Vaterkomplexe – Mutterkomplexe - Verena Kast - E-Book

Vaterkomplexe – Mutterkomplexe E-Book

Verena Kast

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Beschreibung

Tief verwurzelte Beziehungsmuster, geprägt durch Erfahrungen mit unseren Eltern, wirken oft bis ins Erwachsenenleben und beeinflussen Beziehungen und Selbstbild. Sich von diesen Mustern zu lösen bedeutet, die eigene Identität zu finden und alte Verhaltensweisen abzulegen. Verena Kast zeigt, dass dieser Prozess gelingen kann und dass es sich lohnt, ihn zu wagen – für ein authentisches und erfüllendes Leben.

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Seitenzahl: 340

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, Rohrdorf

Umschlagmotiv: © Sundaland / GettyImages

E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe

ISBN Print 978-3-451-03535-7

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83742-5

ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-03535-7

Inhalt

Einleitung

»Ich will alles anders machen«

Die altersgemäße Ablösung

»Es hat keinen Sinn, sich einzusetzen«

Komplexe und das Episodengedächtnis

»Die Welt muss jemanden wie mich genießen«

Der ursprünglich positive Mutterkomplex des Mannes

»Man kann fast alles im Leben ertragen, wenn man gut gegessen hat«

Der ursprünglich positive Mutterkomplex bei Frauen

Leben und leben lassen

Das Typische an den ursprünglich positiven Mutterkomplexen

Aggression und Klage

Entwicklung aus dem ursprünglich positiven Mutterkomplex

»Stolzer Vater – wunderbarer Sohn«

Der ursprünglich positive Vaterkomplex des Sohnes

Aufmerksame Töchter

Der ursprünglich positive Vaterkomplex bei Frauen

»Ein schlechter Mensch in einer schlechten Welt«

Der ursprünglich negative Mutterkomplex bei Frauen

»Wie gelähmt«

Der ursprünglich negative Mutterkomplex beim Mann

»Niedergestampft zum Nichts«

Der ursprünglich negative Vaterkomplex des Mannes

»Eigentlich tauge ich nichts«

Der ursprünglich negative Vaterkomplex bei der Frau

Landnahme im unbekannten Land

Schlussfolgerungen

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Stichwortregister

Über dieses Buch

Die Autorin

Danksagung

Ich möchte an dieser Stelle all den Menschen danken, die es mir ermöglicht haben, unendlich viele Facetten von Mutter- und Vaterkomplexen kennen zu lernen. Ganz besonders danke ich denen, die mir erlaubt haben, die Wirkungsgeschichten ihrer Komplexe als Grundlagen für dieses Buch zu verwenden.

Einleitung

Dass Menschen Mutter- und Vaterkomplexe »haben«, ist unterdessen verbreitetes allgemeines psychologisches Wissen geworden. Sucht etwa ein Mann immer wieder eine Mutter in seinen Freundinnen, oder sucht er direkt mütterliche Freundinnen, dann steht die Diagnose für die meisten Mitmenschen fest: Der Mann leidet an einem Mutterkomplex. Gemeint ist damit, dass sich dieser Mann irgendwie nicht altersgemäß aus seiner Bindung an die Mutter gelöst hat, dass er auf einer früheren Entwicklungsstufe stecken geblieben ist, oder dass er einfach ein Mensch ist, der immer eine »Mutter« braucht. Es ist ebenfalls Allgemeinwissen, dass daran etwas nicht ganz richtig ist. Man spricht dann auch von Muttersöhnchen. Ähnliches gilt auch vom »fils à papa«, dem Sohn, der zu lange Sohn seines Vaters bleibt. Allerdings zeigt uns schon der noch eher vornehme Ausdruck, dass der Vaterkomplex des Sohnes in unserer Gesellschaft als weniger problematisch angesehen wird. Zeigt eine Frau eine Vorliebe für Männer, die wesentlich älter sind als sie selbst, dann attestiert man ihr einen Vaterkomplex und wirft ihr damit leise vor, sich nicht vom Vater abgelöst zu haben. Bleibt sie über die Zeit hinaus bei ihrer Mutter oder kopiert sie den Lebensstil ihrer Mutter zu auffällig, dann sagen die Menschen, die sich durch dieses Verhalten benachteiligt fühlen, die Frau leide an einem Mutterkomplex. Möglicherweise fällt dieser Komplex aber gar nicht unliebsam auf.

Es scheint sich auf den ersten Blick bei diesen zwei grundlegenden Komplexen um einen ganz einfachen Sachverhalt zu handeln, der natürlich damit zusammenhängt, dass die meisten Menschen von Mutter und Vater erzogen und geprägt werden, beziehungsweise dass das Fehlen des einen oder des anderen in unserer Gesellschaft deutlich vermerkt und bemängelt wird. Dieses Konzept, das auf den ersten Moment so selbstverständlich scheint, so griffig auch, ist ein sehr kompliziertes Konzept, das – und das suggeriert schon das Allgemeinwissen – in einem direkten Zusammenhang steht mit der Entwicklung eines Menschen. Der Ich-Komplex eines Menschen muss sich »altersgemäß« von den Mutter- und Vaterkomplexen ablösen, soll der Mensch seine altersgemäßen Entwicklungsaufgaben wahrnehmen können und über einen kohärenten Ich-Komplex – ein »hinreichend starkes Ich« – verfügen können, das es ihm oder ihr erlaubt, die Anforderungen des Lebens wahrzunehmen, mit Schwierigkeiten umzugehen und ein gewisses Maß an Lebenslust und Zufriedenheit aus dem Leben gewinnen zu können.

Das Konzept der Komplexe ist eines der zentralen Konzepte der Jungschen Psychologie. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass bei der Beschreibung von Analysandinnen und Analysanden immer wieder die Aussage fällt: »Er hat halt einen positiven Mutterkomplex.« Oder: »Sie hat halt einen so dominierenden Vaterkomplex.« Damit wird eine Aussage über eine grundsätzliche Prägung dieses Menschen gemacht, die auch einiges aussagt über die besonderen Schwierigkeiten, aber auch über die besonderen Lebensmöglichkeiten dieses Menschen. Auf diese Komplexe wird in einzelnen Fallbeschreibungen oder auch Fallvignetten innerhalb der Jungschen Psychologie immer wieder Bezug genommen; von Jung selber stammen verschiedene Beschreibungen zu einzelnen Komplexbildern1; die Mutter- und Vaterkomplexe aber sind meines Wissens noch nie im Überblick dargestellt worden. Das möchte ich mit diesem Buch nachholen, umso mehr, als es mir scheint, dass das Konzept der Komplexe im Zusammenhang mit Ergebnissen der modernen Säuglingsbeobachtung eine neue Aktualisierung erfahren wird. Bei diesem meinem Überblick wird es allerdings nur möglich sein, typische Komplexformationen zu beschreiben. Da kein Mensch »nur« von einem Mutterkomplex bestimmt ist, sondern immer auch der Vaterkomplex eine Rolle spielt und der Ich-Komplex in der jeweiligen speziellen Lebenssituation – und die kann sehr variabel sein – den Umgang mit den prägenden Komplexen in jeweils differenzierter Weise beeinflusst, liegen die Komplexe in der »reinen« Form, wie ich sie beschreiben werde, ganz selten vor, geben aber eine Idee davon, was denn die jeweilige spezielle Komplexatmosphäre ausmacht. Das Zusammenspiel der Komplexe – und da müssten dann auch weitere Komplexe, besonders die Geschwisterkomplexe mit bedacht werden – kann man methodisch in detaillierten Fallbeschreibungen befriedigend darstellen.2 Das ist im Rahmen der Jungschen Literatur auch immer wieder gemacht worden.3 Ich werde allerdings diese Literatur hier nicht zusammenfassend referieren. Ich möchte meine Sicht der Komplexe, wie sie sich mir in mehr als 20-jähriger Arbeit mit Analysandinnen und Analysanden aufgedrängt hat, formulieren und damit zur Diskussion stellen.

Ich werde mich dabei sehr ausführlich mit dem ursprünglich positiven Mutterkomplex befassen, zum einen, weil mir scheint, dass dieser zu sehr von der Diskussion ausgeschlossen ist, zum anderen, weil in einer doch sehr vom Vaterkomplex geprägten Welt sich zunehmend eine Sehnsucht zeigt nach Werten, die zum Mutterkomplex gehören und im Zuge der Abwertung des Weiblichen mit entwertet worden sind, im Schatten liegen, uns heute aber dringend fehlen. So wird im Zusammenhang mit dem Mutterkomplex viel zu rasch von der »verschlingenden Mutter« gesprochen und damit unterschwellig das Patriarchat oder zumindest der Androzentrismus legitimiert.4 Ich möchte bei meinen Ausführungen auch vermeiden, dass, wie heute oft zu beobachten ist, die Vaterimago des Vaterkomplexes entlastet, dafür die Mutterimago des Mutterkomplexes belastet wird.5 Es geht mir bei meinen Ausführungen also nicht nur um die Beschreibung dieser Komplexe, sondern auch um eine Entzerrung von Verzerrtem, soweit mir das möglich ist.

Diese Komplexe selber sind unter anderem natürlich auch Komplexe, die in einer patriarchalen Kultur entstehen. Indem ich sie beschreibe, könnte der Eindruck aufkommen, dass ich damit auch herrschende Zustände festschreiben möchte. Das wäre ganz gegen meine Intentionen. Ich möchte diese Komplexe beschreiben, damit uns deutlich wird, wo wir von ihnen geprägt sind, und damit es uns in der Folge möglich wird, uns durch das Benennen und das Bewusstwerden von ihnen abzulösen, um eigenständigere und bindungsfähigere Menschen zu werden.

»Ich will alles anders machen«

Die altersgemäße Ablösung

Wenn ich von ursprünglich positiven Komplexen spreche, dann heißt das, dass diese Komplexe ursprünglich einen positiven Einfluss auf das Lebensgefühl und damit auch auf die Entwicklung der Identität des betreffenden Menschen gehabt haben und diesen auch noch weiter hätten, wäre eine altersgemäße Ablösung erfolgt.

Der ursprünglich positive Mutterkomplex gibt einem Kind das Gefühl einer fraglosen Daseinsberechtigung, das Gefühl, interessant zu sein und Anteil zu haben an einer Welt, die alles gibt, was man braucht – und noch ein wenig mehr. Daher kann sich dieses Ich auch vertrauensvoll in Kontakt setzen zu einem »andern«. Der Körper ist die Basis des Ich-Komplexes.6 Auf der Basis eines positiven Mutterkomplexes werden die leiblichen Bedürfnisse als etwas »Normales« erlebt, und sie können auch normal befriedigt werden. Es besteht eine selbstverständliche Freude am Körper, an der Vitalität, am Essen, an der Sexualität. Der Körper darf auch Emotionen ausdrücken und kann diese Äußerungen auch von anderen Menschen akzeptieren und aufnehmen. Dieser so fundierte Ich-Komplex kann sich entgrenzen in der Körpererfahrung mit einem anderen Menschen, ohne Angst zu haben, sich dabei zu verlieren. Aber nicht nur körperliche Intimität, auch psychische Intimität darf geteilt werden. Man versteht grundsätzlich andere Menschen, und man wird auch meistens verstanden. Andere Menschen tragen zum eigenen psychischen Wohlbefinden bei – und man kann selbst zum Wohlbefinden anderer beitragen. Ein Mensch, der mit Interesse und Verständnis rechnen kann und eine gewisse Fülle von Liebe, Fürsorglichkeit, Verständnis und Geborgenheit erlebt, wird eine gesunde Ich-Aktivität entwickeln.

Spätestens in der Adoleszenz (Pubertät und Nachpubertät, bis zum zwanzigsten Lebensjahr) müsste die Idealisierung der Elternfiguren aufgehoben werden. Denn die Idealisierung der Elternposition bedeutet immer implizit eine Entwertung der Kindposition. In dieser Zeit werden Mutter- und Vaterkomplexe meist bewusst. Die Ablösung findet im Wesentlichen von den Eltern als Personen statt; die Komplexe spielen dabei aber eine nicht zu unterschätzende Rolle, denn jede Komplexprägung erlaubt gewisse Ablösungsschritte und untersagt andere. War das Weggehen schon immer untersagt, oder war es schon immer verboten, anders zu denken, als der Vater denkt, dann werden diese speziellen Aspekte der Komplexe deutlich miterlebt, und die Jugendlichen müssen dagegen anarbeiten oder die Ablösung wieder einmal aufgeben. Gelegentlich gelingt es, auch wenn die Ablösung eigentlich nicht erlaubt ist, bei anderen Menschen still und heimlich zu holen, was im System von Vater und Mutter fehlt. Das setzt aber eine gewisse Ich-Stärke voraus, setzt voraus, dass Ablösung – vielleicht auf eine nicht ganz offene Weise – stattgefunden hat, weil die offene Weise nicht erlaubt worden ist, oder wir haben es mit jungen Menschen zu tun, die ungeachtet der Komplexprägungen einen starken Drang zu Selbstständigkeit haben.

Ablösung ist ein Kompromiss zwischen dem, was das eigene Leben von einem Menschen will, und dem, was die Umwelt will, letztlich Vater und Mutter, die Lehrer, die Gesellschaftsschicht, in der wir leben. Deutliche Ablösephasen, wie die Adoleszenz, sind verbunden mit einer Aufbruchsstimmung, sind Umbruchphasen. Der Ich-Komplex strukturiert sich um, das heißt, es besteht ein labiles Selbstwertgefühl.

Das Erleben einer gewissen Solidarität mit den Eltern wäre also gerade wichtig, obwohl man sich auch gegen sie stellen muss. Man braucht die Eltern, von denen man sich ablöst. Deshalb sind in dieser Phase Komplexsätze, die Ablösung grundsätzlich verbieten und Liebesverlust oder Verlust der Würde des jungen Menschen androhen, so problematisch. Zwar bietet die Altersgruppe möglicherweise ein Netz, das eine gewisse Geborgenheit gibt, sie kann aber niemals die liebevolle, schmerzliche, ehrliche Auseinandersetzung mit den Eltern ersetzen. In der Auseinandersetzung mit den Eltern zeigen diese nämlich auch ein Selbstbild, das die Jugendlichen manchmal noch nicht an ihnen kennengelernt haben. In der Auseinandersetzung mit dem Selbstbild des Vaters und der Mutter bestimmen die Jugendlichen ihr eigenes Selbstbild. Dabei spüren die Kinder das Ungelebte der Eltern auf und erheben es in der Regel zu einem Wert, dem sie, die Jugendlichen, jetzt nachleben wollen. Das weckt bei den Eltern gelegentlich Neid, wenn die Jugendlichen leben, was sie sich versagt haben. Das Ungelebte, das eigentlich hätte mitleben sollen, der Schatten, ist dabei von einer besonderen Bedeutung.

Nun lösen sich Adoleszente aber nicht nur von den Eltern ab, die Ablösung findet auch innerhalb einer Altersgruppe statt. Es gibt auch einen kollektiven Schatten, der von den Jugendlichen meistens begeistert und kreativ aufgenommen und zu einem Lebensstil entwickelt wird. So wurden die Kinder von guten Leistungsträgerinnen und Leistungsträgern in den späten 60er und den 70er Jahren plötzlich »Blumenkinder«, geprägt von musischem Erleben, Eros und Sinnlichkeit. Auf einer kollektiven Ebene wurden Aspekte des positiven Mutterkomplexes plötzlich in einer vaterkomplexigen Welt zelebriert. Bis in die Kleidung hinein kann man diese Entwicklungen verfolgen. Die Kinder der Jeansträgerinnen und Jeansträger haben heute einen ausgesprochenen Sinn für Designer-Klamotten.

An die Stelle der persönlichen Mutter und des persönlichen Vaters können in der Adoleszenz auch überpersönliche Väter und Mütter treten, wie wir sie aus den Religionen kennen. In der Religionspädagogik spricht man vom »religiösen Rigorismus« in dieser Altersphase und meint damit, dass religiöse Fragen in einer großen Absolutheit gestellt werden. Psychologisch ist das leicht zu verstehen: Da der Jugendliche oder die Jugendliche in einer Identitätskrise steckt, wird Orientierung gesucht. Da die Orientierung nicht mehr von den persönlichen Eltern kommen kann, werden die Archetypen hinter diesen Gestalten belebt, so wie sie sich in den kollektiven Wertsystemen manifestieren. So kann es zu einem starken Interesse an bestimmten religiösen Strömungen kommen, zu einem verpflichtenden Engagement, einem Gott oder einer Göttin, deren Botschaft man ins Leben tragen möchte. Vorübergehend wird man damit zu einem »Kind einer höheren Macht«, was das Selbstwertgefühl gerade so weit stabilisiert, dass es leichter ist, sich von den Eltern abzugrenzen und auf deren Fürsorge zu verzichten. Was die Jugendliche oder der Jugendliche in dieser Situation allerdings als sehr individuell erlebt, der »total eigene Weg«, ist in der Regel ein recht kollektiver Weg, der erneute Ablöseprozesse erfordern wird, soll der Mensch wirklich den je eigenen Weg finden. So ist auch das Gottesbild eines Menschen Wandlungen unterworfen: Vergleichen wir Gottesbilder aus unserem Leben – falls sie eine Rolle gespielt haben –, werden wir feststellen, dass diese sich wandeln. Auch eine heftige politische Überzeugung in der Adoleszenzphase kann darauf zurückzuführen sein, dass die Mutter- und Vaterkomplexe auf die unabgegoltenen Versprechungen politischer Programme projiziert werden. Der Unterschied von einem in Komplexen wurzelnden zu einem »normalen Engagement« zeigt sich darin, dass Überzeugungen heilig sind, sehr rasch von »Verrat« gesprochen wird und Politik nicht verstanden wird als eine Möglichkeit, das Zusammenleben der Menschen so reibungslos und so sinnvoll wie möglich zu gestalten, sondern dass eine Heilserwartung darin gesucht wird. Damit sind dann auch die Enttäuschungen vorprogrammiert.

Generell kann gesagt werden, dass in der Ablösephase Menschen, die nicht Vater und Mutter sind, auf die aber Väterliches und Mütterliches projiziert werden kann, eine Rolle spielen, dann aber auch die Bilder von Vater- und Muttergottheiten samt ihren jeweiligen Lebensprogrammen.

Die Adoleszenz des Jungen

Blos: Freud und der Vaterkomplex

Eine interessante These zur männlichen Adoleszenz stellt Peter Blos in seinem Aufsatz: »Freud und der Vaterkomplex«7 auf. Blos geht von der Frage aus, weshalb zwischen den männlichen Adoleszenten und ihren Vätern soviel Rivalität, Konkurrenz und Auflehnung besteht. Da, nach Blos, diese Phase oft nicht gut bestanden wird, werden die ungelösten Probleme auf das ganze Leben übertragen. Blos postuliert, dass wir es mit einem Überbleibsel aus der frühen Kindheit zu tun haben. Seine These: Der Vater ermöglicht es dem Kind in der frühen Kindheit, der totalen Mutterabhängigkeit zu widerstehen. Er unterstützt das ganze Leben hindurch die nach vorwärts gerichteten Bestrebungen, die psychische und körperliche Entwicklung. Der Vater gibt Unterstützung im Kampf gegen die Regression, Unterstützung im Drachenkampf. (Hier begegnen wir der männlichen Phantasie, dass der Vater im Dienste des Lebenstriebes steht.) In der Pubertät des Mannes wird die Liebe zur Mutter neu entfacht, das heißt, der Mutterkomplex, versetzt mit Animaelementen, wird neu konstelliert, damit erwacht aber auch erneut die Angst vor der primären Mutterabhängigkeit. Blos: Man würde also wie damals als Kleinkind den Vater brauchen zur Unterstützung der progressiven Tendenzen im Leben. Auch die frühkindliche Beziehung zum Vater wird in der Adoleszenz reaktiviert. Diese liebevolle Beziehung darf aber nicht mehr sein, weil der Sohn sonst Vaters Sohn bliebe und dem Individuationsprinzip untreu würde. Deshalb findet eine heftige Auflehnung gegen den Vater statt. Diese Rivalität, meint Blos, sei um so heftiger, je mehr sich die beiden Männer einmal geliebt hätten und sich immer noch liebten. In diesem Zusammenhang stellt Blos eine zweite These auf: Die drängende Sexualität der Adoleszenten würde weit mehr der Ablösung vom Vater dienen, als dass sie wirklich der Beziehung zur Frau gelte, sie sei als das drängende Streben vom Vater weg zu verstehen.

Von der Ablösung von der Mutter spricht Blos wenig, was mich erstaunt – und dann doch auch wieder nicht. Er meint, wenn die Auseinandersetzung mit dem Vater gelingt und damit die Idealisierung des Vaters aufhört, könne der Sohn, vom Vater geachtet, seinen Weg weitergehen. Tiefenpsychologisch gesehen muss allerdings auch eine Ablösung von der Mutter und dann auch vom Mutterkomplex stattfinden, sonst würde der Mutterkomplex mit all seinen impliziten Erwartungen auf die Freundin und auf die Partnerin übertragen. Würde sich der junge Mann nur von der Mutter abwenden und sie damit entwerten, dann müssten viele Aspekte des Mutterkomplexes und damit verbundene Animaanteile gleichermaßen abgespalten und entwertet werden. Das würde dazu führen, dass das Mütterliche, aber auch das Weibliche, sehr viel Angst auslöste und noch mehr verdrängt werden müsste. Es ist schon erstaunlich, wie geläufig in den verschiedenen Theorien der Ausdruck von der »verschlingenden Mutter« ist8 und wie leicht auch Frauen diese Ausdrücke übernehmen. Identifizieren sie sich mit dem Angreifer? Dabei wird recht oft von den konkreten Müttern gesprochen. Es ist wesentlich, sich deutlich zu machen, dass die Mütter unserer Komplexe nicht einfach deckungsgleich sind mit unseren konkreten Müttern und dass es auch unzulässig ist, archetypische Gestalten mit unseren konkreten Beziehungspersonen zu verwechseln. Wir wissen, dass Ängste vor allem dann auftauchen, wenn wir etwas verdrängen. Die Angst würde uns dann das Verdrängte sozusagen präsentieren, damit wir uns damit beschäftigen, weil es offenbar notwendig zu unserem Leben gehört. Es wäre also zu bedenken, ob durch das Entwerten des Weiblichen, durch die Überzeugung, es bedürfe eigentlich keiner Auseinandersetzung mit der Mutter und mit dem Mutterkomplex bei der Identitätsfindung des Mannes, diese Mütter, das Mütterliche und dann letztlich auch das Weibliche so viel gefährlicher gemacht wird, als es an sich ist. Theorien von den »verschlingenden Müttern« sind alles Theorien von Männern, und sie sind meines Wissens quer durch alle Schulen der Tiefenpsychologie anzutreffen.

Blos, und das ist nun ganz besonders interessant, exemplifiziert seine These an der Person von Freud. Blos hält es für nachgewiesen, dass Freud eine sehr enge Beziehung zu seinem Vater Jakob hatte, eine intensive Gefühlsbindung bis weit in das Erwachsenenleben hinein. In Briefen schreibt Freud, er sei der erklärte Liebling des gefürchteten Mannes gewesen. Seinen Vater beschreibt er als Mann »von tiefer Weisheit und phantastisch leichtem Sinn«9. Körperlich vergleicht er seinen Vater mit Garibaldi, einer Heldengestalt. Von sich selbst sagt er, er sei bereit gewesen, alles zu tun, um erklärter Liebling dieses Vaters zu bleiben. Der ursprünglich positive Vaterkomplex von Freud zeigt sich im späteren Leben in seinen fast ausschließlichen und leidenschaftlichen Freundschaften zu Männern, aus denen er – wie im Falle Jungs – auch leicht Vater-Sohn-Beziehungen machte. Der zwanzig Jahre jüngere Jung fühlte sich bald überfordert von »Vater Freud«. Blos sieht in diesem Zusammenhang eine Übertragung; Freud fühlte sich auch immer überfordert von seinem von ihm idealisierten Vater, dem er Ehre und Ruhm bringen wollte. Freud hatte eine Lebenskrise, als er mit vierzig Jahren, 1896, seinen Vater verlor. Diesem Tod ging ein auffälliges Verhalten von Freud voraus: Der Vater war todkrank, der Sohn ging dennoch auf eine zweimonatige Ferienreise. Freud kam zu spät zur Beerdigung, weil er beim Friseur aufgehalten worden war. Dieses Verhalten erstaunte Freud selbst und brachte ihn zur Selbstanalyse. Das erste Buch, hervorgegangen aus dieser Selbstanalyse, ist die »Traumdeutung«. Die Ablösung vom Vater war nun unumgänglich; Freud geriet in eine Identitätskrise, die er kreativ nutzen konnte, die Psychoanalyse wurde sozusagen geboren. Freud schrieb denn auch im Vorwort: »Die Traumdeutung ist eine Reaktion auf das bedeutendste Ereignis, den einschneidendsten Verlust im Leben eines Mannes.«10 Eine solche Aussage kann nur machen, wer sich eine absolut idealisierte Gefühlsbeziehung zum Vater bewahrt hat. Zwei Jahre nach dem Tod des Vaters entdeckte Freud den Ödipuskomplex, und in der Deutung dieses Komplexes hat er – so Blos – die Rolle des Vaters übersehen. Das Orakel sagte in der Ödipussage bekanntlich, dass der Sohn, den Jokaste gebären werde, ihn, Laios, töten werde. Daraufhin nahm Laios den neugeborenen Knaben, durchbohrte ihm die Füße, damit er auch als Geist nicht laufen konnte, und setzte ihn auf einem Berg aus. Er versuchte also, seinen Sohn zu töten. In vielen Interpretationen wird übergangen, dass der Vater den Sohn dem tödlichen Schicksal auslieferte11, so auch bei Freud.

Wo unser Komplexgebiet beginnt, da sind wir in der Regel vom Komplex bestimmt und nicht von der Objektivität.

Nach dem Tod des Vaters löste sich Freud ab, die Idealisierung des Vaters wurde aufgehoben, damit wohl auch eine implizite Entwertung von ihm selbst, dem Sohn, und von da an setzte eine beachtliche Entwicklung ein und eine große schöpferische Produktivität.

Blos hat mit dieser interessanten Untersuchung deutlich einen Beweis dafür gegeben, dass unsere Theorien etwas mit unseren Komplexkonstellationen zu tun haben. Das mag auch mit ein Grund sein, warum es gelegentlich für die gleiche Sache verschiedene Theorien gibt: Mit unterschiedlichen Komplexprägungen werden dieselben Phänomene etwas unterschiedlich gesehen und bewertet. Die Theorie von Blos, die besagt, dass die drängende Sexualität bei den Adoleszenten vor allem der Ablösung vom Vater diene, könnte z.B. erklären, warum die zweifellos sehr wichtige Sexualität des Menschen in der Freudschen Theorie einen so zentralen Stellenwert einnimmt.

Die Psychoanalyse gilt als patriarchale Wissenschaft in einer patriarchalen Welt. In der Theoriediskussion der Psychoanalyse hat die Frau – wenn überhaupt – eine marginale Position.12 Aber auch in unserer Kultur hat sie es immer noch schwer, sich über die ihr schon seit jeher zugewiesenen, eingeschränkten Räume hinaus die ihr zustehenden Räume zu erobern oder sich einfach in einer normal menschlichen Art in den ihr gemäßen Räumen niederzulassen. Zu oft wird die Frau noch immer nur in Relation zum Mann und in Relation zum Kind gesehen. Damit wird ihr aber eine originäre Identität abgesprochen, sie existiert nur auf den Mann hin, hat also eine abgeleitete Identität.13 Dass es in der Theorie der Psychoanalyse kaum einen Platz gibt für die Frau, wird verständlicher, wenn wir wissen, dass die Psychoanalyse aus der Auseinandersetzung mit einem dominierenden Vaterkomplex erwachsen ist. Wir bekommen darüber hinaus einen methodischen Hinweis: Ist der Komplex sehr dominierend, scheint Traumanalyse, die Analyse des Unbewussten, eine Hilfe bei der Ablösung zu sein. Allerdings stellt sich die Frage, ob denn die Ablösung des Mannes weit genug vorangetrieben worden ist, wenn Frauen unserer Tage sagen, es wäre so schwierig, den »Ort der Frau« in der Psychoanalyse zu bestimmen.14Fehlt da nicht doch auch die Reaktivierung und die Bearbeitung des Mutterkomplexes?

Aber war es nur der persönliche Vaterkomplex von Freud, der seine Theorie so androzentrisch sein lässt? Jung, der zeitlebens sehr vom Archetyp der Großen Mutter fasziniert war, dessen Psychologie als ganze so sehr viel mehr dem matriarchalen Denken verpflichtet ist – er allerdings auch mit einer komplizierten Vaterbeziehung –, beschrieb die Frau, wenn er wirklich über die Frau schrieb, auch nur in Beziehung zum Mann. Von seinem Individuationskonzept her hätte er sich das selbst verbieten müssen. Aber beide Forscher forschten in ihrer Zeit, in der Frauen nur als Mütter oder Töchter ihre Daseinsberechtigung hatten. Es liegt an uns heutigen Frauen, die Einschränkungen, die sich dadurch für uns Frauen auch in der Theorie ergeben, zu benennen und diese Theorien unserer eigenen Psychologie gemäß umzuformulieren, zu versuchen, den »Ort der Frauen« zu beschreiben.15

Die Adoleszenz des Mädchens

Auch in der Adoleszenz des Mädchens werden Vater- und Mutterkomplexe wiederbelebt. Im Vordergrund steht der Vaterkomplex mit vaterkomplexnahen Formen von »Animus« durchsetzt. Lebensqualitäten, die im Zusammenhang mit dem Vater erlebt worden sind, werden auf einen Freund und/oder auf geistiges intellektuelles Leben übertragen. Lebensqualitäten, die entbehrt worden sind, werden bei anderen Männern und/oder in der Welt des Geistes gesucht.

Bei den Mädchen sind zwei verschiedene Sozialisationsformen auszumachen: Die einen haben einen Freund und leben die Paarbeziehung oft sehr früh, die anderen verschreiben sich deutlich dem Intellektuellen. Je nach Prägung durch den zugehörigen Mutterkomplex können sie sehr körperfern leben; mit einer positiveren Prägung durch den Mutterkomplex – auch wenn diese unbewusst bleibt – gehört der Körper, ohne dass viel Aufhebens davon gemacht wird, einfach dazu. Die geistige Welt, der sich diese Mädchen verbunden fühlen, kann eine faszinierende Welt voller Inspiration, geistiger Abenteuer und spiritueller Erfahrungen sein, sie kann aber auch eine Welt sein, in der viel Wissen angesammelt wird, ein Überblick über das gewonnen wird, was alles schon einmal gedacht worden ist. Intelligenz und Wachheit gehören auf jeden Fall dazu. Gelegentlich sind auch beide Sozialisationsformen nebeneinander anzutreffen. Die Bindung an den Vaterkomplex und damit auch die unterschwellige Idealisierung des Väterlichen bleibt bei beiden Sozialisationsformen erhalten.

Das Problem für die Frauen besteht darin, dass die Ablösung vom Vaterkomplex von der traditionellen Gesellschaft her nicht gefordert wird. Die Frau erfüllt die soziale Rolle, wenn sie einen Freund oder einen Partner hat, ob sie dabei eine eigene Identität entwickelt, scheint sekundär zu sein. Das heißt überspitzt, dass vom Rollenverständnis her unsere Gesellschaft einer adoleszenten Frau suggeriert, dass sie »normal« ist, eine richtige Frau, auch wenn sie keine eigene Identität hat, wenn sie letztlich darauf angewiesen ist, dass ein Mann ihr eine Identität verschreibt16, das heißt, dass sie durch die Anwesenheit eines Mannes das Gefühl hat, sie selbst zu sein, und dass in diesem Verhältnis der Mann ihr auch leicht vorschreiben kann, was sie zu sein hat, wie sie zu fühlen, wie sie sich zu verhalten hat. Wagt sie es, ihren eigenen Vorstellungen entsprechend zu leben, dann ist sie keine »richtige« Frau mehr in den Augen der Männer. Ist die Ansicht der Männer für sie wichtig und maßgeblich, stürzt sie bei Kritik durch die Männer entweder in eine Identitätskrise, oder sie passt sich wieder an. Die Identitätskrise böte die Chance, das eigene Selbst zu finden.

Frauen, die keine originäre Identität entwickeln, sich nicht vom Vaterkomplex ablösen und die sich nicht mit dem Mutterkomplex auseinandersetzen oder aus anderen Gründen keine eigene Identität entwickeln, reagieren auf Trennungen oft mit Depressionen. In Trennungssituationen muss man sich von einem Beziehungsselbst auf das originäre Selbst zurückorganisieren17, das ist aber nur möglich, wenn ein eigenes Selbst in Ansätzen vorhanden ist. Emily Hancock entdeckte bei der Untersuchung überdurchschnittlich selbstbewusster Frauen, dass sie wieder Zugang zu ihrem »inneren Mädchen« gefunden hatten und damit ihr eigentliches Ich wieder freilegten, oft nach langen Jahren der Fremdbestimmung.18 Carol Hagemann-White folgert, dass das Mädchen, das selbstbewusst ist und kompetent, mit Beginn der Adoleszenz oft ihr Selbst verliert und sich nach dem Wunschbild ihrer Umgebung richtet.19

Auch wenn diese Feststellung in dieser Generalisierung etwas überzeichnet und es vor allem nicht bei jeder Komplexkonstellation so ausschließlich anzutreffen ist, ist doch oft die Feststellung zu machen, dass – fragt man Frauen nach ihrem Mädchen-Dasein – sich so um das zehnte Lebensjahr herum noch eine wesentlich eigenständigere, profiliertere, interessantere Persönlichkeit zeigte. Mit der Anpassung verliert das Mädchen wichtige Aspekte ihres originären Selbst. Das würde sich ändern, wenn Mädchen mehr für Originalität und weniger für Anpassung gelobt und Frauen nicht nur in Beziehung auf den Mann hin gesehen würden.

Von Frauen in verantwortungsvollen Berufen weiß man, dass für sie die Rolle des Vaters sehr attraktiv war.20An diesen Frauen wird die Problematik der Adoleszenz von Frauen sehr deutlich. Bernardoni und Werder haben herausgefunden, dass acht von zehn Frauen, die in erfolgreichen Berufen tätig sind, als Väter Akademiker hatten, die die Mädchen unabhängig und selbstständig erzogen. Der Vater wurde von diesen Frauen als dynamisch, aktiv, intelligent, strebsam und liberal beschrieben. Der Vater wurde Rollenvorbild, die Mutter abgelehnt. Auch wird die eingeschränkte Frauenrolle abgelehnt, weil sie die Passivität und auch die Farblosigkeit ihrer Mütter nicht akzeptieren konnten und nicht akzeptieren können. Auf die Frage, wie sie mit den Identitätsproblemen in der Adoleszenz umgegangen seien, haben sie mehrheitlich geantwortet, sie hätten noch mehr geleistet und noch mehr gelernt. Sie haben erfahren, dass durch Leistung Identitätsprobleme kompensiert werden können. Diese Frauen sind fast alle verheiratet; das gehört zum Bild des positiven Vaterkomplexes. Einmal sind die Männer attraktiv und werden als zuverlässig erlebt, zum anderen tut die Frau mit einem positiven Vaterkomplex, was man in einer bestimmten Gesellschaft tut. Wenn man da heiratet, dann heiratet sie auch.

Das ist eine Form der heutigen weiblichen Sozialisation: nicht vom Vaterkomplex abgelöst, aber mit einer Arbeit in der Vaterwelt, die mit großem Erfolg ausgeführt wird, für die die Frau honoriert wird. Dass ihre weibliche Identität jenseits der Rollenidentität brüchig ist, fällt dann auf, wenn die Kompensation über die Leistung nicht mehr möglich ist oder wenn eine Trennungssituation eintritt. Dann muss die Auseinandersetzung mit der Mutter und dem spezifischen Mutterkomplex stattfinden.

Es wäre wohl grundlegend wichtig für alle Frauen – denn in unserer androzentrischen Welt sind wir alle von Vaterkomplexen geprägt, ungeachtet dessen, wie der eigene Vaterkomplex aussieht –, dass sie sich immer wieder mit ihrer erlebten Identität und den Identitätsbrüchen auseinandersetzen und sich nicht einfach den Theorien beugen, wie die weibliche Identität zu sein hat. Das Suchen nach Identität, das Erleben von Identität in verschiedenen Lebenssituationen müsste beschrieben werden, darüber müsste in Gruppen von Frauen gesprochen werden.21 In Anlehnung an Christa Wolf: »Kein Ort. Nirgendwo«, muss unter den Frauen der Ruf nach einem eigenen Ort gehört werden. Nur dürfen sich Frauen diesen Ort nicht zuweisen lassen, nicht von anderen Frauen, und schon gar nicht von den Männern, sie müssen diesen Ort ihnen gemäß benennen und besetzen.

Die Auseinandersetzung mit der Mutter

Um zu einer eigenen Identität zu finden, muss sich die adoleszente Frau mit der Mutter und mit dem Mutterkomplex auseinandersetzen. Tut sie das nicht, befrachtet sie die Beziehung zu einem Partner über die Projektion der Vatererfahrungen und die unerfüllten Erwartungen an den Vater hinaus mit den anstehenden Mutterproblemen und mit den unerfüllten Erwartungen, die sie an die Mutter hatte.

Die Ablösung von der Mutter findet in einem komplizierten Feld statt. Einmal ist die Ablösung gar nicht so richtig gefordert. Das vielleicht sogar vordergründig zu Recht, das Ziel der Ablösung für eine Frau ist es nicht, dass sie keine Beziehung mehr zu ihrer Mutter pflegt, das Ziel ist nicht eine Autonomie, die sich als Bindungslosigkeit versteht. Die Ablösung der adoleszenten Frau von ihrer Mutter müsste im Idealfall so erfolgen, dass eine neue Beziehung zu ihr möglich wird, bei der das Komplexhafte der Kindheitsbeziehung einigermaßen aufgearbeitet worden ist. Deshalb ist eine Ablösung doch notwendig, nicht aber mit dem Ziel der endgültigen Trennung, sondern mit der Zielvorstellung, in eine gegenseitig bereinigtere Form der Beziehung eintreten zu können.22

Die Mutter entwickelt ja im Laufe der Zeit auch einen Tochterkomplex im Zusammenhang mit ihrer Tochter, einen Sohnkomplex im Zusammenhang mit ihrem Sohn, davon spricht man nur eigentümlicherweise nicht! Dasselbe gilt natürlich vom Vater. Wenn Mütter oder Väter über ihre Kinder sprechen oder klagen, betrachten wir das meistens als »reale« Probleme, dabei spielen auch in dieser Beziehung Komplexe eine Rolle. Auch im Zusammenhang mit einzelnen Kindern gibt es Komplexsätze – jetzt im System von Mutter oder Vater. Auch mit den einzelnen Kindern sind Erwartungen verknüpft, die weit über die Individualität des jeweiligen Kindes hinausgehen und die auch, je nach Alter, unterschiedlich sind. Bei der Ablösung der Adoleszenten werden bei Vater und Mutter eigene notwendige, überfällige Ablösungsschritte von ihren eigenen Eltern aktiviert.23 Mir scheint aber – und das müsste näher untersucht werden –, dass auch eine Ablösung von Sohn- und Tochterkomplexen, die durch die eigenen Kinder gesetzt worden sind, wesentlich wäre und die Ablösung der Adoleszenten erleichtern würde.

Dann gibt es heute Mütter, die sehr verschiedene Rollen leben. So weist z.B. Sandra Scarr nach24, dass Töchter von Müttern, die einer sie zufriedenstellenden Arbeit nachgehen, mehr Selbstbewusstsein als Frau haben und sehr viel weniger bereit sind, sich in abhängige Positionen von Männern zu begeben, auch wenn sie einen eher positiv getönten Vaterkomplex haben. Für sie ist die Auseinandersetzung mit der Mutter dann auch leichter zu bewältigen, da sie die Mutter nicht zuerst aus der Entwertung holen müssen.

Es ist aber nicht nur die persönliche Mutter, die in der Ablösung der Tochter eine Rolle spielt, es ist nicht nur die Rolle der Frau als Mutter in der Gesellschaft, die die Ablösungsthematik mitbeeinflusst, es sind auch die archetypischen Bilder des Weiblichen, das, was man so allgemein für weiblich hält. Und immer wieder taucht da die Idee auf, dass das »Weibliche« etwas Gefährliches sei. Da die großen weiblichen Göttinnen für die Geburt und für den Tod stehen, für die Fruchtbarkeit und für die Trockenheit, für Liebe und für Hass, wird die Spanne zwischen dem großen Reichtum des Lebens, der Fülle und dem Tod, mit der Macht von konkreten Frauen verbunden. Diese archetypischen Erfahrungen auf die einzelne Frau zu projizieren ist unzulässig. Vor allem nimmt in dieser Projektion die Angst vor der Macht der Frauen Gestalt an, die Angst, die nicht zuletzt daraus stammt, dass die Frauen entwertet oder idealisiert, nicht aber in ihrem Wesen ernst genommen werden. Keine Mutter verkörpert den Tod, auch wenn sie einem Kind das Leben gegeben hat und es damit in ein Leben hineinstellt, an dessen Ende der Tod steht. Für die adoleszente Frau bedeuten solche Konzepte der Frau, die täglich über Werbung, über Film und Literatur an sie herangetragen werden, dass ihre Wurzeln gefährlich ambivalent sind. Zum anderen sind die männlichen Götter so viel präsenter als die Göttinnen. Hier ist allerdings in den letzten Jahren sehr viel geschehen. Dass Frauen die verschiedenen weiblichen Göttinnen – und hier nicht nur den Mutteraspekt der Göttinnen – erforschen und ins Bewusstsein heben, zeigt, wie wesentlich es ist, dass auch die Frau das Gefühl hat, dass in ihrem Rücken eine Göttin steht und nicht nur ein männlicher Gott, dass es also auch für die Frau richtig ist, eine originäre Identität zu haben und nicht eine von einem männlichen Gott geliehene. Es ist wichtig, dass das archetypisch Weibliche, so wie es uns heute erscheint, immer wieder beschrieben wird und damit ins Bewusstsein kommt. Damit erfährt die einseitige Festlegung der Frau auf das Lebensspendende und Todbringende eine Ausweitung zu der vollen, reichen Bandbreite, die weibliches Leben und vor allem auch die Göttinnen auszeichnet.

Diese Veränderung im kollektiven Bewusstsein, die sich deutlich anbahnt, müsste den adoleszenten Frauen das Gefühl geben, dass ihre Identität in etwas gründet, das in sich wertvoll ist und eigenständig wichtige Aspekte des Lebens abdeckt, und dass für eine Frau heute viele Rollen möglich sind. Im Zusammenhang mit dem Bewusstwerden von archetypischen Frauengestalten steht – dem konkreten Alltagsleben näher – die Sehnsucht nach weiblichen Vorbildern, nach Zeugnissen von Frauen, die durchaus ihr Leben gelebt haben. Dieser Sehnsucht wird heute Rechnung getragen durch viele Biografien von Frauen über Frauen. In diesen Biografien kommt zum Ausdruck, dass jetzt nicht einfach Frauen idealisiert werden oder Frauen sich undifferenziert mit Göttinnen identifizieren, was eine andere Form der abgeleiteten Identität bewirken würde, sondern dass Zeugnisse von lebbarem Leben von Frauen gesucht werden, damit aber auch Ideen, wie das eigene Leben aussehen könnte.

Die Ablösung der adoleszenten Frau findet auf diesem geschilderten Hintergrund in der Auseinandersetzung mit der eigenen Mutter statt. Die Mutter ist das Vorbild, gegen das die eigene Identität zunächst konzipiert wird. Die Mädchen spüren den Schatten, das ungelebte Leben ihrer Mütter auf und beginnen das zu idealisieren, was im Leben der Mutter nicht zum Zuge kam. »Ich will alles anders machen als die Mutter«, kann natürlich darauf hinweisen, dass die Frau einen ursprünglich negativen Mutterkomplex hat, wie Jung das beschrieb25, es ist aber auch ein Standardsatz bei der Ablösung. Die Tochter hat nicht wirklich eine eigene Position, aber sie ist zunächst einmal dagegen. Das kann der Beginn der Identitätsfindung sein.

Bei dieser Position gegen die Mutter ist es nicht notwendig, dass die Töchter die Mütter hassen. Theoretisch wird diese Forderung hergeleitet aus der Idee, dass Mütter und Töchter identisch sind, dass der Hass die notwendige Trennung bringt, die es braucht, um zu einer eigenen Persönlichkeit zu finden.26 Es gibt da zwei Missverständnisse: Auch wenn beide Frauen sind, heißt das noch lange nicht, das sie sich gleich sind, dass sie gleichsam in einer Dualunion leben, bis die Tochter in die Adoleszenz kommt. Und auch wenn die Frauen sich sehr gleichen würden, was in speziellen Fällen ja vorkommen kann, dann bringt nicht der Hass die Lösung, denn Hass trennt nicht, Hass bindet. An Menschen, die wir hassen, denken wir wahrscheinlich ebenso viel, wenn nicht mehr, als an Menschen, die wir lieben.

Kritisiert werden natürlich die Mütter bei dieser Ablösung von den Töchtern, und das muss auch so sein. Angekreidet wird den Müttern etwa, dass sie nicht konsequent sind in ihrem Lebensentwurf, dass sie zum Beispiel darauf bestanden haben, ausgefüllt zu sein mit Mann und Kindern, und dann plötzlich sagen, sie hätten ihr Leben verfehlt. Kritisiert werden »Lebenslügen« der Mütter, die ja oft damit zusammenhängen, dass sie sich auch zu wenig von Vater- und Mutterkomplexen abgelöst haben. Vorgeworfen wird ihnen weiter, dass sie so vieles, was sie selber nicht gelebt haben, an ihre Töchter delegiert haben, wobei die Delegationen oft doppelbödig sind: »Sieh zu, dass du einen eigenen Beruf hast, da erfolgreich bist, aber bring mir auch die Enkelinnen und Enkel zur richtigen Zeit.«

Delegationen sind Freiheitsberaubungen und stören zudem ganz empfindlich die Mutter-Tochter-Beziehung.

Delegationen gibt es natürlich auch zwischen Vätern und Söhnen, zwischen Vätern und Töchtern, zwischen Müttern und Söhnen. Sie scheinen jedoch zwischen Müttern und Töchtern besonders häufig zu sein.

Auch die Rollenverunsicherung der Frauen, die ja eine große Öffnung mit sich bringt, wird in diesen sich widersprechenden Delegationen sichtbar, wenn Mütter ihren Töchtern zum Beispiel sagen: »Pass auf, Frauen werden oft überhört, aber sei du deshalb nicht vorlaut.« Was soll die Tochter mit einer solchen doppelten Botschaft machen? Weniger angekreidet, aber schmerzhaft vermerkt wird die Unsicherheit von Frauen in der außerhäuslichen Arbeit. Frauen wissen, dass sie oft sehr gute Arbeit leisten, bleiben sich aber dennoch über den Wert dieser Arbeit im unklaren. Sie haben die Tendenz, noch einmal etwas zu verbessern, oder stehen für den Wert ihrer Arbeit nicht ein, wo dies etwa gefordert wäre. Es ist notwendig, dass den Frauen das, was sie in der Welt gestalten, lieb gemacht wird. Flaake27 erklärt sich dieses Verhalten so, dass Mädchen weder vom Vater noch von der Mutter in Dingen, die die spätere Berufsarbeit betreffen, bestätigt und gespiegelt werden, Mädchen werden zu oft noch für Anmut, Schönheit, gutes Verhalten gelobt, diese Selbstaspekte werden bestätigt und als wünschenswert in den Vordergrund geschoben. Flaake schlägt vor, die Frauen untereinander müssten sich gegenseitig den Wert ihrer Arbeiten bestätigen, um hier einen Mangel wettzumachen. Das wäre wünschenswert, hieße aber auch, dass Frauen ganz deutlich an ihrem Neid arbeiten müssten.

Nicht nur Vorbilder spielen eine große Rolle in dieser Ablösephase, die eine eigentliche Selbstfindungsphase ist, sondern auch Beziehungen zu anderen Frauen, falls die Prägung durch den Mutterkomplex das zulässt. Ist eine Frau durch einen sehr negativen Mutterkomplex geprägt – was bedeutet, dass für sie Frauen, und mütterliche Frauen erst recht, nur eine Quelle der größten Enttäuschung sind –, dann ist dieser Weg meistens nicht offen. Die Beziehung zu anderen Frauen ermöglicht Bewusstwerdung von sich selbst als Frau: Frauen sehen sich dann nicht nur mit den eigenen Augen an, sondern auch durch die Augen einer anderen Frau. Man spiegelt sich gegenseitig, nimmt sich wahr, nimmt sich an. Die Beziehung zu anderen Frauen vermittelt aber auch eine Erlebnisqualität, von der ich meine, dass sie am ehesten mit »Animaqualität« bezeichnet werden kann: eine Atmosphäre der Verbundenheit untereinander und des dabei seelisch »Weitwerdens«, ohne dass man sich schützen muss, eine Form des erotisch Angesprochenseins, das nicht sofort die Aktion sucht, eine Faszination von weiblichen Möglichkeiten, Zärtlichkeiten usw., die einfach einmal ausprobiert werden dürfen. Es werden dadurch auch unbewusste weibliche Bilder belebt, verbunden mit den jeweils speziell zu ihnen gehörenden Emotionen, die sehr viel mit Verbundenheit – zärtlicher Verbundenheit, wilder Verbundenheit – zu tun haben und verschiedene Dimensionen des Frauseins erschließen. Ursprünglich hielt Jung »Anima« für den weiblichen Seelenanteil im Manne, die Frau habe statt dessen einen Animus. Das Bedürfnis der Frauen nach Anima scheint aber in der heutigen Zeit sehr groß zu sein und ist wesentlich auch für sie zur Herauslösung aus dem Mutterkomplex. Der Austausch der Erfahrungen mit den Freundinnen – werden sie nicht bereits an die zweite Stelle gerückt, weil die Beziehung zum Freund, sozial oder auch familiär bedingt, so sehr gefördert und gefordert wird –, aber auch das emotionelle Erleben unter Freundinnen ist wichtig in der Entwicklung von Beziehungsstrukturen, in denen sie sich selber nicht aufgeben muss, sondern sie selbst sein kann. Außerdem werden hier differenzierte Gefühle innerhalb von Beziehungen geweckt und gepflegt.28

Aus diesem Erleben heraus kristallisiert sich ein neuer Lebensentwurf, der jetzt auch eine Wiederannäherung an die Mutter erlaubt: Es ist meistens eine Auseinandersetzung mit der Mutter, die aber empathisch geführt wird, bei der man die Mutter auch als eigenständige Persönlichkeit stehen lassen kann, sie auch verstehen kann in ihrem Gewordensein. Bei dieser Wiederannäherung wird sie auch feststellen, in welchen Eigenheiten sie der Mutter gleicht, vielleicht sogar die gleichen ärgerlichen Eigenschaften hat, mit denen sie bestenfalls anders umgehen lernen kann, sie wird aber auch feststellen, dass sie trotz der Ähnlichkeiten doch auch ein ganz anderer Mensch ist.