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Lena Johannson

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Beschreibung

Weil wir gewinnen werden!

Paris, 1918: Alice ist leidenschaftliche Schwimmerin. In der Bewegung findet sie Ruhe und kann das Leid vergessen, das hinter ihr liegt. Sie trainiert hart, und obwohl sie immer besser wird, hadert sie: Warum darf sie ihr Können nicht zeigen? Warum ist weiblicher Leistungssport noch immer verpönt? Doch sie ist nicht allein, der Frauensportverband, den sie gründet, hat regen Zulauf. Ihr Ziel: die Olympischen Spiele 1920 für Frauen zu öffnen – und zwar in allen Disziplinen. Als sie schon den Glauben daran zu verlieren droht, bekommt Alice Hilfe von unerwarteter Seite ... 

Ein Roman vor dem Hintergrund der ersten Olympischen Frauenspiele – Bestsellerautorin Lena Johannson erzählt ein bislang unbekanntes Kapitel der Geschichte der Frauen.

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Seitenzahl: 447

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

Von Kindesbeinen an ist Alice leidenschaftliche Schwimmerin, im Wasser kann sie ihre Gedanken ordnen und fühlt sich lebendig und frei. Ihr Traum ist es, die klassische olympische Distanz von 100 Metern 100-mal am Stück zu schwimmen. Auch wenn Schwimmerinnen 1912 erstmalig an den Spielen teilnehmen, so doch nur auf der 100-Meter-Distanz. Eine absolute Ungerechtigkeit, findet Alice. Deswegen trainiert sie nicht nur hart, sondern will vor allem dafür sorgen, dass bei den Olympischen Spielen weitere Disziplinen für Frauen geöffnet werden. Ein Vorhaben, bei dem sie ihr Ehemann Joseph vorbehaltlos unterstützt. Doch es ist ein schwerer Weg. Dann passiert das Unfassbare: Joseph, in den sie sich Hals über Kopf verliebt hat, dem sie ohne Zögern aus der französischen Heimat nach Großbritannien gefolgt ist, stirbt, und Alice ist von einem auf den anderen Moment auf sich allein gestellt. Nur im Wasser kann sie Trost finden. Jeden Tag verlangt sie ihrem Körper mehr ab.

Über Lena Johannson

Lena Johannson, 1967 in Reinbek bei Hamburg geboren, war Buchhändlerin, bevor sie als Reisejournalistin ihre beiden Leidenschaften Schreiben und Reisen verbinden konnte. Sie lebt als freie Autorin an der Ostsee.

Alle lieferbaren Titel von Lena Johannson finden Sie unter aufbau-verlage.de und mehr zur Autorin unter lena-johannson.de.

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Lena Johannson

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Roman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Prolog

Paris, 1910

– Teil 1 – — Der Anlauf

Kapitel 1

Nantes, Sommer 1898

Kapitel 2

Nantes, Sommer 1899

Kapitel 3

Nantes, 1903

Kapitel 4

London, Februar 1904

Kapitel 5

Paris, Sommer 1904

Kapitel 6

Paris, November 1907

Kapitel 7

Paris, Dezember 1909 – zwei Jahre später

– TEIL 2 – — Der Marathon

Kapitel 1

Paris, September 1914

Kapitel 2

Paris, Oktober 1914

Kapitel 3

Paris, Dezember 1917

Kapitel 4

Paris, Februar 1918

Kapitel 5

Paris, März 1919

Kapitel 6

Paris, Oktober 1919

Kapitel 7

Paris, November 1919

Kapitel 8

Paris, März 1920

Kapitel 9

Sommer der Reisen 1921

Kapitel 10

Paris, August 1922

Nachwort und Dank

Quellen:

Impressum

Prolog

Paris, 1910

Alice hält die Luft an. Ihr Leben hätte anders aussehen sollen. Sie hatten große Pläne, als sie Nantes verließen. London hat ihre Träume erfüllt. Einige davon. Doch sie wollte mehr, hatte ein Bild von ihrer Zukunft, als sie Joseph geheiratet hat. Sie hatte ein Leben der Fülle an Möglichkeiten vor Augen, nicht der Einschränkungen. Sie wollte ihren Mann unterstützen und von ihm unterstützt werden, egal, ob in ihrer beruflichen Laufbahn oder privaten Entwicklung. Sie sinkt hinab, das Wasser umarmt sie, führt sie weg von ihren düsteren Erinnerungen. So viel Tod. So viele zerbrochene Pläne. Die Tiefe führt sie weg von ihrer Verzweiflung, ihrer Einsamkeit.

Entschlossen streckt sie die Arme nach vorn, zieht sie in der nächsten Sekunde kraftvoll zur Seite, dann nach hinten. Sie arbeitet gegen das Element und gleichzeitig mit ihm, um vorwärtszukommen. Alice spürt das Brennen in sämtlichen Fasern, das Vibrieren in den Oberschenkeln. Soll sie Paris erneut den Rücken kehren? Keine Luft mehr. Sie stößt sich vom Boden ab, schießt an die Oberfläche, füllt gierig ihre Lunge. Alice konzentriert sich auf ihren Körper, ihren Rhythmus. Das laute Platschen anderer Schwimmer, ihr eigenes bewusstes Einatmen, wenn sie den Kopf über die Oberfläche hebt. Im nächsten Moment eine dumpfe Stille, wie es sie nur unter Wasser gibt, wenn sie in einem langen eleganten Zug Meter um Meter gleitet. Zurück nach oben, einatmen, abtauchen, vorwärts. Alice zieht ihre Bahnen, bis Muskeln und Seele taub sind, die Gedanken verstummt, die Angst vor der Zukunft schweigt. Sport ist ihr Heilmittel. Es wirkt. Immer. Beim Schwimmen hat sie gelernt: Wenn du nicht untergehen willst, musst du in Bewegung bleiben. Das gilt auch fürs Leben.

Ihre Waden fangen an zu krampfen, Stechen in der Lunge, sie fröstelt. Beim Luftholen ein rascher Blick zur großen runden Uhr mit ihren verschnörkelten Zeigern. Vielleicht ist es genug für heute. Nein, das Training zu verkürzen kommt nicht infrage. Sie schlägt am Rand an, dreht sich geschickt wie ein Fisch und ist auch schon wieder auf dem Weg. Aufgeben ist eine Option, die sie anderen überlässt. Wer damit liebäugelt, hat bereits verloren.

Als sie sich nach einer Stunde auf den Beckenrand stemmt, perlen Einsamkeit und Verzweiflung mit den Tropfen an Alice herab. Ein paar Schritte, nasse Füße auf kaltem Stein. Der Griff zum Handtuch. Sie hüllt sich darin ein wie in tröstende Worte. Die Wärme vertreibt ihre Gänsehaut, neuer Mut die Finsternis in ihrem Inneren. Alice weiß: So wird es jedes Mal sein. Jedes Mal ein bisschen mehr.

– Teil 1 –

Der Anlauf

Kapitel 1

Nantes, Sommer 1898

Alice überquerte die Place Bretagne, sie hätte den Weg vorbei am Justizpalast und dem angrenzenden Gefängnis blind gefunden. Als wolle sie es sich beweisen, schloss sie die Augen, während sie weiter einen Fuß vor den anderen setzte. Es konnte nicht mehr weit sein, bis sie abbiegen musste. Ein lautes Klappern von Pferdehufen auf Kopfsteinpflaster und das Rattern eines Leiterwagens direkt neben ihr ließen sie zusammenfahren.

»Wer wird denn mitten am helllichten Tag träumen?«, rief der Mann ihr vom Bock zu, die Zügel fest in der Hand. »Gib mal besser acht auf dich!« Er schüttelte den Kopf und murmelte: »Zu nichts nutze, die jungen Dinger heutzutage. Glauben, sie werden in der Schule schlau und brauchen nicht hart zu arbeiten. Die Eltern können einem leidtun.« Erneut schüttelte er den Kopf. »Kommen sie heute nicht, kommen sie morgen, die feinen Desmoiselles«, knurrte er und bugsierte seinen Wagen in die Rue Harrouys.

»Schneller als Ihr alter Ackergaul bin ich allemal«, rief sie. Das wäre doch gelacht. Alice beschleunigte ihre Schritte und wechselte in ein gleichmäßiges Traben. Eine Weile blieb sie so auf gleicher Höhe mit dem Fahrzeug. Der Mann mit dem Fuhrwerk, ein Bauer von der anderen Seite der Loire vermutlich, zog fragend die Augenbrauen hoch, ehe er missmutig das Gesicht verzog. Es war ein heißer Sommertag. Schon nach der geringen Anstrengung bildete sich ein Schweißfilm auf ihrem Rücken. Alice konnte es nicht leiden, mit klebriger Haut im Unterricht zu sitzen. Aber das war jetzt egal. Sie mobilisierte all ihre Kräfte und zog an Pferd, Wagen und schimpfendem Kutscher vorbei. Ein wohliges Gefühl machte sich in ihr breit, sie hatte den ollen Griesgram besiegt!

Verschwitzt, aber zufrieden kam sie kurz darauf an dem mächtigen Bau aus rotem Back- und hellem Kalkstein an, in dem sich das Mädchengymnasium befand.

»Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass du in die Schule gehen kannst«, hatte ihre Mutter ihr eingebläut, noch ehe Alice zum ersten Mal ein Klassenzimmer betreten hatte. »Ich kenne von klein auf nichts anderes als Arbeit. Ich wäre glücklich und dankbar gewesen, etwas lernen zu dürfen.« Maman hatte ihr ernst in die Augen gesehen. Sie hatte als Kind in der Gastwirtschaft ihrer Eltern Teller gewaschen, Tische geschrubbt und Gemüse geschnitten. Da war keine Zeit gewesen, um die Nase in Bücher zu stecken. »Denk immer daran: Es ist ein Privileg, kostenlos die Schule besuchen zu dürfen«, hatte Maman sie ermahnt. »Wir leben in einer fortschrittlichen Stadt, Alice. Es gibt seit einigen Jahren ein Gesetz, das es jungen Mädchen erlaubt, ein Gymnasium zu besuchen. Das bedeutet allerdings nicht, dass jede Stadt es ihren Töchtern auch ermöglicht. Nantes hat noch vor Paris ein Institut eingeweiht, das euch jungen Frauen Bildung über die Grundschule hinaus anbietet«, hatte sie ihr erklärt, und ihr Vater hatte stolz genickt. »Bildung verschafft dir den Schatz des Wissens, und Wissen ist der Schlüssel zur Unabhängigkeit. Verstehst du das?«

Der Unterricht fand in großen hellen Räumen statt. Einst hatten in den beiden Häusern, in denen das Mädchengymnasium untergebracht war, wohlhabende Bürger gelebt. Die Pausen verbrachte Alice mit ihren Freundinnen in einem prachtvollen Garten, der sich an die beiden stattlichen Gebäude schmiegte und auf der anderen Seite bis an die Rue de la Bastille ausdehnte. Hier war es noch schöner als in den Klassenzimmern. Alice liebte es, im Schatten der hohen Bäume mit möglichst vielen Mitschülerinnen über ein Seil zu hüpfen, dicht an dicht im gleichen Rhythmus. Manchmal drehten sogar vier Mädchen zwei Seile gegeneinander. Nur die besten Springerinnen schafften es, in die Mitte zu kommen, ohne das Schlagen der Taue zu unterbrechen, und dort lange auf und ab zu hüpfen. An diesem Tag hatten sie mit einem Stock ein Marelle-Feld auf den sandigen Boden gemalt. Die Form erinnerte Alice immer an einen liegenden Leuchtturm mit seinen einzelnen Kästchen, die oben auf zwei Etagen doppelt und daher breiter waren. Abgeschlossen wurde das Spielfeld von einem Halbrund, dem sogenannten Himmel. Aufgabe war es, einen flachen Stein in den ersten Abschnitt zu werfen. Dieser durfte nicht betreten werden. Die Spielerinnen sprangen auf einem Bein über die einzelnen Kästchen, nur wo zwei nebeneinander in den Sand gemalt waren, durften sie auch beide Füße aufsetzen. Im Himmel angekommen, drehten sie um, hüpften in gleicher Weise zurück, nahmen den Stein aus dem ersten Feld auf und landeten im Ziel. Geschicklichkeit und vor allem Tempo waren gefragt. Besonders Letzteres war nicht gerade eine Stärke von Claudine, die an diesem Tag schon in der zweiten Runde so sehr strauchelte, dass sie um ein Haar gestürzt wäre.

»Ich habe keine Lust mehr, ich kann das sowieso nicht.« Claudine war zwar nicht gefallen, zog dennoch eine Schnute und verließ das Spiel, ohne dabei auf die in den Sand gekratzten Striche zu achten.

»Pass doch auf!«, zischte Antoinette, suchte sich ein Stöckchen und zeichnete rasch die Linie nach, die Claudines Schuhsohle ruiniert hatte.

»Gib nicht so schnell auf«, riet Alice ihr. »Du wirst sehen, irgendwann schaffst du es, und dann wird es sich so schön anfühlen, dass du es nie mehr vergisst.«

Alice erinnerte sich noch sehr gut daran, wie sehr sie sich gefreut hatte, als sie das erste Mal über das gesamte Feld und wieder zurück gesprungen war. Wann immer es ihre Zeit erlaubte, spielte sie mit ihren Geschwistern Marelle. Marguerite war fünf Jahre jünger als Alice, Brüderchen Édouard ganze zehn Jahre.

Claudines Stimme riss Alice aus ihren Gedanken. »Morgen werden die Preise für die besten schulischen Leistungen verliehen. Mal sehen, wer dann eine bessere Figur macht.« Das Läuten der Glocke zeigte das Ende der Pause an. »Was hat wohl eine höhere Bedeutung?« Claudine sah in die Runde. »Die Erste beim Marelle zu sein oder hervorragende Mathematik- und Sprachkenntnisse zu haben?« Sie trat mit voller Absicht auf die Linien des aufgemalten Spielfelds, ehe sie davonstolzierte.

Am nächsten Morgen war Alice um sieben Uhr wach. Das ruhige und gleichmäßige Atmen aus den anderen beiden Betten verriet ihr, dass ihre Geschwister noch schliefen. Sie dagegen war mit einem Schlag munter. Der wichtigste Tag des Jahres lag vor ihr, zumindest der Höhepunkt des Schuljahres: die Preisverleihung! Eilig zog Alice das Kleid an, das Maman ihr am Vorabend zurechtgelegt hatte. Maman hatte es aus einem Kleid genäht, das sie selbst als junge Frau zu feierlichen Anlässen getragen hatte. Die waren so selten gewesen, dass der Stoff noch aussah wie neu. Exakt um halb neun fanden sich alle im Sonntagsstaat im Flur ein. Alice hatte sich das lange Haar zu einem Dutt gedreht und ihn mit einer Spange geschmückt. Allein der Umstand, in diesem Aufzug das Haus zu verlassen, versetzte Alice in Aufregung. Was den Moment aber wirklich besonders machte, war Vaters Anwesenheit. Eigentlich war er immer in seinem Geschäft oder auf Reisen. Papa Million führte einen Lebensmittelladen, in dem er unter anderem Spezialitäten aus seiner provenzalischen Heimat anbot. Um für seine Kundschaft stets neue Ware zu finden, fuhr er häufig in den Süden. Maman stand dann im Laden, Alice war für die beiden Geschwister zuständig. Papa fehlte oft, doch die bevorstehende Zeremonie wollte er sich nicht nehmen lassen. Das hatte er schon vor Wochen angekündigt.

Die Millions gehörten zu den ersten Familien, die sich einfanden. Doch von allen Seiten strömten weitere Paare mit ihrem Nachwuchs auf das Institut zu. Maman und Papa nahmen mit Marguerite und Édouard auf einer der Bänke Platz, die für Angehörige aufgestellt worden waren. Vorne stand ein großer schwerer Tisch, hinter dem die Direktorin Madame Leblanc thronte wie auf einer Bühne. Alice setzte sich mit ihrer Freundin Antoinette auf zwei der Stühle, die zu beiden Seiten des Tisches in Halbkreisen angeordnet waren. Der Raum füllte sich rasch, das Raunen und Flüstern schwoll an.

Um neun Uhr waren nahezu sämtliche Plätze besetzt. Das Tuscheln endete, als sich eine Seitentür öffnete und Musiklehrer Monsieur Chevard einmarschierte, gefolgt vom schuleigenen Orchester. Monsieur Chevard hatte graue Haare und einen leicht schlurfenden Gang, er musste an die siebzig Jahre alt sein und gehörte gewissermaßen zum Inventar.

Ein leises Klopfen seines Taktstocks, dann begannen die Bläser und Streicher zu spielen. Die Marseillaise.

Fünf Mädchen stimmten den Text an, Eltern und Schülerinnen schlossen sich an, einige leise, andere voller Inbrunst. Alices Gedanken schlugen Purzelbäume. Würde sie eine Auszeichnung bekommen? Würden sich ihr Fleiß und ihre Arbeit auszahlen? Sie musste sich gedulden. Nicht nur bis zum Ende der Marseillaise, sondern leider darüber hinaus. Denn nun trat ein Vertreter der Stadt an ein kleines Pult und lobte die Fortschrittlichkeit von Nantes in den höchsten Tönen. Als er endlich fertig war, kam Monsieur Jacobin an die Reihe. Alice hatte bei ihm Mathematikunterricht, in höheren Klassen brachte er den Schülerinnen aber auch die Grundlagen von Wirtschaft und Recht bei.

Sie stöhnte. Es konnte dauern, bis er sich wieder setzte! Die Preisverleihung schien in eine unerreichbare Zukunft geschoben zu werden. Direktorin Leblanc warf ihr einen strafenden Blick zu, Alice senkte ertappt den Kopf.

»Dem weitsichtigen Abgeordneten Camille Sée verdankt ihr, dass ihr als Mädchen ein Gymnasium besuchen könnt. Das war in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts noch undenkbar.« Jacobin fuchtelte ständig mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand herum, während er sich mit der linken am Rednerpult festzuklammern schien. »Was wollte Sée?« Er vergewisserte sich mit einem Blick der Aufmerksamkeit seines Publikums. »Nun, bestimmt wollte er aus Frauen keine Gelehrten machen. Ihm war daran gelegen, gebildete Damen im Land zu haben, die ihren Ehemännern zuhören und sie verstehen können, die gemeinsam mit ihnen Entscheidungen für die Familie treffen und ihren Kindern wichtige Grundlagen und Werte zu vermitteln in der Lage sind.«

»Großartig! Das kann meine Mutter alles, ohne je ein Gymnasium besucht zu haben«, flüsterte Antoinette. »Was ist, wenn ich Schiffsbauerin werden will oder Kapitän?«

»Eine Frau an Bord bringt Unglück, das weiß doch jeder«, entgegnete Alice und schnitt eine Grimasse. Als sie den Letzte-Warnung-Blick von Madame Leblanc sah, schwieg sie.

»Eine Nation kann nicht genug solcher Damen haben«, führte Monsieur Jacobin aus. »Doch die Entwicklung bleibt nicht stehen. Was Camille Sée womöglich nie zu träumen wagte, ist doch Wirklichkeit geworden.« Alice spitzte die Ohren. »Vielleicht ist Ihnen der Name Jeanne Chauvin nicht vertraut. Ich bin sicher, Sie werden jedoch noch einiges von dieser ebenso klugen wie mutigen Frau hören. Sie ist Lehrerin an einem Mädchengymnasium.« Beinahe hätte Alice schon wieder laut aufgestöhnt. Was sollte daran schon besonders sein? »Viel interessanter: Sie hat die Rechtswissenschaften studiert.« Ein leises Raunen ging durch die Menge. »In der Tat, meines Wissens hat sie bereits sämtliche Diplome erworben. Dennoch verwehrt man ihr die Möglichkeit, als Anwältin zu arbeiten. Aus nur einem Grund: Weil sie eine Frau ist!« Er machte eine Pause und sah so wütend aus, wie Alice ihn noch nicht erlebt hatte. Sieh einer an, so moderne Ansichten hätte sie ihrem Mathematiklehrer nicht zugetraut. »Jeanne Chauvin kämpft für die Änderung eines Gesetzes, das ihr noch im Weg steht. Vielleicht wird sie nicht siegen, vielleicht braucht es eine weitere Generation. Doch irgendwann wird es so weit sein, und Frauen werden in Richterroben Recht sprechen. Wer hätte vor hundert Jahren geglaubt, dass Mädchen in einem Gymnasium auf die Auszeichnungen für ihre Leistungen warten würden? Darum, meine Damen, lernen Sie weiter, kämpfen Sie weiter! Ihre Zeit wird erst noch kommen. Arbeiten Sie dafür!«

Alice hing an seinen Lippen. Als er einen Schritt vom Rednerpult zurücktrat, löste sie sich aus ihrer Erstarrung und klatschte. Am liebsten wäre sie aufgesprungen, um ihm zuzujubeln. Doch das wäre nicht angemessen gewesen. Um sie herum ertönte lediglich höflicher Beifall. Was Monsieur Jacobin gesagt hatte, fühlte sich in Alices Kopf an wie Frühling. Eine Zeit der Versprechungen, die immer wieder neu und geheimnisvoll war und gleichzeitig zutiefst vertraut.

Nach wenigen Worten von Direktorin Leblanc war der große Moment gekommen. Die erste Kategorie, in der Schülerinnen ausgezeichnet wurden, war französische Literatur. Namen wurden aufgerufen.

»Alice Million!« Sie stand auf, trat vor und nahm ihre Urkunde entgegen. Als sie sich wieder setzte, sah sie kurz zu ihrer Familie hinüber. Ihre Eltern lächelten stolz und glücklich, ihr Bruder Édouard strahlte, als habe er selbst eine Auszeichnung gewonnen, und wollte nicht mehr aufhören, ihr Applaus zu spenden. Auch in der Kategorie Mathematik wurde Alice aufgerufen. Sie konnte sich einen raschen Blick zu Claudine nicht verkneifen. War es unanständig, sich mehr über einen Erfolg zu freuen, wenn man damit jemand anderen ausgestochen hatte? Auch Claudine hatte einen Preis in Mathematik bekommen, aber keinen in Literatur. Alice lag also vorn. War Wettkampf nicht der Weg, um besser zu werden? Was sollte mehr anspornen als sich zu vergleichen? Bekam die eigene Leistung nicht erst dann einen echten Wert, wenn sie im Rennen mit den Leistungen anderer vorne lag? Alice musste an Jeanne Chauvin denken, die das Gleiche tun dürfen wollte, was auch Männern erlaubt war. Das war unmöglich, Frauen hatte nun einmal nicht die gleichen Rechte wie Männer. Aber warum eigentlich nicht? Das war durch nichts zu begründen. War Chauvins Antrieb vielleicht in erster Linie, zu zeigen, dass sie genauso viel konnte wie ein Mann? Ein Kribbeln machte sich in Alice breit. Wie großartig musste es sich anfühlen, sich einfach das Gleiche herauszunehmen und dann auch noch mit einer Spitzenleistung zu glänzen.

Noch zweimal wurde Alice an diesem Vormittag aufgerufen und durfte eine Urkunde für ihre Leistungen in französischer Sprache und in Handarbeit entgegennehmen. Die letzte Auszeichnung hatte für sie eine besondere Bedeutung, denn sie wusste, wie sehr sich Maman darüber freute. Maman konnte einfach wundervoll nähen und hatte Alice einige Kniffe gezeigt. Sie hatte nie die Chance bekommen, für ihre Fähigkeiten mit einem Schriftstück samt Stempel und Unterschrift belohnt zu werden, doch dies hier war auch ihr Preis.

Die Veranstaltung endete mit reichlich Beifall und freundlichen Worten der Direktorin.

»Du hattest die meisten Preise!«, rief Édouard aufgeregt. »Ich habe die allerschlauste Schwester der Welt!« Alice drückte ihn an sich.

»Wir sind sehr stolz auf dich, Alice«, erklärte ihr Vater. »Wir wünschen uns sehr, dass du in gleicher Manier weiter arbeitest. Du hast gehört, was Monsieur Jacobin gesagt hat. Eure Zeit wird kommen, dafür müsst ihr fleißig sein.«

»Madame und Monsieur Million?« Das war die Stimme der Direktorin. Während sich der Saal leerte und auch die Mitglieder des Orchesters ihre Instrumente zusammenpackten, traten Alices Eltern an den großen Tisch, über den gerade noch sämtliche Urkunden gewandert waren.

»Alice ist ein eifriges junges Mädchen«, begann Madame Leblanc. »Sie hat sich im vergangenen Schuljahr immer wieder selbst übertroffen und heute den Lohn dafür erhalten. Vier Auszeichnungen, das ist bemerkenswert.«

»Vielen Dank. Wir sind sehr stolz auf sie.« Papa knetete den Rand seines Anzugjacke. Er konnte mit Geschäftsmännern umgehen, aber eine Schulleiterin verunsicherte ihn.

»Sicher, ja, das können Sie.« Madame Leblanc sah Alice an. »Wenn sie nur nicht so stur wäre. Sie weigert sich, am Sportunterricht teilzunehmen. Wir können machen, was wir wollen, sie boykottiert ihn einfach.« Marguerite warf erst der Leblanc, dann Alice einen ungläubigen Blick zu, Édouard kicherte.

»Was soll das …? Davon wussten wir nichts«, brachte Papa irritiert hervor.

»Ich lerne in der Zeit«, verteidigte sich Alice.

»Aber du kannst dir nicht einfach aussuchen, welche Fächer du für wichtig hältst, es gibt schließlich einen Stundenplan, und der gilt für jeden«, wandte Maman ein. Sie hatte während der gesamten Zeremonie Schweißperlen auf der Stirn gehabt. Jetzt wedelte sie sich mit der flachen Hand nervös Luft zu, ihr Gesicht färbte sich rot.

»Sie arbeitet im Haushalt mit und erledigt für meinen Lebensmittelladen zu Fuß Besorgungen«, gab Papa zu bedenken. »Am Nachmittag liefert sie zum Beispiel die Bestellungen einiger Kunden aus. Mehr Bewegung wird wohl nicht nötig sein.«

Papa hatte vollkommen recht, jeder Schulweg hatte mehr mit Sport zu tun als der Unterricht. Die Lehrerin war behäbig und ungeschickt, sie konnte drei, höchstens vier Übungen vorturnen, die sie stets wiederholen ließ. Noch schlimmer war, dass diese Übungen keine Herausforderung bedeuteten. Da war es ja anspruchsvoller, beim Marelle bis in den Himmel zu kommen. Meist verließ die Lehrerin unter einem Vorwand die Stunde und kehrte erst nach einer Weile zurück. Es interessierte sie nicht, ob die Mädchen in der Zeit ihre Bewegungsabläufe wiederholten oder nicht. Alice hatte schnell begriffen, dass sich die Lehrerin auch nicht darum scherte, ob eine der Schülerinnen sich vom Unterricht entfernte. Und sie war nicht die Einzige, die ihre Schlüsse daraus zog. Stets ließen sie und die anderen sich kurz sehen, ehe sie für den Rest der sogenannten Sportstunde verschwanden. Nun stellte sich heraus, dass die Lehrerin sehr wohl Notiz von ihrem Fernbleiben genommen hatte.

Alice hörte ihre Eltern und Madame Leblanc darüber argumentieren, ob das Austragen von Lebensmitteln gymnastische Übungen zu ersetzen vermochte, konnte sich jedoch nicht darauf konzentrieren. Es ärgerte sie einfach zu sehr! Jungen durften bei Ballspielen gegeneinander antreten, sie rannten gegen die Uhr oder sprangen über Hürden hinweg. Warum gab es das für Mädchen nicht? Ihr fiel plötzlich ein Moment mit Papa ein. Sie sah ihn vor sich, wie er im Sessel saß und die Zeitung las. Zwei Jahre war das her. Ihr Vater hatte auf das Papier geklopft und aus einem Artikel zitiert:

»Am sechsten April 1896 wurden die lang ersehnten ersten Olympischen Spiele der Neuzeit eröffnet. Sämtliche 241 Sportler, die in Athen antreten werden, sind Amateure, Sportler also, die sich aus purer Leidenschaft Höchstleistungen abverlangen, ohne Profit daraus zu ziehen.« Er hatte das Blatt sinken lassen und einen Laut des Ärgers ausgestoßen. »Der Schmierfink, der diesen Bericht verfasst hat, will mir doch nicht weismachen, es käme nur auf körperliche Leistungen an, unabhängig davon, woher jemand kommt und wie wohlhabend er ist.«

»Nicht?« Alice hatte ihn erstaunt angesehen.

»Aber nein, mein Kind, sieh dir die Riege doch nur an! Adelige sind es oder Großbürger oder deren Söhne. Söhne, Alice!«, wiederholte er eindringlich. »Von ihren Töchtern ist nichts zu lesen. Die suchst du so vergeblich wie einfache Arbeiter. Die Welt sollte nicht so verrückt nach Olympischen Spielen sein, denn sie sind nicht für alle Welt gedacht.« Dann hatte er ihr von Volksfesten erzählt, die es schon vor hundert Jahren gegeben hatte. »Auf dem Platz, auf dem jetzt der Eiffelturm steht, wurden allerhand sportliche Wettkämpfe ausgetragen. Jeder konnte mitmachen, ganz gleich, welchen Beruf er ausübte und was seine Familie besaß. Sogar Frauen durften antreten, wenn sie den Mut dazu hatten.«

Zwei Tage später hatte er ihr einen weiteren Artikel vorgelesen, der ihr nie mehr aus dem Kopf gegangen war. Einen Tag nach den Marathonwettkämpfen, sei eine Frau allein die gleiche Strecke gelaufen, hatte es darin geheißen. Sie habe das nur für sich getan, um sich zu beweisen, dass sie es schaffen konnte. Es war nur eine Meldung von wenigen Zeilen gewesen, aber welch ein Bild hatte sie in Alice ausgelöst! Ohne Hilfe, ohne Publikum und ohne Aussicht auf irgendeine Auszeichnung eine solche Kraftanstrengung zu bewältigen, machte sie noch heute sprachlos.

»Können wir uns auf dich verlassen?« Die Stimme ihres Vaters. Alice sah auf. Maman bedachte sie mit einem flehenden Blick, Madame Leblanc zog skeptisch eine Augenbraue hoch.

»Das könnt ihr immer«, erklärte Alice eifrig. Leise fragte sie: »In welcher Hinsicht genau?«

»Um deinen Abschluss nicht zu gefährden, wirst du bis zum Ende deiner Schulzeit am Sportunterricht teilnehmen.« Papa klang ungeduldig, darum wagte Alice nicht, einen Einwand vorzubringen. »Gymnastikübungen sind davon ausgenommen«, ergänzte er. Alice hätte beinahe laut gelacht. Wenn die Lehrerin mal etwas anderes im Unterricht verlangte, würde Alice nur zu gern mitmachen. Da das jedoch so gut wie nie vorkam, würde sich auch in Zukunft nichts ändern.

»Ich verspreche es«, sagte sie.

Kapitel 2

Nantes, Sommer 1899

Alice hätte sich die Haare am liebsten kurz schneiden lassen. Bei dieser schrecklichen Hitze beneidete sie ihren kleinen Bruder sehr um seinen luftigen Schopf. Meist trug Alice Zöpfe, die sie gerade bei diesen Temperaturen wie einen Kranz um den Kopf legte und feststeckte. Schon seit eh und je gab es in der Rue Guepin unweit von Papas Lebensmittelgeschäft einen Friseursalon. Eigentlich hatten die Millions kein Geld dafür, aber vor ein paar Tagen hatte Monsieur Milliat Maman angesprochen, als er gerade im Laden war, um Gemüse und etwas Käse zu kaufen.

»Nicht mehr lang, dann werden in der Mädchenschule wieder die Preise verliehen, nicht wahr?«

»Ende Juli ist es wieder so weit«, hatte Maman geantwortet.

»Wird Ihre Tochter wieder so gut abschneiden?«

»Das will ich wohl hoffen.«

»Wie ich hörte, war sie im letzten Jahr sehr erfolgreich, die gesamte Straße hat darüber geredet«, hatte Monsieur Milliat bedeutungsschwanger gesagt. Maman hatte keine Ahnung gehabt, worauf er hinauswollte, wie sie Alice später aufgeregt erzählt hatte. Da hatte er beiläufig vorgeschlagen, Alice könne jederzeit vor dem großen Ereignis in seinen Salon kommen. Er würde ihr eine Steckfrisur machen, wie Nantes sie noch nicht gesehen hatte.

»Das ist wahrscheinlich ein bisschen übertrieben«, hatte Maman Alice am gleichen Abend berichtet und ihr dann eröffnet: »Ich habe eine Weile gebraucht, ehe ich verstanden habe, woher der Wind weht. Monsieur Milliat hat einen Sohn im besten Alter. Wenn ich nicht irre, soll er den Salon übernehmen, aber es scheint Probleme mit dem jungen Mann zu geben. Eine gebildete hübsche Ehefrau könnte da Wunder wirken.«

Alice hatte ihren Ohren nicht getraut. Sie wollte sich verlieben und dann auch irgendwann einmal heiraten. Ganz bestimmt wollte sie nicht einen jungen Kerl zurechtstutzen, der keine Lust hatte, den Betrieb seines Vaters weiterzuführen. Eine Ehefrau war doch keine Gouvernante!

Da war sie nun. Monsieur Milliat hatte sie an der offenen Tür zum Innenhof platziert. Nicht nur wegen der Hitze, vermutete sie, denn draußen im Hof saß sein Sohn Joseph auf einem Mäuerchen. Sie hatte ihn schon ein paar Mal gesehen, allerdings nicht weiter beachtet. Joseph Milliat war nicht für sein sonniges Gemüt bekannt. Antoinette hatte ihn mal als Griesgram bezeichnet.

»Wenn der den Kunden irgendwann die Haare schneidet, bekommen alle schlechte Laune«, hatte sie behauptet. Alice musste grinsen. Es stimmte schon, er zog immer ein Gesicht, als wäre ihm gründlich die Petersilie verhagelt.

»Dann wollen wir mal«, kündigte Monsieur Milliat beflissen an. »Sie haben wunderbares Haar, Mademoiselle. Ich werde es kunstvoll auftürmen, so dass es von Ihrer Nase ablenkt. Ich meine, ich persönlich finde es nicht schlimm, dass Ihr rechtes Nasenloch zu groß geraten ist. Das liegt in Ihrer Familie, dafür können Sie nichts. Aber man muss diesen klitzekleinen Makel ja auch nicht gerade ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, nicht wahr?« Er machte sich mit zwei Kämmen gleichzeitig an ihr zu schaffen. »Es ist mir eine Ehre, eine der klügsten jungen Damen frisieren zu dürfen, die Nantes je hervorgebracht hat.« Der Schmalz seiner Komplimente lief an ihm herab wie bei diesen unerträglichen Temperaturen die Pomade aus dem Männerhaar. »Sie werden prachtvoller aussehen als die Gemahlin des Herzogs.« Er lachte gekünstelt. »Apropos Gemahlin … Wie glücklich kann sich der junge Mann schätzen, der Sie einmal zur Ehefrau bekommt.« Milliat blickte auffällig in den Hof, wo Joseph inzwischen einen Ball an die Wand schoss und gleich darauf geschickt mit einem Fuß auffing.

»Übertreiben Sie es nicht, Monsieur.« Das war Alice herausgerutscht, aber sie fühlte sich gleich viel besser.

»Wie bitte?« Er verharrte in der Bewegung.

»Mit der Frisur, meine ich.« Sie lächelte ihn höflich an. »Es soll morgen doch mehr das zur Geltung kommen, was in meinem Kopf ist als das Drumherum.« Und ich würde heute Nacht gern schlafen können, setzte sie in Gedanken hinzu.

Die Prozedur dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Ganz sicher würde Alice niemals alle Nadeln wiederfinden, die Milliat verwendete, um jede Strähne an dem gewünschten Platz zu halten. Immer wieder tupfte sie sich einen Schweißtropfen ab, der ihr von der Schläfe herabrann. Zwischendurch sah sie mit wachsender Faszination Joseph zu. Sie hatte irgendwann aufgeschnappt, dass er ein umgänglicher Kerl sei. Der grimmige Blick habe nichts zu bedeuten. Ein hübscher Kerl war er auf jeden Fall. Er war mittelgroß, hatte kastanienbraunes Haar und auffallende grüne Augen. Joseph trug eine kurze Hose, dazu ein ärmelloses Hemd. Es hatte den Anschein, als bemerkte er nicht, dass sie ihn beobachtete. Er war ganz bei sich und konzentrierte sich ausschließlich auf den Ball, mit dem er wahre Kunststücke vollführte. Mal ließ er ihn auf der Innenseite seines rechten Fußes abprallen und hoch in die Luft steigen, um ihn im nächsten Moment mit dem Nacken aufzufangen. Dann stellte er ihn auf die Spitze seines Zeigefingers und versetzte ihn in eine Drehbewegung. Viele Sekunden balancierte er den Ball auf diese Weise.

»Sie sehen hinreißend aus, wenn ich das in aller Bescheidenheit sagen darf.« Monsieur Milliat zog ihren Stuhl zurück. »Für meinen Geschmack hätte es hier noch ein bisschen höher …«

»Sie haben ein Meisterwerk vollbracht«, fiel sie ihm ins Wort und bedankte sich überschwänglich für seine Mühe. »Auf Wiedersehen, Monsieur Milliat.« Sie sah an ihm vorbei nach draußen. Joseph stand da, den Ball in beiden Händen. Ihre Blicke trafen sich, er lächelte.

Gerade hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, als sie das Glöckchen schon wieder hörte. Joseph stand neben ihr. Die schweißglänzende Haut war von der Sonne gebräunt. Er hielt sich offenbar mehr im Freien auf als im Salon.

»Ich gehe ein Stück mit dir«, verkündete er. »Ich soll ein paar Lebensmittel besorgen.«

»Das trifft sich gut, mein Vater betreibt nämlich einen Lebensmittelladen.«

»Ich weiß. Du bist Alice Million.« Er nickte, und sie hätte viel dafür gegeben, seine Gedanken lesen zu können. »Ich wünschte, wir könnten tauschen«, sagte er da. »Ihr den Friseursalon, wir den Handel.« Vor lauter Überraschung blieb Alice stehen.

»Was sollte ich dann mit meiner Ausbildung zur Maschinenschreiberin anfangen?« Das neue Fach machte ihr Freude. Sie würde später gern einen Beruf haben, in dem sie ihre Kenntnisse anwenden konnte. Auch Joseph war stehen geblieben.

»Warum gehst du nicht weiter zur Schule? Du hättest die Möglichkeit dazu. Du könntest vielleicht sogar studieren.«

»Könnte ich.« Sie lachte spöttisch. »Und dann?« Sie schüttelte den Kopf. »Du stellst dir das zu einfach vor. Oder glaubst du etwa, im Gymnasium würden Mädchen zu Gelehrten erzogen?« Seine Stirn legte sich für eine Sekunde in Falten. »Sie machen gebildete Damen aus uns, damit wir zukünftige Ehemänner unterstützen und Kinder erziehen können. So sieht’s aus.«

Sie setzten sich wieder in Bewegung, gingen am Laden vorbei, als hätten sie eine stumme Vereinbarung getroffen. Vor der Place de Bretagne bogen sie rechts ab und hielten sich dann links in Richtung Kanalufer. Am Quai des Tanneurs ging ein leichter Wind. Alice atmete auf.

»So ist das also«, meinte er leise. »Ich habe keine Ahnung, was an einem Mädchengymnasium vor sich geht.« Sie musste lachen.

»Nein, wie solltest du auch? Was ist mit dir?«, wollte sie nach einer Weile wissen. »Du hast gesagt, du willst den Friseursalon deines Vaters nicht.« Jetzt sah er wieder so übellaunig aus, wie sie es von ihm kannte. »Was würdest du tun, wenn du könntest, wie du wolltest?« Sofort hellte seine Miene sich auf.

»Auf jeden Fall weg von hier«, erwiderte er, ohne auch nur darüber nachgedacht zu haben.

»Du würdest Nantes verlassen?«

»Du etwa nicht? Wenn du könntest, wie du wolltest.« Er sah sie erwartungsvoll an.

»Weiß nicht, Nantes ist sehr modern.« Der Kanal Nantes-Brest machte eine Rechtskurve. Alice ließ ihren Blick über die Kasernen wandern, die sich rechter Hand erhoben. Sie mochte nicht zugeben, dass sie heimlich von Paris träumte. Dort gab es Theater, Pferderennen, elegante Menschen. Die berühmtesten Modeschöpfer hatten in Paris ihre Ateliers. Nicht, dass sie sich sonderlich für Mode interessierte, das war ohnehin nur etwas für reiche Leute. Aber nett wäre es schon, das alles aus der Nähe zu erleben, mittendrin zu sein.

»Ich würde nach London gehen«, unterbrach er ihre Gedanken.

»Wie kommst du auf London?«

»England ist das Land des Fußballs.«

Alice musste lachen.

»Dann passt du tatsächlich dorthin.« Sie lachte wieder. »Du spielst sicher gut, aber das ist doch kein Grund, um irgendwo wohnen zu wollen.«

»Warum nicht?« Auf diese Frage wusste sie keine kluge Antwort. Es wurde Zeit kehrtzumachen.

»Außerdem geht es nicht nur um London, es geht um viel mehr. Deshalb wünschte ich, mein Vater hätte von meinem Großvater ein Handelshaus geerbt. Wenn du ein Händler bist, kannst du die gesamte Welt bereisen.«

»Verstehe.« Für den Inhaber eines kleinen Lebensmittelladens galt das nicht. Hoffentlich hatte Joseph sich keine falschen Vorstellungen gemacht. »Das ist also dein Plan, du glaubst, du bekommst das Geschäft meines Vaters als nette kleine Zugabe und bist dann immer so viel unterwegs wie er.«

»Was denn für ein Plan? Von welcher Zugabe sprichst du?«

»Tut mir leid, dich zu enttäuschen, aber Papa ist immer nur in Südfrankreich und nicht in der ganzen Welt unterwegs.«

»Tja, Pech für ihn. Aber nicht so langweilig wie immer nur Nantes.« Er hatte tatsächlich keine Ahnung, worüber sie geredet hatte. Gott, wie peinlich! Er hatte wahrscheinlich überhaupt nicht vor, um ihre Hand zu bitten. »Spielt keine Rolle«, meinte er unvermittelt. »So leid es mir für meinen Vater tut, aber ich werde bestimmt nicht meine Zukunft in seinem Friseursalon verbringen. Ich mache etwas aus meinem Leben, statt irgendwelchen Erwartungen zu entsprechen. Ich brauche dafür kein Erbe, ich schaffe es auch allein.«

Eine Ehefrau brauchte er offenkundig auch nicht. Sie betrachtete ihn von der Seite. Seine Miene war nicht griesgrämig, sie zeigte wilde Entschlossenheit. Das gefiel Alice.

Der Rest des Sommers floss zäh unter einer nicht enden wollenden Hitze dahin. Alice war nur froh, dass Ferien waren. Kein Mensch konnte bei dieser schwülen Luft einen klaren Gedanken fassen. Papa war wieder einmal in der Provence, Maman war gerade in den Keller gegangen, um eine Lieferung Speiseöl und verschiedene Sorten Essig zu verstauen. Die Kundschaft war gleich am frühen Morgen da gewesen, die nächsten würden wohl erst kurz vor Geschäftsschluss kommen. Wer nicht musste, war zur Mittagszeit nicht unter der glühenden Sonne unterwegs. Alice sah die Ware in den Regalen durch, ob alles noch frisch und frei von Ungeziefer war. Die Tür stand weit offen, damit die Luft wenigstens ein bisschen bewegt wurde.

»Bonjour, Mademoiselle Maschinenschreiberin.« Alice fuhr herum. »Bonjour, Monsieur Fußballer.« Sie strahlte Joseph an. »Womit kann ich dienen?«

»Ich brauche nichts.« Seine Miene hellte sich auf. Ihre Überraschung amüsierte ihn anscheinend. »Das Gymnasium hat Ferien, es ist heiß. Ich dachte, du hast vielleicht Lust, mit mir schwimmen zu gehen.« Alice spürte, dass ihre Wangen brannten.

»Ich kann nicht schwimmen.« Sie senkte den Blick. Jetzt hielt er sie bestimmt für eine dumme Gans, mit der nichts Gescheites anzufangen war.

»Dann lernst du es«, sagte er, als sei es der einzig mögliche Schluss. »Die schönsten Städte der Welt liegen am Wasser.«

»Woher weißt du das? Ich denke, du verreist nicht.«

»Ich habe ein Buch gesehen, darin waren sie alle abgebildet: London, Kanada …«

»Kanada ist keine Stadt«, wandte sie ein.

»Das weiß ich selbst, aber es gibt da viele Orte am Wasser, die ich zu gern kennenlernen möchte. Du musst einfach schwimmen können. Du lebst in Nantes, es gibt hier den Kanal und die Loire. Niemand sollte in der Nähe eines Flusses wohnen, ohne schwimmen zu können.« Dieser Begründung konnte Alice nicht widersprechen.

»Ich muss meiner Mutter helfen«, erklärte sie.

»Den ganzen Tag?« Er ließ nicht locker. In dem Augenblick kam Maman aus dem Keller. Sie stöhnte.

»Da unten war es wenigstens kühl. Hier oben ist es ja nicht auszuhalten.« Erst jetzt entdeckte sie Joseph. »Bonjour, Monsieur Milliat.« Sie lächelte ihn freundlich an.

»Bonjour, Madame Million.« Alle drei mussten lachen. Es war schon drollig, dass sie Namen mit einem so ähnlichen Klang trugen.

»Suchen Sie etwas Bestimmtes?«, wollte Maman wissen und wischte sich über die Stirn.

»Nein, ich wollte nur fragen, ob Alice vielleicht Lust hat, mit mir schwimmen zu gehen.«

Maman sah ihn erstaunt an, mit dieser Antwort hatte sie nicht gerechnet.

»Alice kann nicht schwimmen.«

»Ich kann es lernen«, warf Alice ein. »Marguerite und Édouard sollten es auch lernen«, bekräftigte sie. »Der Fluss ist nicht weit, der Kanal auch nicht. Wie schnell könnten wir ertrinken.« Maman sah sie erschrocken an.

»Ihr habt am Wasser nichts zu suchen«, brachte sie wenig überzeugt hervor.

»Alice hat recht.« Joseph setzte eine ernste Miene auf. »Ein Spaziergang am Ufer, ein unbedachter Schritt oder feuchtes Gras … Wie schnell rutscht man aus. Schon ist das Unglück passiert.« Er zuckte mit den Achseln, als wolle er sagen: »Ihre Entscheidung, Madame, es ist nur ein Angebot.«

»Wo könnten sie denn schwimmen lernen?«, wollte Maman ängstlich wissen.

»Auf der Île Gloriette gibt es ein paar geeignete Fleckchen. Südlich vom Krankenhaus zum Beispiel. Mein Lieblingsplatz liegt aber weiter östlich am Ende der Rue des Amoureux«, erzählte er begeistert. Alice wurde rot, da wurde auch ihm klar, was er gerade gesagt hatte. Zwar hatte er der Straße der Liebenden ihren Namen nicht gegeben, aber er begriff, dass es sich wie eine kesse Andeutung anhören musste. »Oder an der Rue de Valmy, da geht es auch«, ergänzte er eilig.

Maman ließ sich die Sache durch den Kopf gehen. Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

»Na schön, von mir aus. Kannst du es Alice beibringen?« Er nickte. »Also gut. Und hinterher zeigt ihr Marguerite und Édouard, wie es geht.«

»Sehr gern, Madame Million.«

»Du brauchst ein Badekleid«, sagte Maman mehr zu sich selbst. »Mir fällt schon etwas ein. Ich kümmere mich heute Abend darum.«

»Ich soll deine lange Unterhose anziehen?« Alice und Joseph hatten sich für den nächsten Tag verabredet. Wie versprochen, hatte Maman ein Kleid ein wenig umgenäht, das Alice zu kurz geworden war. Sie hatte es für Marguerite aufheben wollen, fand aber, dass es wirklich sinnvoll sei, wenn alle Kinder schwimmen lernten. Dafür opferte sie das Stück gern, hatte sie erklärt.

»Du willst doch wohl nicht in aller Öffentlichkeit deine nackten Knie zeigen«, erwiderte Maman.

»Es ist alles besser als in der ollen …« Weiter kam Alice nicht.

»O nein, junge Dame«, erklärte Maman streng. »Nackte Knie sind gewiss nicht besser.« Marguerite kicherte, Édouard pustete in seinen Kakao, obwohl der nicht heiß war. Er versuchte, Wellengang in seinem Becher zu erzeugen. »Du wirst reizend aussehen«, fuhr Maman fort. »Aber darauf kommt es nicht an. Viel wichtiger ist, dass du dich vernünftig bewegen kannst.« Tatsächlich hatte man schon gehört, dass Frauen beinahe ertrunken wären, weil ihr weites Badekleid, das ihnen bis zu den Füßen reichte, im Wasser schwer wurde und sich auch noch um die Beine legte wie eine Fessel. »Du ziehst die Hose drunter oder bleibst zu Hause.« Ende der Diskussion. Maman erhob sich vom Tisch. Sie musste den Laden aufschließen.

»Warum dürfen wir nicht mitkommen?« Marguerite probierte es in einem flehenden Ton, dabei war auch diese Debatte längst entschieden.

»Du wirst mit Alice lesen üben«, verkündete Maman auch schon, während sie das Geschirr wegräumte und den Tisch mit einem feuchten Tuch abwischte. Marguerite schnaufte vernehmlich. Alice hatte versprochen, mit ihr noch ein Stündchen zu lesen, ehe sie aus dem Haus ging. Ihre Schwester war erst zehn, besuchte also noch die Grundschule. Mit dem Lesen und Schreiben tat sie sich schwer.

»Und danach spielst du mit mir«, erinnerte Édouard seine jüngere Schwester. »Stimmt’s, Alice?«, vergewisserte er sich. Sie nickte und schnappte sich das Badekostüm, das Maman ihr über eine Stuhllehne gelegt hatte. »Wenn Alice es kann, dürfen wir mitkommen und auch schwimmen lernen«, erklärte er feierlich. »Darauf freue ich mich schon.«

»Wenn wir auch so schreckliche Hosen anziehen müssen, freue ich mich nicht drauf«, meinte Marguerite trotzig.

Die Zeit verstrich allzu schnell. Einerseits konnte Alice es kaum abwarten, andererseits war sie schrecklich nervös. Würde Joseph sie in ihrem Aufzug auslachen? Würde er schnell die Geduld verlieren, wenn sie sich ungeschickt anstellte. Wie lange dauerte es überhaupt, bis jemand schwimmen konnte? Immer wieder hatte sie auf die Uhr gesehen, während Marguerite sich mit dem Text abmühte, den sie vorlesen sollte. Schließlich waren sie alle zu Maman in den Laden gegangen, um ihr noch ein wenig zur Hand zu gehen. Dann war Joseph da.

»Dass du sie mir nur gesund zurückbringst«, verlangte Maman und sah wirklich beunruhigt aus. »Ich hätte erst mit eurem Vater sprechen müssen«, jammerte sie nicht zum ersten Mal. Alice gab ihr zum Abschied Küsse auf die Wangen.

»Papa wird begeistert sein, dass ich schwimmen kann«, sagte sie fröhlich.

»Ich passe gut auf Alice auf, das verspreche ich Ihnen, Madame Million«, versicherte Joseph ihr ernst.

Sie liefen geradewegs zur Place Royale und weiter an der Post vorbei zum Ufer der Loire. Im Fluss lagen zwei Inseln hintereinander, die kleine Île Feydeau, auf der es nicht viel mehr gab als ein Fischgeschäft und ein paar Gassen. Dahinter lag die viel größere Île Gloriette. Schon aus der Ferne erkannte Alice das größte Krankenhaus der Stadt und die Werften. Am östlichen Ende des Eilands gab es einen freien Platz, dort konnten sie ihre erste Schwimmstunde recht ungestört absolvieren, hatte Joseph ihr versprochen. Schweigend gingen sie am Schloss der Herzöge vorbei und gleich darauf über den Pont de la Rotonde.

»Hier ist es.« Joseph deutete auf eine sandige Fläche, die wenig einladend aussah. Immerhin war das Ufer mit Steinen befestigt, über die sie sicher leicht ins Wasser würden gehen können. Alice war erleichtert, endlich das Sommerkleid ausziehen zu dürfen. Es war zwar dünn, aber sie hatte es schließlich über dem Badekleid tragen müssen und schrecklich geschwitzt. Die Aussicht auf eine Abkühlung war wunderbar. Gleichzeitig war das der Moment, in dem Joseph sie in der schon leicht vergilbten langen Unterhose von Maman sehen würde. Er hatte es gut, denn er trug eine kurze Hose und dazu ein ärmelloses Hemdchen.

»Bereit?«, fragte er sie. Kein Wort zu ihrem Aussehen, kein spöttisches Grinsen. Als sie nickte, reichte er ihr die Hand, um ihr über die Steine zu helfen. »Du brauchst keine Angst zu haben. Lass dir einfach Zeit und mach einen Schritt nach dem anderen. Ich halte dich, damit du nicht ausrutschst.« Wieder nickte sie nur und tat, was er gesagt hatte. Ein Schritt nach dem anderen. Schon waren ihre Füße bis zu den Knöcheln nass. Alice konnte einen kurzen Schrei nicht unterdrücken.

»Alles in Ordnung?« Er sah sie erschrocken an.

»Ich wusste nicht, dass es so kalt ist.« Sie lächelte.

»Das kommt dir nur so vor, weil es draußen so heiß ist. Du gewöhnst dich schnell dran, du wirst sehen.«

»Stimmt, es ist gar nicht so schlimm.« Sie wollte sich keine Blöße geben, lachte krampfhaft und ging weiter. Nur gut, dass er ihre Hand hielt. Manchmal war ein Stein sehr glitschig, oder sie spürte plötzlich Schlamm unter der Fußsohle, in dem sie zu versinken schien. Je tiefer sie sich in den Kanal wagten, desto weniger Kontrolle hatte sie außerdem über ihr Gleichgewicht. Es fühlte sich an, als würde sie zum Spielball des Wassers werden. Obendrein kroch die Kälte immer höher, biss erst in die Oberschenkel, dann in ihren Bauch, umfing ihre Brust. Sie riss sich zusammen, atmete tief ein und aus. Immerhin hatte Joseph recht, sie gewöhnte sich erstaunlich schnell an die Temperatur.

»Ist es nicht herrlich?« Joseph sah sie erwartungsvoll an.

»Es fühlt sich noch ein wenig fremd an, aber es ist schön.«

»Es wird noch besser. Jetzt wirst du nämlich schweben«, kündigte er an und lächelte. »Ich bin hinter dir und halte dich.« Er trat hinter ihren Rücken und berührte ihre Schultern. »Lehn dich einfach zurück, als wolltest du dich hinlegen. Die Füße löst du vom Boden.«

»Beide gleichzeitig? Aber das geht doch nicht.« Er lachte leise.

»Irrtum, nur so geht es.«

Alice gehorchte. Sie ließ ihren Oberkörper nach hinten sinken und fiel regelrecht gegen seine Brust. Ihre Füße wollten von allein nach oben. Alice ruderte hektisch mit den Armen, hätte gern etwas gehabt, woran sie sich festhalten konnte.

»Bleib ruhig, vertrau mir«, flüsterte Joseph und trat neben sie. »Ich lass dich nicht untergehen.« Seine linke Hand lag unter ihrer Schulter, mit der rechten stützte er sanft den unteren Rücken. Nur zwei Punkte, und doch lag sie wie auf einem festen Untergrund. Nein, er hatte nicht zu viel versprochen. Da war nichts Festes unter ihr, sie schwebte!

»Es ist, als könnte ich fliegen«, juchzte sie.

»Du kannst fliegen, wenn du nur willst«, entgegnete er geheimnisvoll. »Immer schön ruhig ein- und ausatmen«, forderte er sie auf. »Die Arme gleichmäßig hin und her bewegen. Ich lasse dich jetzt ganz los, mach einfach so weiter!«

Alice wollte protestieren, sie war noch nicht so weit. Da wurde ihr klar, dass er ihre Schulter längst losgelassen hatte. Seine Hand unter ihrem Rücken trug sie nicht, sie war nur die beruhigende Verbindung zwischen ihnen beiden. Sein Gesicht war ihrem nah, Alice blickte in seine grünen Augen, die so viel Wärme und Sicherheit ausstrahlten.

»In Ordnung«, sagte sie. Ihr konnte nichts passieren, wenn Joseph nur bei ihr war.

»Na, siehst du, das klappt doch wunderbar.« Er lachte. »Ich glaube, Wasser ist dein Element.«

Alice nickte. Keine gute Idee. Eine kleine Welle schwappte über ihr Gesicht, lief in Mund und Nase. Alice hustete und begann herumzuzappeln. Das machte es nicht besser. Plötzlich spürte sie Josephs Arme, die sie an den Ellenbogen packten und zu sich zogen. Er hielt sie fest, sein warmer Körper an ihrem. Augenblicklich hörte sie auf zu strampeln, doch ihr Herz schlug immer schneller.

»Geht’s wieder?«

»Ja, danke. Ich glaube, ich muss noch einiges über mein Element lernen.« Sie lächelte zerknirscht.

»Du gibst also nicht auf?«

»Auf keinen Fall! Aufgeben können andere, für mich ist das nichts.«

Eine Weile ließen sie sich treiben. Alice bekam ein Gefühl dafür, wie gut sie von der Oberfläche getragen wurde. Einmal kam ein Schiffchen vorbei, das kleine Wellen machte. Sie stellte fest, dass es überraschend leicht war, sich darauf schaukeln zu lassen. Irgendwann war sie so sicher, dass sie entspannt neben Joseph lag, in den blauen Sommerhimmel blinzelte und mit ihm nach Figuren suchte, die sie in den Wolken zu erkennen glaubten.

»Genug ausgeruht«, meinte er plötzlich. »Du musst dich bewegen, sonst wird dir kalt. Außerdem fängt jetzt der Unterricht an.«

»Wieso, ich kann doch schon schwimmen«, protestierte sie. Er lachte. »Ich gehe nicht unter. Also?« Wieder lachte er nur. Wie es aussah, führte kein Weg an der nächsten Lektion vorbei. Im Stehen machte er ihr die Armbewegungen vor, sie musste sie nachmachen. Dann zeigte er ihr, was die Beine zu tun hatten.

»Du siehst aus wie ein Frosch«, neckte sie ihn.

»Bin gespannt, wie es bei dir aussieht.« Er grinste. Im Stehen streckte Alice die Hände vor, öffnete die Arme und führte sie nach hinten, wie er es ihr vorgemacht hatte. Wann war der Moment, um die Füße vom Boden zu heben? Würde ihr Gesicht nicht unter Wasser geraten? Joseph nahm ihre Hände. »Versuch es jetzt! Beine hoch!« Er stützte ihre Arme, sie hob die Füße, aber so recht wollte es ihr nicht gelingen, die Balance zu halten. »Wir machen es anders.« Joseph streckte beide Arme nebeneinander aus wie ein Brett. »Leg dich mit dem Bauch drauf.« Zuerst war ihr diese Berührung peinlich, doch es funktionierte. Alice lag sicher im Wasser und wiederholte die Bewegungen mit Armen und Beinen gleichzeitig. Joseph beobachtete sie aufmerksam, gab ihr Ratschläge, wie sie etwas besser machen konnte, korrigierte sie, wenn nötig. Zwischendurch legten sie eine Pause ein. Danach war es ihr schon nicht mehr unangenehm, seine Hände unter ihrem Bauch zu spüren. Es fühlte sich ganz natürlich an.

»Siehst du, du kannst es«, sagte er und machte einen großen Schritt zur Seite. »Ist nicht schwer, oder?«

Alice wurde klar, dass sie schon einige Sekunden oder gar Minuten ohne seine Hilfe schwamm. Sie zwang sich, ihre Aufregung zu unterdrücken und machte ein paar Züge von ihm weg.

»Bravo!«, hörte sie ihn hinter sich rufen. Er lachte und klatschte ihr Beifall. »Das reicht für heute«, rief er ihr zu. »Sonst landest du noch im Atlantik.«

»Wäre das nicht himmlisch?«, sagte sie atemlos, als sie sich auf den Steinen am Ufer trocknen ließen. »Stell dir nur vor, wir bräuchten kein Schiff, nicht mal ein Floß. Wir könnten einfach bis ins Meer schwimmen.«

»Wir könnten kein Gepäck mitnehmen«, erklärte er, ohne eine Miene zu verziehen.

Nach dem Tag, an dem Joseph ihr das Schwimmen beigebracht hatte, tauchte er nicht mehr im Laden der Millions auf. Die Ferien gingen zu Ende, ohne dass sie noch einmal gemeinsam am Kanal waren. Alice machte sich Gedanken, ob sie etwas falsch gemacht hatte. Ihre Sorge wuchs mit jeder Stunde. Sie musste wissen, was los war, fasste sich ein Herz und ging in den Friseursalon.

»Er ist krank«, ließ Monsieur Milliat sie wissen. »Aber er ist bereits auf dem Weg der Besserung.«

»Das tut mir leid. Ich meine, wie schön, wenn es ihm schon wieder besser geht. Würden Sie ihm bitte Grüße ausrichten?«

»Selbstverständlich, Mademoiselle.«

Zwei Tage später fing Joseph sie ab, als sie gerade von der Schule nach Hause ging.

»Tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet habe«, entschuldigte er sich. Seine Stimme klang ein wenig kratziger als sonst.

»Tut mir leid, dass du krank warst«, entgegnete sie. »Ich hoffe, es ist nicht meine Schuld.« Er zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Na, weil du so lange mit mir im Wasser herumstehen musstest. Ich hoffe, du hast dich dabei nicht verkühlt.«

»Ach was, bestimmt nicht.« Sie verabredeten sich für den nächsten Abend. In der Woche darauf gingen sie, wie sie vereinbart hatten, mit Marguerite und Édouard zum Kanal, um auch ihnen das Schwimmen beizubringen. Wenn sie noch länger damit warteten, würde es womöglich zu kalt sein und sie hätten erst im nächsten Jahr wieder die Chance. Während ihr kleiner Bruder voller Urvertrauen alle Übungen so ausführte, wie sie ihm aufgetragen wurden, zierte sich ihre Schwester und wurde nahezu hysterisch, nachdem sie einmal Wasser geschluckt hatte.

»Das ist nichts für mich«, erklärte Marguerite kategorisch. »Wenn Mädchen schwimmen gehen sollten, gäbe es für sie auch vernünftige Badebekleidung, und sie müssten keine albernen Pluderhosen unter ein zu kurzes Kleid ziehen.« Alle drei redeten auf sie ein. Ohne Erfolg. Marguerite sah sich Édouards Fortschritte vom sicheren Ufer an, ohne sich noch einmal selbst ins kühle Nass zu wagen.

Herbst und Winter zogen ins Land. Schon wieder ein neues Schuljahr. Im Juli 1900 gab es nur ein Gesprächsthema. In Paris fand nicht nur die Weltausstellung statt, die allein schon sensationell sein sollte, sondern es wurden auch Olympische Spiele ausgetragen. Zwar hatte Alice noch ihren Vater im Ohr, dass die Welt sich nicht so für dieses Spektakel begeistern solle, denn es sei nicht für alle bestimmt, trotzdem wäre sie zu gern dabei. An einem schwülen Sommerabend Mitte Juli ging sie nach Ladenschluss mit Joseph durch den botanischen Garten an der Rue Stanislas Baudry spazieren.

»Hast du gehört, in Paris sollen reichlich neue Weltrekorde aufgestellt worden sein? Im Diskuswerfen und beim Laufen«, begann sie.

»Mein Vater sagt, die Amerikaner sind die besten Athleten.«

»Dann haben sie wohl am meisten Geld«, gab Alice zu bedenken. »Mein Vater sagt nämlich, dass nur Söhne reicher Väter antreten. Kein einfacher Arbeiter ist dabei.«

»Keine Ahnung.« Joseph zuckte gleichgültig mit den Achseln. »Ist mir auch egal. Eine Medaille kannst du dir nicht kaufen, du musst sie erringen.«

Darüber dachte Alice nach, als sie den Park hinter sich ließen und zum Bahnhof spazierten. Sie waren oft hier. Joseph erzählte ihr zu gern von seinen Plänen, Frankreich zu verlassen. Bisher waren es freilich eher Wunschträume, denn reale Vorhaben.

»Dafür musst du aber erst die Gelegenheit bekommen«, knüpfte sie an ihr Gespräch an. »Und die kriegst du nicht, wenn dein Vater Fischer ist oder in einer Werft schuftet. Oder wenn du ein Mädchen bist«, ergänzte sie leiser.

»Ha, falsch!«, widersprach er ihr. »Es sind sehr wohl Frauen mit von der Partie. Habe ich gehört«, setzte er nachdenklich hinzu. »Ich glaube, beim Tennis treten welche an. Und beim Segeln ist auch eine in einer Mannschaft.«

Segeln stellte sich Alice sehr schön vor. Statt sich aus eigener Kraft durch das Wasser zu schieben, konnte der Wind ein Boot sicher mit Leichtigkeit darüber hinweg gleiten lassen. Auf der anderen Seite der Stadt am Quai St. Louis lagen oft prachtvolle Schiffe mit Segeln, so weiß, dass es beim Hingucken wehtat, wenn Sonnenstrahlen darauf trafen. Die Besitzer sahen elegant und gleichermaßen lässig aus in ihren hellen Hosen und Strickjacken. Und die Damen erst! Lange mit Spitzen und Rüschen verzierte Roben und weiße niedliche Schirmchen, die ihre Haut davor schützen sollten, Farbe zu bekommen. Ein langes Tuten brachte Alice zurück ins Hier und Jetzt. Ein Zug setzte sich behäbig in Bewegung. Welch ein Unterschied zu dem Bild, das sie eben noch vor Augen gehabt hatte: Die Lok war schwarz, der Qualm, den sie ausstieß, war es ebenfalls. Alice musste husten. Schnell würde die Bahn aus ihrem Blickfeld verschwunden sein. Nur noch die stinkende Wolke, würde in Nantes an sie erinnern, während ihre Passagiere ihren Abenteuern entgegenratterten.

»The Americans are definitely the best«, sagte Joseph plötzlich. Alice stutzte und nickte anerkennend.

»Du klingst bald wie ein waschechter Engländer«, gab sie zurück.

»Ich strenge mich an.« Er wollte bescheiden wirken, aber sie konnte hören, wie stolz er war.

Alice und Joseph trafen sich regelmäßig. Sie gingen spazieren oder schwimmen. Mal brachte sie etwas Schokolade aus dem Geschäft mit, mal lud er sie zum Kaffee ein. Immer wieder schwärmte er von Amerika und England.