Auf Napoleons Spuren - Thomas Schuler - E-Book

Auf Napoleons Spuren E-Book

Thomas Schuler

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Beschreibung

Wenige historische Persönlichkeiten üben eine so starke Faszination aus wie Napoleon Bonaparte. Wer aber glaubt, dass die Erinnerung an die großen Kriege und Eroberungen des einstigen Feldherrn allmählich verblassen, sollte sich zusammen mit Thomas Schuler auf eine einzigartige Entdeckungsreise durch Europa und die Zeit begeben. Denn unterwegs Auf Napoleons Spuren sehen wir, dass sein Geist uns heute noch überall umgibt – auch dort, wo man ihn gar nicht erwartet hätte.
Wenn man nur genau genug hinsieht, tun sich in unserer Gegenwart immer noch viele Türen auf, durch die sich ein Blick zurück erhaschen lässt in die Napoleonische Zeit. Wer hätte etwa gedacht, dass Napoleons bevorzugter Chocolatier in Paris heute noch nach damaligen Rezepten seine Süßwaren fertigt? Der Historiker und Journalist Thomas Schuler hat sich an Orte begeben, die eng mit der Geschichte Napoleons verwoben sind, er ist über den Großen St. Bernhard gewandert, hat Moskau, Paris, Berlin, London, Kaub und Venedig besucht, und er hat große Schlachtfelder inspiziert wie Waterloo, die Beresina oder Regensburg – sein Buch ist eine historische Spurensuche, gespickt mit überraschenden Beobachtungen und unterhaltsamen Geschichten.

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Thomas Schuler

AUF NAPOLEONS SPUREN

Eine Reise durch Europa

C.H.Beck

Zum Buch

Wenn man nur genau genug hinsieht, tun sich in unserer Gegenwart immer noch viele Türen auf, durch die sich ein Blick zurück erhaschen lässt in die napoleonische Zeit. Wer hätte etwa gedacht, dass Napoleons bevorzugter Chocolatier in Paris heute noch nach damaligen Rezepten seine Süßwaren fertigt? Der Historiker und Journalist Thomas Schuler hat sich an Orte begeben, die eng mit der Geschichte Napoleons verwoben sind, er ist über den Großen St. Bernhard gewandert, hat Moskau, Paris, Berlin, London, Kaub und Venedig besucht, und er hat große Schlachtfelder inspiziert wie Waterloo, die Beresina oder Regensburg – sein Buch ist eine historische Spurensuche, gespickt mit überraschenden Beobachtungen und unterhaltsamen Geschichten.

Zum Autor

Thomas Schuler ist einer der führenden Napoleon-Experten Deutschlands. Neben einer umfangreichen publizistischen Tätigkeit zum Thema und europaweiten Vorträgen organisiert er historische Führungen an Originalschauplätzen der Epoche. Bei C.H.Beck ist von ihm erschienen: «Napoleon und Bayern» (2015).

www.aufnapoleonsspuren.de

INHALT

DER GROSSE ST. BERNHARD

DAS GOTTESHAUS IN DEN WOLKEN

AUF DEM DACH EUROPAS

DIE PFADE VON EINST

DAS UNMÖGLICHE

DER KÄSESPEICHER IN BOURG−SAINT−PIERRE

STENDHAL

AM RAND DER WOLKEN

EIN LEBENSRETTENDER BERNHARDINER

ZIEGENKÄSE AUF DEM GROSSEN ST. BERNHARD

DER BERÜHMTESTE NAPOLEON DER WELT

EIN ENGLISCHES AUFTRAGSGEMÄLDE

DAS GRABMAL DES FREUNDES

MARENGO

LONDON

DAS PERFIDE ALBION

DAS SKELETT VON NAPOLEONS PFERD

APSLEY HOUSE

DER ARCH WELLINGTON

DIE KRIEGSSCHULDFRAGE

TRAFALGAR SQUARE

DIE KUGEL, DIE NELSON TÖTETE

DIE HMS VICTORY

DER TOD NELSONS

EIN TRAURIGER MORGEN IN LONDON

DIE FAHNE DER VICTORY

DER NELSON TOUCH

QUEEN ELISABETH AN BORD DER VICTORY

DIE SCHLACHT VON TRAFALGAR

KAP TRAFALGAR

GIBRALTAR

DIE AFFEN GIBRALTARS

DAS BRITISCHE WELTREICH

REGENSBURG

VOM IMMERWÄHRENDEN REICHSTAG ZUR GESCHICHTSFÄLSCHUNG

DIE STEINERNE BRÜCKE

ZEITENWENDE 1803

DAS TEURE ERBE REGENSBURGS

NAPOLEON ANTE PORTAS

DIE BRESCHEBATTERIE

DOMPFARRER WITTMANN

DIE VERWUNDUNG NAPOLEONS

DIE SCHULE AM NAPOLEONSTEIN

DIE MAUERBRESCHE

EIN NEUER PLAN

DER STADTGRABEN VON REGENSBURG

DER BLUFF

ZEITREISE IN REGENSBURG

DIE PULVERFÄSSER VOM PETERSTOR

DIE SCHÖNE FRANZÖSIN

DER DOM ZU REGENSBURG

DIE ZERSTÖRUNG VON STADTAMHOF

DAS PÜRKELGUT

EIN VERWUNSCHENES WASSERSCHLOSS

DIE KARTAUSE PRÜLL

KAISERLICHES HAUPTQUARTIER REGENSBURG

DER TAG DANACH

IN STEIN GEHAUENE GESCHICHTSFÄLSCHUNG

1809 SCHRECKENSTAGE DURCH NAPOLEON ZUM GEDENKEN AN DIE OPFER 2009

VENEDIG

DIE KÖNIGIN DER ADRIA

DEMONSTRATION AM MARKUSPLATZ

DAS ENDE DES ALTEN VENEDIGS

VERONESISCHE OSTERN

DER ATTILA VENEDIGS

DER LETZTE DOGE VON VENEDIG

DAS CAFFÈ FLORIAN

DAS ÄLTESTE GHETTO EUROPAS

TANZENDE RABBINER

DAS ERBE VENEDIGS

DAS GOLDENE SCHIFF

DIE HABSBURGER IN VENEDIG

DIE HOCHZEIT ZU KANA

DIE PAPSTWAHL IN VENEDIG

VENEDIG ALS BEUTE VON AUSTERLITZ

DIE BIENNALE IM GARTEN NAPOLEONS

NAPOLEON AUF DEM CANAL GRANDE

PHÖNIX AUS DER ASCHE

NAPOLEON IM PALAZZO BALBI

DER SCHÖNSTE BALLSAAL DER WELT

DIE PFERDE VON SAN MARCO

AUF DEM MARKUSDOM

DIE MARMORSTATUE NAPOLEONS

PARIS

DIE SCHÖNSTE STADT DER WELT

HITLER IN PARIS

DER VERGLEICH DER UNVERGLEICHBAREN

DIE HÖLLENMASCHINE

DIE GLOCKEN VON NOTRE−DAME

DER PAPST IN NOTRE−DAME

IM LOUVRE

DAS KRÖNUNGSGEMÄLDE

HÔTEL BEAUHARNAIS

DIE PIETÀ VON NOTRE−DAME

DIE GESTOHLENEN PFERDE

PLACE DE LA CONCORDE

MADELEINE

PLACE VENDÔME

DER IM STAUB LIEGENDE NAPOLEON

UNTERWEGS ZUM PALAIS ROYAL

DIE ROSEN VON JOSEPHINE

DIE ZEDER VON MARENGO

DER TOD JOSEPHINES

DER LEICHENWAGEN NAPOLEONS

DER ARC DE TRIOMPHE

DIE CHAMPS−ÉLYSÉES

DER PETIT CAPORAL

DER KIESELSTEIN

DAS GRABMAL NAPOLEONS

BERLIN

DAS NACKTE BRANDENBURGER TOR

NAPOLEON VOR BERLIN

EINE SPURENSUCHE IN BERLIN

DAS BRANDENBURGER TOR

NAPOLEON AM GRAB FRIEDRICHS DES GROSSEN

SCHLOSS CHARLOTTENBURG

DER EINZUG IN BERLIN

DER RAUB DER QUADRIGA

MORDGEDANKEN

NAPOLEON AM DENKMAL DES ALTEN FRITZ

DIE WAFFENKAMMER DES ZEUGHAUSES

VERHINDERTER ORT DER WELTGESCHICHTE

HITLER UND NAPOLEONS ADLER

DAS EISERNE KREUZ (I.)

DIE RÜCKKEHR DER QUADRIGA NACH BERLIN

DER PREUSSISCHE TRIUMPHZUG

VON DER FRIEDENS− ZUR KRIEGSGÖTTIN

DAS EISERNE KREUZ (II.)

DAS QUARTIER NAPOLEON

FRIEDENS− ODER KRIEGSGÖTTIN?

MOSKAU

DER GRÖSSTE BRAND DES 19. JAHRHUNDERTS

DIE WIEDERKEHR DER NEMESIS

DUNKLE VORZEICHEN AM NJEMEN

DER WEG NACH BORODINO

DER LETZTE KATHARINISCHE ADLER

DAS GESCHENK DER ÄBTISSIN

KRIEG UND FRIEDEN 1812

TOLSTOI

DER VULKAN VON BORODINO

KRIEG UND FRIEDEN 1941

DAS POETISCHSTE GRAB DER WELT

EINE ERZÄHLUNG DES HERZOGS VON LEUCHTENBERG

IM KLOSTER DES HEILIGEN SAWWA

DAS «VÄTERCHEN» IN DER HOLZHÜTTE

DIE HÖHEN VOR MOSKAU

NAPOLEON IM KREML

EIN TEUFLISCHER PLAN

DAS FEUERMEER VON MOSKAU

NAPOLEON IN LEBENSGEFAHR

SCHLOSS PETROWSKOJE

SCHWARZE RABENSCHWÄRME ÜBER DEM KREML

DIE BERESINA

DER VATERLÄNDISCHE KRIEG

DER GROSSE VATERLÄNDISCHE KRIEG

KRIEG UND FRIEDEN 1962

AM ROTEN PLATZ

RUSSISCHE TRADITIONSLINIEN

DIE NAPOLEON−TORTE

KAUB

DAS TOR NACH FRANKREICH

EINE STERNENKLARE SILVESTERNACHT

AUF DEM RHEIN

DIE UFER FRANKREICHS

PLÜNDERUNGEN UND TYPHUS

DIE PFALZGRAFENSTEIN

SPURENSUCHE IN KAUB

SYMBOLISCHER DREIKLANG

VON KAUB NACH BERLIN

IM REGIERUNGSVIERTEL

DAS BLÜCHERDENKMAL

KAISER WILHELM II. IN KAUB

FRANZÖSISCHER BESUCH

DAS BLÜCHERMUSEUM

KRIEG UND FRIEDEN – DER NACHFAHRE DES FELDMARSCHALLS

WATERLOO

GÖTTERDÄMMERUNG

DIE BRÜCKE

DIE BLÜCHERBEUTE

EIN GASTHOF IN GENAPPE

DIE MÄRCHEN DES MAJORS

DIE GIER DES MAJORS

DIE ZWEITE KUTSCHE

EINE ZEITREISE

DAS LETZTE HAUPTQUARTIER NAPOLEONS

DAS BRENNENDE HAUPTQUARTIER

EIN SCHNARCHENDES BETT

BELLE ALLIANCE

DIE SCHÖNE VERBINDUNG

DAS WELLINGTON−MUSEUM

BELLE ALLIANCE DANACH

DIE HEILIGE HECKE

DIE GEWITTERNACHT VOR DER SCHLACHT

DAS MASSENGRAB VON LA HAYE SAINTE

DER LÖWENHÜGEL (I)

VOM FELD ZUM FRIEDHOF

DAS LAZARETT IN MONT SAINT JEAN

BERÜHMTE SCHLACHTFELDBESUCHER

DIE WELLINGTON−ULME

DER LÖWENHÜGEL (II)

DER SCHLACHTFELDTOURISMUS

VICTOR HUGO IN HOUGOUMONT

WILLIAM TURNER IN WATERLOO

DIE ROYALS IN HOUGOUMONT

WELLINGTONS GESCHICHTSSCHREIBUNG

DAS ENDE DER REISE

KARTEN

ANMERKUNGEN

DER GROSSE ST. BERNHARD

LONDON

REGENSBURG

VENEDIG

PARIS

BERLIN

MOSKAU

KAUB

WATERLOO

BIBLIOGRAPHIE

ARCHIVE

LITERATUR

INTERNETQUELLEN

BILDNACHWEIS

PERSONENREGISTER

KARTEN

DER GROSSE ST. BERNHARD

DAS GOTTESHAUS IN DEN WOLKEN

«Man muss alles aufs Spiel setzen, um alles zu gewinnen.»[1]

Napoleon

AUF DEM DACH EUROPAS

Mit tief ins Gesicht geschobenem Hut zog der Bergführer das Maultier, auf dessen Rücken in einen grauen Mantel gehüllt Napoleon saß. Der jahrtausendealte Pfad führte über schwindelerregende Schluchten auf die Passhöhe des Großen St. Bernhard. Einsamkeit lag in den eisigen Höhen von beinahe 2000 Metern, die die Männer überwinden mussten.[2]

Behäbig schritt das Tier den steilen Abhang entlang, als plötzlich das vereiste Geröll unter seinen Hufen wegbrach. Das Maultier rutschte bis an den Rand der tiefen Schlucht. Geistesgegenwärtig sprang der Schweizer Bergführer Pierre Dorsaz zwischen das strauchelnde Tier und den gähnenden Abgrund, stützte mit dem ausgestreckten Arm Napoleon und drückte unter Einsatz seines gesamten Körpergewichtes das Maultier samt Reiter zurück auf den steilen Weg.[3] Der keuchende Atem von Tier und Mensch war zu sehen, so schneidend kalt war die Luft, als die beiden ungleichen Männer einander mit weit aufgerissenen Augen anblickten.[4] Was keiner von beiden ahnte, war, dass die letzten Sekunden über den Verlauf des gesamten 19. Jahrhunderts entschieden hatten.

DIE PFADE VON EINST

Wie von Geisterhand gelenkt jagen dichte Wolken über den Gipfeln dahin. Das knirschende Geräusch meiner Schritte im tiefen Schnee ist das einzige, was weit und breit die Ruhe der Bergwelt zu stören scheint. Während mein Blick über die schneebedeckten Berge gleitet, ragt Ehrfurcht gebietend der Große St. Bernhard aus ihnen hervor.

«In gewisser Höhe», erinnerte sich der 17-jährige Marie-Henri Beyle, heute besser bekannt unter dem Namen Stendhal, der als Kavallerist der Armee Napoleons im Mai 1800 auf diesem Weg unterwegs war, «wurde die Kälte beißend, ein penetranter Nebel umgab uns, Schnee bedeckte seit Langem die Marschstraße. Diese, ein schmaler Weg zwischen zwei Mauern aus rohen Steinen, war acht bis zehn Zoll tief von Schnee überweht mit steinigem Geröll darunter.»[5]

Warum stapfe ich hier durch die Einsamkeit dieser Bergwelt? Warum den Spuren eines Menschen folgen, der seit 200 Jahren tot ist? Warum noch einmal ein Buch über Napoleon, über den es doch schon mehr als eine halbe Million Bücher gibt[6]; vermutlich mehr als über jeden anderen Menschen, der jemals gelebt hat? Die spannende Frage aber ist: Warum gibt es überhaupt so wahnsinnig viele Bücher über ihn? In jedem Fall darf die Bücherflut als Beleg angesehen werden, dass es bis auf den heutigen Tag Widersprüche und Fragezeichen in Bezug auf die historische Bewertung Napoleons gibt, die jeder Autor oder jede Autorin dann mehr oder weniger begründet zu beantworten sucht.

Goethe sprach von Napoleon fast liebevoll als von «seinem Kaiser»[7], Heinrich von Kleist nannte ihn von abgrundtiefem Hass erfüllt einen «Höllensohn»,[8] Heinrich Heine verehrte ihn Zeit seines Lebens schwärmerisch und Tolstoi sprach ihm kategorisch alles Menschliche ab – Napoleon polarisiert bis heute, nicht nur in der Welt der Literatur, sondern auch in der Geschichtswissenschaft. Viele der Darstellungen, Interpretationen und Wertungen könnten zum Teil unterschiedlicher nicht sein. Wo aber ist zwischen Dämonisierung und Glorifizierung, zwischen Verherrlichung und Schuldsprechung der echte Napoleon?

Der Umstand, dass die weltweit erscheinende Publikationswelle über das Thema ungebremst anhält, deutet darauf hin, dass in seiner Geschichte noch immer ein Geheimnis zu liegen scheint. Was sonst würde all jene schreibenden und lesenden Menschen bewegen, sich mit dem Thema zu beschäftigen? Vielleicht ist es die Suche nach diesem Geheimnis, das ich irgendwo auf dieser Reise vom einen Ende Europas zum anderen zu ergründen hoffe. Während mein Blick über die atemberaubend schöne Bergwelt schweift, kreist weit über den Gipfeln, dem Auge schon beinahe entrückt, ein Steinadler.

DAS UNMÖGLICHE

Wenige hundert Meter südlich von Bourg-Saint-Pierre führen meine Schritte an jener steil abfallenden Schlucht vorbei,[9] in der Napoleons Aufstieg zum mächtigsten Mann Europas um ein Haar ein jähes Ende genommen hätte. Wäre es dem jungen Schweizer Bergführer an dieser Stelle nicht gelungen, das Maultier zurück auf den Weg zu schieben, so hätte es das riesige Empire von Barcelona bis Hamburg, die Sonne von Austerlitz, das Jahrhundertfeuer von Moskau und einen Wiener Kongress, der Europa nachhaltig neu ordnete, nie gegeben. Auch hätte der renommierte Historiker Thomas Nipperdey sein Standardwerk über die «Deutsche Geschichte 1800–1918»[10] nicht mit dem wegweisenden Satz «Am Anfang war Napoleon» beginnen können, weil es diesen Anfang dann niemals gegeben hätte.

Als Napoleon auf dem Rücken seines Maultieres diesen Weg entlang ritt, befand sich halb Europa in einem von England finanzierten Angriffskrieg gegen die junge Französische Republik – Österreich und Russland bildeten die II. Koalition gegen Napoleon. Sechs Monate zuvor hatte der außergewöhnlich begabte General Bonaparte, begünstigt durch die ebenso außergewöhnlichen historischen Umstände der Französischen Revolution, mit einen Staatsstreich in Frankreich die Macht übernommen (9. November 1799). Unmittelbar nachdem er zum Regierungsoberhaupt und Ersten Konsul avanciert war, machte er England und Österreich mehrere Friedensangebote. Diese wurden jedoch allesamt abgelehnt, woraufhin der 30-jährige Napoleon plante, eine 46.292 Mann starke französische Armee[11] über die Alpen in das von den Österreichern besetzte Norditalien zu führen. Der schmale Bergpfad über den Großen St. Bernhard galt im Winter und Frühjahr als unbegehbar; nicht einmal Gamsjäger mit Eisschuhen und Alpenstöcken wagten ihn zu betreten.

Tatsächlich hätte der Übergang mit einer ganzen Armee samt Artillerie und Pferden mitten durch die gefährliche Bergwelt zu dieser Jahreszeit im Falle eines plötzlich einsetzenden Schneesturms leichthin in einer militärischen Katastrophe enden können. Vor diesem Hintergrund hatten mehrere Generäle das Vorhaben während Napoleons Aufenthalt in Lausanne als unmöglich bezeichnet, woraufhin der aufstrebende Konsul entgegnete: «Was möglich ist, liegt im Ermessen jedes Einzelnen. Ich will das Unmögliche versuchen.»[12]

DER KÄSESPEICHER IN BOURG−SAINT−PIERRE

Zum Bergdorf Bourg-Saint-Pierre im südlichen Wallis führte damals wie heute eine im Winter leidlich befahrbare Straße. Auf der nördlichen Seite der Alpen ist es das letzte Dorf vor dem Aufstieg zur Passhöhe. In vorchristlicher Zeit endete die befahrbare Straße hier, und auch heute noch endet die Straße in den Monaten Oktober bis Juni dort. Sie ist dann allenfalls mit Vierradantrieb oder Schneeketten befahrbar. Erschwerend hinzu kommt, dass die Schweiz im Winter 2018/19 in einem Schneechaos versunken ist.

In Bourg-Saint-Pierre wurden also auf Napoleons Befehl hin die sechzig Geschütze auseinandergebaut.[13] Die Arbeiten wurden auf Wiesen in einem Biwak am nördlichen Dorfrand[14] ausgeführt, ungefähr dort, wo sich heute das Hotel «Au Bivouac de Napoléon» befindet. Hierbei stellte sich jedoch heraus, dass die in Auxonne eigens für die Alpenüberquerung gebauten Schmalspurschlitten vollkommen unbrauchbar waren. Darum wurden innerhalb weniger Tage in den umliegenden Wäldern kurzerhand mehr als 5000 Fichten und Tannen gefällt, wobei selbst der Bannwald nicht geschont wurde.[15] Aus den geschlagenen Bäumen fertigten die Soldaten Kisten für die Munition. Die kräftigsten Stämme sägten sie in der Mitte auseinander, höhlten einen Trog aus, legten ihn mit Stroh aus und befestigten die großen Kanonenrohre mit Keilen. Bis zu 100 Mann zogen in diesen schlittenähnlichen Gefährten an Stricken die zum Teil zwei Tonnen schweren Geschützrohre, wozu man außerdem die Bauern aus den nahen Dörfern zwangsverpflichtet hatte.[16] Die kurz darauf folgende Arbeit, die Kanonen mit bloßen Händen über den Pass zu ziehen, zehrte jedoch so an den Kräften, dass die meisten Bergbauern bei der erstbesten Gelegenheit wegrannten.[17] Die französischen Soldaten ließen darüber hinaus sämtliche Maultiere aus den Bergdörfern heranschaffen, die die Lafetten, Räder, Munitionskisten und, nicht zu vergessen, Napoleon selbst tragen sollten.

Am frühen Morgen des 20. Mai 1800[18] saß dieser in Bourg-Saint-Pierre unweit der Kirche im ersten Stock des Gasthauses «À la colonne militaire», wo er ein weich gekochtes Ei und ein Stück Brot aß.[19] Aufgrund des berühmten Gastes wurde das Gasthaus am Fuß des Großen St. Bernhard kurz darauf in «Déjeuner de Napoleon I» umbenannt, in dem die Besitzer noch im Jahr 1900 stolz das Napoleonzimmer mit dem Sessel und dem Holztisch zeigten, an dem der Feldherr gegessen hatte.[20] Das rund 250 Jahre alte Gebäude gegenüber der Kirche wurde noch bis in die 1980er Jahre als Café betrieben und steht heute leer.[21] Der erinnerungswürdige Sessel und der Holztisch wurden verkauft; ihr heutiger Verbleib ist unbekannt. Nachdem er von dem inzwischen verschollenen Stuhl aufgestanden war, verlangte Napoleon einen Mann mit einem Maultier, der ihn zum Hospiz hinaufbegleiten solle. «Mein Großvater», berichtete der Enkel von Pierre Dorsaz, «hatte ein sehr gutes Maultier im Stall, und man ließ ihm sagen, er solle das Tier satteln, um den Konsul über den Pass zu führen. Mein Großvater wollte das nicht und versteckte das Tier im Käsespeicher. Da ließ man es holen und er musste mitgehen.»[22]

Als Napoleon das Berggasthaus verließ, schenkten ihm einige vorbeimarschierende französische Soldaten frisch gepflückte Alpenblumen.[23] Nicht lange hinter Bourg-Saint-Pierre ereignete sich der Beinahe-Absturz Napoleons, den der flinke Bergführer verhindert hatte. Während Napoleon mit dem 22-Jährigen bis dahin kaum ein Wort gewechselt hatte, unterhielt er sich danach angeregt mit Dorsaz.[24] «Er befragte seinen Führer [Dorsaz] über die beiden Täler bis auf jede Kleinigkeit, unter anderem über die Erwerbsquellen der Bewohner und ihren Verkehr, ob die Unglücksfälle so häufig wären, als man sagte, und dergleichen.»[25] Dorsaz erzählte dem neugierigen Mann auf dem Maultier, dass die Bergbewohner über die Jahrhunderte so wetterfühlig geworden seien, «dass sie die Witterung vorauszubestimmen wüssten und sich nur selten täuschten.»[26]

Napoleon bemerkte in seinen späteren Memoiren auf St. Helena: «Der Führer des Ersten Konsuls[27] war ein großer und starker junger Mensch von 22 Jahren; er unterhielt sich mit dem Vertrauen und der Einfachheit der Bergbewohner mit dem Ersten Konsul, vertraute ihm alle seine kleinen Leiden und seine Zukunftsträume an.»[28]

Diese Träume bestanden aus einem eigenen Haus und einem kleinen Stück Land. Napoleon fragte Dorsaz, welche Summe Geldes die Erfüllung seiner Wünsche kosten würde, woraufhin dieser «1200 Franken» antwortete.[29] Nachdem der Bergführer bereits vor Ort acht Franken erhalten hatte, traf mehr als zwei Jahre später (Napoleon hatte ein hervorragendes Gedächtnis) ein französischer Kurier in dem kleinen Bergdorf ein, der dem jungen Schweizer genau diesen Betrag aushändigte – ein Vermögen für damalige Verhältnisse.[30] Dorsaz kaufte davon in Bourg-Saint-Pierre das Stück Land und das erträumte Haus, das seine Nachfahren mehr als 200 Jahre bewohnten, bevor es 2018 verkauft wurde.[31]

STENDHAL

Während der Weg in Serpentinen oberhalb von 2000 Metern höher und höher führt, sind die Bergriesen von tief liegenden, grauen Wolken verhüllt. Jenseits der Frostgrenze sehe ich ins Tal auf die von glitzerndem Raureif bedeckten Tannen. Der von Schneeverwehungen bedeckte, jahrtausendealte Saumpfad ist derselbe, über den 58 v. Chr. Julius Cäsar marschiert war, den im Mittelalter mehrere deutsche Kaiser mit ihrem Gefolge auf dem Weg nach Rom benutzt hatten und auf dem in jenen Maitagen mehr als 45.000 französische Soldaten, 6000 Pferde und 750 Maultiere zu sehen waren. Es ist jener Weg, den Stendhal auf dem Rücken seines Armeepferdes geritten war und über den er berichtete: «Von Zeit zu Zeit scheute mein Gaul vor einem Pferdekadaver, bald aber gewöhnte es sich daran, was viel schlimmer war. Eine richtige Rosinante [Anmerkung d. Autors: Rosinante war das Pferd Don Quijotes aus dem Roman von Cervantes]. Mit jedem Augenblicke wurde es unbehaglicher. Zum ersten Male sah ich der Gefahr in die Augen. Es war eine große Gefahr, ich muss es zugeben.»[32]

Der Gardegrenadier Jean-Roch Coignet erinnerte sich ebenfalls an den Aufstieg: «(…) als wir in die Frostzone kamen, wurde die Sache erst ganz böse. Wir fanden auf dem eisbedeckten Pfad oft keinen Halt mehr, begannen zu gleiten und wurden von dem alsdann abwärts rutschenden Geschütz mit zurückgezogen (…). Unsere Qual verdoppelte sich noch, nachdem das scharfe Eis unsere Schuhe völlig zerschnitten hatte.»[33]

Tatsächlich waren beim Übergang eine Kanone und mehrere Pferde den abschüssigen Weg hinabgerutscht und in den Tiefen der Schlucht verschwunden.[34] Der Grenadier Coignet berichtete weiter, wie sein Offizier am Beginn des Aufstieges gesagt hatte: «Bald kommen wir in den Schnee, da wird’s besser gehen.» Und das traf tatsächlich zu: «Mit diesem Ausblick zogen wir kräftig an und erreichten nach kurzer Zeit den ewigen Schnee, der bei uns zwar zuerst Grauen erregt hatte, dann aber bald zur Wohltat wurde, denn wir hatten nun bloß noch die halbe Arbeit. Unser[e] Schlitten glitten ziemlich leicht dahin.»[35] Stendhal berichtete weiter: «In einem Tale zwischen zwei spitzen, riesigen Bergen bemerkte ich zur Linken ein niedriges Haus, von einer vorüberziehenden Wolke beinahe verdeckt. Das ist das Hospiz.»[36]

AM RAND DER WOLKEN

Auf den eisigen Höhen des Großen St. Bernhard hatte bereits in vorchristlicher Zeit eine keltische Kultstätte des Berggottes Poenius gestanden, anstatt derer von den Römern im ersten Jahrhundert v. Chr. ein Jupitertempel errichtet worden war.[37] Bernhard von Menthon aus dem Aostatal ließ im Jahr 1050 für die Reisenden und Pilger auf der Passhöhe eine Zufluchtsstätte erbauen, deren traditionelle Gastlichkeit schnell über die Grenzen des Wallis hinaus von sich reden machte. Das Steinhaus in den Wolken hatte seine Pforten für Pilger und Schmuggler, für Händler und Wegelagerer gleichermaßen geöffnet. Jeder bekam ein kostenloses Obdach und eine Mahlzeit;[38] diese Praxis hielt man bis ins Jahr 1940 aufrecht. Gleichwohl die Augustiner-Chorherren seitdem einen Obolus verlangen, da die Gastfreundschaft zu sehr ausgenutzt worden war, hat im Geist dieser Tradition die stets geöffnete Tür des Hospizes bis zum heutigen Tag keinen Schlüssel. «(…) ohne Unterbrechung seit dem Jahr 1050», wie mir der Chorherr Frédéric Gaillard später nicht ohne Stolz erklärt. Das Hospiz, das Napoleon über diesen Weg am Vormittag des 20. Mai 1800 erreichte, ist das Ziel meiner Wanderung.

Meterhohe Schneewände begrenzen die Passstraße in den Hochalpen auf der Höhe von mehr als 2200 Metern, die vor Verwehungen kaum noch erkennbar ist. Als ich die sogenannte Todeskumme erreiche, das letzte Stück des Pfades vor dem Hospiz,[39] beginnt ein Schneetreiben. Noch 2015 waren hier vier Wanderer durch eine Lawine tödlich verunglückt.

Irgendwo unter dem vielen Schnee liegt der alte Römerpfad des 1. Jahrhunderts. Eisig kalter Nordwind schlägt mir in den Rücken. Plötzlich taucht inmitten der menschenleeren Bergwelt am Horizont ein Gebäude auf, nur um gleich wieder hinter einer Kurve, die von eisglänzenden Felswänden begrenzt ist, zu verschwinden. Glitzernde Eiszapfen hängen von den steilen Felsen herab. Während ich durch den frisch gefallenen Schnee stapfe, zieht sich der Weg über einen weiteren Kilometer endlos dahin. Das Hospiz ist in märchenhaftes Weiß gehüllt. Wäre ich noch einige Jahre früher gekommen, so würden mir spätestens jetzt freudig schwanzwedelnd Bernhardiner-Hunde entgegenlaufen, um mich zu begrüßen. Mitte des 17. Jahrunderts hatten die Augustiner begonnen, kräftige Hunde mit auf ihre Kontrollgänge in die unwirtliche Bergwelt zu nehmen, um in Gefahr geratenen Reisenden besser helfen zu können. Aus den Hunden entwickelten sich mit der Zeit die berühmten Bernhardiner, die nach dem hoch gelegenen Alpenpass benannt sind. Nach abgegangenen Lawinen gruben die treuen Tiere mit den bernsteinfarbenen Augen in den Schneemassen nach Verschütteten und bewahrten so mehr als 2000 Menschen vor dem sicheren Tod.[40]

Da jedoch auch auf den Höhen des Großen St. Bernhard alles dem Gesetz des ewigen Wandels unterworfen ist, verkauften die Chorherren die berühmte Hundezucht 2005 an die Fondation Barry.[41] Diese setzt die Bernhardiner heute u.a. als Therapiehunde für alte Menschen, Menschen mit Behinderung und Kinder ein.

EIN LEBENSRETTENDER BERNHARDINER

Wenige Wochen bevor Napoleon die Passhöhe erreichte, hatte die trächtige Hündin Alpina im Kellergewölbe des Hospizes drei Welpen geboren, von denen einer den Namen Barry erhielt. Generalstabschef Louis Alexandre Berthier hätte diesen am 20. Mai 1800 am liebsten mitgenommen, was der Hundepfleger Julius Genoud jedoch verweigerte. Er wollte Barry lieber als Suchhund behalten. Infolge dieser Weigerung konnte er zum berühmtesten Bernhardiner aller Zeiten werden, der im Laufe seines 14-jährigen Hundelebens rund 40 Menschen rettete.[42] Noch zu Lebzeiten setzte eine Legendenbildung um «Barry vom Großen St. Bernhard» ein. So erzählte man sich, dass er, wenn er einen Verunglückten im Schnee gewittert hatte, den Glockenzug der Klosterpforte mit dem Maul zog, um die Chorherren zu verständigen. Eine andere Geschichte besagt, dass er einen halberfrorenen Knaben auf seinem Rücken getragen und gerettet habe.[43] Obwohl kein Bernhardiner aufgrund seines Körperbaus hierzu in der Lage wäre, hielt sich die Geschichte so hartnäckig, dass Barry mit einem Kind auf dem Rücken auf dem Hundefriedhof in Paris in einem großen Denkmal verewigt ist. Eine weitere Erzählung will glauben machen, dass Barry von einem französischen Deserteur, der ihn für einen Wolf hielt, erstochen wurde.[44] In Wirklichkeit starb Barry 1814 in einem Hospiz in Bern, wo er von einem Augustiner hingebracht und nach seinem Tod ausgestopft wurde. «Es ist mir angenehm und gleichsam ein Trost, zu denken, dass dieser treue Hund, der so vieler Menschen Leben rettete, nach seinem Tod nicht so bald vergessen sein wird!»[45], sagte der Direktor des naturkundlichen Museums in Bern 1816, weshalb der zottelige Lebensretter dort bis auf den heutigen Tag in einem goldfarbenen Schaukasten zu sehen ist.

Als Barry wenige Wochen alt war, tollte er zusammen mit seinen beiden Geschwistern wahrscheinlich um Napoleons nasse Reitstiefel herum,[46] als dieser das Hospiz kurz vor acht Uhr am Morgen erreichte.[47] Nachdem der in ein schwarzes Ordensgewand gekleidete Propst Louis-Antoine Luder den Ersten Konsul begrüßt hatte, geleitete er ihn die alte Treppe des Steinhauses aus dem 16. Jahrhundert hinauf.

ZIEGENKÄSE AUF DEM GROSSEN ST. BERNHARD

Langsam stapfe ich durch den frisch gefallenen Schnee die wenigen Steinstufen des Hospizes hinauf. Die alte, knarrende Eingangstür öffnet sich leicht, eine Tür, die seit fast 1000 Jahren jedem offen steht und für die nie ein Schlüssel geschmiedet worden war. Über einen rauen Steinboden gehe ich einen düsteren Gang entlang. In der Nähe des Speisesaals befindet sich eine schwarze Marmorplatte, die mit goldenen Lettern in lateinischer Schrift an Napoleon erinnert.[48] Wohlige Wärme und Stille umfangen die Eintretenden, was mich augenblicklich an die fernen Tage meiner Kindheit erinnert, als in dem Dorf auf der Schwäbischen Alb in der Küche meiner Großmutter im Winter stets ein wärmendes Holzfeuer brannte.

Ein niedriges, altes Gewölbe erhebt sich über dem menschenleeren Speisesaal, in dem Holztische mit langen Holzbänken die Wanderer begrüßen. Nach einiger Zeit erscheint eine alte Frau und bringt mir eine dampfend heiße Tasse Tee, die mich von innen aufwärmen soll. Seine wiederbelebende Wirkung wird schon bald durch eine kräftige Brühe und gebratenes Rindfleisch verstärkt. Ein gusseiserner Ofen mit der Jahreszahl 1795 verbreitet wohltuende Wärme. Dieser hatte auch am 20. Mai 1800 gebrannt.

Als Napoleon und Propst Luder im damaligen Speisesaal das Frühstück aufgetragen wurde, musste es zugleich «die Stelle des Mittagessens vertreten».[49] Es gab heiße Bouillon mit gesalzenem Rindfleisch, Schafsragout mit getrockneten Früchten, würzigen Ziegenkäse und Gruyère. Dazu wurde Weißwein aus dem Aostatal gereicht.[50]

Mitten während des Essens erreichte Napoleons neu eingestellter Kammerdiener Louis Constant das Hospiz, der in Paris vergessen worden war. Er erinnerte sich, dass Napoleon, als er in den großen Saal eintrat, sagte: «‹Nun, da sind Sie ja, Sie Nachzügler. Warum treffen Sie erst jetzt ein?› Ich entschuldigte mich, indem ich darauf hinwies, dass man mich daheim vergessen hätte. ‹Sie haben keine Zeit zu verlieren, mein Bester›, fuhr er fort, ‹essen Sie schnell etwas, wir rücken sogleich ab.›»[51]

Tatsächlich verging bis zum Aufbruch noch mehr als eine Stunde. Nach dem Essen erklärte der Konsul dem ihm gegenübersitzenden Propst – nicht zuletzt aufgrund des wenige Stunden zurückliegenden Beinahe-Absturzes – dass er eine neue befestigte Alpenstraße über dem Simplon-Pass mit einem Hospiz bauen lassen und den Augustiner-Chorherren die Leitung anvertrauen wolle.[52]

Unter Einsatz von 5000 Arbeitern, die u.a. 600 Brücken über unwegsame Schluchten schlugen, war die Passstraße über den Simplon bereits 1805 fertiggestellt. Zum Vergleich: Der sich skandalös hinziehende Bau des Berliner Flughafens dauert seit 2006 bis 2020 an. Interessant ist die Frage, wie lange es wohl dauern würde, würde den Verantwortlichen von Berlin der Bau einer neuen Passtrasse über den Simplon anvertraut werden …

Während Napoleon mit dem Propst im großen Empfangssaal Ziegenkäse kostete und Weißwein trank, erhielt auch jeder der mehr als 6000, an diesem Tag ankommenden französischen Soldaten von den Augustinern Brot, Käse und einen Becher Wein.[53] Allerdings bekamen diese nicht den feinen Weißwein. «Man reichte uns», berichtete der spätere Schriftsteller Stendhal, «wie der ganzen Armee, daselbst ein halbes Glas Wein, das mir wie rotes Gefrorenes vorkam.»[54] Gardegrenadier Coignet erinnerte sich auch an die Gastfreundlichkeit der Augustiner: «Ihrem Gelübde entsprechend wurden wir von den menschenfreundlichen Mönchen [sic] aufs Beste aufgenommen. Sie geleiteten die Offiziere in große, gut geheizte Säle. (…) Den Mannschaften wurden die geräumigen Klostergänge als Aufenthalt angewiesen. Dort erhielten wir von den ehrwürdigen Vätern Brot, Käse und Wein; von letzterem für je 12 Mann einen Eimer voll. Sie taten für uns, was sie konnten, und als wir sie wieder verließen, drückten wir ihnen dankerfüllt die Hände und umarmten ihre Hunde, die mit uns so zutraulich waren, wie mit alten Freunden. Ich finde keine Worte, die Verehrung auszudrücken, welche die guten Mönche [sic] mir einflößten.»[55]

Alles in allem verspeisten die französischen Gäste im Hospiz innerhalb von acht Tagen 3498 Pfund Käse, 1758 Pfund Fleisch, 400 Pfund Brot, 400 Pfund Reis, 3478 Pfund Salz und 21.724 Flaschen Wein. Darüber hinaus wurden 500 Decken und Leintücher zur Herstellung von Gamaschen und Hosen verteilt. Napoleon hatte bereits Wochen vorher dafür gesorgt, dass diese riesige Menge an Versorgungsgütern beim Eintreffen der Armee auf der Passhöhe zur Verfügung stand – die Chorherren hatten Geld erhalten,[56] damit sie das Erforderliche vom Tal herbeischafften. Die gefräßige Armee bediente sich jedoch auch der Vorräte der Chorherren selbst, wodurch diesen Kosten von insgesamt 40.000 Franken entstanden. Von diesem Betrag wurden fünf Jahre später 18.000 Franken zurückbezahlt.[57]

Weiter befindet sich bis auf den heutigen Tag vor dem neuen Rathaus von Bourg-Saint-Pierre in einer Vitrine das Schreiben Napoleons, in dem er Entschädigung für die entstandenen Kosten der Dorfbewohner versprach. Diese Schulden wurden in Wirklichkeit erst 22 Jahre später unter König Ludwig XVIII. beglichen, allerdings nur zu einem Drittel. Die anderen zwei Drittel blieben unbezahlt, was Präsident François Mitterrand 1984 dazu veranlasste, sich mit einem Brief und einer Medaille für die Gastfreundschaft im Mai 1800 zu bedanken.[58]

Als würde sich der Kreis der französischen Hinterlassenschaften in Bourg-Saint-Pierre hier schließen, liegt die präsidiale Medaille heute neben dem Brief Napoleons in der Vitrine.

DER BERÜHMTESTE NAPOLEON DER WELT

Während Napoleon im Hospiz auf einen wichtigen Kurier Berthiers wartete, ließ er sich die Klosterbibliothek zeigen, setzte sich auf eine Steinbank und blätterte in einem vergilbten Geschichtsbuch. «Er las», berichtete der Sekretär Bourrienne, «einige Seiten in einer alten Scharteke, deren Titel mir entfallen ist.»[59]

Bei dem besagten Buch handelte es sich um «Die Geschichte Roms» des römischen Geschichtsschreibers Titus Livius.[60] Da Napoleon bereits zu diesem Zeitpunkt ein hochbelesener Mann war, muss er darin gezielt, einen anderen Schluss lässt die kurze Zeit seines Aufenthalts nicht zu, die Stelle von Hannibals Zug über die Alpen gesucht und gefunden haben.

Ich betrete die Bibliothek, die, wie mir der Bibliothekar der Augustiner stolz erzählt, «32.000 Bände» zählt. Das besagte Werk von Livius befindet sich allerdings nicht darunter. «Wahrscheinlich», so der Bibliothekar, «hat Napoleon es mitgenommen.»

Die Lektüre auf dem Dach Europas führte in jedem Fall dazu, dass alle französischen Zeitungen kurz darauf von Napoleon dahingehend instruiert wurden, die Überquerung des St. Bernhard mit der des karthagischen Feldherrn zu vergleichen.[61] Darüber hinaus dürfen wir davon ausgehen, dass der Feldherr, beeinflusst von seinem historischen Vorbild, auch Einfluss auf ein Detail des bekanntesten Gemäldes seiner selbst nahm. Bereits wenige Monate nach der Alpenüberquerung wurde das Ereignis von Jacques-Louis David in Öl festgehalten.[62]

Das zu Beginn des 19. Jahrhunderts in fünf Versionen geschaffene Gemälde «Bonaparte beim Überschreiten der Alpen am Großen Sankt Bernhard» von Jacques-Louis David gilt als das bekannteste Napoleonbild der Welt. Obwohl es mit der historischen Wirklichkeit wenig zu tun hat, trug es wie kein anderes bereits zu dessen Lebzeiten wesentlich zur Schaffung eines Mythos um Napoleon bei. Die Abbildung zeigt die vierte, heute auf Schloss Belvedere in Wien befindliche Version des Monumentalgemäldes.

Da gerade dieses Bild, das schon zu Zeiten seiner Entstehung einen großen Bekanntheitsgrad erreichte[63] und heute als das berühmteste Bild Napoleons in der Welt überhaupt gilt, lohnt ein kurzer Blick auf dessen Symbolsprache. Die erste der fünf von David gemalten Versionen dieses Bildes befindet sich heute im Museum von Schloss Malmaison, in der Nähe von Paris. Napoleon hatte sich seinerzeit geweigert, für das Monumentalgemälde Modell zu stehen, da er die Meinung vertrat, dass «niemand weiß, ob Gemälde großer Männer eine Ähnlichkeit mit ihnen haben, und dass es ausreiche, wenn der Geist des Genius»[64] dargestellt sei. Allerdings ließ er David durch einen Kammerdiener den Mantel, den Hut und das Mamelukenschwert, das er während der Schlacht von Marengo getragen hatte, schicken. Als David den Hut des Ersten Konsuls zum Spaß aufsetzte, musste er feststellen, dass dieser viel größer war als sein eigener und ihm bis über die Augen rutschte. Aufgrund der Weigerung Napoleons, als Modell zur Verfügung zu stehen, behalf sich der Maler mit seinem ältesten Sohn, der kurzerhand in dessen Accessoires gesteckt wurde.[65]

Auch skizzierte der Maler im konsularen Marstall den Schimmel Marengo (Vgl. S. 27).[66] Trotz dieser authentischen Vorlagen hat das Bild mit der historischen Realität herzlich wenig zu tun. Weder trug Napoleon einen roten Cäsarenmantel,[67] noch saß er bei der Alpenüberquerung auf einem Schimmel. Der Araberhengst wurde ohne Reiter über den Pass geführt, während der Besitzer auf dem Rücken eines Maultieres saß. Die im Hintergrund zu sehende, rollende Kanone war ebenso wie die 59 anderen Geschütze auseinandergebaut worden und wurde in einem ausgehöhlten Baumstamm transportiert. Das über der horizontalen Felskante am rechten Bildrand zu erkennende Meer von Bajonetten gab es auch nicht, da Infanterie während eines Marsches das Bajonett nicht aufgepflanzt trägt. Eine amerikanische Kunstzeitschrift schrieb 1850: «Obwohl es [Davids Gemälde] eine malerische Unwahrheit darstellt, ist es dasjenige, das Bestand haben wird, denn es steht für den kühnen Geist Bonapartes und die Größe dieser Epoche.»[68]

Der jugendhafte Feldherr sitzt – der David-Sohn saß indes auf einer Leiter – auf dem Rücken eines unbändig steigenden Schimmels, dessen Maul und Augen weit aufgerissen sind. Die Wildheit des Schlachtrosses steht in hellem Kontrast zu seinem Reiter, der den Betrachter mit durchdringendem, fest entschlossenem Blick ansieht. Während er unerschütterlich im Sattel sitzt, hält er mit der linken Hand die Zügel – der Macht – und weist mit dem ausgestreckten rechten Arm, als würde er sich auf eine göttliche Instanz berufen, in die Höhe. Suggestiv verstärkt wird diese Botschaft noch durch die hinter dem Kopf des Konsuls aufreißende Wolkendecke. Ursprünglich wollte David Napoleon mit einem Degen in der ausgestreckten Hand malen, was dieser jedoch entschieden ablehnte mit der Begründung «dass Schlachten nicht länger mit dem Degen gewonnen werden». Es genüge, wenn er «ruhig auf einem feurigen Pferd» dargestellt sei.[69] David «versetzte» daraufhin kurzerhand seine von Napoleon abgelehnte Idee, indem er den Degen in einen Säbel verwandelte und ihn einem Infanteristen direkt unter Napoleons linken Reitstiefel in den ausgestreckten Arm malte.

Fast dreidimensional scheinen sowohl die hinter Napoleon marschierenden Truppen als auch der Betrachter des Bildes selbst aufgefordert, ihm zu folgen. Die Soldaten symbolisieren, so die kraftvolle Aussage, mit der Überwindung des Großen St. Bernhard den kometenhaften Siegeszug der Französischen Revolution, deren Sohn und Vollender Napoleon Frankreich an der Schwelle des Jahrhunderts in eine neue, ruhmreiche Zeit führt.[70]

Tatsächlich setzte der aus Korsika stammende Artillerieoffizier in den folgenden Jahren beeindruckend Widersprüchliches in Bewegung, um die Revolution und ab 1804 das Empire unter einen bzw. seinen berühmten Hut zu bringen. Hierbei wahrte er einerseits zentrale Ideale von 1789 und goss sie in bleibende Form – seine wichtigste innenpolitische Errungenschaft des Code Civil etwa gewährleistete die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz. Andererseits kehrte er den ursprünglichen Idealen aber auch den Rücken – die Alleinherrschaft hatte mit der nach dem Sturm auf die Bastille angestrebten demokratischen Staatsform nichts mehr zu tun.

In Davids Gemälde wird die Revolution anhand von drei Details symbolisiert: Auf dem Zaumzeug des Pferdes ist neben der Signatur Davids die Datumsangabe des 1792 neu geschaffenen Revolutionskalenders zu sehen. Am rechten Bildrand hinter dem Feldherrn weht in Marschrichtung die Trikolore, während dieser auf dem Zweispitz eine weiß-blau-rote Kokarde trägt. Bei der Gestaltung dieses Bildelements ging es David darum, sowohl das Gesicht des Helden von vorne in Gänze als auch die Kokarde gestalterisch voll zur Geltung bringen. Der Kopf Napoleons ist daher zum Betrachter nach links hin gedreht, während der Hut (mit Kokarde) – abweichend von der damals üblichen Tragweise – mit den beiden Spitzen zu den Schultern zeigt. Betrachtet man den Umstand, dass Napoleon seinen Hut erst ab etwa 1801/02 dauerhaft so aufsetzte,[71] gilt es als möglich, dass er durch Davids berühmtes Gemälde erst dazu inspiriert wurde.

Die in Interpretationen hingegen immer wieder zu findende Lesart, dass David mit dem auf diese Weise dargestellten Hut im Jahr 1800 (!) den kommenden Kaiser vorwegnahm und dass der Zweispitz als «heimliche Krone eines kommenden Feldherrn-Kaisers und Beherrscher Europas»[72] zu verstehen ist, entspricht aller Wahrscheinlichkeit nach nicht den Tatsachen: David war während der Revolution ein enger Freund Robespierres und hatte als glühender Jakobiner für den Tod Ludwigs XVI. gestimmt.

Neben dem Siegeszug der Französischen Revolution setzt das Bild Napoleon in einen historischen Kontext mit großen Heerführern der Vergangenheit, die ebenfalls die Alpen überquert hatten. Vorne links sind auf einem wuchtigen Felsen die Namen Karls des Großen, Hannibals und Bonapartes eingemeißelt. Tatsächlich hatte der Karolinger während des Feldzugs gegen die Langobarden im Jahr 773 und auch Hannibal mit seinen Elefanten während des II. Punischen Krieges 218 v. Chr. die Alpen überquert. Nach heutigem Stand der Wissenschaft tat Hannibal dies aber nicht, wie das Gemälde impliziert, am Großen St. Bernhard, sondern bei Col de la Traversette rund 100 Kilometer westlich des heutigen Turin.[73] Die historische Analogie Napoleons mit Hannibal war ohnehin nicht glücklich gewählt. Der Karthager besiegte zwar die Römer in einer Vernichtungsschlacht bei Cannae – worauf Napoleon propagandistisch Bezug nahm – verlor aber den Krieg und starb später unter dramatischen Umständen fern seiner Heimat in Kleinasien. Ironischerweise wies das Schicksal Napoleons mit jenem Hannibals tatsächlich eine gewisse Parallele auf; auch er verlor letzten Endes den Krieg und starb mitten im Atlantik in englischer Gefangenschaft.

EIN ENGLISCHES AUFTRAGSGEMÄLDE

In den 1840er Jahren hing eine der fünf Versionen von Davids Gemälde im Louvre. Als der dem englischen Hochadel entstammende Arthur Georg Onslow, 3rd Earl of Onslow, gemeinsam mit dem Maler Paul Delaroche durch das Museum ging, bemerkte er «(…) die Absurdität der Darstellung oder zumindest deren mangelnde Wahrscheinlichkeit. Es müsse doch ganz anders ausgesehen haben (…). Onslow soll dann den Maler herausgefordert haben: ‹Ich möchte, dass Sie mir ein Bild malen, das die Szene so wirklichkeitsgetreu [sic] wie möglich zeigt.›»[74]

Dem Wunsch seines Auftraggebers gemäß malte Delaroche das Ölgemälde «Der General Bonaparte überquert die Alpen (1800)».[75] Der aller Wahrscheinlichkeit nach auf den hocharistokratischen Auftraggeber zurückgehende Titel stellt ganz in der gewünschten englischen Lesart eine Beleidigung dar: Napoleon war im Jahr 1800 nicht General, sondern Erster Konsul der Französischen Republik. Die bewusste Abwertung erinnert stark an einen Konflikt nach dem Tod Napoleons auf St. Helena im Jahr 1821: Die französische Entourage des gefangen gesetzten Kaisers wollte auf den dortigen Grabstein «NAPOLÉON I EMPEREUR DES FRANCAIS»[76] einmeißeln lassen. Die Engländer hingegen waren keinesfalls bereit, auf diese Forderung einzugehen. Während seiner gesamten Gefangenschaft auf St. Helena war Napoleon stets mit «General Bonaparte» angesprochen worden, also mit einem militärischen Rang, den er lediglich bis 1799 innegehabt hatte. Da dieser jahrelange Konflikt sich bei der Frage um Napoleons Grabinschrift fortsetzte, blieb der Grabstein auf St. Helena, der sich heute in einem Garten des Pariser Invalidendoms befindet, vollkommen unbeschriftet[77] (Vgl. S. 185).

Der französische Maler Paul Delaroche schuf in den Jahren 1848–1850 das Gemälde «Der General Bonaparte überquert die Alpen (1800)» in drei Versionen. Das Bild ist eine Auftragsarbeit des der englischen Hocharistokratie zugehörigen 3. Earl of Onslow und war ebenso wie das David-Bild politisch motiviert. Wie Letzteres enthält es mehrere, gleichwohl nicht auf den ersten Blick zu erkennende, historische Unwahrheiten.

Dennoch ist die in der Literatur prominente Behauptung, das Bild Delaroches entspreche erwiesenermaßen den tatsächlichen historischen Gegebenheiten von Napoleons Alpenübergang, nur bedingt richtig.[78] Weder trug Napoleon – wie bei David – den Hut im Jahr 1800 mit den Spitzen zu den Schultern noch saß er freihändig, d.h. ohne die Hand am Zügel auf dem Maultier (die andere steckt im Mantel), das sich auf dem Großen St. Bernhard ja immerhin über einen abschüssigen Gebirgspass bewegte. Zwar stimmt es, dass der Feldherr den Pass auf dem Rücken eines Maultieres und nicht auf einem temperamentvollen Schimmel überquerte, doch war der Führer Dorsaz ein junger hochgewachsener Mann Anfang zwanzig und nicht, wie auf Delaroches Bild dargestellt, eine vom Alter gezeichnete Erscheinung, die mindestens auf die fünfzig zugeht. Die Darstellung des Bergführers mit eingefallenen Schultern und des Maultieres mit erschöpftem Blick – als Gegenentwurf zu den feurigen Augen des Pferdes bei David – und schlaff nach unten hängendem Kopf fügt sich nahtlos in das psychologische Aussagekonzept.[79]

Unter dem Deckmantel historischer Authentizität war das Bild Delaroches ein bewusster Gegenentwurf zu Davids verherrlichendem Gemälde. Während der ebenfalls gealtert dargestellte Napoleon in dem David-Bild als ruhiger jugendlicher Beherrscher von Mensch und Natur dargestellt ist, blickt er bei Delaroche vor einer bedrohlich düsteren Umgebung fast furchtsam auf den Betrachter. Zieht man den Umstand in Betracht, dass Delaroche, ebenso wie David, nichts in seinem Bild dem Zufall überließ, so macht ein bislang unbeachtetes Detail die politisch motivierte Geschichtsauslegung im englischen Sinne zur Gewissheit: Auf der Innenseite des wehenden Mantels des Bergführers am rechten Bildrand ist das englische Sankt-Georgs-Kreuz zu sehen. England, so die hier suggerierte Botschaft, hatte durch seinen langen Atem in den Koalitionskriegen letztendlich die gezeigten – ebenfalls durchaus symbolisch zu verstehenden – Zügel der Napoleonischen Kriege in der Hand behalten und war daraus als Sieger und Weltmacht hervorgegangen. Die vom Earl von Onslow bestellte Version des St.-Bernhard-Bildes war schließlich ein Geschenk für Königin Victoria und hängt bis auf den heutigen Tag im St. James’s Palace in London.[80]

Die Betrachtung der beiden die historische Wirklichkeit gleichermaßen verfremdenden Gemälde soll schließen mit einem Blick darauf, wie der Dargestellte bei seiner Alpenüberquerung tatsächlich ausgesehen hat: «Bonaparte», erinnerte sich sein Sekretär Bourrienne, «war mit seinem grauen Überrock bekleidet, hatte die Reitgerte in der Hand und sah etwas unmutig aus, weil niemand aus dem Tal von Aosta erscheinen wollte, der ihm die Nachricht der Einnahme des Forts von Bard gebracht hätte.»[81]

DAS GRABMAL DES FREUNDES

Nach einer Nacht auf dem Großen St. Bernhard und einem kräftigen Frühstück trete ich ins Freie auf den Treppenaufgang des schneeverwehten Hospizes. Manche Steine der Treppen, so hatte mir der Chorherr Frédéric Gaillard am Abend bei einem Glas Wein erzählt, stammten vom römischen Jupitertempel. Der Tempel stand bei einer Felsquelle am Ufer des nahe gelegenen, vereisten Bergsees, durch den inzwischen die Grenze zu Italien verläuft. Heute erhebt sich dort, wo einst die Römer ihren obersten Gott verehrten, Ehrfurcht gebietend ein hohes Denkmal des Heiligen Bernhard mit Kreuz und ausgestrecktem Arm.

Die Luft ist eisig kalt, Stille liegt über den Bergen. Würde es nicht aus dem Schornstein des einsamen Hospizes friedlich rauchen, wäre man versucht zu glauben, es sei ein von Menschen verlassener Ort. Auf dem oberen Absatz dieser Stufen hatte Napoleon nach dem Essen am 20. Mai gestanden, um das Defilee seiner Eskorte der berittenen Konsulargarde abzunehmen.[82]

Ein in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandenes Gemälde des Genfer Malers Édouard Castres zeigt den französischen Feldherrn auf dem oberen Treppenabsatz des Hospizes stehen. In der Bildmitte sind Augustiner-Chorherren neben einem Bernhardiner dabei, die Soldaten zu verpflegen. Im Hintergrund ist der Lago del Gran Bernardo erkennbar.

Wieder im Inneren des Hospizes führt mich ein Augustiner die Treppe hinab in die Kapelle. «Die Mauer», so erklärt mir der alte Mann im weißen Ordensgewand, «liegt unter dieser Kapelle und stammt aus dem 11. Jahrhundert.» Die kleine Kirche ist jene, die Napoleon während seines Aufenthaltes vormittags besichtigt hatte.[83] Dort befindet sich in einer mittleren Seitenkapelle die letzte Ruhestätte des französischen Generals Louis Charles Antoine Desaix. Nur acht Wochen nach der Überschreitung des Großen St. Bernhard war es am 14. Juni bei dem kleinen Dorf Marengo in der Poebene zur großen Schlacht mit den Österreichern gekommen, die nur durch das Eingreifen durch den mit seiner Division überraschend auf dem Schlachtfeld erschienenen Desaix im letzten Moment gewonnen werden konnte. Napoleon hielt große Stücke auf ihn, war ihm freundschaftlich eng verbunden und hatte vor, ihn mit seiner Stieftochter Hortense zu verheiraten. Allerdings sollte es dazu nicht mehr kommen, da der 31-Jährige an der Spitze des Angriffs von einer Kugel tödlich getroffen vom Pferd stürzte. Als Napoleon von seinem Tod erfuhr, traten ihm Tränen in die Augen und er sagte: «Frankreich hat einen seiner besten Verteidiger und ich meinen besten Freund verloren.»[84]

Zum fünften Jahrestag der denkwürdigen Schlacht befahl Napoleon, dass Desaixs bis dahin in Mailand einbalsamierter Leichnam auf den Großen St. Bernhard überführt und dort beigesetzt werden sollte.[85] Bei der feierlichen Begräbniszeremonie in der kleinen Hospizkirche am 14. Juni 1805 ließ sich der Kaiser durch Marschall Berthier vertreten. Nach dem Vorbild des griechischen Helden Achill, der bei der Bestattung seines Freundes Patroklos Wettkämpfe hatte abhalten lassen, fanden auch bei der Beisetzung von Desaix Schauwettkämpfe statt.[86] Zur Grundsteinlegung des Grabmales am Tag darauf hatte Napoleon den Chorherren eine kostbare Bleiwaage, eine Maurerkelle sowie einen mit vergoldetem Silber verzierten Mörtelbehälter geschickt.[87] Das kaiserliche Handwerkszeug aus Paris ist bis auf den heutigen Tag im kleinen Museum des Hospizes zu sehen.

Desaixs marmornes Grabmonument ist mit antikisierenden Elementen gestaltet und zeigt den Augenblick seiner tödlichen Verwundung. In das Denkmal eingemeißelt steht die Inschrift: «Desaix mort à la Bataille de Marengo».[88]

MARENGO

Als der Napoleon verehrende Heinrich Heine im Jahr 1828 mit der Postkutsche über das rund 200 Kilometer südwestlich des Großen St. Bernhard gelegene Schlachtfeld fuhr, schrieb er: «Ich sah im Morgennebel den Mann mit dem dreieckigen Hütchen und dem grauen Schlachtmantel, er jagte dahin wie ein Gedanke, geisterschnell. (…) Auf dem Schlachtfelde von Marengo kommen einem die Betrachtungen so scharenweise angeflogen, dass man glauben sollte, es wären dieselben, die dort so mancher plötzlich aufgeben musste, und die nun, wie herrenlose Hunde, umherirren (…). Ich liebe Schlachtfelder, denn so furchtbar auch der Krieg ist, so bekundet er doch die geistige Größe des Menschen, der seinem mächtigsten Erbfeinde, dem Tode, zu trotzen vermag. (…) Jeder Zoll, den die Menschheit weiterrückt, kostet Ströme Blutes; und ist das nicht etwas zu teuer?»[89]

Den Schimmel, den Heine ohne ihn an dieser Stelle direkt zu benennen in seiner Fantasie dahinjagen sah, gab es wirklich. Es ist jener feurige Araberhengst, auf dem der spätere Kaiser auf dem Gemälde Davids sitzt. Der Konsul benannte dieses Pferd, das er 1799 aus Ägypten mitgebracht und das ihn am 14. Juni 1800 getragen hatte, nach der an diesem Tag geschlagenen Schlacht: «Marengo».

Dieser vielfach bedichtete und gemalte Schimmel (Vgl. S. 67, 73 und 194) wurde Teil des Mythos um Napoleon, er trug seinen Besitzer durch das Brandenburger Tor, vor das brennende Regensburg und von den goldenen Türmen des Kremls bis auf die düstere Ebene bei Waterloo.

LONDON

DAS PERFIDE ALBION

«Napoleon war nie in London, aber London ist voll von Napoleon.»

Unbekannter Verfasser

DAS SKELETT VON NAPOLEONS PFERD

Das Skelett von Napoleons Schimmel Marengo steht heute in London im National Army Museum.[1] «Welches ist das Bild, das wir von Napoleon haben?», fragt der Gästeführer in die Runde, um dann selbst die Antwort zu geben: «Es ist das Bild, wie er mit einem Zweispitz in einem grauen Mantel auf einem weißen Pferd sitzt. Auf dem Schlachtfeld war er mitten unter den Marschällen in ihren goldstrotzenden Uniformen vor allem auf diesem Schimmel sofort erkennbar.»

Das berühmte Pferd wurde am Abend der Schlacht von Waterloo, wo Napoleons stürmischer Siegesritt durch Europa endete, erbeutet. Folgt man der Darstellung des National Army Museum, so floh Napoleon in einer Kutsche und ließ den verwundeten Marengo in einem Hohlweg bei Belle Alliance (Vgl. S. 311 ff.) liegen. Leutnant Henry Petre von den 5. Dragonern entdeckte das am Boden liegende Pferd und erkannte es an seinem kaiserlichen Brandzeichen. Der Offizier pflegte den Schimmel gesund und verschiffte ihn nach England, wo er später als Kriegstrophäe in den Waterloo-Sälen in der Londoner Pall Mall zur Schau gestellt wurde. Als das öffentliche Interesse an der Schlacht immer mehr zunahm, verkaufte Petre Marengo an Captain William Angerstein, einen Offizier der Grenadier Guards. Angerstein war der sagenhaft reiche Enkel des Gründers der Versicherungsgesellschaft Lloyd’s. Den Rest seines Daseins verbrachte Napoleons Schlachtross auf den grünen Weiden von Angersteins großem Herrensitz in Norfolk. Als Marengo im Jahr 1831 im stolzen Alter von 31 Jahren starb, ließ der Besitzer Chirurgen aus London kommen und das Skelett präparieren, um es anschließend der Royal United Services Institution, dem heutigen National Army Museum, zu schenken.[2]

Betrachtet man dort heute die sterblichen Überreste Marengos, fällt sogleich auf, dass ihnen die beiden Vorderhufe fehlen. Angerstein hatte sie nach dem Tod des Tieres entfernen und von einem Goldschmied zu Schnupftabakdosen verarbeiten lassen. Die massiven Deckel waren für die eine Dose aus Gold und für die andere aus Sterlingsilber gefertigt worden. Die Vorstellung des Aristokraten, Tabak aus nichts Geringerem als den Hufen von Napoleons Schimmel schnupfen zu können, war der ultimative Ausdruck seines britisch-patriotischen Snobismus.

Angerstein schenkte die Schnupftabakdose mit dem goldenen Deckel einem Offizier der Brigade of Guards, der sie in die Offiziersmesse von St. James’s Palace brachte, wo sie sich auch heute noch befindet. Der andere Huf verschwand zunächst spurlos im Dunkel der Geschichte, bis er im 21. Jahrhundert in einer Küchenschublade wieder auftauchte. «Der silbergefasste Huf», so berichtet der Militärhistoriker Christopher Joll, «wurde in Zeitungspapier eingewickelt in einer Plastiktüte im hinteren Teil einer Küchenschublade gefunden.»[3] Auf dem silbernen Deckel der Schnufptabakdose fand sich eine schlichte Gravur «Marengo». Die Finderin ging mit der Tüte zum Household Cavalry Museum und fragte, ob es von irgendwelchem Interesse sei. Die Antwort war ein entschiedenes Ja. Der verschollene Huf kann dort seither als Dauerleihgabe bestaunt werden.

Doch bezweifeln namhafte Experten inzwischen, dass es sich bei dem im National Army Museum befindlichen Skelett wirklich um Napoleons Pferd handelt.[4] Aus Irland kamen verschiedene Hinweise, dass der Schimmel, der nach der Schlacht von Waterloo nach England gebracht worden war, eigentlich von einer örtlichen Pferdemesse der Emerald Isle stammte.[5] Diese These wird gestützt durch eine Aussage von Napoleons Sekretär Claude François de Méneval, der in der Nacht nach der Schlacht im Posthaus von Avesnes berichtete, dass die Pferde Napoleons gerettet worden seien.[6]

Die Spuren Napoleons wie diese in London – in der englischen Lesart des Siegers – sind vielfältig. Neben äußerst sichtbaren Wahrzeichen wie dem Trafalgar Square, der Waterloo Bridge, der Waterloo Station sowie rund 60 weiteren Straßen und Plätzen, die in der britischen Hauptstadt allein nach Wellington und Admiral Nelson benannt wurden, zählen dazu vor allem die hochkarätigen Beutememorabilien. Zu den kuriosesten Gegenständen aus dem Besitz des geschlagenen Kaisers gehört wohl sein orientalischer Morgenmantel, den Fürst Blücher 1815 als Teil der Beute von Waterloo (Vgl. S. 298 ff.) dem englischen Prinzregenten geschenkt hatte.[7]

Napoleons Morgenmantel aus Ägypten wurde nach der Schlacht von Waterloo in dessen Kutsche erbeutet. Das Foto zeigt das historische Artefakt anlässlich einer Ausstellung in Buckingham Palace (2018) im Auftrag des Königshauses.

Der rubinrote Mantel war 2018 einer der Höhepunkte der Ausstellung «Prince and Patron», die anlässlich des 70. Geburtstages von Prinz Charles in Buckingham Palace gezeigt wurde. Der britische Thronfolger hatte ihn für die Ausstellung persönlich ausgewählt und sagte, dass der Mantel ihn bereits als Kind fasziniert habe.[8] Betrachtet man die abenteuerliche Geschichte und Herkunft des leuchtend roten Morgengewands aus dem Orient, so kann man nachvollziehen, wie sehr es auf die Fantasie eines Kindes zu wirken imstande ist.

APSLEY HOUSE

Mein Weg von Buckingham Palace führt durch den Green Park nach Apsley House. Nachdem Arthur Wellesley, der 1. Duke of Wellington, das hochherrschaftliche Anwesen im Georgianischen Stil im Jahr 1817 von seinem Bruder gekauft hatte, diente es dem standesbewussten Sieger von Waterloo als repräsentative Stadtresidenz. Er ließ den Palast mit korinthischen Säulen versehen und mit feinem Kalkstein ummanteln. Sein Nachfahre, der 7. Herzog von Wellington, vermachte Apsley House 1947 schließlich dem britischen Staat, der es 1952, dem 100. Todesjahr des Siegers von Waterloo und dem Jahr der Thronbesteigung von Königin Elisabeth II., als Museum öffnete.[9] Einige wenige Räumlichkeiten des Palastes werden bis auf den heutigen Tag vom jeweiligen Herzog von Wellington privat bewohnt.

Dem Besucher, der den beeindruckenden Palast mit der einstigen Adresse «Number One London» betritt, begegnet schon im Treppenhaus eine riesige Marmorstatue Napoleons. Das rund dreieinhalb Meter hohe Standbild zeigt den gestürzten Kaiser als heroischen, nahezu unbekleideten Kriegsgott.

Kein Geringerer als Napoleon selbst hatte die Statue nach dem Friedensschluss mit England 1802 bei dem berühmten venezianischen Bildhauer Antonio Canova in Auftrag gegeben. Allerdings zeigte sich der Künstler von dem Auftrag aus Paris wenig begeistert, hatten die Franzosen doch 1797 seine Heimatstadt besetzt und systematisch ausgeplündert (Vgl. S. 109 f. und 115 f.). Einzig und allein der Vermittlung einflussreicher Persönlichkeiten, darunter Papst Pius VII., ist es zu verdanken, dass Canova sich doch noch zur Schaffung des Kunstwerkes bewegen ließ.

Als die riesige Statue mit dem Namen «Mars als Friedensbringer» 1811 in Paris eintraf und Napoleon sie zum ersten Mal sah, war er von der muskulösen, freizügigen Darstellung so schockiert, dass er befahl, sie vor den Augen der Öffentlichkeit zu verbergen.

Nach dem Untergang des Kaiserreiches wurde die hinter einem Vorhang versteckte Statue im Louvre wiederentdeckt und 1816 von König Ludwig XVIII. an die englische Regierung verkauft. Der Prinzregent schenkte sie als Zeichen der Wertschätzung für seine Dienste dem Herzog von Wellington. Der Fußboden im Eingangsbereich seines Londoner Stadtpalastes musste daraufhin eigens verstärkt werden, um das gewaltige Gewicht der Marmorstatue tragen zu können.

Wenn man das von ihm selbst als anzüglich empfundene Abbild Napoleons passiert und die steinerne Wendeltreppe hinaufgeht, trifft man auf ein Ölgemälde, das den einstigen Hausherrn zeigt. In Schwarz gekleidet und mit einem Fernrohr in der Hand präsentiert es den Eisernen Herzog, gleich mehrere Höhenmeter über dem Standbild Napoleons – wer bei Waterloo triumphiert hat, wird auch hier noch einmal deutlich.

Im heutigen Museum Apsley House befinden sich zwischen feinen Seidentapeten und Goldverzierungen 3000 erlesene Kunstwerke, darunter Josephines Tee-Service, das Napoleons Ägypten-Feldzug darstellt, sowie zahlreiche kostbare Gemälde erstrangiger Maler wie Rubens oder Goya, die Wellington 1813 nach der Schlacht bei Vitoria gegen Joseph Bonaparte erbeutet hatte. Napoleon hatte seinen ältesten Bruder zwischen 1808 und 1813 als König von Spanien eingesetzt, der die kostbaren Bilder aus dem Besitz des abgesetzten spanischen Königs Ferdinand VII. bei seinem Rückzug vor den Engländern aus Madrid raubte. Nach der besagten Schlacht im Baskenland, die Spanien von den französischen Besatzern befreite, überließ der auf den Thron zurückgekehrte Ferdinand VII. Wellington die Bilder zum Dank. Dass die von Wellington geführten Truppen 1812 nach der Befreiung der spanischen Stadt Badajoz 4000 Zivilisten jeden Alters willkürlich ermordet, ihre Häuser geplündert und Hunderte Bewohnerinnen, darunter auch Nonnen, vergewaltigt hatten,[10] spielte dabei keine Rolle.

DER ARCH WELLINGTON

Wenn der heutige Herzog in Apsley House aus dem Fenster seiner exklusiven Residenz blickt, schaut er auf ein Reiterstandbild seines Ahnherrn. Die Statue ist an den vier Ecken von gusseisernen Soldaten umgeben. Bis 1846 befand sich an dieser Stelle ein Triumphbogen, der gleichfalls dem Sieger von Waterloo geweiht ist. Es ist der Wellington Arch, der 1882/83 an den Rand des Hyde Parks versetzt und mit einer riesigen Quadriga gekrönt wurde. Ganz genau wie die Vendômesäule in Paris aus erbeuteten österreichischen und russischen Kanonen gegossen wurde, verwendete man auch für dieses Ehrenmal die Bronze erbeuteter französischer Kanonen.

Auf dem Reiterstandbild vor Apsley House sitzt Wellington auf dem Rücken seiner Stute Copenhagen. Als man den Herzog seinerzeit fragte, ob er das Skelett dieser in der Zwischenzeit ebenfalls verstorbenen Stute, die er bei Waterloo geritten hatte, dem Vorläufer des National Army Museum zur Verfügung stellen wolle, um sie neben dem Skelett von Marengo auszustellen, gab er an, dass er sich nicht erinnern könne, wo im Garten seines Landsitzes sie vergraben sei. Diese Angabe war nachweislich die Unwahrheit, da ein Grabstein Copenhagens Ruhestätte im Park von Wellingtons Anwesen in Stratfield Saye markiert.[11] Der Herzog wollte die Überreste seines geliebten Pferdes offensichtlich in seiner Nähe wissen: Auch Wellington ließ einen Huf des Tieres präparieren, der inzwischen im Museum Apsley House ausgestellt wird. In einer weiteren Vitrine ist auch die mechanische Hörhilfe zu sehen, die Wellington in seinen späteren Jahren im Parlament benutzte. Als er am 18. Juni 1815 den ganzen Tag über auf dem Rücken seines treuen Schlachtpferdes saß, hatte der Kanonendonner von Waterloo einen chronischen Hörschaden bei ihm verursacht.

DIE KRIEGSSCHULDFRAGE

In den Jahren vor der Thronbesteigung Königin Victorias (1837) bekleidete der in London hochverehrte Herzog höchste politische Ämter wie die des Premierministers und Außenministers. Darüber hinaus war er bis zu seinem Tod im Jahr 1852 oberster Befehlshaber der Armee und ist bis auf den heutigen Tag auf einer 5-Pfund-Note zu sehen. Als im Jahr von Wellingtons Außenministerposten 1834 der Westminster Palace niederbrannte, wurde bei der Neuerrichtung des Gebäudes das Innere mit zwei riesigen Wandgemälden verziert, die die beiden entscheidenden Siege der Napoleonischen Kriege darstellen: Eines der Bilder zeigt Wellington auf dem Rücken seines Pferdes beim Handschlag mit Blücher am Abend nach der Schlacht von Waterloo vor dem Gasthaus «Belle Alliance» (wo die Begegnung Wellingtons eigener Aussage zufolge gar nicht stattfand). Das zweite Bild zeigt den nach der tödlichen Schussverletzung auf das Deck der Victory gestürzten Nelson. Die Darstellungsweise ist deutlich an die Kreuzabnahme Christi angelehnt und erhebt den Admiral so zu einer nahezu religiösen Lichtgestalt – womit sie sich wenig von manch napoleonischem Propagandabild unterscheidet. Bilder wie diese – in diesem Fall in einem europäischen Parlamentsgebäude – haben neben unzähligen Denkmälern u.a. die heute vorherrschende Lehrmeinung und die öffentlich tendenziell negative Wahrnehmung Napoleons geprägt. Der zeitgenössische Dichter Robert Southey behauptete, dass bei der Schlacht von Waterloo nicht weniger als die «Weltzivilisation» auf dem Spiel gestanden habe. Napoleon stellte für ihn die «grobe materielle Philosophie»[12] dar, die seit 1789 das Leitprinzip der französischen Politik war: militärischer Despotismus und die Brutalisierung und Erniedrigung der menschlichen Rasse. Kurz gesagt, es war «ein Kampf zwischen guten und bösen Prinzipien»[13]. Der Geist dieser englischen Geschichtsauslegung lässt sich über 200 Jahre hinweg konstant beobachten. So schrieb Bernard Cornwell in seinem 2015 erschienenen, überaus erfolgreichen Werk über die Schlacht von Waterloo, dass «Napoleon den Krieg liebte»,[14] wobei er völlig verschweigt, dass England den Krieg 1803 begonnen hatte und dass Napoleon an den damaligen englischen König Georg III. über den Zeitraum von mehreren Jahren Briefe geschrieben hatte, um das Blutvergießen zu beenden.

Der englische Historiker Tim Clayton formuliert in seinem 2018 erschienenen Werk «This dark business» dazu die Frage: «Wir wurden gelehrt, Napoleon für den Aggressor zu halten – für einen Mann mit unauslöschbarem Durst nach Krieg und Ruhm. Was aber wäre, wenn diese Behauptung die tatsächliche Wahrheit maskiert: Dass die britische Weigerung Frieden [mit Frankreich] zu schließen die Ursache war, dass dieser gewaltige Krieg für mehr als 20 Jahre andauerte?»[15] Nun ist es auch hier keinesfalls so, dass Napoleon an diesen Kriegen gänzlich unschuldig war. Er hatte 1797 die Republik Venedig von der europäischen Landkarte ausgelöscht, war 1808 in Spanien einmaschiert und hatte 1812 den verhängnisvollen Krieg gegen Russland begonnen. Dennoch ist bei einer näheren Betrachtung der historischen Quellen[16] die Behauptung von Napoleons Alleinschuld für die «Napoleonischen» Kriege nicht haltbar: Vielmehr hatte er im Jahr 1802 mit England den Friedensvertrag von Amiens geschlossen, der die seit 1792 in Folge der Französischen Revolution ausgebrochenen Kriege beendete. Napoleons Ziel war ein dauerhafter Zustand des Friedens, um das durch die Revolution innenpolitisch zerüttete Frankreich zu ordnen.[17] Die führenden Wirtschaftskreise Großbritanniens mussten im Laufe der folgenden Monate jedoch feststellen, dass durch ein starkes Frankreich der Handel mit dem europäischen Festland beeinträchtigt wurde, zumal Napoleon einen England begünstigenden Handelsvertrag ablehnte. Der erneute Kriegsbeginn im Mai 1803 durch einen Überfall auf alle in englischen Häfen liegenden französischen Handelsschiffe war daher ganz klar wirtschaftlich motiviert. Im Folgenden brachte das mächtige Inselreich die III. Koalition mit Österreich, Russland, Schweden und Neapel auf den Weg, indem es jeweils 1,25 Millionen Pfund pro 100.000 Mann bezahlte, die gegen Frankreich in den Krieg zogen.[18] Napoleons Friedensangebote wurden abgewiesen und Premierminister William Pitt der Jüngere forderte bei der Eröffnung des Parlaments am 15. Januar 1805 mehrere Millionen Pfund für den Krieg gegen Frankreich, «um die Anstrengungen der Staaten unterstützen zu können, welche für die Sicherheit Europas mitwirken möchten».[19] In der mit Russland geschlossenen Kriegsallianz findet sich die Passage: «[Die Unterzeichnenden verpflichten sich,] alle Eroberungen erst nach Beendigung des Krieges zu teilen und gegen jeden Staat gemeinschaftlich feindselig zu handeln, der sich auf Frankreichs Seite wenden sollte.»[20]

Napoleon zertrümmerte die III. Koalition in der Schlacht von Austerlitz. Nachdem auch dieser Versuch, den französischen Kaiser niederzuringen, gescheitert war, bildeten englische Diplomaten im Herbst 1806 unter Einsatz umfangreicher Geldzahlungen und Waffenlieferungen gemeinsam mit Preußen, Russland und Schweden die IV. Koalition, die am 1. Oktober den nächsten Angriffskrieg gegen Napoleon eröffnete. In den Schlachten von Jena, Auerstedt und Friedland besiegte der Kaiser aber auch diese Allianz. England finanzierte daraufhin 1809 die V. Koaltion, diesmal mit Österreich als einzigem Bündnispartner. Napoleon warf die Angreifer in weniger als zwei Wochen aus dem verbündeten Bayern und besiegte die Habsburger in der Entscheidungschlacht von Wagram. Nach dem Angriff Napoleons auf Russland 1812 gelang es den Engländern schließlich, in der VI. Koalition fast ganz Europa gegen Napoleon zu vereinen und ihn diesmal zu besiegen. Die genannten Kriege müssten daher richtigerweise nicht Napoleonische, sondern Englische Kriege heißen, wobei sich diese wahrheitsgemäße Bezeichnung voraussichtlich auch in diesem Jahrhundert nicht durchsetzen wird.

Nach dem weitverbreiteten Prinzip, «dass die Geschichte von den Siegern geschrieben wird», veranlassten die Engländer nach 1815 in der Geschichtsschreibung,[21] der darstellenden Kunst und in Form von heroisierenden Denkmälern alles, um ihr Bild in der Geschichte als das der moralisch Rechtschaffenen und jenes Napoleons als das des Aggressors zu manifestieren.

Sicherlich war der Besagte keine makellose Lichtgestalt der Geschichte und zeigte mitunter entschieden dunkle Seiten, wie etwa die von ihm 1806 befohlene Hinrichtung des Nürnberger Buchhändlers und dreifachen Familienvaters Johann Philipp Palm.[22] Betrachtet man jedoch die Fakten von Napoleons Wirkungsgeschichte auf der großen politischen Bühne insgesamt, so war er eben nicht jener größenwahnsinnige Kriegstreiber und Aggressor, als der er bis auf den heutigen Tag von zahlreichen Historikern dargestellt und von vielen Menschen empfunden wird.

TRAFALGAR SQUARE

Mächtig erhebt sich auf dem Trafalgar Sqaure die Nelson-Säule mit dem Seehelden. Das riesige Monument hat seinen Ursprung in den 1830er Jahren, als der Herzog von Wellington und Kapitän Thomas Hardy, der zum ersten Lord der Admiralität aufgestiegen war, wesentlich dazu beitrugen, dass die Gelder für die Errichtung des Denkmals überwiegend durch Spenden zusammenkamen, zu denen sie aufriefen. Als sich 1843 nach einer Bauzeit von drei Jahren die Granitsäule auf dem Trafalgar Square 46 Meter in den Himmel erhob, ließen es sich die 14 Steinmetze nicht nehmen, in luftiger Höhe auf der oberen Plattform ein üppiges Dinner einzunehmen.[23]

Wenige Tage nach diesem denkwürdigen Mahl wurde die über fünf Meter hohe Statue Nelsons, der im wirklichen Leben 1,70 Meter groß gewesen war (nur zwei Zentimeter größer als Napoleon), auf dem Sockel platziert.[24]

Während ich auf den Treppen der National Gallery stehe und in die Höhe auf den in Sandstein verewigten Helden blicke, frage ich mich, was die vierzehn Steinmetze da oben wohl gespeist haben?