Wider Angst und Hass - Verena Kast - E-Book

Wider Angst und Hass E-Book

Verena Kast

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Beschreibung

Wieder einmal sind wir konfrontiert mit viel Hass in der Welt-und mit viel Angst. Noch nie waren so viele Menschen auf der Flucht, um Tod und Zerstörung zu entgehen. Es stehen große Veränderungen an, und das löst Angst aus. Oft scheint es, dass diese Angst auch noch künstlich geschürt wird. Sie schlägt dann um in blanken Hass. Menschen suchen nach Schuldigen, die eliminiert werden sollen: die Fremden. Die renommierte Jung?sche Analytikerin Verena Kast zeigt: Die Veränderungen, die das Fremde mit sich bringt, können auch eine Herausforderung zur Entwicklung sein-wenn wir bereit sind, uns wider den Hass zu entscheiden und zu lernen, mit der Angst umzugehen. Es gilt, uns mit den Fremden, die zu uns kommen, aber auch mit dem Fremden in uns selbst neu in Beziehung zu setzen. Ein hochaktuelles Buch, das wichtige Impulse für ein neues Zusammenleben gibt.

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Cover

Haupttitel

Inhalt

Über die Autorin

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Verena Kast

Wider Angst und Hass

Das Fremde als Herausforderung zur Entwicklung

Patmos Verlag

Inhalt

Vorwort

Hass

Vom Ärger zum Hass

Reaktiver Hass und Hass als Charaktereigenschaft: eine Unterscheidung

Hass und Hässliches

Verantwortung für die eigene Destruktivität

Wie Hass entsteht – ein Beispiel aus der Psychotherapie

Der Hintergrund der Hassentwicklung

Komplexe und Komplexepisoden

Festhalten am Ressentiment – die seelische Selbstvergiftung

Ressentiment und Neid

Die Auseinandersetzung mit dem Ressentiment

Wie wird ein Mensch so hasserfüllt? Eine Zusammenfassung

Was chronischen Hass ausmacht

Die Dynamik von Angreifer und Opfer

Die Gefühlsansteckung

Hass auf das Fremde, das Andere

Angst und Faszination – Emotionen in Bezug auf das Fremde

Das Fremde

Die Faszination

Die Angst

Die Projektion des Schattens auf die Fremden

Vom Umgang mit der Angst

Was Angst mit uns macht

Angstkontrolle

Die Angst und der andere Mensch

Muster, der Angst zu begegnen

Lernen, mit der Angst umzugehen

Alles läuft auf die Identität hinaus

Von der Angst zum Fanatismus

Das Böse im anderen sehen

Die Verbindung von Fundamentalismus und Fanatismus

Der idealistische und der fanatische Mensch

Wege aus Hass und Angst

Was wir gegen Hass tun können – ein paar Ideen

Sich dem Hass entgegenstellen

Mit Hass auf Hass reagieren?

Liebe zum Leben statt Destruktivität

Der Angst vor dem Fremden vorbeugen

Mut zur Angst und Mut zur Hoffnung

Dank

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Vorwort

Wieder einmal sind wir konfrontiert mit viel Hass in der Welt – und mit viel Angst, allerdings auch mit viel Freundlichkeit, von der man jedoch weniger spricht. Gelegentlich bekommt man den Eindruck, dass die Angst geradezu künstlich geschürt wird, hochgeputscht wird, damit sie auch erregend genug ist. Wir fühlen uns dann umgeben von vielfältigen Gefahren, geradezu verfolgt von all dem Gefährlichen. Und das ist gefährlich: Menschen suchen in solchen Situationen Schuldige und möchten diese in ihrer Vorstellung Schuldigen eliminieren. Die Schuldigen, das sind unter anderem die Fremden.

In unserem Alltag – wenn wir nicht in einem sehr kleinen Ort wohnen – begegnen wir vielen Fremden. Wenn wir in einer Gruppe von Fremden sind, freuen wir uns über ein vertrautes Gesicht. Wir können aber auch Kontakt mit Fremden aufnehmen – und so werden sie uns vertraut.

Das Fremde ist immer eine Herausforderung. Vielleicht waren noch nie so viele Menschen unterwegs, um Tod und Zerstörung zu entgehen, um eine Möglichkeit zu finden, menschenwürdig zu leben – in der Fremde. Das heißt aber auch, dass große Veränderungen für alle anstehen – und das löst Angst aus, ist aber auch interessant, auf jeden Fall eine Herausforderung. Wollen wir diese Herausforderung annehmen, dann müssen wir uns wider den Hass entscheiden, mit der Angst um­gehen – und uns mit dem Fremden in uns, aber auch mit den Fremden, die zu uns kommen, in Verbindung setzen. Es geht darum, die Anregungen zur Entwicklung aufzunehmen, uns erneut Gedanken über das Zusammenleben zu machen. Dazu will dieses Buch anregen.

St. Gallen, im August 2016

Verena Kast

Hass

Was ist Hass? Hass bewirkt eine machtvolle Abwendung vom Gehassten, eine Ablehnung, eine Abgrenzung, schafft Distanz, verbunden mit dem Wunsch zu zerstören, und gleichzeitig bleibt man im Hass in eigentümlicher Weise gebunden an das Gehasste, verklammert mit dem Gehassten. In seiner Intensität ist der Hass der Liebe vergleichbar. Ihr wird er auch entgegengesetzt, und damit wird suggeriert, dass die Liebe den Hass ausgleichen könnte, meistens verbunden mit der Hoffnung, die Liebe möge den Hass etwas übertreffen. Wer kennt nicht den Hass aus enttäuschter Liebe, Hass, weil ein Bindungsangebot nicht angenommen wurde, nicht mehr angenommen wird, nicht angenommen werden konnte. Könnten das Auslöser für Hass sein: Bindungsverluste, die einem sehr wichtig waren und die man einmal hatte, oder vermeintlich hatte, Bindungsangebote, die nicht beantwortet werden, Bindungsverluste, weil der andere Mensch eben ein anderer ist, nicht so funktioniert, wie man es sich selber vorstellt?

Vom Ärger zum Hass

Ärger1 ist die Emotion, die wir für unsere Selbsterhaltung und für unsere Selbstentfaltung brauchen, das heißt aber auch: Wir brauchen den Ärger, um unsere Individualität, unsere Integrität und unseren Freiraum im Zusammensein mit anderen Menschen zu schützen, und zwar so, dass wir uns zusammen mit einem anderen Menschen, der auch auf seine Integrität und seine Identität in der Verbundenheit mit einem anderen pocht, entwickeln können.

Werden wir in unserer Selbsterhaltung gestört, werden wir etwa beleidigt, gedemütigt, körperlich angegriffen, so angefasst, so behandelt, wie wir es nicht wollen, dann empfinden wir das als ungerecht, werden ärgerlich und mahnen ein Verhalten an, das uns angemessen erscheint. Wollen wir uns entfalten, einem neuen Interesse nachgehen, und andere Menschen hindern uns daran, dann werden wir auch ärgerlich und reklamieren zum Beispiel eine bessere Balance in der Beziehung. Das Gefühl des Ärgers sagt uns, dass die Balance zwischen dem Ich und dem anderen in der Beziehung aus dem Gleichgewicht geraten ist. Solange wir in einer Beziehung oder auch im öffentlichen Raum darüber sprechen können, werden wir das Problem benennen. Fühlen wir uns aber zu schwach, weil unser Selbstwertgefühl zu unsicher ist, wagen wir den Konflikt nicht, versuchen stattdessen mit Fantasien der Rache, wieder Gerechtigkeit herzustellen. In persönlichen Konflikten müssen wir diese Rachefantasien meist gar nicht ausführen; allein sie zu haben, stabilisiert schon das destabilisierte Selbstwertgefühl – und man kann sich wieder überlegen, wie mit der Konfliktsituation umzugehen ist, so dass eine gewisse Ausgewogenheit wieder spürbar ist. Es fühlt sich dann etwas weniger ungerecht an. Das zeigt sich besonders auch in Situationen, in denen man sehr gedemütigt worden ist. Aus dem Gefühl der Scham, das aus der Demütigung folgt, entspringen aggressive Rachefantasien, die man möglicherweise auch vor sich selber verbirgt und die auch destruktiv sein können, wie etwa die Rachefantasie einer von ihrem Mann verletzten Frau, ihn mindestens eine Woche lang weder anzusehen noch mit ihm zu sprechen.

Die Emotion Ärger und die Gefühle des Ärgers haben unterschiedliche Intensität: Man kann sich ein wenig ärgern, kann aber auch sehr wütend werden, zornig, vor Wut aus der Haut fahren. Im Hass sind Ärger und ärgerbedingte Aggression mitenthalten, dennoch ist der Hass viel komplexer, viel destruktiver als Ärger und Wut es normalerweise sind. Da ist keine Aggression mehr, sondern nur noch Destruktion.

Es gibt einen großen Unterschied zwischen Ärger und Hass: Wer sich ärgert, glaubt daran, dass die Welt verändert werden kann – dazu fordert das Gefühl des Ärgers ja gerade auf. Wer hasst, glaubt nicht mehr daran, dass die Welt im Guten verändert werden kann, und möchte zerstören. Ärger, Wut – das sind dynamische Emotionen, die verändern und die sich auch in sich verändern. Eine große Wut z.B. kann hochschießen, und auch da könnte man etwas zerstören, aber die Wut fällt auch wieder in sich zusammen, vor allem nachdem man herausgefunden hat, was man verändern möchte, oder auch, wie man das verletzte Selbstwertgefühl wieder in eine gute Balance bringen kann.

Hass dagegen, eine machtvolle Mischung aus Emotionen, Gefühlen und kognitiven Überzeugungen, die zu einer hasserfüllten Haltung führen, ist dauerhaft, beständig, statisch, und will durch Zerstörung ver­ändern: durch das Zerstören überhaupt, aber auch dadurch, dass bei anderen das hinreichend gute Selbstwertgefühl vernichtet wird oder ihnen ihre Daseinsberechtigung abgesprochen wird. Auch da geht es um Demütigung, und um Sadismus. Hass entwickeln wir auf etwas, das wir verabscheuen und gegen das wir uns nicht erfolgreich aggressiv wehren können. Gefühle von Ohnmacht, von Angst, von Scham angesichts von etwas, das man im hohen Maße als ungerecht empfindet, können durch den Hass abgewehrt werden: durch Rachefantasien, die zum Hass gehören und die Fantasien der Demütigung, ja des Auslöschens der Kontrahenten sind, soll diese Ungerechtigkeit aus der Welt schaffen, Gerechtigkeit wiederherstellen – aber das ist so nicht möglich.

Verbunden mit dem Hass und in ihm verborgen sind außer Angst und Scham auch noch andere Gefühle, vor allem der Neid und die Eifersucht.2 Es ist ungerecht, dass andere haben – und das ist eine Fantasie –, was man selber verdient hätte, haben müsste, wozu man das Recht hätte, es zu bekommen. Der Neid­erreger, die Neiderregerin ist dann „schuld“, dass es einem nicht so gut geht, wie man denkt, dass es einem gehen müsste. Dann verabscheuen wir, was ein anderer hat, tut, kann; wir möchten es zerstören. Was gehasst wird, wird oft auch insgeheim beneidet. Man fühlt sich zu kurz gekommen und hält den anderen Menschen für die Ursache dieser Erfahrung. Gäbe es ihn oder sie nicht, müsste man nicht neiden. Aber das, was man hasst, möchte man insgeheim haben.

Natürlich steht man nicht zu diesem Neid. Es ist ja gerade das Problem von hasserfüllten Menschen, dass die starken Gefühle, die immer wieder einmal auftreten und die hinter der Entwicklung zum Hassen stehen – wie Scham, Wut, Neid, Eifersucht, Ohnmacht und die riesige Angst vor der Ohnmacht – nicht wahrgenommen werden dürfen. An ihrer Stelle steht der Hass mit den Rachefantasien oder aber auch – noch weiter entfernt von lebendigen Emotionen – der menschenverachtende Zynismus („Sollen die doch im Mittelmeer ersaufen, wir haben sie ja nicht gerufen!“).

Hass und Rachefantasien beruhen letztlich auf dem „RAGE System“, einem der primär-prozesshaften Emotionssysteme, die wir mit den Tieren teilen.3 Im Laufe der Entwicklung eines Menschen werden die verschiedenen Emotionen im Kontakt mit den anderen Menschen belebt. Gefühle und Gedanken verbinden sich miteinander, auch beim Sich-Erinnern, und so werden diese an sich ursprünglichen Emotionen mit sprachlichen, kognitiven, bildhaften Prozessen verknüpft. Das heißt: Die Gefühle können wahrgenommen und aus­gedrückt werden, und man kann auch darüber re­flektieren, also auch Abstand zu ihnen schaffen. Jaak Panksepp spricht in diesem Zusammenhang von einem tertiären Level. Das gilt auch für den Hass. Wer hasst, weiß, wo er oder sie ungerecht behandelt worden ist, hat Bilder der Rache zur Verfügung, könnte sich aber auch versöhnen. Die Idee, sich zu versöhnen, kann nur von diesem tertiären Level aus kommen. Im Hass steckt so besehen durchaus auch Wut, aber diese ist schon mit vielen Überzeugungen durchsetzt.

Reaktiver Hass und Hass als Charaktereigenschaft: eine Unterscheidung

Reaktiver Hass

Der Hass grenzt ab, schafft Abstand; er kann eine Situation freilegen, wie sie wirklich ist und nicht wie wir sie, etwas geschönt, gerne sehen. Der Hass kann den Schleier der Verstellung, des Zudeckens, für einen Moment zerreißen. Ein Moment der Wirklichkeit, die auch gilt. Es ist nicht die einzige Wirklichkeit, aber vielleicht die, die wir am ehesten verdrängen, die wir nicht sehen wollen. Wenn wir aber im Hass steckenbleiben, er länger dauert als notwendig, um etwas Wichtiges freizulegen, dann sind wir hasserfüllt, und diese Perspektive wird sich leicht verabsolutieren. Da wird dann nicht mehr etwas oberflächlich Geschöntes zerrissen, um einer differenzierteren Wirklichkeit zur Existenz zu verhelfen, sondern es wird die Wirklichkeit der Brutalität an die Stelle der Wirklichkeit auch des Schönen gesetzt.

Hass kann durchaus sinnvoll sein: Wenn eine objektive Gefahr besteht, die mich oder meine Lieben, meine Werte, meine Ideale zu zerstören droht, ist Hass angemessen und setzt Kräfte frei. (Die Frau, die vergewaltigt wird, hasst den Vergewaltiger; der Mensch, der gefoltert wird, hasst den Folterer.)

Auch der Hass, wenn er nicht zu einer Dauerhaltung wird, hat seinen Sinn. Auch er zeigt uns etwas Wichtiges: Er kann uns dazu führen, den Verhältnissen mehr auf den Grund zu gehen, als wir dies normalerweise tun. Er muss aber durch die Liebe, auch zum Schönen, ergänzt sein, soll dieses „Zerreißen der Oberfläche“ nicht destruktiv werden. So falsch wir die Welt und die Mitmenschen sehen, wenn wir ganz vom Hass dominiert sind, so falsch können wir sie auch sehen, wenn wir den Hass nicht zulassen.

Hass als Charaktereigenschaft

Im Unterschied zum reaktiven Hass gibt es den Hass als Charaktereigenschaft, Hass, der sich in die Persönlichkeit eingeprägt hat und sich als eine beständige Feindseligkeit dem Leben gegenüber zeigt, verbunden mit der kognitiven Überzeugung, ungerecht behandelt zu werden, sich aber dennoch nicht als Opfer verstehen zu wollen, sondern als Rächer.

Spinoza4 schreibt, jemanden zu hassen bedeute, sich einen Menschen als Ursache der eigenen Trauer vorzustellen. Das Wort „Vorstellung“ ist dabei wichtig: Jemand muss nicht der Ursprung unserer Trauer, unserer Kränkung, unserer Demütigung sein, es genügt, wenn wir uns vorstellen, dass er oder sie es ist. Das wird besonders deutlich in Situationen, in denen wir neiden. Nun kann man sich alle möglichen Situationen vorstellen, in denen wir meinen, andere Menschen würden uns etwas wegnehmen. Das Problematische am Hass ist deshalb, dass er aus der ursprünglichen Situation, die den Hass verursacht hat, herausgelöst und dann übertragen wird auf bestimmte Menschengruppen: auf die Frauen, die Männer, die Fremden, die Flüchtlinge, die Schwarzen usw. Damit können aber die ursprünglichen Situationen, die den Hass ausgelöst haben, auch nicht mehr bearbeitet werden.

Hass und Hässliches

Etymologisch ist Hass auch mit „hässlich“ verbunden. Lässt uns der Hass die Schönheit suchen? Oder macht Hass bloß hässlich? Oder demaskiert Hass Oberflächliches, allzu Glattes, was letztlich auch hässlich ist, weil es falsch ist?

Das Hässliche ist hassenswert. Und wenn wir das Hässliche hassen, dann müssen wir es verändern, müssen wir das Schöne freilegen – so Peter Handke.5 Er ist der Ansicht, wir seien selber verantwortlich für unsere Hässlichkeit, für die Hässlichkeit unserer Städte – das Hässliche sei aus Nachlässigkeit entstanden. Der Hass auf die Hässlichkeit soll uns dazu bringen, das Schöne zu suchen oder uns zumindest bewusst zu werden darüber, dass es hier ein Problem gibt. Denn aus dem Hass wird die Gewalt, aus dem alltäglichen Hass die alltägliche Gewalt. Die Schönheit und das Schöne im Menschen geht unter – Grund genug, sich gegen das Hässliche zu wenden.

Hass macht aber auch hässlich. Menschen, die andauernd hassen, werden hässlich. Ihre Mimik drückt Ekel, Verachtung, Willen zur Vernichtung aus. Das ist nicht schön. Die Atmosphäre des Hässlichen verdirbt die Freude.

Es gibt so viel Hässliches in der Welt. Muss man es hassen? Man muss nicht: Man kann es bekämpfen, beklagen, hinnehmen – aber man muss es nicht hassen. Man will dem Hässlichen ja nicht so viel Macht über sich geben, man will nicht ständig vom Gefühl des Hasses bestimmt sein. Es gilt aber, das Hässliche zu sehen und auch dort zu bekämpfen, wo es bekämpft werden kann. Das kann gelingen, wenn man um das Häss­liche weiß als etwas, das in unserer Welt vorkommt und das zu bekämpfen ist, das bekämpft werden kann. In diesem Sinne muss man in Bezug auf das Hässliche zunächst doch hassen, muss man profund und nachhaltig nicht einverstanden mit ihm sein und es zerstören, eliminieren wollen.

Verantwortung für die eigene Destruktivität

Donald W. Winnicott, ein englischer Psychoanalytiker, sagte über den Hass:6 Hass und die damit verbundene Aggression und Destruktivität gehören zum Menschen. Man muss also lernen, damit umzugehen. Wie das geschehen kann, zeigt Winnicott an der folgenden Beobachtung: Kinder haben in ihrer Entwicklung zerstörerische Fantasien, sie zerstören auch real, sind darüber erschrocken und traurig, entwickeln unbewusst Schuldgefühle, es tut ihnen leid, und sie wollen wieder gutmachen, was sie zerstört haben. Das Kind lernt dabei intuitiv: Man kann Menschen nicht nur hassen, man kann Menschen auch lieben. Diese Erfahrung überträgt Winnicott auf eine Dynamik, die bei allen Menschen wahrgenommen werden kann: Es gibt eine Störung in der Beziehung, man reagiert mit Destruktivität, zerstört etwas, wird darüber traurig, entwickelt ein Schuldgefühl, und wenn Trauer über das Verhalten und die Schuldgefühle wahrgenommen werden können, kann der Mensch konstruktiv werden, fallen ihm durch eine liebevolle Auseinandersetzung Lösungen ein, findet er aus dem Hass in die Verbundenheit, aus dem Hass in die Liebe. Wer diese Dynamik erlebt, immer wieder erlebt hat im Leben, kann auch zerstörerische Fantasien, Fantasien des Hasses, zulassen, ohne sie auf andere projizieren zu müssen. Diese Dynamik des Umgangs mit Hass ist wichtig, wir werden darauf zurückkommen. Letztlich geht es darum, Verantwortung für alle Gefühle, die wir haben, übernehmen zu können.

Wie Hass entsteht – ein Beispiel aus der Psychotherapie

Marcel hasst alle und jeden – vor allem die Fremden, alle, denen es so gut geht, die „Secondos“ (so werden in der Schweiz Menschen mit Migrationshintergrund der zweiten Generation genannt). Er ist 22 Jahre alt, hat seine Berufslehre abgeschlossen, wird aber von seiner Firma nicht übernommen, sie hätten jetzt lange genug unter seinem schwierigen Charakter, seinen Drohungen und Hasstiraden gelitten, berichtet er. An seiner Stelle hätten sie einen „aalglatten“ Secondo eingestellt. Da er von Zerstörungs- und Suizidfantasien spricht, bringt ihn eine seiner Schwestern dazu, in eine Therapie zu gehen. Er hasst diesen Gedanken. 20 Sitzungen gibt er mir, um mir zu beweisen, dass ich etwas kann (ich höre heraus: „Dass Sie nichts können!“).

Marcel schimpft über all die Secondos, die ihm und den anderen Schweizern die Arbeit wegnehmen werden. Er stößt Drohungen aus gegen all die Fremdenfreunde und schaut auch mich etwas prüfend an dabei – ich spüre den Hass, aber auch die große Unsicherheit hinter seinem überforschen Auftreten. Ich spreche mit ihm darüber, wie er sich gefühlt habe, als er die Nachricht bekam, dass er nicht übernommen werde. „Das sind natürlich alles Idioten im Geschäft, die sind immer so ‚hässig‘, nicht ich. Drohungen? Dass ich nicht lache! Ich habe nur gesagt, was gesagt werden musste! Was? Dass ich eines Tages die Bude in die Luft sprenge, wenn sie nicht anständiger mit mir sind …“ Er selbst hat den Durchblick, alle anderen sind bescheuert und gemein; er allein macht alles richtig, niemand sonst. Seine Schattenanteile sind voll projiziert. Schattenanteile sind Aspekte der Persönlichkeit, die wir nicht akzeptieren können. Wenn wir sie anerkennen, dann beeinträchtigt das zunächst unser Selbstwertgefühl.7 Marcel hat ein sehr fragiles Selbstwertgefühl, das er mühsam aufrechterhält, indem er ein großartiges Bild von sich selbst geradezu herbeischreit und indem er, wenn die Welt ihn nicht auch so großartig sieht, den anderen die Schuld gibt. Er selbst würde ja alles richtig machen, wenn es nur die anderen nicht gäbe. Und natürlich ist das ihn Beeinträchtigende, das ihm geschieht, in hohem Maße ungerecht.

Seine Selbstgerechtigkeit, verbunden mit Feindseligkeit, ist schwer zu ertragen. Hätte ich nicht seine unterschwellige, große Angst gespürt, ich hätte ihn weggeschickt. Mit so viel Hass und Selbstgerechtigkeit wollte ich nichts zu tun haben! Aber ich spürte die Angst hinter den markigen Sprüchen. Und das löste Mitgefühl in mir aus.

Der Hintergrund der Hassentwicklung

Marcel hatte in seinem Leben ihn tief verletzende, schwierige Erfahrungen gemacht, die sein Leben noch immer bestimmen.