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Job verloren, abgefahren! 8400km solo auf dem Rad, am Atlantik entlang, vom Süden Portugals ans Nordkap Norwegens, in einem Sommer. Folgen Sie der fröhlichen Tour d'Europe durch herrliche Begegnungen, kulinarische Köstlichkeiten, atemberaubende Naturerlebnisse, durchleben Sie kleine Pannen und Nächte vom Sternen-Hotel bis unters Sternenzelt. Unsere Autorin hat sich neben der Abenteuerreise gleich noch einen zweiten Traum erfüllt: Sie halten ihn gerade in der Hand. "Sportlich anspruchsvoll, ein gehöriger Schuss Abenteuer, macht Spaß zu lesen!" Jonas Deichmann, Langstrecken-Ausnahmesportler und Spiegel-Bestseller-Autor "Ein Text, der inspiriert und immer wieder ein Lächeln hervorruft. Für Entdecker jeden Alters." Paul Maar, Autor
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Seitenzahl: 392
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Die besten Entdeckungsreisen
macht man nicht in fremden Ländern,
sondern indem man die Welt mit neuen Augen betrachtet.
Marcel Proust
TEIL I: IMMER AM ATLANTIK ENTLANG: VON FARO IN PORTUGAL BIS NACH BAMBERG
Zu Hause
Die Vorbereitung
PORTUGAL
Jila und ihre Familie
SPANIEN
Galicien
Asturien
Kantabrien
Das Baskenland
Philippe, Jean-Jaques, Pascal und Josephe
FRANKREICH
Bernhard
Die Klammer
Andrea und Michael
Michel, Françoise und - Marie
BELGIEN
HOLLAND
DEUTSCHLAND
Gertrud
LETZTER TAG
TEIL II: VON BAMBERG ÜBER DEN POLARKREIS ANS NORDKAP
DEUTSCHLAND
DÄNEMARK
Benny und Kira
SCHWEDEN
Gregor und Erik
Ingvar
Maria
NORWEGEN
SCHÄREN, HAUPTSTADT, MOSCHUSOCHSEN: DURCH DIE BERGE ANS MEER
Sissel, Ole, Simen und die ganze Familie
Evan und Pepe
Annika
EINSAM, SCHÖN, LÄDIERTES RAD: ENTLANG DES KYSTRIKSVEIEN ÜBER DEN POLARKREIS
Astrid
Alessandro, Giacomo und Matteo
Kristin
Über den Polarkreis
SCHLAFLOS SPEKTAKULÄR: LOFOTEN UND VESTERÅLEN
Christoph und Marvin
Solhov und seine Bewohner
FINALE: DURCH DIE FINNMARK ANS NORDKAP
Dieter
Gianni und Paolo
DER LETZTE TAG AM NORDZIPFEL EUROPAS
ERNÄHRUNG
AUSSTATTUNG
Packliste
Zusätzlich ausschließlich auf dem südlichen Teil der Reise dabei
Zusätzlich ausschließlich auf dem nördlichen Teil der Reise dabei:
Fahrrad und Taschen- / Trägersysteme:
Zum Kochen, Essen und Schlafen
DANKSAGUNG
NACHTRAG
Ich gebe zu, ich war müde.
Müde endloser Meetings, Diskussionen, die sich stundenlang um Details drehten, die in meinen Augen keine Relevanz hatten. Müde der Alarmzustände, zu denen ad hoc alles stehen und liegen gelassen werden musste. Eine Krise jagte die nächste. Krisen rechtfertigen, dass sofort, mit hoher Konzentration, ohne Rücksicht auf die eigentliche Planung Mitarbeiter zusammengetrommelt und mit neuen Aufgaben versehen werden. Waren das Krisen, oder wurden sie gemacht? Meine Risikoeinschätzung war anders, gelassener, und so zeigte sich mit der Zeit immer deutlicher: Ich bin falsch hier. Schon seit zwei bis drei Jahren drängte sich immer wieder der Gedanke auf, wie ich denn am besten rauskomme aus dieser Nummer: Ein top bezahlter, anspruchsvoller Job als Pressesprecherin in der Industrie, mit Kolleginnen und Kollegen, die schlau, tüchtig und inspirierend sind, hervorragenden Gegenleistungen für mich als Arbeitnehmerin – Gehalt, Urlaub, Weiterbildung, Altersvorsorge, Unterstützung im Krankheitsfall. Wertgeschätzt, gut vernetzt und in absolut sicheren Bahnen. So einen Job gibt man nicht auf. Nicht aus gutem Grund. Und dennoch: Mir fehlte etwas, und zwar gewaltig. Ich arbeitete viel, und mein Job hatte im Grunde die höchste Priorität. Nie machte ich "früher Schluss" für einen privates Vorhaben, Urlaube wurden so gelegt, dass es gut für die Firma passte, und es flossen so viel Energie, Gedanken und Herzblut in die Arbeit, dass für die Freizeit gefühlt kaum Luft blieb. Ich fiel in ungeplante Wochenenden, in ungeplante Urlaube, mir wurde sehr viel Privates einfach zu viel. In meiner ganzen Gereiztheit, plötzlich aufkommender Wut und einem latenten Überlastungsgefühl spürte ich im Grunde deutlich, dass etwas schiefläuft. Auch privat fühlte ich mich unter Druck. Ich unterstützte, wo ich konnte, im Krankheits- und Sterbebegleitungsfall, bei Finanznöten, in Vereinen, bei der älteren Generation. Ich lieferte ab. Ich erfüllte Erwartungen. Ich war klein und wurde gefühlt immer kleiner.
Zum Jahreswechsel von 2021 auf 2022 wünschte ich mir ganz einfach ein leichtes neues Jahr.
Dass dieses Jahr große Veränderungen mit sich bringen würde, ahnte ich zu diesem Zeitpunkt freilich noch nicht. Natürlich bemerkte ich auch, dass es in der Firma nicht mehr ganz so gut lief wie vor 13 Jahren, als ich angefangen hatte. Die Zukunftsaussichten waren weniger rosig und der Aktienkurs bröckelte. In meinem Unternehmensbereich reüssierte zwar das gegenwärtige Produktportfolio, in der Entwicklung ruckelte es allerdings, so dass alle Hoffnungsträger, die in den nächsten Jahren auf den Markt kommen sollten, einer nach dem anderen ad acta gelegt werden mussten.
Es war klar, in dieser Personalstärke geht es nicht weiter. Als mir dann ein Job am anderen Ende der Welt angeboten wurde, da wir jetzt alle flexibel sein mussten, lehnte ich ab und signalisierte, dass ich keine familiären oder finanziellen Verpflichtungen hätte und mich vergleichsweise leicht tun würde mit einem Firmenausstieg. Dieses Statement kam spontan am Ende eines Entwicklungsgesprächs und ich glaubte selbst kaum, was ich eben gesagt hatte, nachdem das etwas verstörte Gesicht meiner Chefin in den USA vom Bildschirm verschwunden war. "Kein Signal an die Firma!" hatte mir mein Onkel noch eingeschärft, als ich ihm, der selbst eine steile Industriekarriere hinter sich hat, von meinen gefühlten Ermüdungserscheinungen berichtete. Nun war es gesendet, das Signal. Es dauerte nur wenige Monate, dann kam das Echo: Im Rahmen einer größeren globalen Umstrukturierung, in der fast 30% der Jobs in meinem Fachbereich gestrichen wurden, war ich auf der Liste.
Zum Glück.
Ich fasste einen Plan.
Der Plan war: Mit dem Rad durch Westeuropa, vom äußersten Südzipfel in Faro, Portugal, zum äußersten Nordzipfel ans Nordkap, Norwegen. So viel wie möglich am Atlantik entlang. Ein Plan für einen Sommer. Es wurden mehr als 8400 Kilometer. Mehr als 60.000 Höhenmeter. Etwa 100 Tage. 9 Länder. 5 platte Reifen, 3 Speichenbrüche, 2 ramponierte Packtaschen und eine Felge, die ersetzt werden musste. Ich ließ 5kg Körpergewicht auf der Strecke.
Und kehrte zurück mit ruhigem Geist, vollem Herzen und einer freundlichen Sicht auf die Welt.
Wir einigten uns gütlich, es war ja auch nichts vorgefallen. Ich blieb noch eine Weile, um ein paar Projekte zu Ende zu führen und plante parallel meine Auszeit, die ein paar Wochen später im Mai beginnen sollte.
Die Liste, die abzuarbeiten war:
Ein geeignetes Fahrrad kaufen und in der angespannten Marktlage darauf warten, dass es geliefert wird
Das Packkonzept auf dem Rad durchdenken und geeignete Packtaschen besorgen
Dinge kaufen, die ich brauchen würde: Ein kleines leichtes Zelt. Eine gute Matte. Powerbank und Halterungen für Navigationsgeräte.
Ein Upgrade der Navigationssoftware herunterladen, ein Upgrade des Datenvolumens für die Planung unterwegs veranlassen
Einen Untermieter für die Wohnung finden
Der Plan für die Reiseroute selbst war einfach, denn er lag schon seit drei Jahren bereit. Damals hatte ich ein Sabbatical für dieses Vorhaben beantragt und auch genehmigt bekommen. Der Plan wanderte damals aber wieder in die Schublade und die Genehmigung in den Papierkorb, da unter anderem eine Joboption innerhalb der Firma Gestalt annahm, die ich einfach priorisieren wollte. Und es war gut so. Denn nun war die Ausgangslage noch ein Stück besser. Ich hatte ein ordentliches Finanzpolster mitbekommen. Und ich würde frei sein im Anschluss und noch einmal von Grund auf neu gestalten können.
Doch der Reihe nach.
Am 8. Mai 2022 hob mein Flugzeug ab von Frankfurt nach Faro. Ich hatte eine große Verabschiedungsrunde hinter mir. In der Firma sowieso, bei Familie, Freunden und Bekannten. Man überhäufte mich mit einem Berg an Geschenken und guten Wünschen für die Reise, und nicht alles konnte im kleinen Gepäck seinen Platz finden. Letzte Abschiedstelefonate auf dem Weg zum Gate. Und dann ging es los.
Die Welt von oben war an sich ja schon immer aufregend und besonders und dieses Mal hüpfte mein Herz bei der Überquerung der weißen Pyrenäen-Gipfel. Und dann wieder, als ich die Sandstrände von oben sah, die das Ziel des Fluges ankündigten: Faro am südlichsten Ende Portugals. Es war warm, als ich aus dem Flugzeug stieg. Mein Gepäck bestand nur aus einem großen Pappkarton, in dem sowohl das Rad als auch die Packtaschen untergekommen waren. Es wurde heil an die Sperrgepäckausgabe geliefert, und als erstes Extra wartete daneben ein voll ausgestatteter Montageständer, an dem ich in Ruhe mein Rad zusammenbasteln konnte.
Vorderreifen einbauen, Schutzblech anschrauben, Lenker wieder montieren, den Sattel und die Pedale anschrauben. Darauf achten, dass der Lenker mittig und in der richtigen Neigung angebracht ist und dass der Sattel gerade ausgerichtet und in der richtigen Höhe festgeschraubt wird. Diese Handgriffe waren geübt. Es gab eine ordentliche Standluftpumpe, denn die Reifen dürfen wegen des geringen Luftdrucks in Flughöhe nicht vollgefüllt sein, sonst würden sie platzen. Reifen aufgepumpt, Packtaschen angeklippt und schon saß ich auf dem Rad. Das Navigationsgerät stellte ich auf Faro, Stadtzentrum ein.
Die sechs Kilometer führten schon über einen Feldweg, und mir fielen gleich die blühenden Kakteen, Bougainvilleen, Verbenen und die Orangenbäume mit ihren sattgrünen Blättern und dicken Früchten ins Auge. Hier war die Vegetation Anfang Mai eine Pracht. Sowohl die Wildblüher, als auch die Kulturpflanzen in den Gärten.
Die Natur war bunt und voll und einladend. Ich rollte in das südländische Städtchen und quartierte mich für die erste Nacht in einem sehr gut bewerteten Hostel ein. Dort bekam ich noch einen ordentlichen Werkzeugkasten, da ein paar Nachjustierungen mit dem kleinen Toolset aus dem Gepäck nur schwer zu bewerkstelligen waren. Ich verstaute mein Gepäck in einem Schließfach im 9-Bett-Schlafraum für Frauen und machte mich auf den Weg, vorbei an einer hübschen kleinen Kirche, auf deren beiden Türmen Störche nisteten.
Diese ersten Schritte waren ein wenig vorsichtig und zaghaft. Vor mir: Eine riesige Distanz und mehrere Wochen on Tour. Erstmals in meinem Leben. In den Semesterferien stand ich meist am Fließband, um mein Leben zu finanzieren. Jetzt war der Moment für eine lange Reise gekommen, und obendrein hatte ich jetzt nicht nur Zeit, sondern auch Geld. Dennoch. So viele Wochen von zu Hause weg. Alleine unterwegs. Das war Neuland. Ich stromerte ein wenig durch den Ort und wollte mit einem Ausflugsschiff auf eine vorgelagerte Insel fahren. Bootsfahrten, das war eine sichere Bank – denn sie gefielen mir einfach immer. Dort akklimatisierte ich mich, nahm einen Drink am Strand ein, wanderte umher und freute mich über die Möwenschwärme und die Einsamkeit in der Natur. Am Abend rollte ich noch einmal mit dem Fahrrad in den Hafen hinab, um zu essen. Ein Restaurant direkt am Meer, eine gegrillte Dorade, und ich stimmte mich ein. Ein paar Meter weiter spielte eine Live-Band Cover-Songs, und sie spielte richtig gut. Am Schriftzug des Ortes ließ ich noch ein Foto von meinem Rad und mir machen, und ein kleiner Junge kletterte dazu. Das war also der Start. Der erste Tag. Ich blieb, bis die Band ihren letzten Song gespielt hatte, tanzend. Ein guter Start. Wärme, Meer, Sportboote im Hafen, hohe Palmen über mir und der volle Mond.
Im Schlafsaal schreckte ich nachts um zwei hoch und dachte: „Wenn jetzt hier eine Corona hat, dann hab ich’s auch!“. Das wäre natürlich keine gute Wendung gewesen, alleine irgendwo in einem Hotel in Quarantäne zu verharren, ohne dass ich mich versorgen konnte. Und ich hatte ja auch etwas vor, für das ich einen leistungsfähigen Körper brauchte. Also legte ich vorsorglich bereits in der ersten Woche das Thema Mehrbettzimmer ad acta. Eines war klar: Den Erfolg der Reise wollte ich nicht fahrlässig gefährden. Ich sollte während der gesamten Zeit gut auf mich und meinen Körper achtgeben, vom Sonnenschutz über Covid-19-Prävention bis hin zum abendlichen Dehnen. Genauso erhielt mein Fahrrad ordentliche Pflege: Putzen, Luftdruck prüfen, Kette säubern und fetten. Diese Akribie und Voraussicht kannte ich gar nicht von mir, und so freute ich mich über diese neue Disziplin, die ganz von selbst und aus der Sache heraus entstand. Der Leitgedanke war: Wenn etwas schief geht, dann bitte so, dass ich nicht nachher eingestehen muss, dass es leicht vermeidbar gewesen wäre.
Am nächsten Tag startete ich früh in Richtung Westen, das Ziel lautete Aljezur an der Westküste Portugals. 109 Kilometer und 900 Höhenmeter durch die Algarve. Die Fahrt war schön und sie war heiß. Ich fuhr viel im Gelände, und manchmal musste ich schieben, denn bei ein paar Zentimeter tiefem Sand hatte man keine Chance mit dem schweren Rad. Mittags legte ich einen zweistündigen Stopp am Strand ein. Schwimmen im frischen Atlantik, abkühlen, ausruhen in der Sonne. Die Temperatur betrug deutlich über 30 Grad. Das Navigationsgerät im „Gravel-Bike“-Modus führte mich über kleine Wege, entlang an Feuchtgebieten und Seen, wo viele Vogelarten lebten. Ein hübsches Bild. Und ich sah einen Schwarm Flamingos dort stehen. Nicht wie man sie kennt, in rosa. Sie waren hellgrau gefiedert. Es machte mir Spaß, diese Fülle an Vögeln und Vogelarten dort vor Ort zu beobachten. Abends checkte ich in einem einfachen Vier-Sterne-Hotel ein, mit sehr leckerem Abendessen im Restaurant gegenüber. Das war doch schon ein guter und entspannter Beginn.
Und schon bog ich auf der großen Europakarte von der Südküste Portugals ab an die Westküste, unterwegs nach Norden. Diese Gegend hieß Alentejo, und sie war sehr schön. Die Touristenburgen, die es an der Algarve gab, waren verschwunden. Die Gegend einfacher und ursprünglicher. Es ging vorbei an Korkeichen, die wohl vor nicht allzu langer Zeit geerntet worden waren. Die mehrere Zentimeter dicke Rinde war vom Stamm geschält worden. Portugal ist weltweit einer der größten Produzenten von Kork, und die Korkproduktion dort umgekehrt ein relevanter Wirtschaftszweig. Die Bäume werden 150 bis 200 Jahre alt und können etwa alle zehn bis zwölf Jahre abgeerntet werden. Die Qualität des Korks hat in der zweiten, dritten und vierten Ernte ihren Höhepunkt, und der Rohstoff wird zum Herstellen von Flaschenkorken oder auch als Dämm- und Isoliermaterial verwendet. Der Boden in meinem Kinderzimmer war aus Kork, ebenso wie die Sohlen der Flip-Flops, die ich dabeihatte. Ein schönes Material, das sich auch gut anfühlte.
Diese Nacht war die erste in meinem Zelt, auf einem Campingplatz etwas über dem Meer, nach etwa 110 Kilometern Wegstrecke. Am Abend rollte ich noch zum Meer hinunter, ging barfuß über die Holzbohlen und an den Strand. Dort setzte ich mich bei untergehender Sonne in eine Strandbar auf einen Liegestuhl und streckte die Füße in den feinen Sand. Ein kleines kühles Bier namens „Super Bock“ neben mir am Tischchen. Die Welt war in Ordnung.
Die portugiesische Küche genoss ich in vollen Zügen. Überall gab es den wunderbaren typischen Milchkaffee, den Galão, frisch gepressten Orangensaft, und Pasteis de Nata, ein kleines Puddinggebäck auf Blätterteig. Oben drauf, wenn man mochte, eine Prise Zimt. Das Leben war preiswert, 7 Euro der Campingplatz, manchmal 1 Euro in der Bäckerei für einen kleinen schwarzen Kaffee und ein Pasteis de Nata. Die erste Fähre meiner Reise über den Fluss Sado nach Setúbal war mir gerade davongefahren. So hatte ich Freude, mir in einem schönen, gepflegten Eco-Resort bei kleinen Köstlichkeiten die Zeit zu vertreiben. Überhaupt erinnerte mich die portugiesische Küche in drei Punkten sehr an die ländliche Küche in meiner Heimat Franken: Viel, deftig und preiswert. Für Radfahrer eine passable Ausgangslage, denn ohne Motor, mit Rad und Gepäck im Gesamtgewicht von 30kg und mehr als 100 Kilometern im Tagesdurchschnitt wurde viel Energie verbrannt und musste ordentlich nachgeschoben werden.
Heute erreichte ich den ersten „Road Block“. Ich fuhr, wie mich das Navigationssystem leitete. Die Straße wurde immer schmaler, und plötzlich stand ich vor einer durchgängigen, fast hüfthohen Betonsperre vor einer kleinen Brücke. Die Brücke machte keinen guten Eindruck, sie sah sehr baufällig aus. Also versuchte ich es zurück auf die größere Straße. Dort stand ich dann in einem Kreisverkehr, und die einzige Strecke in meine Richtung war eine Schnellverkehrsstraße für Kraftfahrzeuge, explizit gesperrt für Radfahrer und Eselskarren, ausgebaut fast wie eine Autobahn. Das war also keine Option. Umfahrungen Fehlanzeige. Also zurück zur Brücke. Ich hievte das Rad mit dem Gepäck über die Betonabsperrungen und schob dort, wo es einigermaßen stabil aussah.
Ich beschwichtigte mich selbst wie gewohnt mit dem Gedanken „Das muss aus versicherungsrechtlichen Gründen abgesperrt werden, das heißt noch lange nicht, dass es gefährlich ist.“ Ob dieser Gedanke auch in Portugal zutreffend war, wollte ich mit mir selbst mangels Alternativen nicht weiter erörtern. Alles ging gut, die Piste war holprig, und ich fand erleichtert zurück auf eine gut befahrbare Straße.
An diesem Tag gab ich nach den Schlafsälen dann erneut etwas auf: Die Gravel-Bike-Funktion bei der Tourenplanung. Zwar war es schön, nicht nur über asphaltierte Straßen zu fahren. Zu oft jedoch landete ich in einem Gelände, wo der Weg entweder ganz verschwand, zur knöcheltiefen Sandpiste wurde oder so steil, dass nur noch Schieben möglich war. Bei aller Liebe. Das war nichts. Fortan also normaler Fahrradmodus und Straßen.
Nach 118 Kilometern in Villa Franca de Xira musste ich abends noch eine kleine Rolle rückwärts machen. Denn es stand im Umkreis vieler Kilometer leider nur eine Unterkunft mit kleinem Schlafsaal mit vier Betten in einem Hostel zur Verfügung. Er war mit drei Personen belegt. Eine Person lag bereits im Bett, als ich das Zimmer am Nachmittag betrat. Ein älterer Mann, der offensichtlich sehr erschöpft war und unruhig schlief. Ich machte mir ein wenig Sorgen. Diese Begegnung stellte meine erste Zusammenkunft mit Pilgern auf dem Jakobsweg dar. Auf Anraten eines Radfreundes von zu Hause hatte ich mir einen Pilgerpass besorgt, um auch problemlos unterzukommen. Ich wollte nicht schummeln oder günstigere Preise erschleichen. Er meinte, es gebe schlichtweg oft nichts anderes als Pilgerunterkünfte. Und da ich sowohl den gesamten Camiño Portugues zwischen Porto und Santiago als auch danach östlich von Santiago de Compostela am Camiño del Norte entlang der spanischen Küste fahren würde, hatte ich mir den Pass besorgt. Und wenn ich heute schon in einer Pilgerunterkunft gelandet war, dann wollte ich auch das Pilgeressen probieren. Ein großer bunter Salat als Vorspeise, ein Gericht mit Bacalhau, das ist eingesalzener, getrockneter Fisch, der dann zur Verarbeitung in Wasser wieder aufgeweicht wird, und ein Dessert. Dazu Wein und Wasser, alles für kleines Geld. Dass der Bacalhau, so etwas wie ein Nationalgericht in Portugal, mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit von einem Ort viele tausend Kilometer weiter nördlich stammte, sollte ich im Verlauf meiner Reise lernen. Denn Wochen später radelte ich durch diesen Ort, das Zentrum der Trockenfischproduktion in Europa: Die norwegischen Lofoten. Die Verarbeitung des Bacalhaus war in Portugal zwar stark verbreitet und entsprechende Gerichte auf jeder Speisekarte zu finden, allerdings kam die gesamte Ware aus dem Import vom Nordatlantik.
Am nächsten Tag führte die Strecke weg vom Meer und etwas landeinwärts. Lissabon war nicht mehr weit, und ich wollte es großräumig umfahren. Schon mehrfach hatte ich die Hauptstadt Portugals besucht, und dieses Mal wollte ich auf den Moloch der Großstadt möglichst verzichten. Denn ich freute mich mehr auf eine andere Stadt etwas weiter nördlich: Porto. Denn dort wurde ich erstmals auf der Reise erwartet, von Jila und ihrer Familie, bei der ich zwei Nächte verbringen würde. Im Landesinneren wurde es heiß, und landschaftlich herausragend schön. Platanenalleen verschatteten kleine Landstraßen. Vom Verfall bedrohte, morbide Herrenhäuser säumten den Weg. Weite bunte Wiesen blühten in Gelb, Weiß und mit feuerrotem Mohn, durch sie schlängelten sich kleine, kaum befahrene Straßen. Sanfte, bewaldete Hügel lagen des Wegs. Die Straße kroch durch den Wald hinauf, und sie wurde zuletzt derart steil, dass meine Übersetzung nicht mehr standhielt. Oder vielmehr die Kombination aus Übersetzung und meiner Kraft und Kondition. Ich stieg also ab und schob. Das war ein Glücksfall, denn so sollte ich eine große, wunderschöne Bienenragwurz am Straßenrand sehen. Diese Orchideenart kommt in unseren Breiten äußerst selten vor, und die Blüte leuchtete wunderschön. Sie ahmte eine Biene nach, um von eben solchen zur Bestäubung angeflogen zu werden. Über diesen Fund freute ich mich sehr, denn er erinnerte mich an meine Mutter, die mir von klein auf die Wunder der heimischen Botanik ans Herz gelegt hatte. Es war nicht die letzte Bienenragwurz dieser Reise, denn es gab im Vergleich zu Deutschland in Portugal um diese Jahreszeit viele Orchideen zu entdecken. Doch sie war die erste und blieb die schönste, die ich auf der Reise sah. Mal standen ein paar vereinzelte Knabenkräuter, mal eine ganze Wiese voll mit vielen verschiedenen Orchideenarten, mit Bienen-Ragwurzen, kleinblütigem Zungenstendel, Sommerwurzen, Pyramidenknabenkraut. Viele Flächen blieben hier einfach natürliche Wiesen, nicht gemäht und offenbar hatten sie auch noch keine Herbizide gesehen, so dass sie wild und bunt vor sich hin blühten. Ein herrlicher Anblick. Als ich endlich auf den Gipfel der Kuppe geschoben hatte, stieg ich wieder auf und rollte auf dem Rad den Berg auf der anderen Seite hinunter.
Ich sauste hinab und kam alsbald in eine Kleinstadt, und plötzlich stand ich unvermittelt an einer riesigen Kirche und Klosteranlage mitten im Ort. Überraschungen waren eine der wunderbaren Seiten des Radwanderns. Mit dem Weg als Ziel kommen Radreisende oft an Orte, die sie sonst nicht angesteuert hätten. Auf dem Weg warteten wahre Kleinode und Schätze, off the beaten track. Und wenn man ohne große Vorab-Planung unterwegs war, fand man diese Schätze auch ganz spontan, wie nun die Klosteranlage von Alcobaça, Weltkulturerbe der Unesco seit 1989 und eine der schönsten und berühmtesten Klosteranlagen Portugals. Gerne nahm ich mir die Zeit und besuchte das Zisterzienserkloster, was sich sehr lohnte. Das wuchtige hohe Kirchenschiff empfing in schlichter Schönheit, unbemalt, und wirkte einfach beruhigend, auch als kühle Oase in der flirrenden Hitze. Ich betrachtete die Kirche, und im vorderen Raum stieß ich auf ein reich verziertes und kunstvoll gestaltetes steinernes Grab. Es erinnerte mich an das Kaisergrab Heinrichs und Kunigundes im Dom meiner Heimatstadt Bamberg. Doch hier war nur eine Person begraben, kein Liebespaar. Auf der gegenüberliegenden Seite des Kirchenschiffs jedoch befand sich ein zweites reich verziertes Grab. Schon im Hinübergehen dachte ich mir: „Das muss ein Paar gewesen sein…“. Hier lag tatsächlich eine Frau.
Pedro auf der einen Seite, Ines einmal quer durchs Kirchenschiff gegenüber. Und tatsächlich handelte es sich um eine tragische Liebesgeschichte zwischen den beiden, wegen derer Ines sogar ermordet wurde. Sie endete im Jahr 1360 in der skurrilen Begebenheit, dass Ines Leichnam exhumiert und bekleidet in Krönungsgewändern neben dem lebendigen Pedro auf dem Thron saß. Der Hofstaat musste Ines‘ kalte Hand küssen und ihr die Treue schwören, bevor sie wieder beigesetzt wurde. So befinden sich im Kloster nun die beiden Sarkophage von König Pedro und der rechtmäßig anerkannten Königin Ines gegenüber. Angeblich so angeordnet, damit sich die beiden bei der Auferstehung direkt in die Augen sehen können.
Ein weiteres Highlight des Klosters stellte die Küche dar. Die hellen Farben der Kacheln und der kühne Schwung des Rauchabzugs erinnerten an Art Deco, eine wahre Überraschung mitten im mittelalterlichen Kloster. Der Kreuzgang mit seiner grünen Pflanzen-Oase war herrlich erholsam und die kunstvollen Azulejos (mit einem warmen, summenden s beim z und einem warmen, summenden sch beim j, und wieder einem warmen, summenden s am Ende) eine wahre Pracht. Ich mochte diese Kacheln sehr, die die Mauren einst mitgebracht hatten, das Wort stammt aus dem Arabischen und bedeutet so viel wie „poliertes Steinchen“. Im Kloster erzählten sie ganze Geschichten, kobaltblau auf weißem Grund. Zunächst nur in Palästen, Klöstern und Adelshäusern zu finden, eroberten sie nach und nach auch die Außenfassaden städtischer Häuser, meist in weiß und blau. Die Farben wurden mehr, und die Kacheln reliefartig, das machte Straßenzüge bunt, und immer gab es etwas zu entdecken. Die Portugiesen lieben bis heute ihre Azulejos.
Am Abend bezog ich ein sehr schönes Zimmer in Marinha Grande, nach 105 Tageskilometern und etwa 1100 Höhenmetern.
Der fünfte Fahrtag meiner Reise führte mich zuerst auf eine Wiese voller Orchideen, vier verschiedene Arten konnte ich ausmachen. Auch die Fauna hatte es heute in sich. Erst begegnete ich einem wunderschönen Schwalbenschwanz, ein großer Schmetterling, der geschützt ist, und den ich schon Jahre nicht mehr gesehen hatte. Dann kam der Höhepunkt hinsichtlich der Störche. Jeden Tag begegneten mir viele. Auf Gebäuden, auf Masten, auf verfallenen Häusern. Einmal, als ich mich um 360 Grad um meinen Standpunkt drehte, hatte ich neun Nester im Blick. Doch das sollte heute noch getoppt werden: Auf einem einzigen Mast einer Überlandleitung befanden sich 26 Storchennester an der Zahl. Und auf dem nächsten Mast wurde genauso fleißig genistet.
An diesem Tag war noch ein kleiner Umweg eingeplant, für den ich neben etwa 50 Mehrkilometern auch einige Höhenmeter zusätzlich überwinden musste. Ich wollte in die altehrwürdige Universitätsstadt Coimbra, das Qxford Portugals. Das hatte einen Grund, denn noch bevor ich mich auf die Reise machte, fragte mich die Leiterin meiner Bücherei im kleinen Ort Gundelsheim, wie es denn stünde mit einem Vortrag über meine Reise. Ich hatte ihr gar nicht davon berichtet, aber einige ehrenamtliche Helferinnen wussten über das Vorhaben Bescheid. So hatte es sich wohl herumgesprochen. Natürlich freute ich mich riesig. Und heute wollte ich nach Coimbra, um den Damen von dort eine Postkarte zu senden. Denn in der Universität von Coimbra befindet sich die schönste Bibliothek des Landes. Auf drei Stockwerken, mit in verschiedenen Farbtönen gehaltenen Sälen und kunstvoll geschnitzten Regalen aus Rosen- und Ebenholz. Hier atmete das Wissen auf dem Stand des 16.- bis 18. Jahrhunderts. Denn aus dieser Zeit stammten die meisten der Bücher. Falsche Türen und lustige Leitern erinnerten an Harry Potter. Es war ein lohnender Abstecher hierher. Draußen feierte gerade eine Gruppe Studenten in schwarzen Talaren fröhlich ihren Abschluss. Ein schönes Gruppenbild für die Abschlussklasse, mitten auf dem weiten Hof der Universität, hoch über dem Tal des Mondego.
Kurz vor meiner Unterkunft, einem einfachen, sauberen Motel, fuhr ich mir einen Reißnagel in den Reifen. Leider ließ ich ihn nicht stecken, sondern zog ihn ohne nachzudenken sogleich aus Reifen und Mantel, was den schnellen Totalverlust aller Luft zur Folge hatte. Ich schob noch 700 Meter in die Unterkunft und entschied mich dann erst einmal für ein Abendessen im Grillrestaurant nebenan. Ich aß viel, fettig und deftig. Zwei Tische neben mir saß ein Mann. Wir wechselten ein paar Worte auf Deutsch, er war Pilger aus der Nähe von Ingolstadt. Ich lud ihn ein, sich zu mir zu setzen, was er nicht ganz freudig annahm, er trottete an den Tisch. Er taute dann doch auf, als er enthusiastisch von seinen Erlebnissen auf dem Jakobsweg berichtete. Es war schon das vierte Mal, dass er auf dem Jakobsweg pilgerte, er war etwa Mitte 50, seine Frau und Töchter konnten seine Leidenschaft nicht nachvollziehen. Er jedoch war ganz beseelt. Zum Schluss riss er noch den kurzen Ärmel seines T-Shirts nach oben und zeigte stolz seine Tätowierung einer Jakobsmuschel mit den Daten der vier Wege, die er schon gegangen war. Was heilt, hat Recht, dachte ich mir mit einer gewissen innerlichen Distanz. Aber im Grunde war es ja so, und wenn er und seine Familie alle zufrieden waren – weh tat er niemandem in seinem Enthusiasmus. Außer vielleicht sich selbst, denn er hatte Probleme mit den Fußgelenken, die schon ordentlich geschwollen waren. Er war aber klug genug, die folgenden Etappen mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen zu wollen und sich zur Erholung ein paar Tage am Strand weiter nördlich auszukurieren.
Heute war der Tag, an dem es zu Jila und ihrer Familie gehen würde. Ich freute mich schon darauf, ein bekanntes Gesicht zu sehen, darüber, erwartet zu werden, auf den Familienanschluss. Und ich freute mich auch auf einen Tag Verschnaufpause, Wäsche zu waschen, und Porto zu besuchen mit jemandem, der die Stadt gut kennt.
Aber zuerst reparierte ich meinen platten Reifen. Unterwegs fand ich dann einen Fahrradladen und war froh, dass ich zwei neue Schläuche kaufen konnte – als Reserve. An diesem Tag wurde es bis zu 39 Grad heiß. Nach etwa 100 Kilometern kam ich am Strand und beim Kindergeburtstag an, denn Jilas Tochter wurde heute 2 Jahre alt.
Die Geburtstagsgesellschaft empfing mich herzlich. Das war eine Situation, die ich im Lauf der Reise noch oft erleben sollte: Ich wurde bestaunt und bewundert wegen des Projektes und der Leistung auf dem Rad. Das Wort „Bewunderung“ hörte ich oft und in verschiedenen Sprachen. Diesmal war es eine Freundin von Jila, die mit ihrer Familie ebenfalls Teil der Geburtstagsgesellschaft war. Sie löcherte mich mit Fragen, als ich ankam. Ich ging erst einmal ins Meer, um den Schweiß loszuwerden und um mich abzukühlen. Dann gewöhnte ich mich langsam an die Gesellschaft, denn ich hatte jetzt viele Tage kaum Menschen um mich gehabt. Jila und ich freuten uns über das Wiedersehen, es war lange her, seit wir uns zuletzt getroffen hatten. Wir haben vor mehr als 10 Jahren gemeinsam in Berlin im gleichen Büro gearbeitet. Danach führten uns die Wege auseinander, sie nach Wien, und mich nach Franken. Es war schön am Strand, und wir hatten einen entspannten Abend. Jila hatte wunderbar gekocht, persisch, ihr Vater stammte aus dem Iran, und ich aß und aß, es war zum Glück genug für alle da. Die Wohnung ihres Partners war riesig, im obersten Stock gelegen, und von jedem Zimmer aus konnte man das Meer sehen. Die Türknäufe in der Wohnung waren große Kristallkugeln. Daran hing nun an einem Kleiderbügel eine meiner Fahrradhosen zum Trocknen. Ich schlief im Kinderzimmer des fünfjährigen Sohnes, der mir am nächsten Tag eine große Hilfe dabei sein sollte, das Rad wieder auf Vordermann zu bringen.
Morgens ging es dann also an die Fahrradpflege: Der Arm einer Lampe im Innenhof hatte genau die richtige Höhe und wurde zum Montageständer umfunktioniert, an ihm baumelte am Sattel mein Rad. So konnte ich es bestens putzen, Kette und Pedale drehten sich frei zum Säubern der Rädchen, Kette, Ritzel und zum anschließenden Fetten. Ein bisschen schrauben musste ich auch, und mein junger interessierter Assistent suchte aus dem Mechaniker-Set das, was ich brauchte, zusammen.
Wir führten gute Gespräche. Der Vater der Kinder erzählte mir einiges aus Portugal, dass er auch das Alentejo sehr mochte, welch gute Weine am Fluss Douro wuchsen, wie stark der Tourismus und mit ihm die Preise angezogen hatten in letzter Zeit. Er liebte sein Land, das war ganz offensichtlich.
Am Folgetag besuchten wir Porto und es gefiel mir außerordentlich gut. Mann und Tochter waren zu den Großeltern gefahren. Jila, ihr Sohn und ich machten einen Abstecher in die Stadt. Wie hübsch sie war, sehr bergig, mit vielen Azulejos an den Häusern. Der Bahnhof war einer der schönsten, die ich je gesehen hatte, Jugendstil, in gelb-weiß und mit blau-weißen Kacheln. Ohne die elektronische Anzeigentafel hätte man denken können, man wäre in einem prunkvollen Bahnhof einer reichen Stadt, zu einer Zeit, in der Autos und Flugzeuge noch keine große Rolle spielten. Selbst die Filiale eines bekannten Schnellrestaurants war sehenswert wie ein Denkmal. Wir stromerten durch die Stadt, sahen uns die Kathedrale an, und am Abend kredenzte mir der Herr des Hauses noch einen wunderbar weichen Portwein. Alles war gut. Nach dem Ruhetag hatte ich wieder ein schönes Ziel, denn eine Freundin von Jila betrieb eine außergewöhnlich schöne Pilgerherberge an der Grenze zu Spanien. Es war ein sehr weiter Weg mit über 137 Kilometern, vor dem ich schon ordentlich Respekt hatte. Zu meiner Vorbereitung gehörte inzwischen allerdings auch der Blick auf die Windvorhersage. Da dieser ausnahmsweise nach Norden wehen sollte, und dies auch relativ kräftig, wagte ich es und buchte mich ein. Es war schön, erwartet zu werden und zu wissen, man kennt sich, wenn auch nur über Eck.
Auch die Beinahe-Begegnungen mit Nachbarn aus der Bamberger Maternstraße, Mutter und Tochter, die gerade dort auf dem Jakobsweg unterwegs waren, taten gut. Zwar hatten wir uns auf der Strecke verpasst, aber wir blieben in Kontakt, schickten einander Bilder, kommentierten und teilten Empfehlungen. In Julias Herberge, der Albergue Quinta Estrada Romana sind die beiden ein paar Tage nach mir abgestiegen, und es hat ihnen - glaube ich - genauso gut gefallen wie mir. Es war schön, auch in der Fremde vor Ort verbunden zu sein.
Nun ging es also weiter, Umarmen bei Jila, Verabschieden, Aufbruch mit Rückenwind und in dicken Wolken. Über den Douro in Meeresnähe wurde die im Navi angezeigte Fährverbindung nicht bedient, also deutlich Extra-Kilometer in Richtung City, über den Fluss via Fußgängerbrücke und wieder am Fluss entlang in Richtung Meer. Der Weg nach Norden war wettertechnisch durchwachsen. Wunderschön ging es immer am Meer entlang, ausschließlich über Radwege. Mal durch Städtchen, mal in Buchten, immer der Atlantik, immer Wellen. Wellenreiter versuchten ihr Glück. Und ich konnte eine kleine Wolkenlücke mit Sonne für ein Getränk in einem Kiosk-Lokal direkt am Meer nutzen. Hier saßen um diese Jahreszeit fast ausschließlich Einheimische.
Das Meer war zu meinem Begleiter geworden. Ich liebte es in allen seinen Formen. Ob stürmisch, sanft, oder wie hier mit hohen Wellen. Für die Tour hatte ich mir den Atlantik als Begleiter gewählt, denn schon immer war ich fasziniert vom wilden Meer. Von der Vorstellung, dass da tausende Kilometer weit nichts mehr kommt und dann Amerika. Die Badewanne Mittelmeer ist auch schön, mir ihren kleinen Wellen und den vielen Menschen, die sich an den Stränden tummeln. Aber hier, das war einfach speziell. Rau. Gewaltig. Oft tosend und tobend, mit hohen Wellen, Gischt und Salz in der Luft. Mit langen Stränden, an denen es einsam wurde, sobald das Wetter nicht zum Sonnen einlud. Das Meer fiel am Atlantik zum Teil schnell in extreme Tiefe, wie später in Norwegen, wo ich aufgrund dieser geografischen Besonderheit den größten Meeressäugern, den Walen, begegnen durfte.
Heute nördlich von Porto jedenfalls war es wechselhaft. Am Vormittag hatte ich dann einen kleinen Sturz: Ich rollte auf einen Zebrastreifen zu, ein Auto kam, und da ich unsicher war, ob es anhalten würde, bremste ich im letzten Moment und kam nicht mehr rechtzeitig aus den Klickpedalen. Da lag ich wie ein Käfer auf der Seite am Beginn des Zebrastreifens, gut geschützt durch die Packtaschen. Es war nichts passiert. Das Auto, von dem ich mir nicht sicher war, ob es anhalten würde, rollte auf einen Parkplatz, beide Personen stiegen aus und kamen auf mich zu, ebenso ein Herr im besten Anzug von der anderen Seite. Alle hatten Sorge, ob mir etwas passiert sei und kümmerten sich. Ich merkte, dieser Sturz war kein Zufall.
Ich war einfach etwas unsicher. Für mich war das auch ein dickes Brett zu bohren, zu Beginn einer so langen Reise, alleine, und da bewegte ich mich einfach noch wacklig. Ich fuhr insgesamt noch nicht frei und beherzt, sondern vorsichtig und extrem strukturiert. Die Struktur, die ich mir selbst gab, lautete „6 Tage fahren, ein Tag Pause“. Im Schnitt mehr als 100 Kilometer am Tag. Zwei Wochen hielt ich das durch. Danach wich die Struktur dem Gefühl und den Umständen. Distanzen und Ruhetage wurden bestimmt durch äußere und innere Faktoren – Wetter, Terrain, Sehenswürdigkeiten, Körpergefühl, Freude am Fahren. Das war viel besser und freier und lockerer, und am Ende des Tages schaffte ich sogar mehr als streng nach Plan. Wieder etwas, das ich zu Beginn dieser Reise aufgab: Nach den Schlafsälen und dem nicht asphaltierten Untergrund nun die strengen Tages- und Wochendistanzvorsätze.
Das letzte, was ich ebenfalls in dieser Woche aufgeben sollte, hätte ich vor der Reise nicht für möglich gehalten. Immer, sozusagen Mindeststandard, und auch sehr kritisch beäugt bei anderen, war für mich das Thema frische Radkleidung. Ich hatte bislang keinerlei Verständnis dafür, wie jemand Radsachen noch ein zweites Mal anziehen konnte, nach einem ganzen Tag Aktivität darin. So etwas machten in meinen Augen nur Männer mit einem leichten Hang zu strengen Gerüchen und einem Bein in Richtung Obdachlosigkeit. Und dann… Drei Trikots und Radhosen im Gepäck, mühsame und zeitintensive Handwäsche, bei feuchtem kühlem Wetter mit Problemen, die Sachen über Nacht trocken zu bekommen: Gehörte ich plötzlich dazu, zur Gemeinschaft der Menschen, die der Meinung waren, dass Radtrikots und Radhosen auch noch ein zweites Mal getragen werden können.
Im Lauf des Tages regnete es häufiger, so auch am Nachmittag, wo ich in einem kleinen Städtchen Pause machte. Ich besorgte eine Briefmarke für meine Postkarte an die Bücherei, warf die Karte ein, und suchte mir dann ein trockenes und warmes Plätzchen. In einem Bäckerei-Café bestellte ich zwei Kuchenstücke, eines mit viel Pudding, eines mit viel Schokolade und einen schönen heißen Galão. Ich war wieder aufgewärmt und schon ging es weiter. Am Nachmittag lugte die Sonne aus den Wolken heraus, und mit ihr zog ein unglaublich starker Rückenwind auf. Ich setzte mich gefühlt einfach nur aufs Rad und ließ mich nach vorne blasen. Allein dieses Erlebnis war schon fantastisch und bereitete mir helle Freude. Denn Geschwindigkeit, hier auf dem Rad, mit Wind um die Nase, das mag ich.
Der Weg war abwechslungsreich. Breite Radpromenaden führten durch Parkanlagen hindurch am Meer entlang, kleine Städtchen lagen malerisch in Buchten, Schatten unter Bäumen auf Radwegen mit Blick auf Wasser und Wellen. Und dann kam eine wunderschöne Ecke, bei der mir das Herz aufging. Kurz bevor der Rio Minho ins Meer mündet, erblickte ich eine wunderschöne Bucht. Weit, mit Sandstrand, am anderen Ende ein spitzer Berg, im Wasser eine Burg. Sukkulenten am Wegrand standen in bunter Blüte. Welch ein schöner Ort. Wieder einer der Momente, für die sich diese Reise lohnte.
Als ich dem Meer den Rücken kehrte und am Rio Minho entlang ins Landesinnere rollte, lagen gleich zu Beginn ein paar lustige bunte Boote im Wasser. Dann ging es wieder ausschließlich am Radweg entlang noch etwa 30 Kilometer flussaufwärts. Hinein ins Landesinnere zu Julias Herberge. Zuletzt drohte wieder heftiger Regen, aber er erwischte mich nicht. Nach 156 Kilometern kam ich an, bezog das wunderschöne Einzelzimmer in einem historischen, freistehenden Gebäude, frisch und liebevoll renoviert. Nach der Dusche fühlte ich mich prächtig und das Abendessen wurde ebenfalls zum Erlebnis. Denn es gab ein gemeinsames Mahl, vegetarisch, so dass alle gut „bedient“ sind, zu fester Uhrzeit, an langer Tafel. Und jeder Gast gibt, was er kann und möchte. Der lange Tisch war schön gedeckt, mit blau-weißer Tischdecke, verschieden großen Tellern, Wein- und Wassergläsern und Oliven. Zum Start gab es Gemüsesuppe.
Am Tisch: neun Menschen, Pilgerinnen und Pilger, aus allen Ecken Europas und darüber hinaus. Eine junge, lebendige Frau aus Israel mit vielen dunklen Locken, die das zweite Mal den Jakobsweg ging und sich erkundigte, ob sie gegen Ende ihrer mehrmonatigen Reise zwei Wochen in der Herberge helfen könne. Ein älterer, zurückhaltender und feiner Herr aus Frankreich. Eine junge Frau aus Irland, die fürchterliche Blasen an den Füßen hatte. Ein erwachsener Sohn und sein Vater aus Deutschland, die ein bisschen schummelten und zwischendrin das Taxi nahmen. Ein etwas esoterisch aussehender junger Mann aus Tschechien mit Vollbart und langen Haaren, der meistens vor der Türe stand und selbstgedrehte Zigaretten rauchte. Und ein älterer Mann aus Österreich, auch Mehrfach-Pilger, der lange im Ausland gelebt hatte. Am Kopfende: Julias Mann, Portugiese, er hatte für uns gekocht. Und ich, die Einzige, die nur zufällig auf dieser Pilgerstrecke des Jakobswegs unterwegs war. Der Abend startete lebendig. Nach großen Bergen Spaghetti mit Tomatensauce, viel Wein und einem leckeren Dessert rutschte das Gespräch dann doch noch in eine Richtung, an der sich die verschiedenen Meinungen auftaten. Ich glaube, es ging um Impfungen, und ob sie Sinn machten, ganz generell. Ich war Befürworter, die meisten stiegen unterwegs aus dem Gespräch aus, und der österreichische Weitgereiste berichtete am Schluss, dass er mehrfach den Krebs überwunden hatte und es für ihn einerlei sei, ob man im Auto angeschnallt sei oder nicht: Das Schicksal entscheide. Die junge Frau aus Israel versuchte noch ein wenig zu vermitteln. Einen Konsens gab es am Ende des Abends erwartungsgemäß nicht, so dass wir uns alle gesättigt, aber nicht in derselben schwärmerischen Seligkeit des gemeinsamen Pilgerns, zurückzogen.
Am nächsten Tag entfernte ich dann den Jakobsweg-Aufkleber, der mir mit dem Pilgerpass zugesendet worden war, von meiner Packtasche. Er passte farblich toll, in seinem Blau und seinem Gelb. Ich zog ihn ab, denn ich war einfach keine Jakobsweg-Pilgerin. Nichtsdestoweniger sollte ich in Nordspanien, bei strömendem Regen an einem langen Anstieg doch noch so etwas wie eine Eingebung haben. Man könnte auch sagen, eine Gotteserfahrung. Ich fuhr durchnässt und strampelnd in den denkbar widrigsten Bedingungen innerlich zufrieden und guter Dinge den Berg hinauf. Und dann schälte sich ein Gedanke ganz klar und mächtig und bestimmend aus dem Strom der vielen Gedanken heraus. Er wurde zu etwas Absolutem, Klarem, zu einem Leitsatz. Er lautete: Glaube, Liebe und Hoffnung sind etwas Gutes. Dieser Gedanke stand da, warm, trocken, und so, dass ihm nichts etwas anhaben konnte. Kein lakonisches „wer’s glaubt, wird selig“. Kein sarkastisches: „Die Hoffnung ist ein mieser Verräter“. Kein sabotierender Gedanke zum Thema Liebe, derer ich viele kannte, wie zum Beispiel „Liebe macht blind“. Nein.
Glaube, Liebe und Hoffnung sind gute Dinge. So war es, so ist es und so sei es.
Tags darauf nach dem einfachen Frühstück hielten Julia und ich noch einen ausgiebigen Schwatz. Julia kam wie Jila aus Deutschland und war mit einem Portugiesen verheiratet. Auch sie hatte mit ihrem Mann zwei kleine Kinder. Der Ort, das Tun, die Worte – alles war stimmig, Julia wirkte angekommen und zufrieden in diesem neuen Leben. Das war schön.
Schon nach drei Kilometern, wieder im Regen, der nächste platte Reifen. Na prima. So war das nun mal. Reparieren, weiterfahren. Nach wenigen Kilometern überquerte ich den Rio Minho, der gleichzeitig die Landesgrenze darstellte. Nach dem Fluss fotografierte ich mein Rad, nach etwa 800 Kilometern, stolz vor dem ersten neuen Länderschild.
Gleich am Fluss lag Tui. Die Stadt sah schön aus mit ihrer imposanten Kathedrale auf einem Hügel. Da ich relativ viel Zeit verloren hatte, entschied ich mich, weiterzufahren. Das Wetter war ungemütlich, und ich wollte nicht auskühlen. An diesem Tag fuhr ich hinein nach Galicien, und es wurde ordentlich bergig. Bis nach Santiago de Compostela schaffte ich es an diesem Tag nicht, die Kombination aus Mistwetter, anspruchsvollem Höhenprofil und Start erst gegen 11 Uhr nach dem Ratsch und der Reifeninstandsetzung ließen mich schon vor Santiago eine Herberge suchen. Die Wahl fiel auf ein gut bewertetes historisches Landgut. Dorthin ging es noch einmal steil nach oben, und ich musste zudem einen Moment heller Angst überwinden. Kurz bevor ich in dem abgelegenen Weiler anlangte, schoss ein Rudel mittelgroßer Jagdhunde laut bellend auf mich zu. Der Besitzer am Ende der Wiese rief sie zurück, jedoch ohne jeden Effekt. Einer der Hunde kam so nah, dass ich fürchtete, dass er im nächsten Moment einen Satz in Richtung meiner Wade machen würde. So nah, dass ich intuitiv nach ihm trat. Ich traf ihn zum Glück nicht, er ließ von mir ab.
Oft wurde ich gefragt, ob ich mich einmal in Gefahr gefühlt hätte auf meiner Reise, üblicherweise von älteren Menschen. Meist hatten sie im Kopf, dass einem als allein reisender Frau allerhand passieren könne. Vor meiner Reise sagte ich beschwichtigend und aus tiefer Überzeugung: „Mir kann nichts passieren, was mir nicht auch zu Hause passieren kann. Und ich habe mir aus gutem Grund Westeuropa herausgesucht, und nicht Pakistan.“ Diese Einschätzung sollte sich als richtig erweisen. Mir passierte überhaupt nichts. Ein paarmal hatte ich tatsächlich Angst: Im Straßenverkehr, wenn mir die Autos zu nahe kamen. Hier habe ich etwa 30 Kilometer Schnellstraße in Portugal in schlechter Erinnerung. Eng, ohne Randstreifen, mit LKW, die haarscharf vorbeidonnerten. Radfahrer waren in Portugal ohnehin eine Seltenheit, vor allem über Land. Ich konnte selbst nichts tun, außer möglichst schnell zu fahren, um der Gefahrenzone zu entweichen, und mir selbst gut zuzureden, dass mich ja alle sahen und schon Rücksicht nehmen würden, falls es eng wurde. Und nach dem Straßenverkehr waren Hunde, nicht angeleint, laut bellend und schnell auf mich zuschießend, der zweite Auslöser von Angstmomenten. Sonst: Nichts.
In dem Landgut etwa 20 Kilometer vor Santiago de Compostela gab es sogar einen kleinen Pool. Die jungen Besitzer waren ausnehmend freundlich und zauberten mir noch ein einfaches und sehr anständiges kaltes Abendessen aus Salat und einer Brotzeitplatte a la España: Chorizo, Manchego, Oliven und herrlicher luftgetrockneter, dunkelroter Jamon. Ich kam gegen Abend an und fand im historischen gemütlichen Zimmer mit Bad erst einmal etwas, das unverhofft zum Höhepunkt des nassen, anstrengenden Tages werden sollte: Eine Badewanne. Es ist quasi unbeschreiblich, wie sehr einfache Dinge zu einer großen Freude werden können, weil sie genau in diesem Moment ungefähr das beste sind, was einem widerfahren kann. Wie eine heiße Wanne nach einem nassen, kalten Tag auf dem Fahrrad. Oder Zeitungspapier, mit dem man seine durchweichten Schuhe ausstopfen kann. Alter Stoff, um das Rad gut putzen zu können, und dergleichen einfacher Dinge mehr.
Am nächsten Morgen zeigte mir die junge Besitzerin noch stolz Teile des Landguts: eine typisch galizische, alte steinerne Dörrkammer, vom Grundriss her nicht größer als ein Sarg, überdacht, die langen Seitenwände aus Latten, die eng montiert waren, aber die Luft durchließen. Sie erklärte mir, dass darin zum Beispiel Mais zum Trocknen und Konservieren aufgehängt wurde. Eine weitere Sehenswürdigkeit war ein kreisrundes, fensterloses Gebäude, das nur knapp unter dem Dach einige wenige Auslässe hatte. Innen war eine Art steinernes Regal bis unter die Decke gebaut, rundherum im Kreis. Mit kleinen, quadratischen Fächern, in denen nun Wein gelagert wurde. Es war eines von sehr wenigen Gebäuden seiner Art in ganz Galicien, ein alter Taubenschlag.
Dann fuhr ich los in Richtung Santiago de Compostela. Das Wetter war geringfügig besser. Ich erreichte die Stadt auf einem Hügel, schob mein Rad etwas durch die belebten Straßen, erfreute mich an den Schaufenstern voller Pilgertand und lokaler Spezialitäten, von Jakobsmuscheln in Schokolade bis Bocadillos, aus denen lang und appetitlich die dünnen Scheiben iberischen Schinkens heraushingen. Die Kathedrale wirkte sehr imposant, schon von außen. Mein Rad duckte sich klein und ehrfürchtig unter der reich verzierten Fassade. Der Innenraum strahlte in Gold und Silber, prunkvoll und überladen, mit einem Meer von Opferkerzen. Die Atmosphäre in der Kirche gefiel mir, so blieb ich sinnierend ein Weilchen und zündete auch eine Kerze für meine Verstorbenen an. Lustigerweise war die Kathedrale von Santiago de Compostela der einzige Ort meiner Reise, an dem im Sommer 2022 eine Maske getragen werden musste.
Am Abend checkte ich in einer der einfachsten Unterkünfte meiner Reise ein. Mitten auf dem Land, in einem Ort namens Guitiriz. Eine Menge sehr einfacher Zimmer mit Nasszellen. Ein riesiger Saal für große Gesellschaften. Zimmer mit Halbpension für 50€. Und von entsprechender Qualität war dann auch das Essen – Preis niedrig, Qualität niedrig. Die Quantität hingegen ließ keine Wünsche offen. Eine ganze Flasche etikettenlosen Rotweins wurde mir auf den Tisch gestellt und dann ging es rund, viel, heiß, fettig, Fleisch. Einerlei, „der Hunger treibt’s nei“ (Sprichwort aus Franken). An diesem Abend überkam mich ein wenig die Einsamkeit. Das war nicht das einzige Mal in Spanien, und ich bemerkte später auch, woran das lag. Es war die Sprache, die ich nicht beherrschte, und die Tatsache, dass kaum jemand Englisch sprach. Ich konnte mich schlichtweg mit niemandem verständigen. Die Iberer wirkten auf mich auch ein wenig hart und verschlossen, nach dem drolligen Portugiesisch mit seinen Zischlauten kam mir das Spanisch hart wie eine Maschinengewehrsalve vor.
Am nächsten Tag ging es weiter hindurch an die Nordküste. Der Tag wurde anstrengend, es war bergig, und immer wieder regnete es. Dennoch freute ich mich darüber, dass ich nun wieder an der