Auf dem Weg zu sich selbst - Verena Kast - E-Book

Auf dem Weg zu sich selbst E-Book

Verena Kast

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Beschreibung

Emotionen als Quelle der Lebendigkeit, Träume als Wegweiser, das Reifen am Du. Verena Kast umkreist Themen, die mit dem Abenteuer Selbstwerdung zu tun haben. Selbstwerdung, auch Individuation genannt, ist ein lebenslanger Prozess. Es geht darum, sich zu einem autonomen und gleichzeitig beziehungsfähigen Menschen zu entwickeln - der zu werden, der man wirklich sein kann. Mit zahlreichen Denkanstößen motiviert die renommierte Jung’sche Analytikerin und Psychotherapeutin die Leserinnen und Leser dazu, sich auf den Weg zu machen, die eigenen Potenziale zu entfalten.

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Haupttitel

Inhalt

Über die Autorin

Über das Buch

Impressum

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HAUPTTITEL

Verena Kast

Auf dem Weg zu sich selbst

Werden, wer ich wirklich sein kann

Patmos Verlag

Inhaltsverzeichnis

Einführung

Wachsen und sich entfalten: Individuation

Stagnation als Herausforderung

Autonomie – Mut zur Unsicherheit

Krisen als Wendepunkte

Öffnung nach innen

Therapie als Ermutigung zum schöpferischen Leben

Emotionen – Quelle der Lebendigkeit

Märchen und Träume – Wegweiser aus dem Unbewußten

Reifen am Du

Literaturhinweise

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Einführung

Ziel der Individuation ist es, der einmalige Mensch unter allen Menschen zu werden, der wir sein können. Werden wir das nicht von selbst, sozusagen automatisch, im Verlaufe des Lebens? Ist es nicht Folge unseres natürlichen Lebensprozesses, daß wir die werden, die wir ­eigentlich sind, daß wir im Verlauf unseres Lebens immer echter werden, immer authentischer – eben immer unverwechselbarer wir selbst?

Sicher gibt es solche Menschen, jeder und jede von uns mag einige dieser Originale kennen. Aber ganz so selbstverständlich ist das nicht. Wir wollen nicht nur das eigene Leben leben, wir wollen auch in vertrauensvollen Bindungen zu anderen Menschen stehen. Das bedeutet aber immer auch, daß wir uns auch an andere Menschen anpassen müssen, daß wir Kompromisse finden müssen. Bedenken wir nur, wie oft wir uns anpassen in unserem Leben. Natürlich ist das von uns allen immer wieder gefordert, doch können wir dies im Einklang mit uns selbst tun, wir können uns aber auch so anpassen, daß die daraus hervorgehende Haltung nicht mehr zu uns paßt. Wir haben uns dann selber verraten, sind uns untreu geworden. Je nachdem, auf welchem Lebensgebiet das sich ereignet, wird es mehr oder weniger große Folgen haben. Sind wir zum Beispiel Menschen, die die Stille und die Beschaulichkeit lieben, und haben wir uns entschlossen, genauso aktiv, so präsent und in ständiger Bewegung zu sein wie irgendein Vorbild, das vielleicht gesellschaftlich besser anerkannt ist – denn ein Vorbild hat man bei solchen Entschlüssen –, so werden wir diesen Lebensstil möglicherweise durchhalten, aber wir brauchen viel ­Energie dazu. Und manchmal passen wir uns zu sehr an, weil wir einem Menschen so sehr gefallen wollen, bis wir nicht mehr wissen, wer wir sind. Unser Lebensgefühl wird von diesem zu sehr uns Anpassen nachhaltig beeinflußt; beunruhigt uns das, spüren wir, daß wir nie ganz bei uns selbst sind; diese Erfahrung kann uns dazu bringen, unser Leben zu verändern. Bleiben wir jedoch in dieser Haltung stecken, so verändern wir uns kaum mehr und werden zu einer künstlichen Persönlichkeit.

Die Frage ist natürlich, in welchen Bereichen wir uns zu sehr anpassen. Haben wir uns bloß in der Kleidung ­einer Mode angepaßt, die für uns nicht stimmt, dann hat das wohl nur eine vorübergehende Wirkung auf unser Leben als Ganzes. Es ist ja nie nur etwas Bestimmtes, das zu einem paßt: In der Regel haben wir durchaus freie Optionen. Vieles an Haltungen, Stilen, Überzeugungen kann zu einem bestimmten Zeitpunkt sehr wohl im ­Einklang sein mit unserem Lebensgefühl – aber eben ­niemals alles. Und es gehört zum mensch­lichen Leben, daß wir immer neu herausfinden müssen, was wirklich für uns stimmig ist, und daß wir nicht mehr Stimmiges dann auch loslassen. Auch das gehört zum Individuationsprozeß.

Nun ist es nicht so, daß wir uns in jeder Situation bewußt entscheiden zu Haltungen und Verhalten, die – mehr oder weniger – Ausdruck unseres Wesens sind. Schon in der Kindheit wurden gewisse Seiten von uns mehr honoriert als andere, wurde bestimmtes Verhalten belohnt, anderes bestraft. Hatten die Erziehenden einen Blick und ein Gefühl für unsere Eigenart, war der Kompromiß zwischen unserer Persönlichkeit und den notwendigen Anpassungsaufgaben an die Gesellschaft ein durchaus zufriedenstellender: Wir wurden nicht zu sehr „verbogen“. Hatten aber die Erziehungspersonen wenig Sinn für unsere Eigenart oder waren sie stark beeinflußt von dem, was man tut, was man denkt, wie man sich zu benehmen hat, wurden wir wenig dahin geführt, die zu sein, die wir eigentlich sein könnten.

Zwei Aspekte der Individuation werden deutlich: Zum einen wissen wir in keinem Moment unseres Lebens abschließend, wer wir sind und wer wir sein können; zum anderen steht das Individuationsprinzip in ­steter Auseinandersetzung mit dem, was man in einer ­bestimmten Kultur von einem Menschen erwartet. Das, was man so tut und denkt, wie man zu fühlen hat, das entspricht gerade nicht dem Individuationsprinzip. Sich selbst werden heißt also zum einen, immer mehr herauszufinden, was denn eigentlich stimmig ist für uns, und zum anderen den Konflikt auszuhalten zwischen unseren persönlichen Bedürfnissen und den gesellschaftlichen Erwartungen. Es gehört zum Leben, daß wir unser eigenes Leben leben wollen, daß wir aber auch dazugehören wollen, es geht um Autonomie und Anpassung.

Individuation bedeutet, im gelebten Alltag zu entdecken, wer wir wirklich sind, was an ganz spezifischen Möglichkeiten in uns angelegt ist. Wir können unser ­eigenes Wesen kennenlernen, indem wir bewußt wahrnehmen, was besser, was schlechter zu uns paßt, und das können wir loslassen. Wir können aber immer wieder, und das ist aufregend, unbekannte Seiten in uns entdecken. Im Laufe unseres Lebens kommen wir immer wieder in Situationen, die uns überraschen, werden immer wieder Seiten an uns sichtbar, mit denen wir eigentlich nicht gerechnet haben. Wir haben viel uns Fremdes in uns, Unbewußtes, Ungewußtes – wir sind uns selber immer für Überraschungen gut. Dieses Unbekannte in uns kennenzulernen ist ein aufregender Erkenntnisprozeß. Oft wird er gerade durch Konflikte befördert, die uns zeigen, welche Seiten an uns im dunkeln liegen, welche Seiten entwickelt werden müssen.

C. G. Jung sah die Individuation als einen lebenslangen Prozeß der bewußten Auseinandersetzung des Ichs mit dem persönlichen und dem kollektiven Unbewußten einerseits und dem kollektiven Bewußtsein anderseits. Er sprach davon, daß dabei zum einen der Schatten des Menschen mehr und mehr bewußt wird, zum anderen die gegengeschlechtlichen Anteile im Menschen, Animus und Anima.

Bei der Bewußtwerdung des Schattens geht es darum, daß man die Seiten an sich entdeckt, die man bis anhin vor sich verbergen wollte, verdrängte und in der Folge bei anderen Menschen sah und bekämpfte. Den Schatten zu akzeptieren bedeutet, sich immer mehr zu sehen als ­einen Menschen im Spannungsfeld zwischen dem, was man sein möchte, und seinem Schatten, immer mehr auch Verantwortung für diese unangenehmen Seiten in sich zu übernehmen. Das hat zur Folge, daß man diese nicht mehr auf die anderen Menschen überträgt und sie ihnen anlastet. Dadurch wird unser Selbstbild realer, das Leben blutvoller und lebendiger.

Noch fremder als unsere Schattenseiten sind uns Anima und Animus – die Archetypen der geheimnisvollen Fremden und des geheimnisvollen Fremden –, die uns helfen, uns von den Elternkomplexen abzulösen, und zudem bei der Wahl des Partners oder der Partnerin eine wichtige Rolle spielen. Sie sind es auch, die die Annäherung an unsere Mitte ermöglichen, dem Leben die Dimensionen von Sinn und Sehnsucht vermitteln und uns letztlich zur Spiritualität führen können. Die Entwicklung verläuft in der Regel so, daß die Anima- und Animusgestalten zunächst noch deutlich von Vater- und Mutterkomplexen eingefärbt sind, sich aber nach und nach immer deutlicher in das Bild der geheimnisvollen Fremden oder des geheimnisvollen Fremden wandeln.

Die beschriebenen Prozesse brauchen ihre Zeit; und sie zeigen, daß Individuation einerseits ein Prozeß der Ablösung und Selbstwerdung ist, andererseits ein Weg zur eigenen Mitte und Tiefe. Es ist ein Annäherungsprozeß, der immer auch auf Korrigierbarkeit hin angelegt ist.

Gelegentlich wird Individuation auch als Weg zur größeren Ganzheit bezeichnet. Diese Ganzheit entspricht dem Selbst im Jungschen Verständnis, das weit über das Ichbewußtsein hinausgeht und die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft der Persönlichkeit umfaßt. Das Selbst wird auch verstanden als Antrieb und Sehnsucht zu einer lebenslangen Entwicklung, einer kontinuierlichen Auseinandersetzung zwischen dem Ich und dem Unbewußten hin zur angestrebten Ganzheit. Dies bedeutet natürlich nie die totale Verwirklichung des Selbst, das ist in unserem Menschsein nicht möglich. Ganzheit ist zu jeder Zeit etwas anderes. Sie kann dahingehend verstanden werden, daß immer mehr Aspekte der eigenen Persönlichkeit gesehen und gelebt werden können, daß immer mehr von dem, was zu leben ansteht, auch wirklich gelebt werden kann, daß wir immer echter, immer au­thentischer, immer mehr wir selbst werden können. Das heißt aber auch, daß wir Widersprüche in unserer Persönlichkeit besser auszuhalten vermögen, daß wir uns trotz Widersprüchen nicht zerrissen fühlen, sondern als ein Mensch, der sich dennoch als Einheit erfährt. Es heißt weiter, daß wir Treue zu unseren Gefühlen und Emo­tionen entwickeln, überhaupt immer mehr entdecken, welche Gefühle wir im gegebenen Moment haben, und daß wir unsere echten Gefühle von denen unterscheiden lernen, die wir glauben „haben zu müssen“.

Der Individuationsprozeß, wie wir Tiefenpsychologinnen und Tiefenpsychologen ihn verstehen, gründet auf einer Haltung, die in der Therapie erlernt werden kann: Den Äußerungen des Unbewußten, wie sie eben beschrieben wurden, wird bewußt Aufmerksamkeit geschenkt; das heißt, wir beschäftigen uns mit Symbolen in Träumen, Märchen, Bildern etc., mit Emotionen, vor allem aber auch mit Erfahrungen in Beziehungen, denn in der Auseinandersetzung mit dem Du zeigt sich sehr viel von unserer unbewußten Psyche.

In Symbolen werden häufig die jeweils anstehenden Themen an das Bewußtsein herangetragen, und in der schöpferischen Auseinandersetzung mit ihnen ent­wickelt sich die Persönlichkeit. Da die Individuation ein schöpferischer Prozeß ist, kann sie auch mit Me­thoden, die das Schöpferische fördern, unterstützt werden.

In der Jungschen Psychologie nehmen wir nicht nur sorgfältig alle Symbole wahr und gehen mit ihnen therapeutisch um, wir sehen zugleich die Alltagswirklichkeit immer auch in ihrem symbolischen Verweisungszusammenhang. Das Symbolverständnis bei Jung ist ganz und gar von der Vorstellung getragen, daß der Psyche ein Drang innewohnt, sich zu entwickeln. Krank werden wir dann, wenn wir diesen Drang nicht mehr aufnehmen können. Mit diesem Entwicklungsgedanken verbunden ist die Überzeugung, daß alles Leben eine verborgene Zielgerichtetheit hat. Wir sind damit einem Menschenbild verpflichtet, das den Menschen in einem umfassenden Sinnzusammenhang sieht, zu immer neuer schöpferischer Wandlung aufgerufen. Wir sind zudem ­einem Selbstverständnis verpflichtet, für das alles Geschehen noch eine Dimension über das Offensichtliche hinaus hat und deshalb geheimnisvoll bleibt.

Das Wissen um den Individuationsprozeß kann für das Leben eines jeden zu einem wichtigen Anstoß werden – denn es ist ein großes Lebensziel, daß, wie Fromm es formuliert, der Mensch geboren werden sollte, bevor er stirbt, daß wir also nicht als Kopien unser Leben ­fristen, sondern als die, die wir sein können, unseren ­unverwechselbaren Beitrag in unser Leben einbringen.

Frau Marianne Schiess hat aus meinen Büchern Stellen zusammengetragen, die sich mit dem Individua­tionsprozeß auseinandersetzen und zum Nachdenken und Nachfühlen anregen. Ich bin ihr sehr dankbar sowohl für die Anregung zu diesem Buch als auch für die Auswahl der Texte.

Ich bedanke mich beim Patmos Verlag und vor allem bei Frau Christiane Neuen dafür, daß dieses Büchlein wieder neu aufgelegt wird.

Verena Kast

Wachsen und sich entfalten: Individuation

Ganzwerden ist eine Utopie. Wir sind bestenfalls auf dem Weg.

Ziel des Individuationsprozesses ist es, daß man zu dem Menschen wird, der man eigentlich ist. „Werde, der du bist“, so sagte schon Pindar, die Idee ist also nicht neu. Aristoteles betonte, daß jedes Erschaffene in sich die nur ihm eigene Gestalt enthält und daß das Leben zu dieser eigenen Gestalt hinführen soll. Das heißt, daß die Fülle unserer Lebensmöglichkeit zu einem großen Teil er­lebbar werden kann, daß sichtbar werden kann, was in uns – und vielleicht eben nur in uns – angelegt ist.

Der Individuationsprozeß ist in diesem Sinne ein Differenzierungsprozeß: Die Besonderheit eines Menschen soll zum Ausdruck kommen, seine Einzigartigkeit. Dazu gehört ganz wesentlich das Annehmen von sich selbst mit den jeweils damit ver­bundenen Mög­lichkeiten, aber auch den Schwierigkeiten – wobei gerade die Schwierigkeiten wesentlich sind, sie machen ja unsere Besonderheit weitgehend aus. Das Annehmen von sich selbst, samt den Möglichkeiten und den Schwierigkeiten, ist eine Grundtugend, die im Individuationsprozeß verwirklicht werden will.

Selbstwerdung darf nicht so gesehen werden, daß sie die Mitwelt ausklammert, sondern Selbstwerdung, Selbst­gestaltung ist immer auch Beziehungsgestaltung. Dabei meint Beziehungsgestaltung keineswegs, daß unser Mitmensch „nur“ als Projektionsträger oder Projek­tionsträgerin uns nützlich sein kann. Selbstverständlich finden gerade in Beziehungen sehr viele Projektionen statt, begegnen wir in der Beziehung zu einem anderen Menschen sehr oft uns selbst, denn Archetypen beleben nicht nur Beziehungen, sondern Beziehungen beleben auch Archetypen. Das gehört nach meiner Vorstellung zu einer Ich-Du-Beziehung, die nicht von allzu vielen Projektionen verzerrt ist.