Aufbruch in die Spiegelwelt - Walter Seyffer - E-Book

Aufbruch in die Spiegelwelt E-Book

Walter Seyffer

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Beschreibung

Wer sich mit dem eigenen Lebenslauf oder der Biographie anderer Menschen beschäftigt, stößt häufig auf Spiegelungs-Phänomene: inhaltlich verwandte Ereignisse beispielsweise in der Kindheit kehren im reifen Leben wieder und verweisen auf ein übergeordnetes Thema. Der Biographieberater Walter Seyffer hat solche oft verblüffenden Phänomene erforscht und zeigt, was wir aus ihnen für unsere eigene Entwicklung lernen können. Seine Überzeugung: Durch Spiegelungen signalisiert uns die Welt Interesse an unserem Weg. Ein Buch für alle, die sich bewusst mit ihrer eignen Biographie auseinandersetzen und versteckte Botschaften entdecken wollen. Mit vielen praktischen Anleitungen.

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Seitenzahl: 152

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Walter Seyffer
Aufbruch in die Spiegelwelt
Eine Anleitung zum Finden und Lösen biographischer Rätsel
Für meine Frau Ruth
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet überhttp://dnb.ddb.de abrufbar.
ISBN 978-3-924391-95-9
Erste Auflage 2019
© 2019 Info3-Verlagsgesellschaft Brüll & Heisterkamp KG,
Frankfurt am Main
E-Book-Konvertierung: Ulrich Schmid, de·te·pe, Aalen
Inhalt
Vorwort
Ouvertüre
Mein Vater, Ingenieur Henschel und ich
„Schwellenjahre“ im menschlichen Lebenslauf
Spiegelungen der Jahrsiebte um das 21. Lebensjahr
Innere Aufmerksamkeit – äußerer Zwiespalt
21 Jahre: Im Fadenkreuz der Individualität
Im Baumhaus, in der Portierloge und der Blick auf das Trottoir
Spiegelungen um das 28. Schwellenjahr
Der Weg zum Altar
Spiegelungen im Alter von etwa 31,5 Jahren
Eine Spurensuche im Lebensweg von Samuel Beckett
Das Lebenstableau
Wenn das Schicksal dreimal klingelt
Die Mission: Held für einen Tag – Held für ein Leben
Synchronizität und Spiegelung
C. G. Jung bekommt unerwartet Hilfe bei seiner Therapiesitzung
Anhang:
Was ist Biographiearbeit?
Der Autor über sich selbst
Literatur, Dank, Bildnachweis
Vorwort
Jeder Mensch ist nicht nur er selber,
sondern auch der einmalige ganz besondere,
in jedem Fall wichtige und merkwürdige Punkt,
wo die Erscheinungen der Welt sich kreuzen,
nur einmal so und nie wieder.
Darum ist jedes Menschen Geschichte wichtig, ewig, göttlich,
darum ist jeder Mensch,
solange er irgend lebt und den Willen der Natur erfüllt,
wunderbar und jeder Aufmerksamkeit würdig.
In jedem ist der Geist Gestalt geworden,
in jedem leidet die Kreatur,
in jedem wird ein Erlöser gekreuzigt.
Hermann Hesse,Demian
Das Phänomen der biographischen Spiegelung darzustellen ist insofern ein Leichtes, als es nahezu bei jedem Menschen in ­Erscheinung tritt. Ich habe mir vorgenommen, in den folgenden Darstellungen aufzuzeigen, unter welchen Voraussetzungen wir diese Spiegelungen auffinden können. Dies setzt voraus, dass wir uns mit den ureigensten Eigenschaften einer Spiegelung auseinandersetzen müssen. Unter anderem handelt es sich dabei um Ereignisse oder Prozesse, die mit anderen Er­eignissen und Prozessen in zeitlichem Zusammenhang stehen.
Zur praktischen Anwendung kommt dieses Wissen über Spiegelungen im menschlichen Lebenslauf – soweit mir bekannt ist – bislang nur in der Biographiearbeit auf Grundlage der Anthroposophie. Hier wird einerseits seit vielen Jahren mit diesem Phänomen gearbeitet, anderseits in vornehmer Zurückhaltung bisher darauf verzichtet, dieses Wissen mit der Welt zu teilen.
Es gibt eine große Anzahl von Publikationen, die sich mit Biographiearbeit auseinandersetzen. Dabei geht es aber in den meisten Fällen darum, mehr oder weniger die grundsätzliche Methodik dieser Arbeit zu vermitteln. Selten werden in diesen Veröffentlichungen weiterführende, sich im Laufe der Zeit über diese Arbeit hinaus entwickelnde Phänomene erläutert, obwohl diese bereits seit langer Zeit erfolgreich methodisch angewendet werden.
Seit Beginn meiner Tätigkeit als Biographieberater – es sind jetzt nahezu zwanzig Jahre – bildete das Auffinden von Spiegelungen im menschlichen Lebenslauf immer einen festen Bestandteil meiner Arbeit. Das Interesse und die daraus resultierenden heilenden Kräfte, die ich bei meinen Klienten wecken konnte, haben mich dazu gebracht, dieses Phänomen nun in einer eigenen Darstellung schriftlich zu fassen und zu würdigen.
Ich hoffe, dass sich vielleicht auch einige meiner Kolleginnen und Kollegen über diesen bisher nur mündlich weitergegebenen Aspekt der Biographiearbeit freuen. Wichtig war es mir aber vor allem, für dieses Buch eine verständliche Sprache all jenen gegenüber zu finden, die bisher noch keine Berührung mit Biographiearbeit hatten. Ich vertraue dabei auf deren forschende Neugier und eine Bereitschaft, neues Gedankengut aufzunehmen.
Wer bereit ist, mich mit einem verantwortlichen Maß an Unvoreingenommenheit auf dieser Reise durch die Erlebniswelt der Spiegelung zu begleiten, dem sei versprochen, dass mit Sicherheit auch Erlebnisse in dessen Erinnerung auftauchen werden, die mit der eigenen biographischen Entwicklung korrespondieren werden. Insofern wird es mit Sicherheit möglich sein, die von mir aufgestellten Thesen direkt nachzuvollziehen, indem man in die Lage versetzt wird, entsprechende sich spiegelnde Ereignisse im eigenen Leben zu erkennen. Somit soll dieses Buch eine Tür zu einem Zwischenreich öffnen, dass in seinen schier unerschöpflichen Erscheinungsformen für jede Leserin und für jeden Leser ein ganz persönliches Elixier innerhalb seiner biographischen Weiterentwicklung werden kann.
Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen, Die Sonne stand zum Gruße der Planeten, Bist alsbald und fort und fort gediehen Nach dem Gesetz, wonach du angetreten. So musst du sein, dir kannst du nicht entfliehen, So sagten schon Sibyllen, so Propheten; Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.
Goethe,
Ouvertüre
Das Phänomen der biographischen Spiegelungen ist seit den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts bekannt. Methodische Anwendung fand es bislang in jener Biographie­arbeit, deren Grundlage auf einem anthroposophischen Menschenbild beruht.
Dieses Buch wendet sich aber nicht im Besonderen an Praktizierende der Biographieberatung. Mein Ziel ist es, jeden interessierten Menschen, der gerne seinen Blick über den eigenen Tellerrand erheben will, mit einem Phänomen bekannt zu machen, das nicht eine abstrakte Vorstellung bedienen will, sondern unmittelbar persönlich erfahrbar gemacht werden kann.
Spiegelungen stehen im Einklang mit jenen Weltmodellen, wie sie auch von großen Denkern (unter anderem in der theoretischen Physik) zu Beginn des letzten Jahrhunderts bereits vorgedacht wurden, ohne bislang eine allgemeinen Anerkennung erhalten zu haben.
Spiegelungen lediglich begrifflich zu definieren, ist von vornherein eine Herabwürdigung dieses Phänomens, da eine angemessene Darstellung nur in einer individuellen Erlebbarkeit zu finden ist. Sicher ist es möglich – und darin möchte sich dieses Buch versuchen – die Gesetzmäßigkeiten, die einer Spiegelung zu Grunde liegen, aufzuzeigen. Dieses offenkundige Regelwerk hilft uns bei der Annäherung an dieses Phänomen. Allerdings beinhaltet ein Aufspüren und Verorten noch nicht die eigentliche Erfahrung, die uns eine Spiegelung in Bezug auf die Sinnhaftigkeit unseres Werdens innerhalb unserer biographischen Entwicklung vermitteln kann. Dies ist in seinem vollen Umfang nur individuell erfahrbar und kann nur bedingt theoretisch weitergegeben werden.
In den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts hörte ich während meiner Ausbildung zum Biographie-Berater zum ersten Mal von Spiegelungen. Ich war mir damals sicher, dass es mehr als lohnenswert ist, die sich dadurch erst anfänglich offenbarenden Möglichkeiten künftig weiter zu durchdringen und dadurch zu einem wertvollen und wichtigen Werkzeug für die Biographiearbeit auszugestalten. Heute kann ich nach vielen Jahren Forschungsarbeit sagen: Wann immer es möglich war, das Spiegelungsphänomen in die Biographiearbeit zu integrieren, trug dies dazu bei, dass Menschen sich mit ihrer Lebensgeschichte nicht abgeschnitten, nicht als unbedeutendes, dem Zufall anheimfallende Staubkörner im Weltall begreifen mussten, sondern sich auf ergreifende Weise mit dieser Welt verbunden wiederfanden. Spiegelungen können uns aufzeigen, dass wir unzweifelhaft neben unserem physischen Dasein auch seelisch in dieser Welt beheimatet sind, indem die Welt uns – unter gewissen Umständen – unser Tun und Lassen in zweifellos eindeutigen Bildern widerspiegelt. Diese zu bemerken bedarf es allerdings einer besonderen Achtsamkeit.
Es handelt sich dabei um eine Ereigniswelt, die mehr oder weniger unverschlüsselt ihr Geheimnis Preis gibt. Um Geheimnisse handelt es sich aber insofern, als wir uns, um an diesem Echo der uns umgebenden Welt teilhaben zu können, an gewisse Regeln halten müssen. Eine der Regeln dafür liegt darin, uns mit der Vorstellung vertraut zu machen, dass in jeder Biographie ein Entwicklungsweg zu sehen ist, der nach einem uns vorerst im Tagesbewusstsein noch unbekannten Plan zielvoll ausgerichtet ist. Diese Vorstellung möchte ich nicht in die Ecke esoterischer Spekulationen gerückt sehen, denn alle Aussagen in diesem Buch beruhen auf den Auswertungen meiner Erfahrungen aus der Einzel- und Gruppenarbeit sowie dem Austausch mit einer Vielzahl von Berufskolleginnen und Kollegen, die, über die ganze Welt verteilt, auf diesem Gebiet ebenfalls seit Jahren tätig sind. Dass diese Annahme eines unbewussten Plans, der unser Leben im Unbewussten anführt, immer noch in der Öffentlichkeit beargwöhnt wird, soll durch dieses Buch geändert werden. Die Erkenntnisse, die im Bereich der Biographiearbeit seit über 30 Jahren errungen wurden, sind in den entsprechenden Veröffentlichungen nachzulesen. Dazu verweise ich auch auf die am Ende des Buches genannten Veröffentlichungen einschließlich meines eigenen Werks über eine Verschränkung von Joseph Campbells Erkenntnissen aus der archetypischen Mythenforschung mit den Grundlagen der Biographiearbeit mit dem TitelHelden für ein Leben.
Nun aber wird es Zeit, dass wir uns direkt dem Thema dieses Buches zuwenden und mit der exemplarischen Schilderung einer Spiegelung beginnen. Vorwegnehmend sei gesagt, dass es immer die Geschichte, das Ereignis ist, was im Falle einer Spiegelung die Grundlage für jede weitere Erkenntnis auf diesem Gebiet liefert. Sich den Ereignissen anzuvertrauen ist die sicherste und bodenständigste Ausgangsposition, um das, was eine Spieglung in ihrem Innersten ausmacht, zu beschreiben. Ich werde in diesem Buch ganz bewusst viele der dargestellten Beispiele aus meinem eigenen Leben wählen. Nicht etwa deshalb, weil es an Beispielen meiner Klienten fehlt, sondern weil ich die Umstände, die zu diesen Ereignissen führten und den daraus erfolgten Erkenntnisgewinn in allen Details selbst am besten kenne. Ich möchte aber ausdrücklich betonen, dass es neben den sich aneinanderreihenden Darstellungen des Gelingens auch in gleichem Maße tagtägliche Scharmützel des Versagens gegenüber den eigenen Ansprüchen gibt. Somit sehe ich meine Person keineswegs als ein nachahmenswertes Erfolgsmodell, das mit der Qualität des Alleskönners behaftet wäre.
Die sich aus dem persönlichen Erleben rekrutierenden Ausführungen wollen ledig deutlich machen, dass der Bezug auf Selbsterlebtes nicht der Selbstbeweihräucherung, sondern einer möglichst unverwässerten Erlebnisbeschreibung dienen soll. Wobei es sich ja auch nicht im Mindesten ausschließt, dass ich bei biographischen Beschreibungen von Erlebnissen meiner Klienten nach Strich und Faden angelogen werden könnte. Auch hier bin ich nicht der Hellsichtige, der nicht hie und da einem Menschen auf den Leim gehen könnte, der seine Erlebnisse seiner Stimmungslage entsprechend „aktualisiert“. Wobei in Respekt vor der latenten Wankelmütigkeit der Erinnerung eine gewisse Vorsicht walten muss, was den willentlichen Vorsatz einer Lüge oder einer unbewussten „Aktualisierung“ angeht, wie ich das intuitive Anpassen von Erlebnissen, die dem jeweiligen Gemütszustand des Klienten entsprechen, gerne bezeichne. Mit Recht richten wir bei unserer Begegnung mit den Menschen, die sich uns anvertrauen, die volle Aufmerksamkeit auf die jeweiligen Ereignisse, von denen sie zu berichten wissen. Wir gehen dabei davon aus, dass sich diese Ereignisse unter diesen oder jenen Umständen wirklich zugetragen haben. Jeder Mensch trägt bei diesen Schilderungen das vor, was er für seine ureigene Wahrheit hält. Diese Wahrheit unterscheidet sich von einer vermeintlich objektiven Wirklichkeit dadurch, dass sie durchsetzt ist vom individuellen Erfahrungs- und Vorstellungsbereich des jeweiligen Erzählers oder der Erzählerin. Die Wahrheit wird somit individualisiert. Einer objektiven Wirklichkeit ist mit dieser individualisierten Wahrheit nur schwer beizukommen.
Ich möchte hier nur an die Problematik erinnern, in der sich ein Richter wiederfindet, der zwei Zeugen zueinem Vorfall befragt. So kann es leicht passieren, dass die felsenfeste Behauptung des einen Zeugen, dass die Jacke des Täters blau war, unversöhnlich der Behauptung des andern Zeugen gegenübersteht, der unter Eid aussagen würde, dass sie rot war. Der Richter kann von Glück sagen, wenn es sich dabei nur um zwei Zeugen handelt, denn es ist durchaus möglich, dass sich bei jedem weiteren Zeugen noch weitere Farben, wenn nicht sogar weitere Veränderungen des Tathergangs herausstellen. Biographieberaterinnen und -berater müssen sich an vorgenanntem Umstand bei ihrer Arbeit nicht wirklich stören. Es ist eben nicht die Aufgabe, eine absolute Wahrheit zu ergründen, denn das, was sich tatsächlich ereignet hat, bleibt ohnehin ins Gedächtnis der Welt eingeschrieben. Die Wirkung eines Ereignisses auf die jeweilige Biographie dagegen zeigt sich in der Entwicklungsmöglichkeit des Individuums.
Es wäre völlig sinnlos, wenn Biographieberatung ihre Aufgabe darin sehen würde, dem oder der zu Beratenden nurdie eine Wirklichkeit der zu erinnernden Ereignisse zu entlocken.
Das Ereignis,so wie es erinnert wird, ist unsere Arbeitsgrundlage. Einwände unseres Gegenübers, dass man sich nicht so recht sicher ist, ob das, was erzählt wird, sich auch genauso ereignet hat, gilt es zu zerstreuen. „So wie es erinnert wird“ – das ist eben jene Wahrheit, wie sie zwischenzeitlich bei dem Klienten oder der Klientin Gestalt angenommen hat, und diese ist für unsere Arbeit relevant.
Ich bitte dabei die Leserinnen und Leser lediglich um einen zeitbegrenzten Vertrauensvorschuss, was die Nachprüfbarkeit meiner eigenen biographischen Erlebnisse und der daraus resultierenden Erkenntnisse angeht. Es wird auf Grund der Darstellungen in diesem Buch möglich sein, durch eine besondere Vorgehensweise das von mir geschilderte Phänomen der Spiegelung auch und gerade für den individuellen Erlebnishorizont erfahrbar zu machen. Es ist das Leben selbst, dass in jeder Beziehung dieser Prüfung standhält. Alle weiteren Beispiele aus dem Leben meiner Klientinnen und Klienten sind selbstverständlich dadurch geschützt, dass Namen und Orte von mir verändert worden sind.
Mein Vater, Ingenieur Henschel und ich
Es war in meinem zehnten Lebensjahr, als Vater mich in seinen Betrieb mitnahm. Betrieb nannte er seinen Arbeitsplatz nur, wenn er gut gelaunt war. Bei anderen Gelegenheiten, und diese waren nicht selten, nannte er die Firma die „Knochenmühle“. Für mich als Zehnjährigen immer wieder ein abschreckendes Bild, das ich in seiner eigentlichen Dimension in jener Zeit aber nicht erfassen konnte. Einen Aspekt davon konnte ich jedoch erleben, wenn ich früh morgens zur Toilette musste und ich meinen Vater in dieser grauen Stunde vor Sonnenaufgang in der von einer Neonröhre ausgeleuchteten Küche sitzen sah, allein im inneren Zwiegespräch mit seiner Tasse Kaffee und der obligatorischen Selbstgedrehten. Ein oft scheues „n’ Morgen!“ und schon schlüpfte ich wieder unter die warme Zudecke, unter der ich dann noch eine weitere Stunde zubringen durfte, bis mich meine Mutter dann zur Schule scheuchte.
Umso abenteuerlicher erschien mir nun die Aussicht, mit eigenen Augen jene geheimnisvolle, mir bisher vorenthaltene Welt kennenzulernen, in die sich mein Vater frühmorgens zurückzog und von wo er kaum je vor Einbruch der Dunkelheit zurückkam. Selten brachte er von dort aus etwas Gutes mit nach Hause, mit Ausnahme der Stahlkugeln, die er für mich aus verschlissenen Kugellagern brach und die mich zum ungekrönten Klickerspieler der Straße machten. Die Arbeitswelt meines Vaters war mir bis dahin rätselhaft und verschlossen erschienen. Dann hatte er sich bei einem Unfall mit seinem Motorrad, einer 98er Miele, einen Arm gebrochen und musste aus einem mir unbekannten Grund, obwohl er krankgeschrieben war, beim Meister vorsprechen. Er nutzte die Gelegenheit, um mir – offenbar doch nicht ganz ohne Stolz – diesen ungeliebten Arbeitsplatz zu zeigen. Es handelte sich um eine Firma, die auf den Guss von Heizungs-Radiatoren spezialisiert war. Eine Welt von Funken sprühendem, flüssigem Stahl und einer mir bedrohlich erscheinenden, überdimensionierten Mechanik. Darin hatte mein Vater seinen Platz und bediente eine für meine damaligen Begriffe gigantische Bohrmaschine. Dort angekommen setzte er den mit Bohrwasser gekühlten Bohrer auf ein Werkstück und ließ ihn in den Stahl gleiten wie durch Butter. Danach zeigte er mir die Gießerei: riesige, schmutzbraune Hochöfen und eine Hitze, die sich bis in die Lungenspitzen ausbreitete. All das durfte ich als Junge nur aus einem gewissen Sicherheitsabstand anschauen, in einem verhältnismäßig von Schmutz und Hitze geschütztem Bereich. Ich war tief beeindruckt, nun endlich einen handfesten Eindruck der Welt bekommen zu haben, in die mein Vater jeden Tag im Morgengrauen verschwand.
Die Schwelle zur VIP-Kantine
Nach dem Besuch bei Meister Überle (Vater nannte ihn immer den „Alten“) in dessen Büro, das wie eine Art Hochsitz an ­einem Ende der Fabrikhalle hoch über den Köpfen der Arbeiter installiert war, gingen wir beide in die Betriebskantine zum Mittagessen. Die Kantine war eine weißgekachelte Halle von gigantischen Ausmaßen, mit Tischen und Stühlen angefüllt, an denen Menschen in Arbeitskleidung ihr Essen einnahmen. Ein Raum, wie ich ihn nur vom Hallenbad her kannte. In einer der Ecken gab es eine geschlossene Tür, von deren dahinterliegenden Raum mein Vater in Ehrfurcht sagte, dass da die Ingenieure essen würden und im Besonderen Ingenieur Henschel. Diesen Namen kannte ich bereits aus seinen Erzählungen und verband ihn durch die Art und Weise, wie Vater von ihm sprach, mit einer unantastbaren Respektsperson – es war eben der höchste Chef meines Vaters, der ihn, den angelernten ­Arbeiter – wenn überhaupt – nur im „Vorbeirauschen“ wahrnahm. Er schien mir eine Art Halbgott, der sich ab und zu herab­ließ, um auf dieser Erde nach dem Rechten zu sehen. Seinen Anweisungen, die sich nie direkt an einen Arbeiter richteten, sondern immer nur über Vorarbeiter und Meister Überle übermittelt wurden, war widerspruchslos Folge zu leisten. Die besagte Tür erschien mir wie eine Schwelle der Verheißung, denn wer es dort hineingeschafft hatte, musste wohl zu den glücklichsten Menschen auf Erden zählen und eines war klar: mein Vater gehörte nicht zu ihnen. Einerseits zog es mich dorthin, indem ich Phantasien entwickelte, wie und was man dort mittags zu sich nahm und welche folgenschweren Absprachen für die Firma und damit für die gesamte Welt dort im Geheimen getroffen wurden. Andererseits war mir klar, dass ich noch Lichtjahre von diesem geheimnisvollen Ort entfernt war.
In unserer Familie ging das Gespenst des sogenannten proletarischen Bewusstseins um, an dem es mir immer mangelte. Später, Ende der sechziger Jahre, sollte das bei meinen linken Studienkollegen einige Male zu einer harschen Kritik über meinen Verrat gegenüber meiner Herkunft führen, weil ich mich – wie sie meinten – an bürgerlichen Werten berauschte. Ich wäre doch ein Beispiel dafür, wie man sich aus der proletarischen Klasse nach oben arbeiten und es bis zu einem Stu­dien­platz bringen könnte. Das sagten meist die, die kein Bafög beantragen mussten und sich zu Hause jener bürgerlichen Werte erfreuen durften, die ich mir hart erarbeiten musste, um ihr Kauderwelsch wenigstens einigermaßen zu verstehen. Trotzdem war, bei aller Scheu, die ich vor dieser Fremdheit verspürte, der Reiz stark, dieses Reich eines Tages zu erobern, denn ich war mir sicher, dass ich in dieses „Hallenbad“ mit seinen Stahltischen und unbequemen Stühlen, dem lautstarken babylonischen Sprachgewirr der das Essen in sich hineinstopfenden Blaumänner und diesem Salat, dem der Essig fehlte und der dafür mit Zucker angemacht war, nicht hingehörte. Heute sehe ich ein: Die Kommilitonen hatten Recht. Schon hier war offensichtlich in meiner Biographie vorherbestimmt, dass ich zwar als Proletarier geboren wurde, aber immer ein Fremder in diesem mir fremden Land bleiben würde.
Offenbar blickte mein Vater dann irgendwann, als die „Knochenmühle“ unübersehbar ihre Spuren an Körper und Seele bei ihm hinterlassen hatte, hinter den Anachronismus des Klassenbewusstseins und gab mir den Rat: „Junge, pass in deinem Leben auf, dass du dir deine Finger nicht schmutzig machst“.
Design oder Nichtsein – meine Versuche, beruflich Fuß zu fassen
Gegen viele Widerstände gelang es mir, mich dann auch letztendlich nahezu von jeglicher Schmutzarbeit fernzuhalten. Ich studierte Grafikdesign und fand einen Weg, in einen künstlerischen Beruf zu emigrieren.