Vom Sinn des Ärgers - Verena Kast - E-Book

Vom Sinn des Ärgers E-Book

Verena Kast

4,8

Beschreibung

Ärger entsteht, wenn Selbsterhaltung, Selbstgestaltung und Selbstverwirklichung von anderen behindert oder gestört werden. Doch er kann auch den Weg zu größerer Lebendigkeit weisen und neue Energien erschließen. Dann wird Ärger nicht aggressiv oder zerstörerisch, sondern kann in eine für alle produktive Auseinandersetzung führen. Es geht darum, neue Grenzen zu ziehen und Schluss zu machen mit den eigenen und gegenseitigen Verletzungen. Wir müssen uns also nicht ärgern über unseren Ärger – er hat einen produktiven Sinn.

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Das Buch

Ärger entsteht, wenn Selbsterhaltung, Selbstgestaltung und Selbstverwirklichung von anderen behindert oder gestört werden. Doch er kann auch den Weg zu größerer Lebendigkeit weisen und neue Energien erschließen. Dann wird Ärger nicht aggressiv oder zerstörerisch, sondern kann in eine für alle produktive Auseinandersetzung führen. Es geht darum, neue Grenzen zu ziehen und Schluss zu machen mit den eigenen und gegenseitigen Verletzungen.

Die Autorin

Verena Kast, Psychotherapeutin, Dozentin, Lehranalytikerin am C.G.-Jung-Institut Zürich, Professorin und Ehrenpräsidentin der Internationalen Gesellschaft für Tiefenpsychologie, erfolgreiche Autorin zahlreicher Bücher.

© Kreuz Verlag in der Verlag Herder GmbH,

Freiburg im Breisgau 2005

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2023

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: © taylan_ozgur/GettyImages

E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe

ISBN Print 978-3-451-03415-2

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83169-0

Inhalt

Einstimmung

Eine Emotion im Zentrum des Interesses

Das Emotionsfeld Ärger

Ärgermotivierte Aggression

Ärger – das Gegenstück des Vergnügens

Was Ärger auslöst

Begriffsklärung: Ärger – Wut – Zorn – Hass

Der Wutanfall

Die Emotionskontrolle

Wir – die wir Ärger produzieren

Die Funktion des Ärgers

Die Ärgerbiographie

Die Ärgerphantasien

Ärgerphantasien und Selbstwertgefühl

Ärgerphantasie mit Wechselwirkungen

Ärgerphantasien zur Wiederherstellung der narzisstischen Homöostase

Destruktive Ärgerphantasien

Ausdifferenzierung der Ärgerphantasien mit Wechselwirkung

Ärgerphantasien als Befürchtungsphantasien

Ärgerphantasie als Abwehr von Angst

Ärger in der Besorgnisphantasie

Die Hemmung von Ärger und Aggression

Abwehrkonzepte im Zusammenhang mit Ärger

Projektion

Projektion mit Reaktionsbildung

Die masochistische Abwehr

Identifikation mit Angreifer oder Angreiferin

Verleugnen und Umdeuten

Die verschobene Aggression

Die wünschbare Aggressionshemmung

Die problematische Aggressionshemmung

Aggressionshemmung als künstliche Einengung

Aggressionshemmung als »gedrückte Stimmung«

Missverständnisse der Aggressionsgehemmten

Psychosomatische Begleiterscheinungen von Ärger

Die passive Aggression

Beispiele für passive Aggressionen

Passive Aggression: Delegation an den Körper

Passive Aggression: Schweigen

Das Enttarnen der passiven Aggression

Autoaggression – Selbstaggression

Die alltäglichen Selbstvorwürfe

Die depressive Struktur

»Das Selbst« und »der Andere«

Suizidalität

Selbstschädigendes Verhalten

Tiefenpsychologische Hintergründe für verschiedene Ärgerformen

Das Ich und das Wir

Komplexprägung: Der Zusammenstoß von Eigenwille und Fremdwille

Der projizierte Elternpol des Komplexes

Der fehlende Ichpol des Komplexes

Gerechtigkeitsgefühle

Wiedergutmachung

Rache

Die kleine Rache beim Helfen

Überaktivierung des Gerechtigkeitsgefühls

Schuldgefühle

Warum Schuldgefühle?

Wie wir ein Schuldgefühl erleben

Der aggressive Umgang mit Schuldgefühlen

Angriff als beste Verteidigung – ein Beispiel

Der depressive Umgang mit Schuldgefühlen

Der konfrontierende Umgang mit Ärger und Schuldgefühlen

Streiten

Wie aus einem Ärger ein Streit wird

Die Macht der Worte

Verbale Geschliffenheit

Offene verbale Ärgeräußerungen

Schimpfwörter gebrauchen

Beschämen

Indirekte verbale Ärgeräußerung

Das Gerücht

Der Klatsch

Unversöhnlichkeit

Die narzisstische Persönlichkeitsstörung

Narzisstische Wut oder Trennungsangst

Vom konstruktiven Umgang mit Ärger und Aggression

Den Sinn der Ärgers anerkennen

Ärger und Aggression enttarnen

Die Verantwortung für das Selbstwertgefühl

Praktisch: konstruktiver Umgang mit Ärger und Aggression

Geschlechtsspezifische Unterschiede

Vorurteile und ihre Folgen

Geschlechtsspezifische Unterschiede anhand von Ärgergeschichten

Aggressionstheorien und Gewalt

Aggressionstheorien

Zur Triebtheorie

Zu den Aggressions-Frustrations-Theorien

Zu den Motivationstheorien

Zur Ärger-Aggressions-Theorie

Ein Beitrag zur Gewaltdiskussion

Die Verstofflichung des Menschen – die Entstofflichung der Dinge

Die Nekrophilie

Die Analyse der paranoiden Einstellung

Danksagung

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Einstimmung

Zur Einstimmung stelle ich Ihnen einige Fragen, die Sie sich selber kurz beantworten können – oder auch nicht. Erinnern Sie sich an einen Ärger in letzter Zeit? Wenn ja, was haben Sie damit gemacht? Den Ärger verdrängt? So getan, als ärgerten Sie sich überhaupt nicht? Haben Sie den Konflikt, der den Ärger oder die Kränkung ausgelöst hat, angesprochen? Sind Sie kreativ mit dem Ärger umgegangen? Oder haben Sie einen Dauerlauf gemacht – aus Ärger? Haben Sie überhaupt etwas damit gemacht? Oder haben Sie einfach gewartet, bis der Ärger wieder vergangen ist?

Und jetzt die umgekehrte Version: Wann haben Sie zum letzten Mal jemanden so richtig geärgert? Auch wenn Sie meinen, der betreffende Mitmensch hätte sich ganz ungerechtfertigterweise geärgert, versuchen Sie sich dennoch in die Situation einzufühlen, in der Sie den Ärger eines Mitmenschen erregt haben. Wann war jemand so richtig ärgerlich Ihretwegen – und wie hat sich das angefühlt? Dieser Zugang zum Ärger ist schwieriger. Zum einen wollen wir es nicht wahrhaben, dass auch wir andere Menschen ärgern, und zum andern ist es natürlich so, dass die Mitmenschen uns nicht notwendigerweise den Ärger zeigen, so dass wir uns vormachen können, wir würden nur selten Ärger erregen.

Es könnte nun sein, dass die eine oder der andere sagt: Ich ärgere mich gar nie. Dann wäre zu fragen, welcher andere Ausdruck bei Ihnen für die Erfahrung »Ärger« steht. Es gibt Menschen, die ärgern sich angeblich nie, die sind nur immer so leicht traurig, wobei Trauer durchaus einen Anteil von Ärger in sich haben kann. Wieder andere sind einfach immer irritiert. Das Wort »irritiert« ist ein emotionaler Alleskleber. Wann immer man nicht zu einem eindeutigen Gefühl stehen will, sei es Angst, sei es Aggression, Wut, Ärger usw., kann man sich irritiert geben. Das ist nie falsch, aber es ist auch nie präzise, und man wird nie wissen, welche Emotionen wirklich erlebt werden und was sie eigentlich bedeuten.

Eine Emotion im Zentrum des Interesses

Die Emotionen haben immer mit dem Selbsterleben und dem Selbstausdruck eines Menschen zu tun. Menschen können von Anfang ihres Lebens an verschiedene wahrnehmbare und beschreibbare Emotionen erfahren, und alle diese Emotionen bilden den affektiven Kern unseres Selbsterlebens1, der es uns ermöglicht, Kontinuität im Identitätserleben zu erfahren. So besehen sind die Emotionen das Zentrum unseres Identitätserlebens. Sagen wir zum Beispiel: »Ich bin nicht bei mir«, dann meinen wir meistens, dass wir nicht im Kontakt mit unseren Emotionen sind, uns daher auch unlebendig fühlen. Ist jemand so ganz und gar emotionslos, dann ist es kaum möglich, mit diesem Menschen in Kontakt zu kommen. Beziehung, Bindung, Kommunikation unter Menschen beruht vorwiegend auf emotionalem Austausch. Aber auch die Motivation zum Handeln stammt aus der Emotion.2

Wenn wir von Emotionen sprechen, dann sprechen wir also von etwas, das uns ganz unmittelbar angeht, uns ausmacht und zwar durch unser ganzes Leben hindurch. Emotionen müssen immer lebenslauforientiert studiert werden. Die Emotionsbiographie ist ein ganz wichtiger Aspekt des Lebenslaufs.

Jede Emotion hat eine bestimmte Erlebnisqualität und einen Anreiz zu bestimmtem Verhalten. So regt Ärger an, Grenzen zwischen Menschen zu bereinigen, oder zumindest über Grenzen nachzudenken, aber auch, sich mit dem verletzten Selbstwert auseinander zu setzen. Diese Emotion reguliert Schwierigkeiten mit unseren Grenzen, reguliert unseren Selbstwert bei Erfahrungen von etwas Beleidigendem und/oder Aversivem, reguliert aber auch unsere Beziehung zum Unbewussten, unsere Beziehung zum Körper und unsere Beziehung zum Du, aber auch zur Gesellschaft. Deshalb meine ich, dass die Emotionen ein ganz zentrales Thema jeder Psychologie sind, aber auch viele Bereiche der Psychologie verbinden. Emotionen haben ihre Bedeutung in der Tiefenpsychologie, sie haben zu tun mit unserer Geschichte und unseren Komplexen, die wir in unserem Leben uns zugezogen haben.3

Emotionen sind aber auch Thema der Ausdruckspsychologie. Emotionen werden ausgedrückt und sind Ausdruck dessen, was in uns vorgeht. Emotionen gehören zum Thema der Beziehung: Sie werden in Beziehungen ausgedrückt, und die Emotionen wirken auf die Beziehungen zurück, gerade etwa der Ärger. Emotionen sind aber auch Thema der Neuropsychologie. Setzt man sich mit einer Emotion auseinander, dann wird man sie immer wieder in neuen Zusammenhängen beschreiben und zu verstehen versuchen4. Dadurch hat man immer einen Aspekt der Emotion und die damit zusammenhängenden Beziehungen im Fokus, andere Aspekte treten in den Hintergrund. Das bedeutet aber auch, dass Wiederholungen unumgänglich sind. Die Emotion wird im Grunde genommen so lange umkreist, bis sich produktive Fragestellungen für das menschliche Leben und Zusammenleben formulieren lassen.

Sehr viele Aspekte der Psychologie, aber auch des menschlichen Lebens ganz allgemein lassen sich also unter dem Fokus einer Emotion Gewinn bringend studieren. Weil Emotionen so zentral unser Selbsterleben berühren, haben sie einen direkten Bezug zu unserem Alltagsleben und den Alltagsproblemen. Sie sind das Alltäglichste, Allergewöhnlichste und ständig Gegenwärtige, und sie wirken bis hinein in die Träume – sie bestimmen unser Leben in hohem Maße.

Nun spricht man selten einfach von einer einzelnen Emotion, sondern von einem Emotionsfeld. Es gibt Emotionen, die miteinander verwandt sind. Je nach Intensität gebrauchen wir jeweils einen anderen Ausdruck, sprechen nicht mehr von Ärger, sondern zum Beispiel von Wut oder Zorn, aber auch von Geringschätzung und Ekel.

Das Emotionsfeld Ärger

Ärger ist eine der fundamentalen Emotionen, die Bereitschaft zum Ärger gilt als angeboren.5 Izard vertritt, dass je nach neuronaler Feuerungsfrequenz pro Zeiteinheit jeweils ein anderer Affekt aktiviert wird. Neuronales Feuern auf anhaltend hohem Niveau würde zum Beispiel die Emotion Zorn aktivieren.6 Allerdings meinen Säuglingsforscher, dass die Emotion Wut erst mit etwa drei Monaten auszumachen ist. Möglicherweise ist das Quengeln aber eine Art Ärger.

Wichtig in diesem Zusammenhang ist es, dass die Neugeborenenforscher das Äußern von Emotionen generell im Sinne der Kommunikation des Säuglings mit einer Beziehungsperson verstehen. Es werden wichtige Signale gegeben, auf die wiederum mit Signalen von der Beziehungsperson geantwortet wird. Emotionen und das Äußern von Emotionen stehen also im Zusammenhang mit Entwicklung und Wachstum, aber auch mit Entwicklung von Beziehung, mit Entwicklung von Kommunikation.7

Izard spricht im Zusammenhang mit Ärger von einer Feindseligkeitstriade: Er sieht Ärger, Ekel und Geringschätzung als zusammengehörige Emotionen.

Grundsätzlich kann man Ärger als eine Emotion der Feindseligkeit verstehen, eine aversive Emotion. Diese Emotion kann verschiedene Qualitäten haben: Ein leiser Ärger fühlt sich anders an als ein heftiger Ärger, eine Wut fühlt sich wiederum anders an. Ärger und Wut können sich äußern, oder aber sie können sich auch gegen einen selbst richten. Menschen können in einem Wutanfall explodieren, sie können aber auch implodieren, das heißt, sie können innerlich zusammenbrechen aus lauter Wut und diese Wut nicht äußern. Ich werde zunächst meistens von der Wut sprechen, die nach außen gerichtet ist.

Um uns kräftig zu ärgern, müssen wir den Eindruck haben, dass das, was sich uns entgegenstellt, sich in feindseliger Absicht uns entgegenstellt und irgendwie bedrohlich ist. Es gilt aber auch: Wenn wir uns ärgern, sind wir bereit, überall »Feindseliges« wahrzunehmen. Deshalb kann Ärger auch so leicht sich generalisieren. Das erleben wir im Alltag: Ein Morgen, an dem man nicht so leicht aufgestanden ist, ein unangenehmer Telefonanruf, Tee, der nicht dem eigenen Geschmack entspricht, Kinder, die quengeln ... Es hat sich alles gegen einen verschworen, so denkt man zumindest, und erlebt das Leben in seiner ganzen Widerständigkeit, in seiner Feindseligkeit. Und diese Gestimmtheit und die daraus resultierende Haltung von misstrauischer Aufmerksamkeit setzt sich in den Tag hinein fort. Je mehr Feindseligkeit wir erwarten, um so mehr Feindseliges wird uns begegnen, sei es als Reaktion der Mitmenschen auf unsere Erwartung, die sich auch in der Ausstrahlung zeigt, sei es, dass wir vieles, was nicht feindselig gemeint ist, dennoch als feindselig aufschlüsseln. Man ist verärgert und wird zunehmend mehr verärgert. Erleben wir die Welt als feindlich, als angriffig, als übergriffig, dann werden wir in unserem Selbstwertgefühl verunsichert, darauf reagieren wir aversiv mit Ärger, vielleicht auch mit angriffigem oder gar zerstörerischem Verhalten, oder wir reagieren mit Angst, fliehen, schützen uns oder treten verstimmt den Rückzug an.

Ärgermotivierte Aggression

Aggression bedeutet zunächst, zielgerichtet auf etwas zuzugehen mit der Intention, etwas zu verändern. Zielgerichtet auf etwas zuzugehen und etwas zu verändern kann konstruktiv sein, kann aber auch destruktiv sein. Wenn ich in der Folge den Begriff der Aggression gebrauche, dann ist vorerst noch nicht auszumachen, ob die Wirkung der Aggression konstruktiv oder destruktiv ist.

Aggression kann als feindselige Verhalten mit der Absicht zu verändern oder zu schaden verstanden werden. Das kann auf den Körper bezogen sein, also brachial. Jemand behandelt Sie ohne den gebührenden Respekt. Sie ärgern sich und könnten jetzt den Impuls verspüren, diesen Menschen zu treten. Wären Sie vier oder fünf Jahre alt, würden Sie das wahrscheinlich tun. Aber jetzt sind Sie halt etwas älter und halten diese Reaktion nicht mehr für angemessen, reagieren aber dafür verbal feindselig. Sie können jemanden offen mit lauer Stimme beschimpfen, oder aber mit liebevoller Stimme und äußerst geschliffener Sprache etwas sehr Beleidigendes sagen. Die verbale Aggression hat eine ungeheure Bandbreite, und wir Menschen haben sie zu einer sehr großen Kunst entwickelt. Die brachiale Aggression, die verachten wir, die erleben wir im Grunde genommen immer als sehr übergriffig, als sehr bedrohlich, denn wenn wir körperlich angegriffen werden, erleben wir das als schlimm. Die verbale Aggression wird in ihrer bedrohlichen Wirkung weit unterschätzt. Gerade die Auseinandersetzung mit sehr, sehr spitzen Worten, besonders solchen, deren Stachel man erst Tage später so richtig spürt, beeinträchtigen unseren Selbstwert und unsere Selbstachtung sehr.

Es ist nun nicht einfach so, dass körperlich ausgetragene Aggression schlimm wäre, verbal ausgetragene aber nicht. Natürlich ist es ungeheuerlich, wenn Menschen geschlagen werden, das ist eine sehr ungehörige Grenzüberschreitung, die zutiefst kränkt. Aber es ist nicht weniger schlimm, wenn Menschen immer wieder ganz ungehörig angesprochen, ständig verbal entwertet werden – diese Form ist weniger sichtbar, und deshalb müssen wir dafür sensibilisiert werden, auch für das, was unser eigenes feindseliges Handeln ist.

Ziel einer ärgermotivierten Aggression8 ist es, das gekränkte Selbstwertgefühl wieder zu regulieren, sich also weniger gekränkt zu fühlen, vielleicht sogar, sich im Zustand eines kleinen Triumphs zu spüren. Die Kränkung, die wir erfahren haben, die Grenzüberschreitungen der anderen Menschen, die ärgern uns, wir fühlen uns in unserem Selbstwertgefühl verunsichert, stehen unter Spannung, erleben Ärger, Wut oder Angst. Durch die feindselige Handlung erhoffen wir uns, dass wir uns wieder besser fühlen, dass wir uns nicht einfach als Opfer fühlen, sondern erfahren, dass wir uns auch kompetent wehren können oder dass zumindest eine Balance wieder hergestellt ist in dem Sinn: »Wenn du mir etwas Böses antun kannst, ich kann es auch!« Ein ganz primitiver Machtkampf steht dahinter. Aber der damit angepeilte zufriedene Zustand wird in der Regel gerade nicht erreicht durch feindseliges Verhalten. Deshalb geraten wir so leicht in eine Spirale der Gewalt. Denn haben wir uns machtvoll gerächt oder waren wir sehr verletzend, reagieren wir mit Schuldgefühlen, und diese wirken wieder zurück auf unser Selbstwertgefühl, wir sind wieder noch mehr verunsichert. Wir fürchten auch die zu erwartende Reaktion des Gegenübers, denn bekanntlich bewirken Ärgeräußerungen auch wiederum Ärger. Der Ärger ist eine reziproke Emotion. Ob nun Schuldgefühle oder Angst das Resultat unserer Ärgeräußerung ist, die daraus resultierende Spannung macht es wenig wahrscheinlich, dass wir eine kreative Lösung finden – kreative Lösungen würden unser Selbstwertgefühl sehr gut stabilisieren –, sondern dass der Konflikt weiter in einem nagt, und man, um sich besser zu fühlen, dann wiederum versucht, in einem feindseligen Akt die eigene Kraft zu spüren. Die Spirale der Gewalt dreht sich. Die ärgermotivierte Aggression ist eine häufige, aber nicht notwendige Folge von Ärger.

Ärger – das Gegenstück des Vergnügens

Lersch9 hat den Ärger als negatives Gegenstück des Vergnügens bezeichnet. Was uns Vergnügen bereitet, gibt uns Gelegenheit, unseren Spieltrieb zu entfalten, in einem ungehinderten, ungehemmten Funktionsablauf. Ärger, eine mildere Form davon das Missvergnügen, sieht Lersch dementsprechend in der Störung der Reibungslosigkeit. Es ist aber nicht bloß Unlust, was den Ärger verursacht, sondern es nagt etwas an uns, es wurmt uns etwas. Und je mehr dies geschieht, umso größer werden Missmut, Verdrossenheit, Verbitterung. So meint denn Lersch10, sowohl unsere Lebendigkeit sei betroffen durch das, was Ärger auslöst, als auch »Ansprüche des individuellen Selbstseins«. Man ärgert sich, dass man etwas nicht gekonnt, nicht bekommen hat, ein Geltungsanspruch nicht befriedigt worden ist, und deshalb, so Lersch, enthalte jeder Ärger auch Aggressivität gegen Umwelt und Mitwelt.

Die Aussage, dass alle Menschen einen Spieltrieb haben, den sie frei und ungehemmt zu entfalten versuchen, muss nicht eng gesehen werden. Es geht dabei selbstverständlich ums Spielen, es geht aber auch darum, dass wir die Umwelt gestalten wollen, überhaupt, dass wir aktiv sein wollen. Ich-Aktivität, das Gefühl, etwas bewirken zu können, ist ein wesentlicher Aspekt eines guten Selbstwertgefühls. Werden wir in dieser möglicherweise wenn auch nicht notwendigerweise lustvollen Ich-Aktivität gebremst, werden wir ärgerlich.

Dieses Gebremstwerden kann von außen erfolgen. Nehmen Sie an, Sie haben eine ganz tolle Idee, die Sie in die Realität umsetzen möchten. Sie stellen Ihre Idee zur Diskussion. Da sagt jemand, bevor Sie überhaupt Ihre Idee ganz darstellen konnten: »Das geht nicht, das kostet zu viel Geld, ist zu teuer.« Das wird Sie verdrießen, um so mehr, wenn Ihnen Ihre Idee viel wert ist. Sie werden sich ärgern.

Nun kann die Hemmung der Ich-Aktivität auch von innen kommen, sie muss nicht nur von außen kommen. Sie können zum Beispiel einen wirksamen Ohnmachtskomplex haben11: Sie fühlen sich rasch und unabweisbar ohnmächtig in bestimmten Situationen des Lebens. Wir nehmen nun an, dass Ihnen etwas ganz Aufregendes einfällt, etwas, das Sie unbedingt verwirklichen müssen. Aber da sagt dann sogleich eine allzu bekannte, innere Stimme: »Ja, andere könnten das, aber du natürlich sowieso nicht.« Und da können Sie sich auch ärgern, und auch hier tritt Missvergnügen an die Stelle von Vergnügen.

Es ist interessant, dass Lersch, der seine Bücher um 1930 herum geschrieben hat, Ärger vor allem aus der gebremsten Aktivität heraus versteht und erst dann und eher am Rande darauf hinweist, dass es dabei auch um die »Ansprüche des individuellen Selbstseins« geht, also um das Selbstwertgefühl.

Lichtenberg12, ein moderner Säuglingsforscher, beschreibt ebenfalls, wie das »Aufwallen der Selbstbehauptung« vor allem im zweiten Lebensjahr mit unvermeidlichen Einschränkungen durch die Beziehungspersonen kollidiert und das Kind mit Wut reagiert, aber auch hin und her gerissen ist zwischen dem Zeigen der Wut und dem Bedürfnis, wieder die Nähe zur Beziehungsperson herzustellen. Hier wird deutlich, wie Selbstbehauptung, Ichaktivität, Autonomie und Abhängigkeit und das Aufrechterhalten von Beziehungen miteinander verzahnt sind. Damit ist aber implizit auch die Selbstwertthematik angesprochen.

Heute stehen im Zusammenhang mit Ärger deutlich die Beeinträchtigung des Selbstwerts, der fehlende Respekt und Angriffe auf die Integrität der Person im Vordergrund.

Was Ärger auslöst

Fragen wir heute Erwachsene nach Situationen, die Ärger auslösen, dann geht es fast immer um Angriffe auf das Selbstwertgefühl, darum, dass man sich nicht wirklich wahrgenommen fühlt, dass einem der Respekt versagt worden ist. Oder man hat mit Anforderungen der Umwelt zu kämpfen, die einem als ungerechtfertigt erscheinen, man kommt sich ausgenützt vor. Noch andere beklagen Grenzüberschreitungen auf körperlicher Ebene, dass andere sich etwa eine Nähe herausnehmen, die ihnen falsch erscheint. Dieser Aspekt des Angriffes auf das Selbstkonzept, der zwar immer auch in der Ärgerforschung mitbedacht worden ist, ist heute zentral wichtig geworden. Wir ärgern uns vor allem dann, wenn wir uns in unserer Integrität nicht gesehen, nicht respektiert fühlen und wir dann das Gefühl haben, wir müssten unsere Grenzen neu bestimmen, neu setzen und dafür sorgen, dass sie auch respektiert werden.

Ärger ist die Emotion, die zur Grenzbereinigung und zum richtigen Abstand anregt. Wir Menschen haben die Tendenz, unsere Grenzen auch immer einmal zu erweitern. Und wenn wir dabei Widerstand bekommen – da alle Menschen dieselbe Tendenz haben, ist es nur logisch, dass es Widerstand gibt –, dann ärgern wir uns. Es ist darüber hinaus für uns Menschen auch ganz wichtig, dass wir unsere Grenzen aufrechterhalten, dass unsere Mitmenschen nicht einfach uneingeladen Grenzüberschreitungen machen dürfen. Aber auch wenn uns etwas versagt wird, worauf wir einen Anspruch zu haben meinen, werden wir ärgerlich. Wir sind es meist gewohnt, ein gewisses Maß an Zuwendung zu bekommen – das ist dann auch eine Grenze, die wir gesetzt haben –; entfällt diese Zuwendung, werden wir ärgerlich. Besonders wenn die Verlassenheitsangst aktiviert oder reaktiviert wird, reagieren wir mit Ärger und Wut. Wir werden auch dann ärgerlich, wenn Menschen von uns etwas verlangen, was wir in keiner Weise bereit sind zu geben, eine Grenzüberschreitung. Ärger fordert uns heraus, grenzbewusst zu werden und uns immer wieder zu überlegen, wo wir unsere Grenzen neu wieder setzen. Ärger hat also etwas zu tun mit Grenzkonflikten, hier interpersonell verstanden und nicht auf Nationen ausgeweitet, was allerdings auch möglich wäre.

Ärgerauslösende Ereignisse sind unspezifisch. Die ärgerauslösenden Ereignisse können generell als Grenzverletzungen gesehen werden, sind aber unendlich vielfältig. Es gibt ganz vieles, was Ärger auslösen kann. Sie können sich selber einfach einmal fragen, was bei Ihnen Ärger auslöst. Erfahrungen, die Ärger auslösen, in einer Gruppe gesammelt, sind etwa: das Gefühl, entwertet zu werden, die Erfahrung, dass Zuwendung entzogen wird, Unsicherheit in einer Beziehung, Beleidigtwerden, Beschimpftwerden, Übervorteiltwerden, ungerecht behandelt werden, Missbrauchtwerden, Ausgenütztwerden, dann aber auch absichtlich Schmerz zugefügt bekommen, den Platz im Leben beschnitten zu bekommen, nicht bekommen, was einem zusteht usw. Weiter gibt es auch einen Ärger, der weniger persönlich mit uns etwas zu tun hat, sondern damit, dass jemand einen Wert verletzt, der für uns wichtig ist. Wir können uns zum Beispiel über Politiker ärgern, die sich nicht so benehmen, wie wir es uns vorstellen. Ärger hat viel damit zu tun, dass andere Menschen sich nicht so benehmen, wie wir es uns wünschen, dass sie sich benehmen sollten.

Regelverletzungen lösen Ärger aus, besonders dann, wenn sich andere Menschen nicht an Regeln halten, an die wir uns mühsam halten. Oft merken wir übrigens erst, welchen Regeln wir folgen, wenn sie verletzt werden. Werden Regeln verletzt, können wir mit Ärger reagieren, wir sagen dann, es sei unfair, es sei ungerecht.

Ärger und Wut erleben wir aber auch bei Angriffen körperlicher Art, bei Übergriffen, bei ungewollter, zu großer physischer Nähe und wenn uns Schmerzen zugefügt werden. Man kann also sagen, was Selbsterhaltung und Selbstentfaltung stört oder beeinträchtigt, und zwar körperlich, psychisch und sozial, das löst Ärger oder Wut aus. Und eine der Möglichkeiten damit umzugehen, ist dann eine feindselige Handlung. Ob diese feindselige Handlung zustande kommt und wie sie zustande kommt, hängt einmal davon ab, wie wichtig zum Beispiel die Situation oder der Mensch für uns ist, der uns in der Selbsterhaltung und Selbstentfaltung stört, und vom Zustand unseres Selbstwertgefühls oder unseres Selbst ganz allgemein.

Aber auch Alltagsfrust löst Ärger aus oder das Unterbrechen von etwas, das uns mit Freude und Interesse erfüllt. Haben wir das Gefühl, dass eine Arbeit oder das Leben als solches einfach fließt, alles fast wie von selbst sich ergibt, ohne große Anstrengung, dann ist eine Störung ein Ärgernis. Diese Aufzählung ist in keiner Weise vollständig, zeigt aber, dass man sich in vielen Situationen ärgern kann. Ärger kann auch verstanden werden als Missvergnügen dort, wo man Vergnügen haben möchte, bei der Selbsterhaltung und der Selbstentfaltung.

Es gibt also viele Situationen, die Ärger auslösen. Grundsätzlich kann man sagen, er ist eine Reaktion auf irgendeine Enttäuschung und Beeinträchtigung, aber er ist auch eine Energiequelle. Ärger energetisiert, und deshalb sind wir im Ärger auch rasch bereit zu handeln. Wenn wir uns so richtig ärgern, dann fühlen wir eine Spannung, wir sind vorbereitet auf eine Aktion. Wir sind motiviert, etwas zu tun, um die Situation zu verändern. Ohne den Ärger wäre das viel schwieriger. Durch die Spannung haben wir mehr Kraft, mehr Konzentration für einen Moment als sonst, das Selbstwertgefühl ist besser als sonst, wir haben das Gefühl, unverletzlicher zu sein. Wir wagen mehr: Dieses energetisierende Moment, das im Ärger enthalten ist, kann uns helfen, mit der Enttäuschung oder der Beeinträchtigung, wie ich es nun einmal pauschal nenne, konstruktiv umgehen zu können.

Man wird sich in der Regel eher und auch intensiver ärgern, wenn das Motiv, das wir einem anderen Menschen zuschreiben, als böswillig decodiert wird, wenn wir ärgerauslösende Mitmenschen als rücksichtslos oder böswillig erleben, willkürlich oder destruktiv. Es ist aber zu beachten: Ärgern wir uns, dann sind wir wenig bereit, das Motiv eines anderen Menschen ruhig und in einer fairen Gesinnung anzuschauen, wir sind dann in erster Linie einmal ärgerlich oder wütend und eher bereit, das schlechteste Motiv anzunehmen. Es wäre sinnvoll, sich in einer Ärgersituation vor Augen zu halten, dass wir in der Gefahr sind, den Ärger auslösenden Menschen ungerecht zu beurteilen, und uns zu fragen, ob denn bei ihm nicht auch ein anderes Motiv in Frage kommen könnte. In diesem Zusammenhang spielen natürlich auch Erfahrungen unseres bisherigen Lebens eine Rolle: Wer immer wieder erlebt hat, dass wichtige Bezugspersonen sich übel wollend verhalten haben, wird diese Erfahrung leicht als Erwartung an andere Menschen übertragen. Sind wir ärgerlich gestimmt, gereizt, aufgestachelt, dann sind wir bereit, die Motive des Handelns unserer Mitmenschen als schlecht zu sehen, ihnen die Intention des Schadenwollens zuzuschreiben.

Begriffsklärung: Ärger – Wut – Zorn – Hass

Intensiven Ärger, heftig gesteigerten Ärger erleben wir als Wut, wir sprechen dann auch von einem hohen Zornniveau im Gegensatz zu einem niederen Zornniveau bei Ärger. Man spricht im Grunde genommen von einer Intensivierung des Erregungsniveaus. Wut hat mehr affektive Intensität in sich als Ärger. Das drückt sich auch in der Sprache aus. Man ist da etwa »blind vor Wut« oder man hat »die Fassung verloren«, das heißt, man ist ohne Überblick und ohne Überlegung, hat eine »ohnmächtige Wut«, und »fährt dabei aus der Haut«. Früher gab es zudem den wunderbaren Ausdruck: »Ergrimmen«. Diesen Ausdruck könnte man wieder einführen. »Grimm« lässt einen daran denken, wie etwas in uns aus dem Bauch aufsteigt, aus dem Gedärm, dieser Ingrimm eben, den man in sich drin hat, und der grausam nagt, wird er nicht ausgedrückt.

Man spricht im Zusammenhang mit Wut auch einfach von »in die Luft gehen«, hoch gehen, explodieren oder implodieren, der Kragen platzt einem, man verliert die Beherrschung, man verliert die Gewalt über sich. Werden wir wütend, sehen wir aber auch rot, man kann auch rot anlaufen vor Wut. Es gibt auch die Redewendung: »Da ist Feuer im Dach« und meint damit, jemand sei von einer heftigen Wut ergriffen worden. Mit der Farbe Rot, mit der Ärger und Wut auch verbunden werden, sind Feuer-Metaphern und Blut-Metaphern verbunden. Wut ist ein brennendes Gefühl, es kann aber auch in Verbindung gebracht werden mit Leiden und mit Leidenschaft. Betrachtet man diese Sprachbilder für die Wut – und sie gelten in abgeschwächter Form auch für den Ärger – wird eines deutlich: Im Ärger und in der Wut drückt sich viel Energie aus, deshalb vermögen sie uns auch zu energetisieren.

Dabei wird auch deutlich, wie viel Energie wir haben, aber auch brauchen, um unsere Integrität zu schützen, das heißt, wie wichtig dieser Schutz für unser Leben ist. Das hat zunächst einmal nichts mit Pathologie zu tun, nichts mit einer narzisstischen Störung oder ähnlichem; dass wir unsere Grenzen und unsere Integrität schützen, ist notwendig für die Erhaltung und die Entfaltung unserer Identität. Ich halte es heute für eines der wesentlichsten Anliegen im menschlichen Zusammenleben, auch im größeren sozialen Zusammenleben, dass wir lernen, gegenseitig nicht ständig unsere Integrität zu verletzen, sie womöglich auch noch in destruktiver Absicht anzugreifen, sondern dass wir lernen, die Integrität des anderen besser zu respektieren und wenn möglich zu fördern.

Wut und Ärger sind Emotionen, die mit viel Energie verbunden sind, Energie, die zur Veränderung einer Situation notwendig ist. Dabei geht es zunächst nicht um eine harmonische Veränderung, sondern es geht in der Regel etwas kaputt. Könnte man aus der Haut fahren oder platzt einem der Kragen, dann bräuchte man eine neue Haut, einen neuen Kragen. Es sind Veränderungen angesagt, aber plötzliche und auch – folgen wir den Metaphern – recht radikale Veränderungen, die uns ängstigen. Geht es um eine Wandlung, dann um eine explosive Wandlung.

Die Wut als äußerster Pol des Ärgers hat im Vergleich zu ihm mehr Spannung, mehr Explosionskraft, wodurch man aus der Fassung gerät. Wut ist aber noch ein warmes Gefühl. Von Zorn spricht man dann, wenn die Angelegenheit, die uns ärgert, nicht primär auf unser Ich bezogen ist, sondern auf etwas Übergreifendes. Also wenn das Gesollte verletzt wird, wenn akzeptierte Regeln in der Gesellschaft verletzt werden, dann erfasst uns der Zorn. Der Zorn ist etwas distanzierter als die Wut, aber er kann trotzdem sehr explosiv sein, wir können von einem heiligen Zorn erfasst werden, und dann spüren wir auch eine Energie, die uns zum Beispiel drängt und befähigt, politisch aktiv zu werden, weil wir finden, dass Abhilfe geschaffen werden muss.

Das sind die warmen Anteile am Emotionsfeld Ärger. Und dann gibt es auch kalte Anteile: Das ist der Ekel, in dessen Folge wir uns einfach abwenden, und das Entwerten. Im Entwerten wenden wir uns von den betreffenden Menschen ab, halten sie keiner Auseinandersetzung würdig. Implizit sagen wir: »Du bist es nicht einmal wert, dass du mich in eine Ärgerwallung bringen kannst.« Hier wenden wir uns auch ab, schaffen Distanz, ziehen eine Grenze. Ekel und Geringschätzung äußern sich in Zynismus und in Sarkasmus; sie sind zweifellos »kalter Ärger«. Das sieht man zum Beispiel, wenn man sehr zynisch oder sehr sarkastisch ist.

Ist Ärger und Wut gebunden an eine Person oder eine Sache, dann kann man auch von Hass sprechen. Gelegentlich spricht man auch von Selbsthass, der dann verbunden sein kann mit autoaggressivem Verhalten. Der Hass steht im Zusammenhang mit destruktiv wirkenden Komplexen.

Die Frage ist, wie jeweils das Verhältnis von warmer Aggression, auch von Eros den anderen Menschen gegenüber, und von Wille zur Zerstörung, von kalter Aggression ist.

Der Wutanfall

Einen Wutanfall zu haben, ist keineswegs für jeden Menschen eine Katastrophe. Die Beurteilung hängt von der Wertehierarchie ab, die wir meistens eher unbewusst haben. Ist Kontrolle in jeder Situation ein hoher Wert, dann ist ein Wutanfall natürlich eine Katastrophe, weil dann die Fassung, die Kontrolle, verloren ging und man eigentlich das Gesicht verloren hat. Man ist außer sich, muss also wieder in Kontakt zu sich selber kommen, muss aber auch sich mit sich selbst aussöhnen, dass man so sehr am Ideal gescheitert ist. Ist Selbstkontrolle kein so hoher Wert, dann kann das Lustvolle an einem Wutanfall genossen werden, der ungeheure Energiestoß, diese Wärme, die damit verbunden ist. Die Scham kommt erst hinterher, wenn man merkt, was man angerichtet hat. Fast jeder Wutanfall richtet sich gegen jemanden, wir haben unsere Wutanfälle in einer zwischenmenschlichen Situation. Dummerweise sagen wir in Situationen, in denen die Emotion die Oberhand über die Kontrolle gewonnen hat, Dinge, von denen wir später denken, wir hätten sie besser nicht gesagt, wir waren viel zu impulsiv. Darüber können wir uns dann nachträglich schämen oder ärgern, oder beides zusammen. Aber es ist ganz klar, dass diese Wutanfälle auch etwas ungeheuer Beschwingendes haben können. Wenn Menschen sich beklagen, sie leiden so sehr unter den Wutanfällen, muss man sehr sorgfältig unterscheiden, ob sie unter den Wutanfällen als solchen leiden oder erst unter deren Folgen. Die wenigsten Menschen gestehen es sich selbst oder gar anderen ein, dass sie ihre Wutanfälle auch genießen, als Erlebnis einer ursprünglichen Kraft in ihnen. Das ist wohl auch einer der Gründe, dass man sie nicht früher kontrolliert und deshalb dann eben nicht mehr unter Kontrolle bringt. Würde man die Wutanfälle nicht auch lieben, man würde sie früher unter Kontrolle bringen, aber weil in ihnen auch etwas Belebendes zu erfahren ist, ist man im Grunde genommen gar nicht so erpicht, sie unter Kontrolle zu bringen. Nur hinterher, da bezahlt man dafür. Für Menschen, die bei Wut sozusagen implodieren, die also heftig gegen sich selber wüten, sind die Wutanfälle wohl bedeutend weniger lustvoll.

Wut erleben wir in ähnlichen Situationen, in denen wir auch Ärger erleben können. Ärger und Aggression lösen meistens Angst aus, bei sich selbst, aber auch bei den Empfängern. Ärger produziert Ärger, Wut weckt auch im anderen Menschen Wut oder ängstigt. Angst auch deshalb, weil wir nicht wissen, ob wir unseren Ärger und unsere Wut noch kontrollieren können. Wir wissen natürlich alle, dass unsere Ärger- und Wutreaktionen oft der Situation nicht ganz angemessen sind, dass wir überreagieren und dann auch wirklich vorübergehend die Kontrolle verlieren. Darüber schämen wir uns dann nachträglich. In diesem Zusammenhang ist daran zu denken – und das eröffnet uns dann die tiefenpsychologische Perspektive –, dass wir zwar auf die eine Situation reagieren, aber auf dem Hintergrund der Erfahrung von vielen ähnlichen Situationen im Leben und mit einer emotionalen Reaktion, als ginge es nicht einfach um diese eine Situation, sondern um alle diese Situationen. Wir reagieren komplexhaft.13 Sind Sie immer wieder in Ihrem Leben in für Sie wichtigen Situationen übersehen worden und haben das als kränkend und als unangenehm erlebt, dann werden Sie, wenn Sie wieder einmal mehr übersehen werden, eine Wut bekommen, die viel heftiger ist als es der Situation entspricht. Sie werden wahrscheinlich ausrufen oder sich selber sagen, und das mit einiger Bitterkeit: »Mir passiert das immer! Immer mir!« Damit reagieren Sie zwar auf die eine Situation, aber auch auf dieses Immer, das heißt, Sie reagieren aus einem Komplex heraus. Als Komplex bezeichnet man Inhalte des Unbewussten, generalisierte schwierige oder als traumatisch erlebte Beziehungsepisoden, die durch die gleiche Emotion und durch ein gemeinsames Thema mit den damit in Zusammenhang stehenden typischen Beziehungsthemen und Beziehungsepisoden verbunden sind und in Grenzen stellvertretend füreinander stehen können. Solche Überreaktionen werden von den Mitmenschen nicht verstanden, sie lösen in der Regel Angst aus und werden nicht selten als Gefährdung der Beziehung erlebt.

Die Emotionskontrolle

Da Ärger und Wut impulsive, explosive, energiereiche Emotionen sind, ist die Frage der Emotionskontrolle natürlich eine ganz wichtige Frage. Wir sagen ganz schnell aus Ärger etwas, was wir eben nicht sagen wollten; leicht entsteht aus Wut eine destruktive Handlung, die wir hinterher bedauern. Gegen die Impulsivität, gegen die Kraft der Emotion setzen wir die Kontrolle. Diese Kontrolle ist ein Teil der Erziehung, aber auch Teil der Selbsterziehung, wobei sie auch durchaus zu weit gehen kann. In der Trotzreaktion, etwa um das zweite Lebensjahr, haben wir die wohl höchste Intensität von Ärger, die sich in den folgenden Jahren reduziert und auch differenziert. Hier setzt die Emotionskontrolle ein, die immer weiter betrieben wird, auch einmal wieder etwas gelockert wird, je nach Mode in der Gesellschaft. Es geht darum, die Emotion so weit zu kontrollieren, dass wir mit der Emotionsäußerung nicht ständig anecken und dann von außen die Kontrolle sozusagen aufgezwungen bekommen. Es geht aber auch darum, die Emotion nicht zu stark zu kontrollieren, weil sonst die Lebendigkeit verloren geht und der Sinn, der in jeder Emotion steckt, nicht mehr wahrgenommen werden kann. Ist die Ärgerkontrolle zu gut gelungen, durch Erziehung und Selbsterziehung, haben Sie gelernt, sich in jeder Situation zu beherrschen, dann wird es für Sie unter Umständen sehr schwierig, mit dem Ärger konstruktiv umzugehen.

Ärger und Wut werden aber nicht nur in ihrem Ausdruck kontrolliert, sondern durch Angst in ihrem Ausdruck auch modifiziert und relativiert. Die Angst resultiert einmal daraus, dass wir uns vorstellen, was geschieht, wenn wir unserem Ärger, oft ausgedrückt in den Ärgerphantasien, nachgeben. Wir müssen ja damit rechnen, dass Ärgerempfänger und Ärgerempfängerinnen ihrerseits wiederum ärgerlich werden und auch wieder reagieren. Fühlen wir uns dieser Reaktion gewachsen?

Weiter können Schuldgefühle über unsere Ärgerreaktionen, die man schon antizipiert, auch eine kontrollierende Wirkung auf Ärgeräußerungen haben. Viele Menschen empfinden auch Kummer darüber, dass sie so wütend, so aggressiv werden können, und auch diese Gefühle bewirken, dass Ärger nicht unkontrolliert geäußert wird. Es gibt aber auch noch ganz andere Möglichkeiten der Kontrolle: die prosozialen Gefühle. Wir sind ja nicht einfach nur so veranlagt, dass wir – metaphorisch gesprochen – zurückschlagen, wenn wir geschlagen werden, auch wenn das eine häufige Reaktion ist. Wir können uns auch in einen Angreifer, eine Angreiferin einfühlen, wir können empathisch sein, sie auch lieben, kurz, wir haben auch prosoziale Gefühle. Eine wichtige Frage ist es, wie diese prosozialen Gefühle in den Mittelpunkt des Interesses zu stellen sind und wie sie stimuliert werden können.

Wir – die wir Ärger produzieren

Wir ärgern uns nicht nur, wir ärgern auch andere Menschen, wenn wir ihre Grenzen angreifen, ihre Kreise stören, ihre Intentionen durchkreuzen, ihren Selbstwert strapazieren. So oft, wie wir uns selber ärgern, sind wir wahrscheinlich auch Ursache von Ärger bei anderen Menschen. Das ist ein Gedanke, der relativ schwer zu ertragen ist. Dass »die anderen«, »die Welt« uns ständig ärgern, das ist ein vertrauter Gedanke, der einem hoch plausibel erscheint. Dass wir aber auch ständig »die Welt« ärgern, daran denken wir lieber nicht. Es ist aber im Umgang mit Ärger ein fruchtbarer Gedanke. Es ist zu fragen, wie oft wir bewusst, absichtlich jemanden ärgern. Wir werden feststellen, dass das gar nicht so oft vorkommt, auch wenn andere Menschen sich durchaus öfter über uns ärgern. Wird uns das bewusst, dann wird uns auch klar, dass wir anderen Menschen viel zu oft unterstellen, dass sie uns absichtlich ärgern wollen. Das heißt, diese Unterstellungen, dass die anderen Menschen uns so oft absichtlich ärgern wollen oder dass die Politiker uns immer ärgern wollen oder die Straßen usw., könnten eigentlich auch Projektionen sein, die unserem unausgedrückten Ärgerpotential entspringen, das gelegentlich doch sehr bedeutsam zu sein scheint. Die Überzeugung, dass die anderen uns so oft ärgern wollen, hängt aber auch damit zusammen, dass wir zu oft gestört werden, wollen wir unseren eigensten Anliegen nachgehen.

Die Funktion des Ärgers

Wer Ärger zulässt, glaubt daran, dass man das Leben noch verändern kann. Wer den Ärger nicht mehr zulässt, glaubt nicht mehr daran.

Wer Ärger zulässt, weiß um das energetisierende Moment. Zulassen und Umgehen mit Ärger heißt nun natürlich nicht nur, dass man sich feindselig verhält, sondern darin sind viele Verhaltensmöglichkeiten enthalten.

Zunächst einmal unterbricht Ärger den normalen Fluss der Beziehung. Sobald wir uns ärgern, ob wir es bewusst zugeben oder nicht, ist es so, als gebe es ein Innehalten in einer Beziehung, die sonst einfach ihren gewohnten Gang nimmt. Dieses Innehalten zwingt uns, darüber nachzudenken, was überhaupt geschehen ist. Dann stellt sich die Frage nach einer besonderen Reaktion: Muss der Ärger ausgedrückt werden? Wie? Oder muss auf der Handlungsebene etwas verändert werden? Es kann ein leiser Anstoß sein, es kann ein größerer Konflikt sein, der Ärger ausgelöst hat. Und dieser Konflikt, mag er größer oder kleiner sein, ruft nach einer Grenzbereinigung, vielleicht nach einer Grenzverteidigung oder einer Grenzziehung, aber auch nach einer Grenzauflösung. Und leider führt der Konflikt oft zu einer Grenzüberschreitung. Wenn ich Grenzbereinigung, Grenzsetzung sage, dann meine ich noch nicht, dass das bereits Krieg ist, sondern ich meine nur, es ist eine Besinnung auf Grenzen, eine Besinnung darauf, was mir wichtig ist in der entsprechenden Situation, was die Absichten des anderen Menschen sind, wie man vielleicht zu einer Lösung kommen kann.

Geht man davon aus, dass Ärger eine fundamentale Emotion ist, dann sind Reibungen etwas ganz Normales. Wenn uns reibungsloses Funktionieren so wichtig ist, müsste man sich fragen, wo in diesem System das Aufstachelnde des Ärgers zu finden ist. Der Ärger bietet uns ja gerade die Möglichkeit, Konflikte im Ansatz, nicht nur die ausgewachsenen Konflikte, wahrzunehmen und mit ihnen umzugehen. Da wird durch einen Ärger etwa deutlich, dass ein Mensch einen anderen Menschen zu sehr manipuliert, zu sehr überfährt, möglicherweise nicht willentlich. Und nimmt man den Ärger wahr, drückt man ihn aus, ist eine Verhaltensänderung möglich.

Der Sinn des Ärgers ist es, Situationen so zu verändern, dass Selbsterhaltung und Selbstentfaltung immer wieder neu ermöglicht werden können, so gut das eben geht, im Dialog mit einem Du, das genau dasselbe anstrebt. Im Ärger steckt auch die Energie, diese Veränderungen anzugehen.