Die Tiefenpsychologie nach C.G.Jung - Verena Kast - E-Book

Die Tiefenpsychologie nach C.G.Jung E-Book

Verena Kast

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Beschreibung

Klar und verständlich erschließt die renommierte Jung'sche Analytikerin Verena Kast die wesentlichen Aspekte der Analytischen Psychologie C.G. Jungs. Sie erklärt das Wirken des Unbewussten - anhand von Begriffen wie etwa Komplexe, Archetypen oder dem Schatten - und stellt den psychischen Wachstums- und Reifungsprozess des Menschen, die Individuation, anschaulich dar. Ihre Beschreibung der analytischen Behandlung und Erläuterung therapeutischer Methoden, z.B. Traumarbeit und Aktive Imagination, bieten Menschen, die auf der Suche nach einer passenden Psychotherapie sind, wichtige Orientierungshilfen. Eine konzentrierte und überaus kompetente Einführung in Theorie und Praxis der Tiefenpsychologie nach C.G. Jung.

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Cover

Haupttitel

Inhalt

Über die Autorin

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Verena Kast

Die Tiefenpsychologie nach C. G. Jung

Eine praktische Orientierungshilfe

Patmos Verlag

Inhalt

Das Assoziationsexperiment und die Komplexe

Die Affektivität als Grundlage der Persönlichkeit

Die Komplexepisode

Komplex, Symbol und Traum

Das Symbol

Das kollektive Unbewusste und die Archetypen

Das Schöpferische – die Wirkung der Archetypen

Der schöpferische Weg als der optimale

Schöpferische Haltung durch schöpferische Methoden

Aktive Imagination

Der Individuationsprozess

Wie Individuation vor sich geht

Das Selbst

Was ein Individuationsprozess bewirkt

Der Schatten

Anima und Animus

Der Traum am Ende einer Analyse

Anima und Animus als Paar

Therapeutische Beziehung und Übertragung / Gegenübertragung

Ein Beispiel aus der Supervision

Stadien von Übertragung

Die erotisch-sexuelle Übertragung

Das gemeinsame Unbewusste

Die analytische Behandlung

Der Beginn

Initialträume

Eine Traumserie im Individuationsprozess

Das Leben erzählen

Das Menschenbild der Jung’schen Psychotherapie

Das religiöse Bedürfnis

Suchen nach Sinn, Streben nach Selbstwerdung, Erfüllen spiritueller Bedürfnisse

Weiterentwicklung der Jung’schen Psychotherapie

Forschung

Neurobiologie und Jung’sche Psychologie

Ausbildung

Anhang

Dank

Literatur

Zeittafel: Carl Gustav Jung

Das Assoziationsexperiment und die Komplexe

Am Ursprung der Psychologie C. G. Jungs, einer weitgespannten »Psychologie der Seele«, steht das Forschen mit dem Assoziationsexperiment. Jung war einer der ersten experimentellen Psychologen. Jung wurde 1909 an die Clark University in Worcester, Massachusetts, eingeladen, um über das Assoziationsexperiment und die Komplexe zu sprechen.1 Für dieses Forschungsgebiet, das er am Burghölzli bearbeitete, wurde er rasch bekannt und immer wieder von verschiedenen Forschern aus dem Ausland aufgesucht. Die Einladung durch G. Stanley Hall bedeutete, dass seine Forschungen auch in Amerika Beachtung gefunden hatten: Jungs Forschungen mit dem Assoziationsexperiment hatten weltweit Anerkennung gefunden.

Das Assoziationsexperiment geht auf die Forschungen von Sir Francis Galton (1822–1911) zurück. Er gilt als der Begründer der freien Assoziation zur Untersuchung des Denkens.2 Ihn interessierte, wie der Geist funktioniert. Galton: »Ich wollte zeigen, wie ganze Bereiche geistiger Leistungen, die normalerweise dem ­Bewusstsein entgehen, sich ans Licht bringen, aufzeichnen und statistisch untersuchen lassen. […] Wahrscheinlich der stärkste Eindruck, den diese Experimente hinterlassen, betrifft die Mannigfaltigkeit der Arbeit des Geistes in einem Zustand der Halb-Unbewusstheit. Sie liefern zudem guten Grund zur Annahme noch tieferer Schichten geistiger Tätigkeiten, die völlig unter die bewusste Ebene geistiger Leistungen gesunken sind, die möglicherweise für diejenigen geistigen Phänomene verantwortlich sind, die wir anders nicht erklären können.«3

Etwa in den Jahren um 1880 studierte Galton kleinste Gedankenfetzen, wie sie auftauchten, warum sie auftauchten, wie sie wiederum verschwanden, von anderen Gedanken abgelöst wurden. Er verfasste eine Liste von Wörtern und studierte, welche neuen Wörter ihm zu diesen einfielen, auch maß er die Zeit, die er benötigte, bis ihm etwas einfiel. Diese Forschungen sind die Grundlage des Wortassoziationstests, der auf Wundt, Kraepelin und Aschaffenburg zurückgeht. Franz Riklin, der bei Aschaffenburg gearbeitet und geforscht hatte, aus persönlichen Gründen aber ans Burghölzli wechselte, brachte eine Variante des von Galton entwickelten Assoziationsexperiments mit. Jung beschäftigte sich zu dieser Zeit – zusammen mit von Muralt, der vor ihm bereits am Burghölzli arbeitete und der ihn dazu angeregt hatte – mit Gehirnschnitten an Tieren, um nach Läsionen als möglichen Ursachen für Geisteskrankheit zu suchen.4 Riklin war der Ansicht, dass man auch mit dem Assoziationsexperiment solche krankheitsauslösenden Läsionen finden könnte. Jung und Riklin, beide zu dieser Zeit noch Assistenzärzte am Burghölzli, entwickelten miteinander das Assoziationsexperiment weiter.5

Die Versuchsanordnung des Assoziationsexperiments von Wundt, die von Jung und Riklin übernommen wurde, war und ist einfach: Der Versuchsleiter oder die Versuchsleiterin nennt ein Wort, die Versuchsperson reagiert so rasch wie möglich mit dem Begriff, der ihr als Erstes einfällt: zum Beispiel zu »grün« mit »Wiese«. Man versucht also herauszufinden, welche Vorstellung in einem Menschen ausgelöst wird durch ein Wort, ein sogenanntes Reizwort. Gesucht wurden bei diesen Studien ursprünglich Regeln des Assoziierens oder Unterschiede zwischen den Assoziationen Kranker und Gesunder sowie eine eventuelle Unterscheidung verschiedener intellektueller Typen beim Assoziieren. Die Bedeutung der Aufmerksamkeit für die Assoziationen war von besonderem Interesse. Daher ermüdeten Kraepelin und Aschaffenburg die Versuchspersonen zusätzlich und stellten dann fest, dass die Art der Assoziationen unterschiedlich gebildeter Menschen, die normalerweise untereinander differiert, sich bei Ermüdung anglich: So nahmen z. B. die Klangassoziationen (Kuh –Muh) zu. Eine Zunahme der Klangreaktionen war aber auch, so fanden Jung und Riklin heraus, bei solchen Menschen auszumachen, die einen starken Affekt erlebt hatten und bei denen aus diesem Grunde die Aufmerksamkeit nachließ.

Überhaupt stellten sie fest, dass nicht immer ohne weiteres assoziiert werden konnte, obwohl die Sprache das erlauben würde. Es gab Reaktionen, die von Kraepelin als »Fehler« bezeichnet und für die Untersuchungen nicht weiter beachtet wurden. Diese sogenannten Fehler interessierten dagegen Jung und Riklin. Sie studierten zum Beispiel Assoziationen, die erst nach langer Reaktionszeit erfolgten oder die im Reproduktionsversuch nicht erinnert werden konnten. Sie fragten sich, auch beeinflusst von den Forschungen von Freud6, welche »Reminiszenzen« hinter einer solchen Reaktion, einem »Fehler« eigentlich, verborgen sein konnten. Dabei stellten sie fest, dass eine bedeutsame affektive Erinnerung, die mehr oder weniger verdrängt war, durch verschiedene Wörter angesprochen werden konnte und dass verschiedene Wörter zu ein und demselben Komplex führen konnten. Die verdrängte Reminiszenz – so schlossen sie – besteht aus einer mehr oder weniger großen Anzahl einzelner Vorstellungen, die durch den Affekt »zusammengehalten« werden.7

Jung war glücklich darüber, dass er die Verdrängungstheorie von Freud experimentell beweisen konnte. Wo nicht glatt assoziiert werden konnte, so Jung und Riklin, bezog sich das Reizwort auf eine peinliche »persönliche Angelegenheit«.8 Diese peinliche persönliche Angelegenheit nannten sie zunächst einen gefühlsbetonten Vorstellungskomplex, später einfach »Komplex«.9 Verbunden mit diesen Komplexen, stellten sie fest, war jeweils ein unbewusstes emotionales Problem. Das Thema dieser emotionalen Probleme erschließt sich, so Jung und Riklin, wenn man zu den Wörtern, die den Komplex ausgelöst haben, assoziiert. Jung benutzte zum Arbeiten an den Komplexen die Methode der Assoziation, aber nicht die der freien Assoziation, wie sie von Freud empfohlen wurde, sondern die der gebundenen Assoziation: Die Assoziationen sollen sich um das Wort, den Begriff, die Vorstellung gruppieren, die die Komplexreaktion ausgelöst haben, und so den Komplex in einen sprachlichen und damit auch thematischen Kontext stellen, so dass er verstanden werden kann. Assoziationen erfolgen aber auch häufig über Bilder, und damit eröffnet sich der Zugang zu den Komplexen über Fantasien, in Bildern ausgestaltete Fantasien und über Träume.

Die Forscher unterzogen sich anfangs des 20. Jahrhunderts wechselseitig dem Assoziationsexperiment und fanden heraus, dass es eine gute Methode war, um unbewusste oder halbbewusste Konflikte zu finden. Besonders bekannt wurde Jung durch seine Experimente, die er in seinem 1937 veröffentlichten Aufsatz »Zur psychologischen Tatbestandsdiagnostik«10 beschrieb: Menschen, die im Verdacht standen, ein Verbrechen begangen zu haben, wurden dem Assoziationsexperiment unterzogen. Auch bei seiner Vorlesung an der Clark University zeigte Jung, wie er mit dem Assoziationsexperiment eine Diebin überführen konnte.

Die Affektivität als Grundlage der Persönlichkeit

Durch das Assoziationsexperiment und die Komplexe fand Jung zu einer bis heute gültigen, wichtigen Grundaussage seiner Theorie: Wesentliche Grundlage der Persönlichkeit sei die Affektivität, sagt Jung in seinem Aufsatz »Der gefühlsbetonte Komplex und seine allgemeinen Wirkungen auf die Psyche« von 1906.11 Unter Affektivität versteht er Gefühl, Gemüt, Affekt, Emotion.

Diese Aussage mutet modern an. Es ist eine Idee, die heute weit verbreitet ist. Das menschliche Leben ist von Anfang bis zum Ende von Emotionalität begleitet – im Wachen und im Träumen. Ohne Emotion geht in der Psychotherapie gar nichts. Jede Erfahrung ist verknüpft mit Emotion. Jede Erinnerung ist mit Emotionalität verknüpft, oder wir erinnern nicht. Wandlung, Veränderung benötigt Emotion. Sowohl Emotionen, die zu stark sind und den Menschen stressen, als auch Emotionen, die zu schwach sind und ihre Funktion als »Orientierungsgeber« nicht erfüllen, müssen verarbeitet werden, das ist zentrales Anliegen jeder Psychotherapie, die sich mit dem Unbewussten beschäftigt. Erst dann ist es wieder möglich, durch die Emotionen und mit den Emotionen die Beziehung zur Außenwelt, aber auch zur Innenwelt so zu regulieren, dass nicht ständig Stress entsteht. In der therapeutischen Beziehung spielt die Emotionalität von beiden Beteiligten eine zentrale Rolle. Emotionen werden aber auch verarbeitet im Traum und in den Fantasien, und diese verarbeiteten Emotionen wirken auf das Bewusstsein ein, das wiederum einen Einfluss auf die Träume hat.12

Jung fand heraus, dass durch die Assoziationen zu den Reizwörtern der Komplex nach und nach benennbar wird und damit auch das Thema, das Grund einer Neurose ist: »Mit der Hilfe des Assoziationsexperimentes gelang mir der Nachweis, dass alle Neurosen autonome Komplexe enthalten, infolge deren störender Wirksamkeit die Individuen erkranken.«13

Andererseits betont Jung immer wieder, alle Menschen hätten Komplexe: Komplexe zu haben ist eine »normale Lebenserscheinung«14, Komplexe sind die »lebendigen Einheiten der unbewussten Psyche«15. Das heißt: Komplexe sind Ausdruck von Lebensproblemen, die auch zentrale Lebensthemen sind, also Themen, die in unserem Leben wirksam sind und verwirklicht werden wollen; sie sind Ausdruck von Entwicklungsproblemen, die auch Entwicklungsthemen sind.16 Sie machen unsere psychische Disposition aus. Zu Neurosen führen die Komplexe, wenn sie verdrängt oder abgespalten werden, wenn sie nicht integriert werden können. Jung hatte die Tendenz, zwischen Normalität und Pathologie wenig zu unterscheiden, er sah nur einen graduellen Unterschied. Mit Komplexen haben sich alle Menschen herumzuschlagen. Pathologisch wirken Komplexe dann, wenn wenige Komplexe mit einer so großen Emotion verbunden sind, dass das Ichbewusstsein sich damit nicht auseinandersetzen kann, sie verdrängen oder gar abspalten muss. Auch abgespaltene Komplexe, verursacht durch traumatische Erfahrungen, bewirken, dass die Anpassung an die soziale Welt, aber auch an die eigene Innenwelt, im höheren Maße erschwert ist.

Die routinemäßigen Assoziationsexperimente langweilten Jung dann zunehmend, ihre mathematische Auswertung überließ er gerne Riklin,17 die Theorie der Komplexe aber bestimmte durchgehend seine Psychologie; sie war so wichtig, dass er sie 1934, in der Antrittsvorlesung für eine Professur an der ETH in Zürich, zum Thema machte.18 In dieser Vorlesung fasste Jung die erzielten Forschungsergebnisse zum Komplex zusammen und gab auch eine Definition des Komplexes:

»Was ist nun, wissenschaftlich gesprochen, ein gefühlsbetonter Komplex? Er ist das Bild einer bestimmten psychischen Situation, die lebhaft emotional betont ist und sich zudem als inkompatibel mit der habituellen Bewusstseinslage und -einstellung erweist. Dieses Bild ist von starker innerer Geschlossenheit, es hat seine eigene Ganzheit und verfügt zudem über einen relativ hohen Grad von Autonomie, das heißt, es ist den Bewusstseinsdispositionen nur in geringem Maße unterworfen …«19

Generalisierte schwierige Erfahrungen sind in den Komplexen zu einer emotional belastenden Erfahrung verbunden, die zunächst wenig kontrollierbar ist. Jedes vergleichbare Erlebnis wird in der Folge im Sinne des Komplexes gedeutet und verstärkt den Komplex, das heißt, die Emotion, die diesen Komplex auszeichnet, wird verstärkt.20 In der Folge werden immer mehr Lebensereignisse komplexhaft eingebunden und erlebt.

Die Komplexe bezeichnen die krisenanfälligen Stellen im Individuum. Als Energiezentren machen sie die Aktivität des psychischen Lebens aus. Sie bewirken einerseits eine Hemmung des Lebens dadurch, dass der Mensch emotional in stereotyper Weise überreagiert, nicht der aktuellen Situation angemessen, sondern mit einem lebensgeschichtlichen Überhang. Durch die Abwehr dieser Emotion entstehen stereotype Verhaltens- und Erlebensweisen. In den Komplexen liegen aber auch Keime neuer Lebensmöglichkeiten.21 Sie beeinflussen weiter unsere Wahrnehmung von Welt, unsere Emotionen, unsere Ideenbildung, aber auch unsere somatischen Vorgänge. Kern der Komplexe ist jeweils ein archetypisches Thema.22

Wenn Jung von den Komplexen als »abgesprengten Teilpsychen«23 spricht, entspricht das dem, was wir heute Dissoziation nennen, wie sie vor allem bei traumatischen Erfahrungen vorkommt. Komplexe können entstehen, solange der Mensch lebt. Die meisten Komplexe, auch die, die später entwickelt werden, assoziieren sich allerdings oft mit früher entstandenen Komplexen.

Die Komplexepisode

Eine Beschreibung der Entstehung der Komplexe hat in den letzten zwanzig Jahren große Bedeutung bekommen und einige neue Perspektiven im Umgang mit Komplexen ergeben. Diese Definition Jungs ist besonders wichtig im therapeutischen Umgang mit Komplexen.

In einem Vortrag von 1928 spricht Jung über die Entstehung von Komplexen: »Er [der Komplex] geht offenbar hervor aus dem Zusammenstoß einer Anpassungsforderung mit der besonderen und hinsichtlich der Forderung ungeeigneten Beschaffenheit des Individuums.«24 Mit dieser Definition wird der Beziehungsaspekt bei der Entstehung des Komplexes ins Zentrum gerückt, und dieser Aspekt der Beziehung, auch in der Jung’schen Theorie, ist in den letzten Jahrzehnten immer wichtiger geworden.

Anschließend an diese abstrakte Definition spricht Jung dann über den Elternkomplex als erster Manifestation des Zusammenstoßes zwischen »der Wirklichkeit und der in dieser Hinsicht ungeeigneten Beschaffenheit des Individuums«25. Die Anpassungsforderung geht wohl in der Regel immer von Menschen aus, das heißt also, dass in unseren Komplexen strukturell und emotional die Beziehungsgeschichten unserer Kindheit und unseres späteren Lebens abgebildet sind. Daher stehen sich in dieser Sicht zwei Menschen gegenüber: ein Kind und eine Beziehungsperson. Ich nenne das die beiden Pole des Komplexes.

Komplexe entstehen aus Beziehungsepisoden; Komplexepisoden sind generalisierte Beziehungserfahrungen, die wir uns möglichst sinnenhaft, mit allen Kanälen der Wahrnehmung und mit der damit verbundenen Emotion vorstellen und dem Analytiker, der Analytikerin erzählen. Wir sehen eine Ähnlichkeit zu Daniel Sterns RIGs (Representations of Interactions that have been Generalized), und wie er sind wir der Ansicht, dass die Komplex­episoden durch das Episodengedächtnis (Tulving)26 verinnerlicht werden.27

Der Komplex konstelliert sich in Situationen, die der Präge­situation gleichen, in typischen Beziehungskonfliktepisoden, die sich im Alltag oder in der therapeutischen Situation zeigen können, aber auch in Träumen und Imaginationen.

Georg kam in die Therapie, weil er immer wieder an depressiven Verstimmungen litt, aber auch, weil er Wutausbrüche hatte, die er nicht verstand und auch nicht kontrollieren konnte. Mir fiel bald auf, dass er sich in sich zurückzog oder auch Zeichen von Wut zeigte, wenn ich ihn fragend anschaute.

Er interpretierte meinen Blick aber nicht als fragend, sondern als verachtend. So gingen wir auf die Suche nach dem verachtenden Blick in seiner Lebensgeschichte.

Georg erinnerte sich, dass er schon als kleiner Bub »immer nicht recht« (nicht in Ordnung) war – seine Eltern hätten ihn sich anders gewünscht, umso mehr, als er der einzige Sohn blieb. Er erinnerte viele Situationen, in denen ihm später auch verbal mitgeteilt wurde, dass er »dem Teufel vom Karren gefallen« sei. Das war eine Redewendung, die man an seinem Heimatort brauchte für Menschen, die ganz und gar nicht akzeptabel waren. Wenn dieser Ausdruck fiel – und andere vergleichbare –, empfand Georg die Eltern als ärgerlich und voll Verachtung, er selber schämte sich, wäre am liebsten im Erdboden versunken. Manchmal war er auch sehr wütend und sagte sich innerlich, eines Tages werde er sich rächen. Lichtblick in seinem Leben waren Groß­eltern, die ihm das Gefühl gaben, ein ganz normales, ja, sogar ein nettes Kind zu sein.

Die zentrale Komplexepisode »Ich bin immer nicht recht« konstellierte sich oft im Alltag: Es brauchte jemand Georg nur etwas von oben herab zu behandeln oder ihn fragend anzuschauen, schon war er sicher, dass der andere Mensch ihn ver­achtete, ihm Böses wollte, und er schämte sich, versank in eine depressive Verstimmung oder wurde unverhältnismäßig wütend.

Dieses Verhalten, das auf eine Komplexkonstellation hinweist, die ihm nur teilweise bewusst war, gegen die er sich auch nicht wehren konnte, belastete die Beziehungen an seiner Arbeitsstelle, die Beziehung zu Frau und Kindern, und konstellierte sich auch in der Psychotherapie.

Wenn sich eine Komplexepisode in der Psychotherapie konstelliert, kann an ihr gearbeitet werden. Man sucht Episoden in der Erinnerung, aber auch in Träumen, die den komplexhaften Erfahrungen ähnlich sind, man sucht Schlüsselsituationen aus der eigenen Geschichte. Dadurch, dass diese Schlüsselsituationen als Episoden möglichst lebendig erzählt werden, lassen sich Rückschlüsse ziehen: einmal auf das damalige Erleben des Kindes, was hilft, sich in die Situation des Kindes zurückzuversetzen und die Schwierigkeiten und Leiden der Prägesituation zu verstehen, zum anderen auch auf das Erleben und Verhalten der Beziehungsperson in der Prägesituation, mit der man sich als Erwachsener zumindest in Situationen, in denen der Komplex konstelliert ist, auch identifiziert,28 deren Part man als Erwachsener unbewusst natürlich auch spielt, obwohl der Erwachsenenpol in der Projektion erlebt wird. Sich über diese Identifikation bewusst zu werden und dafür Verantwortung zu übernehmen, ist außerordentlich schwierig, aber eine notwendige Voraussetzung dafür, dass sich komplexhaftes Verhalten und damit auch die Komplexe verändern können. Aus diesen Schlüsselepisoden lassen sich auch Rückschlüsse ziehen auf die Interaktionsform im Komplexbereich samt den damit verbundenen ambivalenten Gefühlen. Gelingt es, die komplexsetzenden Zusammenstöße zu sehen und zu erleben, werden immer mehr Episoden erinnert, die zur Bildung eines Komplexes und zur Übertragung des komplexhaften Verhaltens auf andere Menschen als die ursprünglichen Beziehungspersonen geführt haben.

Das Thema der Assoziation spielt also immer noch eine Rolle. Mehr aber als zu Beginn der Forschungen von Jung beachtet man heute Assoziationen und Übertragungen im Bereich von Narrationen, von Erzählungen, von Imaginationen. Schlüsselsituationen werden in einer möglichst lebendigen Erzählung mit einem anderen Menschen geteilt. Erzählen und Zuhören bilden eine Einheit, und je besser zugehört wird, desto besser kann auch erzählt werden.

Georg erkannte nach und nach die Wirkungen dieser Komplex­episode emotional, aber auch in seinem Verhalten, in alltäglichen Beziehungssituationen, aber auch in der Beziehung zu sich selbst. Er sagte sich selber oft, »er sei sowieso nicht recht«, und hemmte dadurch auch Ideen, die er durchaus hatte, die er aber immer wieder im Keime erstickte. Er konnte nach und nach feststellen, dass er nicht nur sich selbst, sondern auch anderen Menschen gegenüber identifiziert war mit den entwertenden Eltern. So konnte er leicht auch anderen Menschen das Gefühl geben, dass sie »nicht recht« sind, besser schweigen würden, noch besser gar nicht existieren würden. Emotionen und Verhalten, die mit dieser dominierenden Komplexepisode verbunden waren, erkannte er immer schneller, und er konnte sein Verhalten auch immer besser steuern. Wollte er sich im Selbstgespräch wieder einmal als »sowieso nicht recht« bezeichnen, dann fiel ihm ein, dass das für ihn jetzt nicht mehr stimmte, dass er sich das nicht mehr sagen wollte, meistens konnte er diese Bemerkungen unterlassen. Dann erfüllte ihn eine »unbändige Freude«, wie er sagte. »Plötzlich merke ich, dass ich in Ordnung bin, so wie ich bin, dass ich viele verschiedene Persönlichkeitszüge habe, die ich toll finde (dargestellt in Träumen, die er während der Bearbeitung dieser Komplex­episode träumte), dass ich meine Ideen ja formulieren darf, dass ich andere anregen darf, mich auseinandersetzen darf. Ich habe viel mehr Energie als früher – und Freude.« Symbolisch drückt er diese Erfahrung so aus: »Früher kam ich mir vor wie ein Baum, dessen Blüten immer wieder erfroren sind. Jetzt blühen sie, aus einigen wird etwas, aus anderen nichts – aber das ist schon recht so.«

Das Bearbeiten dieser schwierigen Komplexepisode hatte neues Beziehungsverhalten, neue Freiheit, neue Lebendigkeit gebracht und ermöglichte es ihm, in seinen Lebensbereichen kreativer zu sein.

Die Komplextheorie ist ein wichtiger Aspekt der Jung’schen Psychotherapie. Es ist die Konflikttheorie, die auch eine Entwicklungstheorie ist: Wo Komplexe gesetzt worden sind, ist eine Entwicklung zum Stillstand gekommen. Arbeit an den Komplexen bedeutet nicht nur, dass Menschen in Beziehungen emotional befriedigender reagieren können, sondern auch, dass Seiten von ihnen, die lange brachgelegen haben, ins Leben integriert werden können, was bewirkt, dass das Leben reicher wird.

In der tiefenpsychologisch orientierten Psychotherapie, bei der man sich auf einige wesentliche Konflikte und deren Bearbeitung konzentriert, sind es aus Jung’scher Sicht die Komplexepisoden, mit denen man sich beschäftigt. Dabei geht es aber nicht nur um die Bearbeitung der Komplexepisoden und die damit verbundenen Emotionen, wie sie sich in Beziehungen zeigen; es gibt weitere kreative Möglichkeiten, sich mit den Komplexen auseinanderzusetzen, indem man an den Symbolen arbeitet, die Ausdruck und Verarbeitungsstätte von Komplexen sind.

Komplex, Symbol und Traum

Wesentlich in der Jung’schen Sicht der Psyche und der Psychotherapie ist die Verbindung von den Komplexen zu den Träumen: »… sie [die Komplexe] sind die handelnden Personen unserer Träume …«29, und: »Die Traumpsychologie zeigt mit aller nur wünschenswerter Deutlichkeit, wie die Komplexe personifiziert auftreten, wenn kein hemmendes Bewusstsein sie unterdrückt.«30