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Jeannette Gusko

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Beschreibung

Zukunft ist das Ergebnis dessen, was wir heute beginnen. Transformationskompetenz ist die wohl größte ungehobene Ressource für unsere Zukunft. Wandlungserprobte Menschen, wie etwa Wende- oder Migrant:innenkinder, haben große Umbrüche erlebt und damit eine Kompetenz erworben, die unsere Gesellschaft für die Zukunft handlungsfähig machen kann. Eine Superkraft, die bislang aber meist unerkannt geblieben ist, oft sogar von den Menschen, die sie in sich tragen. Doch wenn es uns gelingt, diese Ressource zu heben, setzen wir eine ungeahnte gesellschaftliche Kraft frei – und können den nötigen großen Transformationen unserer Zeit gemeinsam optimistisch entgegensehen.

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Jeannette Gusko

Aufbrechen

Warum wir jetzt Menschen brauchen, die große Umbrüche bewältigt haben

Copyright © 2023 Jeannette Gusko

© Atrium AG, Zürich, 2023

Alle Rechte vorbehalten

Jeannette Gusko wird vertreten von Agentur Brauer.

Covergestaltung: Annemike Werth, Hamburg

© Autorinnenfoto: Ivo Mayr

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03792-224-8

 

www.atrium-verlag.com

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Über Krisen und wie sie sich anfühlen

2008 war für mich ein umwälzendes Jahr. Ich hatte am 3. Januar meine Bachelorarbeit abgegeben. Rückblickend war das Datum suboptimal gewählt, mein Silvester war mau. Für mich stellten sich jedoch eh andere Fragen: Wie würde es weitergehen? Ich wollte einen Master studieren, in dem ich meine Fähigkeiten vertiefen konnte. Ich wollte meinen Geburtsort Berlin verlassen, hatte Lust auf Neues. Die Debatte um Masterstudienplätze war in vollem Gange. Es gab deutlich weniger Master- als Bachelorstudiengänge, Quereinstiege aus anderen Fächern wurden erschwert, die Bewerbungsverfahren waren analog und je nach Studiengang unterschiedlich. Es war unübersichtlich. Im vorherigen Wintersemester hatten zudem einige Bundesländer Studiengebühren eingeführt. Ich bewarb mich auf vierzehn Studienplätze. Für ein Auswahlgespräch fuhr ich mit der Mitfahrzentrale mit einem Transporter voller Fake-Ray-Ban-Sonnenbrillen für einen 1-Euro-Shop nach Tübingen. Der Fahrer war so übernächtigt, dass er einen Energydrink nach dem anderen kippte. Und an der ersten Raststätte erst einmal ein einstündiges Nickerchen einforderte. Im bekritzelten 1970er-Jahre-Bau der Tübinger Uni-Fakultät für Philosophie wusch ich mir auf der Toilette die Achseln und putzte die Zähne. Eine halbe Stunde später war ich umringt von Schwäb:innen. Die Person, die die zweitlängste Anreise hatte, war aus Freiburg gekommen. Die längste Anreise, das war schnell klar, hatte ich auf mich genommen. Ich war wieder einmal allein auf neuem Terrain. Am Ende sollte ich in allen vierzehn Städten angenommen werden. Es war ein umwälzendes Jahr.

Während ich also Frühjahr und Sommer mit Arbeiten und Reisen verbrachte, braute sich in US-amerikanischen Vorstädten die Immobilienkrise zusammen. Drei Wochen bevor ich in Leipzig mein Masterstudium aufnahm, meldete am 15. September 2008 die Investmentbank Lehman Brothers Insolvenz an. Die Finanzkrise nahm ihren Lauf und wälzte um. Im Studium diskutierten wir viel. Meine Kommiliton:innen beschrieben, wie die Finanzkrise in ihnen das erste Mal in ihrem Leben das Gefühl auslöste, die Welt sei in Unwucht. Dass ihre gefühlte Sicherheit und Selbstvergewisserung Risse bekam. Dass es nicht weitergehe »wie bisher«. Wo ich auch hinblickte, wurde die Finanzkrise als Jahrhundertkrise beschrieben, für Millennials wie mich neben dem 11. September als der prägendste Einschnitt ihrer Generation betitelt. Mein Blick auf das, was mit uns und um uns herum geschah, war jedoch ein anderer. Ich fand die Auswirkungen des dominoartigen Falls von Aktienkursen auf Arbeiter:innen und Angestellte, auf Einkommensschwache und Marginalisierte krass, keine Frage. Doch ich blickte eher distanziert auf das Geschehen. Ich interessierte mich für die Ursachen und sollte später ein Praktikum bei einer großen Wirtschaftszeitung absolvieren. Die Finanzkrise löste keine existenziellen Fragen in mir aus, sie erschütterte mich nicht, sie machte mir keine Angst. Ich nahm sie als zwangsläufig eintretend hin. Im Gegensatz zu meinen Kommiliton:innen ging die Welt für mich so weiter wie bisher. Meine Erwartungen an die Welt waren genau so: Sie ändert sich, immer. Jederzeit können Stücke brechen. Gewohntes, auch Liebgewonnenes geht verloren. Neue Regeln und Normen kommen hinzu und verändern den Lauf unseres Lebens. Mich interessierte viel eher, was ich aus der Krise machen konnte. Würde Raum für Neues entstehen?

Wie konnte es also sein, dass ich einerseits vierzehn Bewerbungen schrieb, aus dem inneren Drang heraus, in jedem Fall weiter studieren zu können, und gleichzeitig die Finanzkrise als lediglich beiläufig interessant wahrnahm? Warum steuere ich recht stoisch durch Veränderungen, von groß bis klein, ziehe sie sogar an, während Sicherheit einen hohen Stellenwert in meinem Leben hat? Wie sich später herausstellte, war 2008 das Jahr, in dem ich meine Transformationskompetenz zum ersten Mal spürte.

Doch es sollte noch drei Jahre dauern, bis ich mit anderen Ostdeutschen über meine Erfahrung während des Beginns der Finanzkrise sprechen und ich den Begriff Transformationskompetenz kennenlernen würde. Ich wurde im Herbst 2011 auf den ersten Generationsgipfel des damals neu gegründeten Netzwerks 3te Generation Ost eingeladen. Ich war neugierig auf dieses Zusammentreffen, hatte ich mich bis dato doch noch nie explizit mit meiner ostdeutschen Vergangenheit oder mit der Besonderheit meiner Erfahrungen auseinandergesetzt. Auch meine Eltern hatte ich zu diesem Zeitpunkt weder zu den Umbruchsjahren befragt noch ihre Position zu verstehen oder gar herauszufordern versucht. Es ist nicht so, dass in meinem Zuhause nicht über die DDR gesprochen wurde. Sie war und ist im Gegenteil bis heute sehr präsent in unseren Gesprächen oder auf Familienfeiern. Ständig fallen teils schiefe Vergleiche oder werden vermeintliche Parallelen gezogen. Meine Eltern haben sich jedoch vielmehr einen Kokon aus Anekdoten gesponnen, den sie wieder und wieder hervorholen, ohne Nahbares preiszugeben. Mein Vater ist ein wandelndes Aphorismen-Arsenal. Meine Mutter besitzt eine ausweichende Natur bezüglich ihrer Lebensgeschichte. Sie spricht kaum einen Satz ohne das ihr typische »Na ja« am Satzende, das jede zuvor gefallene Aussage entweder entkräftet oder gleichzeitig ihre gegenläufige Interpretation zulässt. Ich liebe meine Eltern, doch auf dem Weg meiner Emanzipation als ostdeutsche Frau konnten sie mir nur wenig helfen.

Als ich also 2011 im Collegium Hungaricum nahe der Berliner Humboldt-Universität ankam, war ich zunächst eingeschüchtert. Die Macher:innen der Konferenz sprachen über Fragen von Zugehörigkeit junger Ostdeutscher, die in der DDR geboren waren, jedoch prägende Jahre ihrer Kindheit und Jugend in den 1990er-Jahren des vereinten Deutschlands verbracht hatten. Sie sprachen davon, wie sehr ihnen die mediale Berichterstattung über »den Osten« missfiel, wie wenig sie sich wiederfanden in den immer gleichen Reportagen über Arbeitslosigkeit, Rechtsextremismus und Jammerei. Und sie formulierten die vorsichtige Idee, ob sich aus diesem Verständnis als eigene Generation, in der ich mich sofort wiederfand, nicht auch eine Verantwortung ergebe, politisch zu handeln. Meine Einschüchterung wich mit jedem Programmpunkt. Mit jedem Gespräch, das ich an diesem Wochenende führte, merkte ich: Das ist meine Community. Wir teilten Erfahrungen und fanden Sprache für tief in mir liegende Gefühle, von denen ich zuvor angenommen hatte, sie seien ausschließlich individuell, nur in meinem Kopf, nur in meiner Familie, nur in meinem Freundeskreis: Das Unwohlsein, über mein Ostdeutschsein als vermeintlich exotisch ausgefragt zu werden, das fehlende Wissen über meine Herkunft und ihre implizite, manchmal auch explizite Abwertung. Die einzige Ostdeutsche im Praktikum zu sein. Die Sprachlosigkeit der Eltern. Die fehlenden Vorbilder. Ich stellte fest, dass ich Wendekind bin. Und ich stellte fest, dass wir ein Verständnis teilten: Krisen sind konstant. Mir wurde bewusst, dass in den vergangenen hundertfünfzig Jahren im Osten Deutschlands fünf politische Systeme einander abgewechselt hatten. Dass sich in dieser Zeit jede Generation in einem neuen System zurechtfinden musste. Dass Systemwandel möglich ist. Ich traf auf der ganzen Veranstaltung niemanden, die:den die Finanzkrise vor existenzielle Fragen gestellt hatte. In allen Gesprächen war die Gewissheit zu spüren, dass wir schon einen Weg finden würden, weil wir bisher immer einen gefunden hatten. Das war ungemein tröstlich und atemberaubend zugleich. Es war mein ostdeutsches Erwachen und meine erste bewusste Begegnung mit meiner Transformationskompetenz.

 

Selbst wenn das jetzige Jahrzehnt nicht das entscheidende wäre, hätte ich dieses Buch geschrieben. Doch nun mittendrin, da sich Krise um Krise um uns Menschen herum auftürmt, von uns erschaffen und verstärkt, bin ich umso mehr davon überzeugt, dass wir als Gesellschaft viel breiter, dezentraler und gewissenhafter Probleme lösen müssen. Klimakrise,[1] Energiekrise, Verkehrskrise, Ernährungskrise, Lieferkettenkrise, steigende Ungleichheit,[2]soziale Spaltung,[3] der Rückgang der Demokratien weltweit,[4] der russische Angriffskrieg auf die Ukraine oder auch die ungleiche Digitalisierung und der Fachkräftemangel. All diese Krisen und weitere benötigen unsere volle Aufmerksamkeit und haben direkte Auswirkungen auf unsere Lebensrealitäten. Die Krisen sind hier, alle komplex, alle ineinandergreifend, alle überlappend. Uns muss bewusst sein, dass sie Symptome eines Paradigmenwechsels oder transformativen Wandels sind.[5] Wir werden künftig nie alle Möglichkeitskombinationen in ihren Wahrscheinlichkeiten erfassen und abwägen können. Krisen sind daher wie Kreuzungen – ist erst einmal eine Abfahrt gewählt, fällt es mit jedem Meter zurückgelegter Strecke schwerer, bei Irrtum wieder umzudrehen. Was wir derzeit gemeinhin unter Zukunft verstehen, wird in Anbetracht der Krisen zunehmend unstet und stimmt hoffnungslos. Krisen können uns jedoch auch eine Lehre sein, denn sie sind das Ergebnis vorheriger Entscheidungen oder Tatenlosigkeit. Welche Zukunftsszenarien wir abwägen, welche Stimmen wir darin einfließen lassen, wie wir entscheiden, hat Konsequenzen. Krisen eröffnen Möglichkeitsfenster: Wenn alles schlimm und düster ist, kommen nachweislich mehr Menschen aus marginalisierten Gruppen, zum Beispiel Frauen oder Menschen mit Migrationsgeschichte, in Entscheidungspositionen, um es zu »richten«, auch bei größerem Risiko zu scheitern.[6] Steigt der Leidensdruck, steigt die Bereitschaft, die Dinge anders zu betrachten. Bevor der Handlungsspielraum und die Lebensgrundlagen nachfolgender Generationen aufgrund der fortschreitenden Klimakrise immens schrumpfen, müssen wir die vermeintlich gegebenen Regeln der Vergangenheit und Gegenwart hinterfragen. Wir müssen hierfür den Status quo genauso begründungspflichtig machen wie mögliche Alternativen zum Ist-Zustand. In Zeiten gestauchter Transformationen sollten wir die Gegenwart nicht mit anderen Mitteln fortschreiben, sondern stattdessen eine Öffnung der Zukunft über die bislang als plausibel wahrgenommenen Zukünfte hinaus erreichen.[7] Zukünfte treten nicht einfach ein, sondern werden auch von Menschen erdacht und entschieden.[8] Der Begriff Zukünfte macht klar, dass wir uns noch entscheiden können, welche eintritt. Wir brauchen das, was die kritische Zukunftsforschung »wünschenswerte Zukünfte« nennt.[9]

Doch wie wird aus einem Unwohlsein mit dem Status quo ein wünschenswertes Morgen? Derzeit sind zu viele Menschen von der gemeinsamen Gestaltung von Zukunftsvisionen, von Innovationsprozessen und politischen Entscheidungen ausgeschlossen.[10] Eine der zentralen Ressourcen für diesen gesellschaftlichen Wandel ist die Erfahrung von Menschen, die in ihrem Leben große Umbrüche bewältigt haben. Ihre Transformationskompetenz befähigt sie, Wandel aktiv entgegenzutreten und bewusst zu gestalten. Diese Superkraft ist bislang in unserer Gesellschaft allerdings meist unerkannt, oft sogar von den Menschen, die sie in sich tragen. Doch wenn es uns gelingt, diese Ressource zu heben, setzen wir eine ungeahnte gesellschaftliche Kraft frei. Für ein »Aufbrechen« werden Umdenken und kritische Überprüfung aller unserer Annahmen notwendig sein. Wenn uns dies gelingt, können wir optimistisch in die nötigen großen Transformationen unserer Zeit aufbrechen.

Kapitel 1:Was ist Transformationskompetenz?

Der Begriff Transformation bedeutet erst einmal einfach Wandel. Gesellschaftlicher Wandel vollzieht sich meist in einem langfristigen Prozess. Er umfasst weitreichende Veränderungen, zum Beispiel den Umstieg von Verbrennermotoren auf nachhaltigere Formen der Mobilität. Gesellschaftliche Transformationen haben handfeste Folgen für Millionen von Menschen. Weil unsere Welt heute jedoch äußerst dynamisch und vielschichtig geworden ist, sind tiefgreifende Veränderungsprozesse hochkomplex und es gibt keine Garantie für ihren Erfolg. Transformationen können nicht von einzelnen Personen allein entschieden oder kontrolliert werden – sie sind vielmehr ein Zusammenspiel vieler Faktoren wie Zeitpunkt, Ressourcen und Entscheider:innen.[11] Während eines solchen Wandelprozesses handeln Menschen immer wieder neu die Bedingungen unserer Gesellschaft aus.[12] Wie eine soziale Veränderung stattfindet, wie niedrigschwellig und mutig sie gestaltet ist, entscheidet darüber, ob sie die Gesellschaft im Sinne wünschenswerter Zukünfte bewegt. Gelingt dies nicht, wird lediglich unsere Gegenwart einen Schritt weiter in die Zukunft übertragen.

»Transformationskompetenz« als Begriff in Bezug auf Systemwandel wurde zum ersten Mal im Jahr 2012 vom Netzwerk 3te Generation Ost in die deutschsprachige Debatte eingeführt[13] und mit Konzepten der Politik- und Sozialwissenschaften sowie der (Berufs- und Wirtschafts-)Pädagogik theoretisch unterfüttert.[14] Die Definition des Begriffs ist Ergebnis wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit biografischen Erfahrungen.[15] Es wurde erstmals untersucht, welche positiven Auswirkungen der Systemwandel Mauerfall auf diejenigen hatte, die 1989/90 Kinder und Jugendliche waren. Große gesellschaftliche Wandelsituationen bringen Störungen für die Menschen mit sich, die von der Transformation betroffen sind. Sie sind gezwungen, auf die neuen Lebensumstände zu reagieren, und können so bestimmte Verhaltensmotivationen, Eigenschaften und Persönlichkeitsmerkmale aufbauen. Das wird unter dem Begriff Transformationskompetenz zusammengefasst.[16] Insbesondere Menschen, die in ihrer Kindheit, Jugend oder in ihrem jungen Erwachsenensein Widrigkeiten überwunden haben, hoher Unsicherheit und auch Bedrohungen ausgesetzt waren, können Transformationskompetenz erwerben. Sie prägt sich unterschiedlich stark aus, und um sie einsetzen zu können, ist es nötig, dass Entscheidungen, Gedanken, Gefühle, Handlungen oder neue Wertorientierungen im Nachhinein reflektiert werden. Auch die Bewältigung möglicher Traumata hat einen Einfluss auf die Ausprägung der Transformationskompetenz. Werden sich Menschen bewusst, dass sie neue Erfahrungen gemacht und neue Kompetenzen erlernt haben, können sie in Zukunft besser und gezielter mit auftretenden komplexen Wandelsituationen umgehen.[17]

Man kann Transformationskompetenz auch als die dauerhafte, im Inneren des Menschen entstandene Fähigkeit und Bereitschaft zum Gestalten von Wandel bezeichnen. Es ist der übergeordnete Begriff für ein ganzes Set von spezifischen Kompetenzen und vor allem ein enormes menschliches Potenzial.[18] Transformationskompetenz zu haben bedeutet nicht nur »Ich kann«, sondern auch »Ich möchte auch können«. Transformationskompetente Menschen zeichnen sich generell durch systemisches Denken und einen alternativen Blick auf Systeme aus. Sie nehmen den Status quo nicht einfach hin, sondern betrachten ihn kritisch. Sie haben die Fähigkeit, frühzeitig mögliche Szenarien zu erkennen, und stehen mit großer Offenheit dem gegenüber, was kommt. Hier profitieren sie von ihrer Fähigkeit zur Mustererkennung sowie von ihrem hohen Grad an Strukturiertheit, Ordnung, Disziplin und Selbstoptimierung. Außerdem demonstrieren sie einen hohen Grad an Selbständigkeit. Dies gibt ihnen die Sicherheit, auf jedwedes Szenario, auch auf Gefahren, reagieren zu können. Ein gutes Vorstellungsvermögen ist für sie typisch. Als Menschen, die in zwei oder mehreren Welten aufgewachsen sind, haben sie eine hohe Übersetzungs- und Vermittlungskompetenz. Sie zeigen Empathie mit anderen, haben einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, ein hohes Werte- sowie Verantwortungsbewusstsein und empfinden eine starke Rechenschaftspflicht, also den Anspruch, ihre Entscheidungen nachvollziehbar zu erklären. Transformationskompetente Menschen leben ihre Haltungen mit Integrität. Sie stellen ständig die Frage, wo sie sich abgrenzen und wobei sie mitgehen wollen. Sie tragen den Wunsch in sich, zu wirken, und verspüren eine starke Motivation zur Veränderung. Dabei akzeptieren transformationskompetente Menschen Mehrdeutigkeiten und nehmen Unsicherheit als Chance wahr.[19] Da sie als Kinder und Jugendliche Umbrüchen, Widrigkeiten und Diskriminierungen ausgesetzt waren, navigieren sie Gefühle von Selbstkontrolle und Wut. Sie kanalisieren beide als Motor für Veränderung und ziehen auch Optimismus und Selbstermächtigung daraus. Oft wirken in ihnen ein sogenanntes Growth-Mindset (Wachstums-Denkweise) mit dem Hochstaplersyndrom parallel. So spielen transformationserprobte Menschen beispielsweise ihre Erfolge herunter. Verletzlichkeit zu zeigen und authentisch zu sein sind herausfordernde Ansprüche. Gleichzeitig weisen sie eine hohe Anpassungsfähigkeit auf. Sie verwenden auch das sogenannte Code-Switching.[20] Zuletzt lässt sich bei transformationskompetenten Menschen eine hohe gelebte Widerstandsfähigkeit beobachten (Resilienz).[21]

 

Um Transformationskompetenz in unserer Gesellschaft ausbilden zu können, müssen Personen doppelt sozialisiert sein, also vereinfacht gesagt von verschiedenen Gesellschaftssystemen geprägt worden sein. Transformationskompetenz wird dann entwickelt, wenn Menschen infolge einer Wandelsituation oder entlang von Systemübertritten Störungen wie etwa eine stigmatisierende Ansprache von außen erfahren und diese auflösen wollen. Auftretende Störungen können Widersprüche, Konflikte oder Überraschungen auslösen. Dies wiederum kann Anlass sein, bestimmte Kompetenzen zu erlernen. Wenn ich wiederkehrend verärgert, voller Scham, frustriert oder auch motiviert und stolz aus einer Situation herausgehe, darüber nachdenke und mich mit anderen im Gespräch darüber austausche, kann ich Kompetenzen aufbauen. Ich werde beim nächsten Mal etwas Neues ausprobieren und gehe dabei nach dem Prinzip Versuch und Irrtum vor. Oft viele Jahre später kann die Person in ähnlich gelagerten neuen Situationen auf die Erfahrungen zurückgreifen und löst Störungen automatisierter auf. So findet quasi nebenbei Lernen statt, informell entlang wiederkehrender Umbruchserfahrungen im Alltag, ohne Institutionen wie die Schule. Das Konzept von Transformationskompetenz wurde für Wendekinder bereits wissenschaftlich beschrieben und mit einer Vielzahl von Selbstbeschreibungen gelebter Erfahrungen untermauert.[22] Mich hat interessiert, wo ich weitere transformationskompetente Menschen treffen kann, wenn ich genauer hinschaue. Ich vermutete, sie insbesondere an den menschengemachten Systemgrenzen, die Klassismus[23] und Rassismus in unsere Gesellschaft eingezogen haben, aufspüren zu können. Deshalb habe ich neben der Gruppe der Wendekinder die Gruppen der Arbeiter:innenkinder, die aufgestiegen sind, und der Menschen, deren Eltern oder Großeltern migriert sind, in den Blick genommen und für dieses Buch mit Angehörigen dieser drei Gruppen gesprochen. Menschen können dabei auch zwei oder allen drei Gruppen gleichzeitig zugehörig sein – Schwarze Aufsteiger:innen, die in der DDR geboren sind, gehören genauso zu den Personen, die Transformationskompetenz entwickeln können, wie die türkischstämmige westdeutsche Aufsteigerin, die als Tochter einer Putzfrau in die Arbeiter:innenklasse geboren wurde. In allen drei Gruppen lassen sich sowohl in ihren Selbstbeschreibungen gelebter Erfahrungen als auch in der Reflexion ihrer Fähigkeiten und in ihrem wahrnehmbaren Verhalten vielfach Hinweise auf eine erhöhte Transformationskompetenz erkennen.

 

Natürlich gibt es auch noch weitere Personengruppen, die Transformationskompetenz aufbauen können. Menschen, die selbst migriert sind, wie meine Gesprächspartnerin, die IT