupt noch vorkommen werden. Völkermord an Vögeln ist das, was z. Z. vor unser aller Augen geschieht, und dennoch: nichts wirklich Einhalt Gebietendes passiert. Unsere „Verantwortlichen“ sprechen von „Biodiversitätskrise“, das Bundesumweltministerium hat 2015 eine „Naturschutz-Offensive 2020“ gestartet, die genauso wie alles andere Bisherige verpuffen wird33. Und dabei haben sie es zunehmend leichter: Unsere Heranwachsenden kennen größtenteils gar keine Rebhühner, Stare oder Feldlerchen mehr und jammern daher auch gar nicht um deren Verlust. Und wir in den Erziehergenerationen lassen sie in dem Glauben, dass sie all diese Arten und Artenvielfalt gar nicht brauchen, solange sie Essen, Kleidung, Freizeitgestaltung und – wenn’s sein muss – auch Arbeit haben. So ist das Dahinsterben von Allerweltsarten zwar katastrophal, aber noch lange nicht Katastrophe genug, um an Leib und Leben zu erfahren, wie sehr unser aller Überleben von Artenreichtum einschließlich vieler Vögel abhängt33. Und deswegen sind auch von unseren „Verantwortlichen“ noch lange keine Durchbrüche zu erwarten (wie bei der Verabschiedung von der Kernenergie in Deutschland, wozu mehrere Katastrophen verholfen haben). Was somit bleibt ist Selbsthilfe, und zwar von möglichst vielen von uns und so bald wie möglich. Bevor die aussichtsreichsten Wege dafür aufgezeigt werden, zunächst noch ein Blick über die Vögel hinaus.

Das Rebhuhn – einst zu Millionen in unseren Feldfluren – steht jetzt kurz vor dem Aussterben. Intensive Landwirtschaft hat es praktisch aus ihrem Lebensraum regelrecht „herausgehungert“.© Alfred Limbrunner

Unsere Feldlerchen nehmen dramatisch im Bestand ab – vielleicht gelingt es im Laufe der Zeit, ihnen an Futterstellen im Außenbereich zu helfen.© Rudolf Schmidt

ARTENSCHWUND BEI ALLEN MITLEBEWESEN IN ALLER WELT

DIE „ROTEN LISTEN“: ABGRÜNDE TUN SICH AUF

Seit den 1970er-Jahren werden gefährdete Arten systematisch in sogenannten „Roten Listen“ erfasst. Und da Bestandsrückgänge bei Tieren und Pflanzen rasant Fahrt aufnahmen, hat Jedicke ihre Flut – über 350! – bereits 1997 für Deutschland in einem gut 580 Seiten dicken Buch „Die Roten Listen – Gefährdete Pflanzen, Tiere, Pflanzengesellschaften und Biotoptypen in Bund und Ländern“118 zusammengefasst. In seiner Übersicht – „wie ein Bericht aus einem Gruselkabinett“33 – reichten die Prozentsätze gefährdeter Arten damals von 90 % bei Armleuchteralgen über 86 % bei Reptilien, 72 % bei Fischen, 67 % bei Amphibien, rund 60 % bei diversen Insekten, Flechten und Säugetieren und über etwa 50 % bei Vögeln, Schnecken, Muscheln und Moosen bis zu etwa 30 % bei Pilzen, Farn- und Blütenpflanzen. Heute – 20 Jahre später – sind die Listen allesamt länger geworden, sie sind röter denn je, und bei keiner der von Biologen klassifizierten Gruppen gelang es, den Artenrückgang zu stoppen oder gar umzukehren. Bescheidene Erfolge gibt es nur bei einzelnen Arten wie etwa Biber, Wolf und Luchs, für Vögel siehe unten.

Eine Übersicht über die gesamte Biosphäre der Erde geben die „Roten Listen“ der IUCN (Weltnaturschutz-Union), die jedes Jahr auf den neuesten Stand gebracht werden. Dafür erfassen Zehntausende von Experten weltweit fortlaufend Daten stichprobenartig von an die 100 000 Tier- und Pflanzenarten, bei den Vögeln werden von BirdLife International alle rund 10 000 Arten einbezogen. Das Hauptergebnis: Weltweit sind z. Z. rund 40 % aller bekannten Tier- und Pflanzenarten im Fortbestand gefährdet, mit Jahr für Jahr zunehmender Tendenz. Die Befürchtung vieler Biologen lautet: Bis etwa 2030 könnte etwa jede fünfte bekannte Art auf der Erde aussterben, bis 2050 sogar jede dritte. Das einst im Naturschutz vorbildliche Deutschland liegt inzwischen im Hinblick auf den weltweiten Artenrückgang mit seinen Nachbarländern in einer Region mit überdurchschnittlichem Ausmaß33.

Dieser Mittelspecht wurde mit Fettfutter in einer Rindenspalte angelockt.© Rudolf Schmidt

FATAL FÜR VÖGEL: DAS WEGSTERBEN DER INSEKTEN

„Seht die Vögel, sie arbeiten nicht, sie mühen sich nicht ab, und Gott ernährt sie doch“ (Matthäus 6, 26 ff) – das war einmal!

Ältere Autofahrer erinnern sich: Wenn man bei uns bis in die 1960er-Jahre im Sommer mit dem Auto unterwegs war, musste man spätestens beim Tanken die Windschutzscheibe gründlich reinigen – sie war regelmäßig zugekleistert durch Unmengen von aufgeprallten Insekten. Heute ist das kein Thema mehr. Ebenso sind die Myriaden von Fliegen, die früher Kuhställe und Küchen auf Bauernhöfen bevölkerten, Geschichte. Und wenn man bis gegen 1970 an Sommerabenden Licht im Zimmer anknipste, bevor die Fenster geschlossen wurden, tanzten im Nu Nachtfalter um die Lampen, heute erscheint meistens kein einziger mehr. Ebenso umschwirrten abends Insektenschwärme die Straßenlampen, um die herum oft Fledermäuse und Igel Beute machten – heute kaum noch vorstellbar. Insekten haben demnach stark abgenommen – und nicht nur Schmetterlinge über den heutzutage meist blumenlosen Wiesen. In der Tat! 2015 teilte der Entomologische Verein Krefeld Ergebnisse mit, die Mitarbeiter in Nordrhein-Westfalen zwischen 1989 und 2014 an über 80 Probestellen ermittelt hatten: In nur 25 Jahren Rückgang der Biomasse der untersuchten Fliegen, Falter, Bienen, Wespen, Käfer, Heuschrecken usw. um bis zu 80 % – katastrophal, nahezu unfasslich!

Der altbewährte Meisenring – hier mit Blaumeise – aus den Anfängen der Vogelfütterung ist nach wie vor beliebt.© Frank Hecker

Viele weitere Untersuchungen zeigen, dass diese Größenordnung des Insektensterbens inzwischen auf unser ganzes Land zutrifft. Wie gravierend der weltweite Insektenschwund inzwischen fortgeschritten ist, lassen Buchtitel erahnen wie „Unsere Welt ohne Insekten? – Ein Teil der Natur verschwindet“.145 Das damit verbundene Bienensterben lässt erste Überlebensängste für die Menschheit aufkommen: Bestäubung von Nutzpflanzen von Hand – wie bereits in Kalifornien und China praktiziert – dürften kaum ausreichen, um künftig Milliarden von Menschen zu ernähren. Ein Teil der Hauptursachen des Insektensterbens wäre schwer zu beheben: Lichtverschmutzung, Klimaerwärmung, Zunahme von Krankheiten, ein anderer eher: die Anwendung besonders gefährlicher Biozide wie der Neonikotinoide. Vielleicht werden uns Katastrophen im Bereich der menschlichen Ernährung bedingt durch fortschreitendes Bienensterben dazu verhelfen, diese Killer-„Neonics“ aus der Landwirtschaft wieder loszuwerden wie einst das DDT33.

Für uns ist festzuhalten: Durch Verschiebungen des Auftretens bestimmter Insekten infolge der Klimaerwärmung und wegen des inzwischen akuten Insektenmangels geht Vögeln zunehmend ihr Futter aus. Sie müssen v. a. bei der Jungenaufzucht „sparen“, haben Probleme Eier auszubilden oder brüten gar nicht mehr33, 92 – und damit geht der Bruterfolg bei vielen Arten laufend zurück (in Großbritannien bei 21 von 24 Arten8, aber auch in Deutschland, soweit Untersuchungen vorliegen150, und selbst bei Arten wie der Kohlmeise95, 132. Da bekommt Zufütterung unserer Vögel im Sommer ganz neue hochgradige Bedeutung!

Kohlmeisen-Männchen mit Insekten: Auch bei diesen robusten Allesfressern sterben jetzt häufig die Jungen im Nest wegen Futtermangel.© Frank Hecker

Gartenrotschwanz-Weibchen mit Insekten: Glück gehabt – vielerorts finden Vögel heute nicht mehr ausreichend Insekten für die Aufzucht.© Frank Hecker

… UND EBENSO: DER VERLUST AN SÄMEREIEN

In der letzten Auflage von „Vögel füttern …“ hatten wir dargelegt: Allein in den Weizenfeldern Deutschlands sind seit den 1950er-Jahren rund eine Million Tonnen an Sämereien von Wildkräutern verloren gegangen – ausgerottet durch Herbizide. Rechnet man die entsprechenden Verluste an Wildkräutersamen in Mais-, Gerste-, Hafer- und sonstigen Getreidefeldern sowie Kartoffel-, Rüben- und anderen Äckern hinzu, beträgt die Menge etliche Millionen Tonnen. Dazu kommt, dass früher Gräser und Blütenpflanzen in den Wiesen Samen ausbilden konnten, da sie damals vielfach nur zweimal im Jahr (zur Heu- und Öhmdgewinnung) geschnitten wurden. Deshalb konnten seinerzeit die sogenannten „Heublumen“ (das übrig gebliebene Feinmaterial auf den Heuböden) sowohl zur Neuansaat von Wiesen als auch als Vogelfutter verwendet werden. Auch davon ist durch das bis zu fünfmalige Mähen der Wiesen im Jahr fast nichts übriggeblieben. Was für ein Nahrungsverlust für Vögel wie Rebhühner, Ammern, Lerchen u. a.! Setzt man für alle Feldfluren und Wiesen Deutschlands bis gegen 1950 insgesamt nur 10 Millionen Tonnen Wildkräuter- und Grassamen pro Jahr an, dann hätten bei den 300 Millionen Vögeln, die damals unser Land noch besiedelt haben, für jeden Vogel reichlich 30 kg Sämereien als potenzielles Futter zur Verfügung gestanden! Heute liegt dieser Wert nahe bei null. Auch daraus ist für jedermann ersichtlich, wie sehr Zufütterung unserer Wildvögel inzwischen nottut!

Ein weiterer Verlust ist zu beklagen: Bis in die 1980er-Jahre unterhielt die Jägerschaft Zehntausende von Futterschütten für Fasane und Rebhühner im Land, die auch von vielen Kleinvögeln genutzt wurden. Mit dem flächendeckenden Wegsterben dieser Arten ist auch diese Quelle fast völlig versiegt.

Stieglitze oder „Distelfinken“ an Sumpfkratzdistel: Wie viele Stieglitze bekommen heute kaum noch Disteln zu Gesicht und suchen mühsam Ersatzfutter!© Frank Hecker

LÄSST SICH DER ARTENRÜCKGANG STOPPEN?

ANALYSE DER URSACHEN

Um abschätzen zu können, ob sich nach 200 Jahren Dauermisere der Artenrückgang doch noch stoppen ließe, müssen die Ursachen der Biodiversitätskrise genau analysiert werden. Zweifellos ist das Hauptübel für die Rückgänge die Massenvermehrung des Menschen – und die ist nicht umkehrbar. Aber viele Menschen müssen nicht per se Mitlebewesen verdrängen, wie ein Vergleich der Großräume China (geringe Biodiversität) und Indien (großer Artenreichtum) zeigt33. Entscheidend für Artenreichtum ist vielmehr unser Umgang mit der Natur. Die schlimmsten Faktoren für den Rückgang sind direkte Verfolgung, v. a. durch übermäßige Nutzung (etwa die Überfischung der Meere, Wilderei in reduzierten Tierbeständen usw.), intensive Landwirtschaft auf der Basis reiner Monokulturen, Verbauung und Verkehr, Umweltverschmutzungen und Freizeitaktivitäten. Das sind Schwergewichte, die sicher nicht einfach zu „beheben“ sind33.

Ein offenes Futterhaus im Landhausstil – beliebt bei Feldsperlingen und vielen anderen Arten – muss vor Regen und Schnee sicher stehen.© Alfred Limbrunner

Hilfreich könnte sein zu erkunden, welche Arten in unserer für Mitlebewesen schwierigen Zeit nicht im Bestand ab-, sondern zunehmen und wo genau deren Vorteile liegen. Bei den Brutvögeln Deutschlands sind es z. Z. 73 Arten (28 %), deren Bestände ansteigen. Dabei handelt es sich v. a. um vier Gruppen von Arten:

1. einige Greifvögel wie z. B. Seeadler, Wanderfalke und Uhu, die von nachlassender Verfolgung, Ausbürgerung, Horstbewachung, günstigem Nahrungsangebot einschließlich Zufütterung u. a. profitieren,

2. Wasservögel wie Schwäne, Gänse- und Entenarten, die u. a. von der Zunahme an pflanzlicher Biomasse im Zuge der Intensivierung der Landwirtschaft und der Klimaerwärmung begünstigt werden,

3. „Allesfresser“ wie Möwen und Rabenvögel, denen Abfälle unserer Wohlstandsgesellschaft zugutekommen sowie

4. Neozoen und Zuwanderer, die günstige Nischen der heutigen Umwelt nutzen können.

Die meisten dieser Arten profitieren von günstigen Ernährungssituationen, die ihnen menschliche Umweltveränderungen bieten. Am schlechtesten sind diejenigen Vogelarten dran, die überhaupt oder für die Jungenaufzucht stark von Insekten abhängig sind und zudem als Zugvögel mit einer ganzen Reihe von Lebensräumen zurechtkommen müssen.

RE-ÖKOLOGISIERUNG: EINE UTOPIE

Immer wieder fordern Umweltschützer, man müsse „einfach“ die Landwirtschaft wieder re-ökologisieren, dann würde sich bald wieder Artenvielfalt einstellen. Das ist zwar richtig (wie das Beispiel „Land des Friedens“ zeigt33), aber völlig utopisch. Der große Druck auf unsere Feldfluren, an Lebensmitteln herauszuwirtschaften, was nur möglich ist, hat sich weiter erhöht durch die Energiewirtschaft, die nun ebenfalls Böden zur Bioenergieproduktion beansprucht. Und dieser Druck wird weiter steigen, allein schon dadurch, dass wir bei weiter zunehmender Weltbevölkerung jährlich rund 0,5 % der weltweit verfügbaren Anbauflächen durch Überbauung, Erosion, Versalzung sowie Meeresspiegelanstieg verlieren47. Und selbst wenn ganz Deutschland zu nachhaltiger (biologisch-dynamischer) Landbewirtschaftung zurückkehren würde, bliebe die immer noch so intensiv, dass sich die Artenvielfalt unserer Feldfluren nur mäßig erholen könnte, wie viele Beispiele zeigen55. Abgesehen davon, dass derartige Entwicklung nicht zu erwarten ist, würde sie Jahrzehnte dauern – für viele Arten zu lange, um zu überleben. Nach mehr als 30 Jahren angestrengten Nachdenkens und Ausprobierens sehen wir derzeit drei mögliche Maßnahmen, mit denen wir vielen Tier- sowie Pflanzenarten zum Überleben verhelfen können – mittelfristig, kurzfristig und sofort.

1. HILFE MIT LÄNGEREM ANLAUF: EIN NEUER BIOTOPVERBUND

Da eine Reökologisierung unserer landwirtschaftlich genutzten Flächen („zurück zu naturnaher Kulturlandschaft“) aus genannten Gründen nicht mehr realisierbar ist, haben Peter Berthold und Mitarbeiter 198822 ein neues Konzept zum Erhalt und zur Wiederbelebung der Artenvielfalt vorgeschlagen: die Schaffung neuer Biotope im Umfeld aller Gemeinden Deutschlands durch Renaturierung von ca. 10 % der Fläche, wodurch ein Biotopverbund mit über 10 000 neuen Siedlungen für wildlebende Tiere und Pflanzen entstünde. Um das Konzept zu testen, wird ab 2004 in einem Großversuch der „Biotopverbund Bodensee“ auf über 500 km2 Fläche geschaffen. Die inzwischen über 130 fertiggestellten Projekte zeigen verblüffende Erfolge, hohe Akzeptanz in der gesamten Öffentlichkeit und sind damit Schrittmacher für eine bundesweite Kampagne, die 2017 unter dem Motto „Jeder Gemeinde ihr Biotop“ angelaufen ist33, 31. Ein solches Projekt kostet natürlich viel Geld – über eine Milliarde Euro, das jedoch zu beschaffen ist33. Aber es braucht auch Jahrzehnte für seine Umsetzung. Und obwohl es den meisten unserer Arten helfen könnte, sich zu stabilisieren oder zu erholen, wird es für viele Arten zu spät kommen. Ein derartiger Biotopverbund ist für die mittlere Zukunft sicher der bestmögliche realistische Weg zum Erhalt von großem Artenreichtum, aber er erlaubt nur mäßig schnelles Vorankommen.

Mancher wird sich fragen: Brauchen wir für den Erhalt von Artenvielfalt wirklich neue Biotope in einem bundesweiten Verband – haben wir dafür nicht bereits die Naturschutzgebiete? Eigentlich ja – inzwischen in Deutschland fast 10 000 auf knapp 4 % der Landesfläche –, aber: Sie sind generell zu klein, beherbergen zu kleine, nicht überlebensfähige Populationen, liegen zu weit auseinander, werden trotz Schutzstatus viel zu intensiv genutzt, auch als Rummelplätze für die Bevölkerung, sodass ihre Benotung im Schnitt bei ungenügend liegt33.

Trotz seiner erheblichen Körpergröße kann sich der Grauspecht auch geschickt an Meisenknödel hängen.© Andreas Donath

2. SCHNELLERE HILFE: NATURNAHE GÄRTEN

Große Hilfe für den Erhalt von viel Artenvielfalt wäre, würden die uns zur Verfügung stehenden Gärten durchweg naturnah gestaltet. Natürlich ist auch das Utopie, aber schon das denkbar Machbare ist verheißungsvoll. Würde nämlich nur ein Zehntel der rund 15 Millionen Haus- und Schrebergärten in Deutschland (insgesamt rund 15 000 km24 – etwa 4 % der Landesfläche) folgendermaßen ausgestattet: mit naturnaher Bepflanzung, wie später beschrieben, einer Ganzjahres-Futterstelle für Vögel, ausreichend Nisthilfen und möglichst frei von Katzen, dann könnten darin nach unseren Ermittlungen bis zu 30 Millionen Brutpaare von Singvögeln, Spechten u. a. nisten33 – das entspricht etwa der Hälfte der derzeit in Deutschland lebenden Vogelindividuen. Eine fantastische Perspektive, die eigentlich Scharen von Vogelfreunden ermuntern sollte, ihre „Psychopathen“-Rasen in naturnahe vogel- und allgemein tierfreundliche Oasen umzugestalten. Leider dauert auch ein solcher Garten-Umbau Jahre und wird daher für viele Tiere zu spät kommen. Aber: Zu jeder Überbrückung gibt es eine Soforthilfe, wie im Folgenden beschrieben. Und bereits hier sei darauf hingewiesen, wie später belegt wird: Selbst ein noch so naturnah gestalteter Garten nützt Vögeln recht wenig, wenn er nicht eine Futterstelle mit ganzjährigem Futterangebot besitzt.

Kohlmeise an Erdnussfeeder – ein sehr beliebter und effektiver Futterspender© Frank Hecker

3. SOFORTHILFE: VÖGEL FÜTTERN – DAS GANZE JAHR

Da gibt es kein Wenn und kein Aber: Wer der jedes Jahr weiter schrumpfenden Vogelwelt in unserem Land erste Hilfe leisten will, kann das – selbst wenn er später mit besseren Maßnahmen aufwarten will – zunächst wirkungsvoll nur mit einer Futterstelle tun, die Vögel das ganze Jahr über mit Futter versorgt. Keine Frage: Wir erreichen damit längst nicht alle Vogelarten, manche wie Schwalben überhaupt nicht, aber sehr viele und Gott sei Dank auch (noch) recht häufige wie Meisen. Damit haben wir eine Chance, dass sie durch Zufütterung hoffentlich noch lange einigermaßen häufig bleiben. Und: Je länger Ganzjahresfütterungen betrieben werden, desto mehr Arten stellen sich ein und desto größer ist die Chance, dass sich Arten an Futterstellen gewöhnen und von ihnen zunehmend profitieren, wie z. Z. in England Birkenzeisig und Rotmilan, seit längerem Stieglitz (siehe hier) oder bei uns zunehmend Stare. Und noch eines ist wichtig: Wildlebende Vögel lassen sich auch bei bestem Futterangebot an Futterstellen nicht „durchfüttern“, sondern nur bei Bedarf unterstützen (siehe hier) – jedes, auch ganzjähriges, Füttern bedeutet daher immer „Zu“-Füttern.

Würden wir es schaffen, in Deutschland etwa alle zehn Kilometer eine Ganzjahresfutterstelle einzurichten, könnten wir damit mehrere Millionen Zufutter akzeptierende Vögel unterstützen, mit deutlich geringerem Abstand wahrscheinlich im Laufe der Zeit die meisten. Ein schönes, erstrebenswertes Ziel!

DIE GESCHICHTE DER FÜTTERUNG

HILFREICHE KUMPANEI

Futterbezogene Kumpanei zwischen Menschen und Vögeln hat sicher seit Urzeiten große Bedeutung gehabt. So wie heute noch Häher in nordischen Wäldern Lagerfeuer aufsuchen, um zu stibitzen, Kolkraben auch bei uns nach Schüssen von Jägern herbeieilen, um Aufbruch zu ergattern, haben Raben- und andere Vögel sicher urzeitliche Siedlungen und Jagden besucht, um Futter zu beziehen, aber auch unseren Vorfahren lästige Konkurrenten wie Bären und Wölfe angezeigt. Wann daraus systematisches Füttern wurde, wissen wir nicht, sicher jedoch schon vor vielen Jahrhunderten, und zwar zunächst vor allem zum Fang und Verzehr von Vögeln, wie viele Anleitungen zeigen1. So wie die Futterstelle als Anlocke zum Beutemachen startete, dienten auch die heutigen Nist-„Hilfen“ zunächst als „Startopf“, „Starmeste“ (von mästen) zur Fleischbeschaffung für „Starensuppe“ usw.77 Wann und wo erste Futterstellen zur uneigennützigen Zufütterung von Wildvögeln entstanden, lässt sich nicht mehr ermitteln. In Großbritannien wurden mindestens seit dem 16. Jahrhundert Essensreste in Gärten gestellt, damit sie von Vögeln genutzt werden konnten90