Aufgreifen, begreifen, angreifen - Band 2 - Rudolf Walther - E-Book

Aufgreifen, begreifen, angreifen - Band 2 E-Book

Rudolf Walther

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Beschreibung

Wie der erste Band enthält auch dieser Texte aus den letzten 18 Jahren von Rudolf Walthers Tätigkeit als Publizist, Kolumnist und Sachbuch-Kritiker: aufklärende historische Essays, Porträts gegen das Vergessen, ins Grundsätzliche gehende politische Kommentare jenseits des tagespolitischen Handgemenges sowie Verrisse von Sachbüchern. Der Titel - "Aufgreifen, begreifen, angreifen" - ist der gleiche geblieben. Erstens fanden ihn viele Leserinnen und Leser treffend und zweitens merkte Walther selbst erst bei der Zusammenstellung der Texte für diesen und die folgenden Bände, wie präzise er seine Schreibhaltung beschreibt: "Ich möchte mit meinen Arbeiten begreifen, was ich als Thema aufgreife oder was mir von Redaktionen an Themen zum Aufgreifen angeboten wird. Im Prozess des Begreifens des Aufgegriffenen spielt das kritische Moment - das Angreifen von Positionen, Institutionen, Bräuchen und Personen, kurz ›der böse Blick‹ (Adorno) jeder angemessenen Gesellschaftskritik - eine wesentliche Rolle. Das Begreifen - einen Sachverhalt auf den Begriff zu bringen - funktioniert als Scharnier zwischen dem Aufgreifen eines Themas und der Adressierung von Kritik, Reflexion und Würdigung."

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Walther

Aufgreifen, begreifen, angreifen

Band 2

Rudolf Walther

Aufgreifen, begreifen, angreifen

Band 2

Historische Essays, Porträts, politische Kommentare, Glossen, Verrisse

Essay 19

© 2012 Oktober Verlag, Münster

Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung des

Verlagshauses Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster

www.oktoberverlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Britta Gerloff

Umschlag: Thorsten Hartmann

Umschlagmotiv: Chiara Mangia

unter Verwendung mehrerer Fotos von Okea/istockphoto.com

Herstellung: Monsenstein und Vannerdat

ISBN: 978-3-941895-30-0

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

Inhalt

Vorwort

I Historische Essays

1 Verantwortungsethik als Passierschein zur Macht

2 Nachruf auf Totgeburten: Bindestrich-Gesellschaften

3 Kriegs- und Bürgerkriegspropaganda

4 »Volkstrauertag«: Normalisierung im Geist nationaler Verlogenheit

5 »Les Temps modernes« wurden 50 – »Es gibt nur noch beschädigte Ideen«

6 Mai ’68 in Frankreich

II Porträts gegen das Vergessen

1 Jürgen Habermas und seine Gegner

2 Pierre Bayle und die Geburt der Aufklärung

3 Michel de Montaigne

4 Vergessliche Renegaten

5 Thyssen-Bornemisza – zwischen Champagner und Massenmord. Eine unglaubliche Geschichte

6 Julien Offray de La Mettrie – der verleumdete Aufklärer und Materialist

III Politische Kommentare

1 Republikanischer Rigorismus

2 Euro-Priester gegen das Volk

3 Folter und Militär – fast schon eine Symbiose

4 Freie Zeit und Arbeit – Karl Marx

5 Afghanistan – unser Vietnam?

6 Ratzingers Rede: intellektuelle Brandstiftung

7 Schirrmacher auf »Feindfahrt«

8 Political Correctness

9 Zweierlei Religionskritik

10 Finanzkrise – Mutter aller verrückten Formen

11 Sloterdijk macht den Westerwelle

12 Asymmetrischer Krieg – eine fixe Improvisation

13 Die Kampagne gegen das »Amt«

14 Libyen: Krieg und Bilder vom Krieg

IV. Glossen

1 Frankfurter Allgemeiner Küchenmoses: Küchenlatein (2)

2 Bismarcks Appetit

3 Keinen Chinesen am Sack!

4 Unser Bennino

5 Steuersparer unter sich

6 »Authentisch« gauckisch

7 Allerlei Mixer

8 Vor- und Querdenker

9 Fischers Hegel

10 Frischer Schleim aus dem Hause Martin Walser

11 Zeiträuber in Blau

12 Verzauberte Tiere

13 Ferien mit Frischfleisch

V Verrisse

1 Götz Alys Kampfbuch

2 Die Taube als Ohrenärztin: Ulrike Ackermann

3 Rückfall hinter Kant: Alexander Kissler

4 Gut Gemeintes über Aufklärung: Dietmar Dath/Barbara Kirchner

5 Radikale Horizontbegrenzung: Rolf Peter Sieferle

6 Vernageltes Weltbild: Bettina Röhl

7 Deutsche Bank: Hofberichterstattung: Andreas Platthaus

8 Schirrmachers Weltuntergang

VI In eigener Sache

1 Schweizer und Deutsche

2 Verspäteter Dank

3 Dank zu Lebzeiten

Nachweise

Vorwort

Wie der erste Band enthält auch dieser Texte aus den letzten 18 Jahren meiner Tätigkeit als Publizist, Kolumnist und Sachbuch-Kritiker. Bei der Auswahl der Texte konzentrierte ich mich auf Arbeiten, die ohne Anmerkungen verständlich sind, dem tagespolitischen Handgemenge also nicht zu nahe stehen. Die Daten der Erstveröffentlichung verweisen auf die historischen und politischen Kontexte.

Den Titel – »Aufgreifen, begreifen, angreifen« – habe ich nicht geändert. Aus zwei Gründen. Viele Leserinnen und Leser fanden ihn treffend. Und ich selbst merkte erst bei der Zusammenstellung der Texte für den zweiten und die folgenden Bände, wie präzis er meine Schreibhaltung beschreibt: Ich möchte mit meinen Arbeiten begreifen, was ich als Thema aufgreife oder was mir von Redaktionen an Themen zum Aufgreifen angeboten wird. Im Prozess des Begreifens des Aufgegriffenen spielt das kritische Moment – das Angreifen von Positionen, Institutionen, Bräuchen und Personen, kurz »der böse Blick« (Adorno) jeder angemessenen Gesellschaftskritik – eine wesentliche Rolle. Das Begreifen – einen Sachverhalt auf den Begriff zu bringen – funktioniert als Scharnier zwischen dem Aufgreifen eines Themas und der Adressierung von Kritik, Reflexion und Würdigung.

Die Anlässe für die Essays und Porträts diktierten das journalistische Gewerbe, der Sachbuchmarkt und eigene Interessen an Themen und Personen. Die politischen Kommentare für die Tages- und Wochenzeitungen beziehen sich auf die tagespolitische Aktualität und entstanden in der Zusammenarbeit mit den beteiligten Redakteuren. Im Nachhinein erweisen sich manche Essays und Porträts als Vorarbeiten für politische Kommentare. Meiner Ansicht nach nicht zu deren Nachteil. Thematische Überschneidungen zwischen Essays, Porträts und Kommentaren sind deshalb nicht nur nicht zu vermeiden, sondern beabsichtigt.

Ich habe darauf verzichtet, die Texte nachträglich in starre Rahmen von kalendarisch oder thematisch geordneten Blöcken zu pressen, die noch gar nicht existierten, als die Texte geschrieben wurden. Die meisten Texte entstanden aus äußerlichen Zwängen des Kulturbetriebs, aus situativen Intuitionen sowie als subjektive Reaktion auf den laufenden sprachlichen und politischen Schwachsinn – also aus zufälligen Anlässen, die sich gegen eine systematische Ordnung sperren. Damit soll das Moment von Spontaneität der Reflexion und der Reaktion, das ich mit dem Titel auch andeute, betont und erhalten bleiben. Jede Behauptung eines »roten Fadens«, dem die Texte folgten, liefe auf eine alberne Selbstinterpretation hinaus. Den durchgehenden Faden zu erkennen oder zu bestreiten, ist Sache der Leserinnen und Leser.

Die kurzen Glossen sind zum größten Teil auf der Wahrheitsseite der »Tageszeitung« erstmals erschienen. Ich schätze diese Kurzform, weil sie von ihrem Umfang her zu sprachlicher und intellektueller Disziplin zwingt.

Ein großer Teil meiner Arbeiten besteht aus Besprechungen politischer, historischer und sozialwissenschaftlicher Bücher. Ich habe aus der Fülle der Rezensionen nur exemplarische Verrisse ausgewählt. Diese Auswahl beruht nicht auf einem atavistischen Willen, Autoren und ihren Büchern oder den Verlagen zu schaden. Selbst wenn ich das wollte, schaffte ich dies als Sachbuch-Rezensent nicht, denn alle diese Bücher werden von Vielen besprochen und bewertet. Verrisse sind mir auch deshalb wichtig, weil das redaktionelle Gewerbe sie nicht schätzt und dafür uneigennützig und freiwillig dabei mithilft, restlos überflüssige – darunter ausgesprochen liederliche – Bücher auf gute Plätze in Sachbuch-Bestenlisten zu hieven. Dabei nicht mitzuspielen, gehört zum Ethos von Kritik und Aufklärung.

Der journalistische Betrieb hat sich durch die Konkurrenz mit dem Internet in den letzten Jahren stark verändert. Neben einigen Vorteilen hat die enorme Beschleunigung des Betriebs und die Vermehrung der Plattformen auch Nachteile – die gravierendsten sind boulevardesk-personalisierende Oberflächlichkeit und der Verlust an intellektueller Substanz, der in vielen Feuilletons mit Händen zu greifen ist. Ich verstehe meine Arbeiten auch als Alternativen zum Instant-Journalismus des Betriebs, der seichte Home-, People- und Zeitgeist-Storys sowie Sammelrezensionen schätzt.

Die Texte sind in sechs Blöcke eingeteilt, die unterschiedliche Textsorten enthalten: Historische Essays (I.), Porträts gegen das Vergessen (II.), politische Kommentare (III.), Glossen (IV.), Verrisse (V.). Am Schluss stehen drei Texte in eigener Sache (VI.).

Einige Texte sind mehrfach oder in gekürzten und redaktionell mehr oder weniger stilsicher bearbeiteten Versionen erschienen. In gravierenden Fällen habe ich deshalb meine ursprünglichen Textversionen den von fremder Hand zugerichteten vorgezogen und mache dies durch das Kürzel UTV (ursprüngliche Textversion) in der Liste der Erstdruckorte am Ende des Buches deutlich. Bloße Druckfehler und kleine Irrtümer oder stilistische Unebenheiten habe ich stillschweigend korrigiert. Inhaltlich habe ich die Texte nicht verändert und biete sie als durchaus zeitgebundene den Lesern zum Beurteilen an. Nur Narren irren nie.

Mein Dank gilt wiederum Britta Gerloff, Michael Billmann und Roland Tauber vom Verlag für die Hilfe bei der Organisation der Texte für den Druck. Ich widme das Buch erneut Eva-Maria in Dankbarkeit und Bewunderung. Sie hat alle Texte als Erste gelesen und korrigiert. Mit Hinweisen, Ratschlägen, fulminanten Verweisen und ultimativen Vetos am Textrand hat sie mich in vielen, zuweilen turbulenten Diskussionen vor etlichen Abwegen und Irrtümern bewahrt. Die verbliebenen gehen auf mein Konto.

Frankfurt, Februar 2012

Rudolf Walther

I Historische Essays

1 Verantwortungsethik als Passierschein zurMacht

Die richtigen Panzer der Bundeswehr stehen (noch) in den Depots und schießen nur auf Übungsplätzen. Unterdessen fahren bereits schwere Tieflader mit der Gesinnungskanone »Verantwortung« durchs Land. Unter Beschuss geraten jene, die beim Übernehmen von »Verantwortung« für deutsche Unternehmungen in der Welt nicht mithalten wollen. Ganz nebenbei werden auch noch ein paar bislang gültige Verfassungsgrundsätze bis zur Unkenntlichkeit durchlöchert. Das hat Geschichte.

Max Weber, der schon lange vor dem Ersten Weltkrieg für diesen war, während des Krieges begeistert mitlief und erst bei Kriegsende (unter dem Eindruck des revolutionären Beiwerks) feinsinnig dosierte Skepsis zuließ, brauchte für den deutschnationalen Gesinnungsstau (»heiliger Volkskrieg«, so Max Weber noch 1916) eine anpassungsfähige Theorie. Sie heißt seither »Verantwortungsethik« und ist ein Wechselbalg. Je nachdem ist sie Ausgangspunkt für avancierte theoretische Reflexion oder Passierschein für fast alles, was sich auf Macht, Staat und Interesse reimt. Webers politischer Wilhelminismus hält sich von seiner Antrittsvorlesung (1895) bis zu seinem Tode durch. 1895 definierte er die Reichsgründung von 1871 rückblickend um zum »Ausgangspunkt einer deutschen Weltmachtpolitik«, die deutsche Bourgeoisie kanzelte er als »erfolgstrunken und friedensdurstiges Geschlecht« ab, und von der SPD hielt er gar nichts. Dafür erschien ihm die Kanzlerschaft Bismarcks – immerhin bei einem akademischen Initiationsritus und nicht am Stammtisch der Farbenbrüder von der Korporation »Germania« – »als öffne der Sachsenwald wie ein moderner Kyffhäuser seine Tiefen«.

»Die Weihe eines deutschen Krieges« (Max Weber 1916) hatte ihr ideologisches Fundament in der Macht- und Verantwortungsmetaphysik – das reale Fundament war die wirtschaftliche Macht des prosperierenden Kaiserreichs. Und dass beide Fundamente nichts miteinander zu tun hätten, behaupteten nicht einmal mehr besonders ausgewiesene kriegerische Feuilletonisten. Bereits mit seiner Antrittsvorlesung von 1895 bemühte sich Max Weber, aus der gestiegenen ökonomischen Potenz des jungen Reiches weitläufige politische Ansprüche eines »Herrenvolkes« gegenüber dem »Polentum« und dem Rest der Welt abzuleiten. Derlei brutale Dummheiten und Vereinfachungen als Wissenschaft zu drapieren, schafften selbst die plattesten Stalinisten nicht.

Heute verbucht eine vulgäre Geschichtsphilosophie die wirtschaftliche Potenz der BRD als quasinatürlichen Auftrag zu militärischen Interventionen rund um den Globus. Diese Redeweise plädiert für die Beseitigung jeglicher geschichtsphilosophischer oder utopischer Gehalte aus theoretischen und politischen Debatten, was angeblich der Zusammenbruch des »realexistierenden Sozialismus« zwingend nahelege. Vermeintlich purer Realismus wird nun verordnet. Dessen Prediger merken gar nicht, wie sie gerade im emphatischen »realpolitischen« Rückgriff auf ’89 das »vereinigte Deutschland« zum »welthistorischen Moment« (FAZ 2.3.1990) und zum »Epochenbruch, durch den sich wohl die gesamte bisherige Gestalt der Menschwerdung ändert« (taz 14.12.92) frisieren; so kommt die Schwundstufe von Geschichtsphilosophie im Namen ihrer Beseitigung daher.

Biedersinniges Normalisierungs- und Positivierungsstreben – endlich mal dabei sein beim »nationalstaatlichen« Anstreichen der Geschichte wie die Urgroßväter nach Sedan – leitet und stimuliert die jüngste Sinnstiftung. Die geschichtsphilosophische Ideologie der Zustimmung, die als Terminator aller Geschichtsphilosophie auftritt, ist das Mastfutter, von dem sich die neuste Stimmung im Westen ernährt. »Verantwortung« ist der Verdünner, mit dem behäbige wirtschaftliche Macht in agile militärische Gewalt verwandelt werden soll.

Die Frage, wohin man deutsche Soldaten in welcher Konstellation rauslassen soll, stellte sich zuerst nicht etwa an Stammtischen, sondern innerhalb der staatstragenden Parteien, im akademischen Diskurs und natürlich im Feuilleton. Wer bei den bevorstehenden Kriegen zur Erhaltung jenes globalen Status quo, an dem voraussichtlich die Hälfte bis zwei Drittel der Welt verderben werden, überhaupt etwas gewinnen kann, ist höchst fraglich – und gerade deshalb tabu. Darum wurde das Thema gesinnungsmäßig zur Schlacht um die »Verantwortung der BRD für die Welt« aufgerüstet. Und nun beklagen Bonner Minister und Hinterbänkler, Bild und FAZ, Fatzkes und Motzkis, anpassungswillige Friedensforscher und verstaatlichte Grüne an den männlichen und weiblichen Deutschen ungefähr dasselbe wie Max Weber an der deutschen Vorkriegs-Bourgeoisie – die rational begründete Skepsis gegenüber Kriegen und militärischen Interventionen: »Die Deutschen haben ein gebrochenes Verhältnis zum Militärischen« (FAZ 23.2.93). Woraus gefolgert wird, die Verfassung sei umgehend an transkulturelle Schäferhundebesitzer-Schrebergärtner-Mentalitäten sowie ziemlich alte militaristische und relativ junge imperialistische »Normalitäten« anzupassen.

Man muss froh sein, dass jene, die vom Kriegsgeschäft eine klare Vorstellung haben – deutsche und ausländische Offiziere –, sehr viel skeptischer sind gegenüber Interventionen auf dem Balkan und anderswo als die journalistischen und akademischen Sandkastenstrategen. Die Dialektik der Aufklärung wird überboten von den Realitäten: Ehedem der Aufklärung verpflichtete Intellektuelle militarisieren sich, und der Generalinspekteur der Bundeswehr präsentiert sich in voller Montur als Anwalt von politischer Vernunft, humaner Verhältnismäßigkeit und ziviler Gelassenheit.

Der letzte Golfkrieg hat neben unbestimmten ein bestimmtes Ergebnis gezeigt: Viele deutsche Intellektuelle zwischen Garmisch und Flensburg sind über Nacht zu Militär- und Kriegs»experten« geworden. Endlich erscheint die Welt handhabbar nach all den abstrakten Illusionen, Utopien und Theorien. Der Horizont wird überschaubar verengt. Stirnvernagler und Scheuklappenproduzenten machen jetzt Kasse am Buchmarkt. Fast alles reduziert sich auf militärische Arithmetik: Wo kann man, wo muss man, wo darf man »rein« – alles nur eine Frage des Eintrittspreises.

Das wäre weiter nicht schlimm, denn noch kommandiert der neudeutsche akademische und journalistische Irrationalismus keine Armeen. Aber gleichzeitig kriegt man den Eindruck vermittelt, militärische Kreise und über Macht verfügende Eliten bedienten sich der akademischen und journalistischen Vorläufer als Weichspüler und Weichkocher for the gallery – den glotzenden Haufen. Die Folgen sind absehbar geworden. Kein deutscher Angriffskrieg oder dritter Weltkrieg steht vor der Tür, aber die Verfassung wird Stück für Stück demontiert. Für viele spielt es schon keine Rolle mehr, dass man eine Frage schnell und einfach »entscheidet«, obwohl sie rechtlich höchst strittig und die »Entscheidung« verfassungsrechtlich vermutlich nicht gedeckt ist. Weg mit dem Formelkram; souverän ist, wer endlich wieder vorne mitmischt. Die Republik wird »dekonstruiert«, der »nationale« Staat rekonstruiert. Erst brannten die Häuser der Ausländer, und nun beginnt die Marschmusikstunde mit Stalingrad-Anekdoten, moderiert von jenen, die gestern auf Kanzeln, Kathedern und in den Feuilletons noch auf »Zivilgesellschaft« machten.

Dem Buchstaben nach (GG Art. 4,3 und 12a, Kriegsdienstverweigerung als Grundrecht; Art. 26, Verbot des Angriffskrieges; Art. 87a, Beschränkung des Streitkräfteeinsatzes auf den Verteidigungsfall usw.) und auch dem Geist nach besitzt das Grundgesetz eine solide antimilitaristische und pazifistische Imprägnierung. Diese höchst ehrenwerte, historisch bedingte Grundierung – deutsche Regierungen und ihre militärischen und gesellschaftlichen Eliten haben einen Weltkrieg fast allein und einen ganz allein zu verantworten – soll nun gründlich abgekratzt werden. Unbestritten, dass es nebenher zwischen 1949 und 1989 auch eine gar nicht antimilitaristische deutsche Waffenproduktion gab, die exportierte, was das Zeug hielt. Aber eine der gültigen Geschäftsgrundlagen der alten BRD war die antimilitaristisch-pazifistische Orientierung in minoritären, aber doch ziemlich weiten Kreisen der Bevölkerung.

Wie gewohnt liefert das Fernsehen die vermeintlichen Plausibilitäten für militärische Interventionen live und blutig ins Haus: Hungernde somalische Kinder und Frauen sowie schwerbewaffnete Söldnerbanden (mit westlichen und/oder östlichen Waffen) harren der »Befreiung« durch die »neue Weltordnung«. Warum es zu Zuständen wie in Somalia kam, fragt fast keiner mehr. Und auch die entscheidenden Unterschiede zwischen effizienten technischen und medizinischen Katastrophenhilfskorps und realen UNO-Eingreiftruppen auf der einen, mehr oder weniger eigenhändig, eigenmächtig und situativ-interessiert zuschlagenden »Weltordnungsmächten« auf der anderen Seite gehen im »Verantwortungs«gedöns völlig verloren.

Der politische Gedanke pendelt nicht mehr vom Herz über den Kopf zur theoretischen und politisch-moralischen Reflexion über politische Ziele und militärische Mittel sowie deren Verhältnismäßigkeit, sondern torkelt aus der Talkshow direkt zur Forderung nach Militäreinsätzen: Im Hessischen Rundfunk unterhielten sich kürzlich eine kroatische Nationalistin und ein »volksdeutscher Spätheimkehrer« ernsthaft darüber, wie man am Rande der Genfer Vance-Owen-Konferenz den einen oder anderen serbischen Delegierten und Bürgerkriegskontrahenten durch Verhaftung und kurzen Prozess ausschalten könnte, um den Kriegszielen (die man »Frieden« nennt) etwas näher zu kommen.

Interventionsscheu in ihren »Hinterhöfen« und »Einflusszonen« wird man auch den amerikanischen Administrationen, französischen Präsidenten und britischen Regierungen nicht nachsagen können. Und was ist das Ergebnis der Dutzenden von militärischen Interventionen in Mittelamerika und Afrika? Peace, freedom and democracy? Paix, liberté et démocratie? Mit »dem Glück der Völker« steht es bekanntlich schlecht in der Geschichte, aber dort, wo militärische Interventionen von innen und außen an der Tagesordnung sind, sind die Völker der Hegelschen »Schlachtbank« allemal noch näher als anderswo.

Im tagespolitischen Handgemenge scheint es nur noch um zwei Listen zu gehen: um die Länderliste »sicherer Drittstaaten«, in die man Flüchtlinge »verantwortungs«bewusst zurückschieben kann, und um die Liste jener Interventionskandidaten, die mit der »neuen Rolle der BRD in der Welt« und mit dem Besuch der deutschen Bundeswehr rechnen dürfen, wenn die Bonner – unter Mithilfe der SPD – erst einmal die Verfassung ausmisten oder einfach umgehen. Genau wie bei dem von Jürgen Habermas zum Thema gemachten Bestreben von konservativen Historikern zur »Entsorgung der Vergangenheit« geht es jetzt um die Verklappung des historisch bedingten Verfassungs-»Ballasts« im Meer des Vergessens.

Man kann das getrost Normalisierung nennen, denn das historisch ahnungslose Geschwätz, es gehe heute darum zu vermeiden, dass die BRD auf einen »Sonderweg« gerate, meint ja nur: Was den USA, Großbritannien und Frankreich recht ist, soll uns endlich billig sein. Bonn als gleichberechtigter Co-Sheriff? Klar! Lamers, der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, redet bereits von »großer innerer Stärke« (taz 25.1.93), die erforderlich sei, deutsche Soldaten irgendwo in der Welt für bestenfalls unklare Ziele und allemal trübe Interessen sterben zu lassen. Wer noch nicht völlig trunken ist vom »Verantwortungs«-Fusel, sollte sich von einem zurechnungsfähigen nordamerikanischen Intellektuellen sagen lassen, was man drüben unter »Verantwortung« versteht – ungefähr seit der Präsidentschaft von Monroe (1817-25): »Bei jenen Amerikanern, die es sich zur Gewohnheit gemacht haben, den Rest der Welt über seine Pflichten aufzuklären, bedeutet Verantwortung schlicht bedingungslose Unterstützung jedweder Politik, die Washington gerade betreibt – Unterstützung auch dann, wenn diese Politik von einem Augenblick auf den anderen in ihr Gegenteil verkehrt wird« (Norman Birnbaum, Die Zeit 21.6.1991).

Schon im Januar/Februar 1991, als Saddam Hussein auf Wunsch von deutschen Intellektuellen als Hitler auftrat, mahnte die FAZ ganz nüchtern »härtere Zeiten« an. Lange bevor ein deutscher Professor »den Lehrmeister Krieg« aus dem Bücherregal kramte und ein anderer im Versagen von Elternhaus und Schule die Ursache für die brennenden Häuser in Mölln fand, stellte die FAZ den Wegweiser auf: »Welcher Politiker, gar welcher Lehrer denkt darüber nach, wie man Kinder erzieht in einer Kultur, die sich behaupten muss? Welche Tugenden, die in härteren Zeiten nötig sind, haben die Deutschen noch nicht verächtlich gemacht?« (FAZ 16.2.1991). Wie gesagt, nicht Militärs und Politiker reden vom nächsten Krieg, sondern akademisches und journalistisches Meinen schwadroniert schon mal über die präventive Einübung kriegstauglicher Tugenden. Lehrpläne mit interventionsgerechten (und ausländerresistenten) Tugenden sind schnell hervorgekramt: »nationale Interessen«, »positive Werte«, »Blut und Eisen«, »deutsche Ehre«, »Pardon wird nicht gegeben«, »Erziehung in Langemarck« und in »Stahlgewittern« – auf zum nächsten Gefecht. Die intellektuelle »Selbstverstümmelung« (Lothar Baier), schon seit der Wende Anfang der 80er Jahre unter dem Label »Ende der Utopie« propagiert, ist der Hit in der laufenden Spielsaison des Meinungsbetriebs.

2 Nachruf auf Totgeburten: Bindestrich-Gesellschaften

Als die Baronin Thatcher noch regierte, konnte man regelmäßig hören, dass es Individuen und Staaten gebe und sonst nichts: »Ich kenne keine Gesellschaft.« Der digital konditionierte Verstand der gelernten Chemikerin duldete nur Eindeutiges, das heißt Zweipoliges: organisch oder anorganisch, basisch oder sauer. Politisch gewendet: privat oder staatlich. Nichts war ihr deshalb so suspekt wie die Zone des Dazwischen, zum Beispiel die gesellschaftliche Macht von Gewerkschaften. Die gesellschaftliche Macht von Privateigentümern an Grund und Boden, Produktionsmittel – kurz Kapital – entging ihr freilich.

Die Verachtung der Gesellschaft teilt Baronin Thatcher mit den deutschen Rechten, denen die Gesellschaft notorisch als Ausgeburt der Französischen Revolution galt und deshalb von Adam Müller bis Carl Schmitt gar nicht oder herablassend behandelt wurde. In den Köpfen der zeitgenössischen Publizisten und Wissenschaftler hat die Gesellschaft dagegen einen Stammplatz. Allerdings geht es heute nicht mehr um die Gesellschaft telle quelle, mit der sich die Theoretiker seit Comte, Hegel und Marx herumschlugen. Den heutigen Autoren hat es die Gesellschaft mit dem kleinen Unterschied angetan – die Gesellschaft als Kompositum.

Nach der Konjunktur der Bindestrich-Soziologien in den sechziger Jahren begegnet uns nun eine Inflation von Titeln, die zusammengesetzte Wörter mit Gesellschaft wie eine Flagge gehisst haben. Komposita zu bilden, ist ein Legospiel mit Begriffen: Erlebnis-, Auto-, Männer-, Konsum-, Zweidrittel-, Surfer-, Industrie-, Versöhnungsoder Kommunikationsgesellschaft. Die Gesellschaften-Inflation ist umso erstaunlicher, als substantielle gesellschaftliche Verbindungen zwischen Individuen in Vereinigungen, Vereinen, Clubs und so weiter überall von der Übermacht der herrschenden Verhältnisse bedroht sind. Staatliche, wirtschaftliche und mediale Großagenturen walzen gesellschaftliche Beziehungen platt oder unterwerfen sie von oben oder von außen, diktieren Spielregeln und Zwecke. Die Pointe: Die Konjunktur der Bindestrich-Gesellschaften läuft parallel mit der »Entgesellschaftung« der Realität und Vereinsamung vieler Menschen.

Weil das Ganze der Gesellschaft diffus geworden ist, greift sich jeder einen Teil und erklärt diesen im Handstreich zum Ganzen. Das ist zwar wissenschaftlich gesehen grobianisch, gereicht aber den Autoren zur Ehre, gemessen an der Zahl ihrer Veröffentlichungen. So erfahren wir von Saison zu Saison neu, in welcher Gesellschaft wir leben. Und weil es die marktwirtschaftliche Konkurrenz so will, existieren wir gleichzeitig in mehreren, sich nach Preis und Niveau gegenseitig über- und vor allem unterbietenden Komposita-Gesellschaften. Wo die einen noch auf die Arbeitsgesellschaft schwören, tummeln sich andere bereits in der Erlebnisgesellschaft; Ökologen beklagen noch die Wegwerfgesellschaft, während ein Professor schon in den Zug Richtung Reparaturgesellschaft umgestiegen ist.

Das Planungsdezernat einer Stadt schwärmt für die Vorturner der Dienstleistungsgesellschaft, aber im Kulturdezernat projektiert man lieber nach den Imperativen der Kulturgesellschaft. Oder auch umgekehrt. Ganz vorne marschiert wie immer die Harvard Business Review. Sie proklamiert die »post-capitalist society«. Die Grammatik erlaubt die Konstruktion beliebiger Komposita und – als deutsche Spezialität – deren fugenlose Verleimung. Womit das Wort Gesellschaft zusammengelegt wird, ist ebenso sekundär wie gleichgültig. Kein noch so dünner Gedanke nistet zwischen den Bestandteilen. Bis hin zum dreifach aufgepeppten Weißest-Schimmel der »zivilen Gesellschaftsgesellschaft« ist noch allerlei drin an product-design. Wir warten einstweilen auf Ulrich Becks »Na-und-Gesellschaft« als Ersatz für die angestaubte »Risikogesellschaft«. Ein paar akademische Prachtblüten sind im Folgenden zu besichtigen.

Was schlüsselte uns die »Informationsgesellschaft« besser auf als deren Verkleidung als »keyboard society«? Damit wissen wir zwar immer noch nicht, was das Getriebe zusammenhält und wovon wir Keyboarder leben, aber der Society-Designer Norbert Bolz hat den Durchblick: »Man trifft nur noch auf Benutzeroberflächen«. Die aufklärerische Warnung, Menschen niemals als Mittel zu betrachten, ist vom Tisch. In der »keyboard society« sind wir uns selbst und allen anderen gegenüber gleichberechtigte »Tasten« oder »Benutzeroberflächen«. Das Zeitalter »reflexiver Modernisierung«, das man uns ausmalt, fordert seinen Eintrittspreis. Offenbacher Professoren der Hochschule für Gestaltung trieben es bunter beim Fischen im Trüben. Sie angelten die Idee der »Schnittstellengesellschaft« von der Festplatte. Allerdings ist diese Gesellschaft vorerst mehr Wunsch denn Realität; der »Schnittstellengesellschafter« soll »schräg denken und handeln«. Warum hat man sie nicht gleich »Gesellschaft« oder »backslash society« genannt – kürzer, prägnanter und weniger deutsch, international verwertbar? Hinreißend fanden wir auf Anhieb die »ruderale Trittgesellschaft«, aber die Rückfrage bei einer kundigen Biologin klärte uns darüber auf, dass es sich dabei nicht um ein Pflänzchen aus dem Soziologengarten handelt, sondern um einen wissenschaftlichen Terminus aus dem Bereich der Geobotanik. Schade.

Besonderer Beliebtheit erfreute sich die »Zivilgesellschaft«. Die unbegriffene Gegenwart sollte gebannt werden im begriffslosen Wort. Kritisch gesehen war die »Zivilgesellschaft« eine Totgeburt, nur die Hebammen und Geburtshelfer wollten es nicht glauben und versuchten verzweifelt, dem Konzept Leben einzuhauchen.

Zur Herkunft: Mit einer Hand schöpfte man aus der amerikanischen Debatte um Autoren wie Charles Taylor, Michael Walzer und anderen über die Rekonstruktion der »civil society« angesichts von zerstörerischen und selbstzerstörerischen Trends in der US-Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Die als »communitarians« / »Gemeinschafter« bezeichneten Autoren erarbeiteten für die von Gesellschaftsauflösung bedrohten amerikanischen Zustände Rezepte, um das demokratische Gemeinwesen wiederzubeleben. Alte und neue normative Begriffe sind ihnen deshalb wichtiger als die Analyse der Gesellschaft. Mit der anderen Hand holte man sich die Argumente aus den Debatten unter Dissidenten im Osten, wo eine offene Gesellschaft erst aufgebaut werden sollte nach dem Untergang von Parteiherrschaft und Staatssozialismus. Die kommunistische Herrschaft akzeptierte – wie die Baronin Thatcher – nur Staat und Individuum. Die beiden Debattenstränge haben nur wenig gemeinsam und orientieren sich an grundsätzlich verschiedenen Verhältnissen, Problemen und Zielen. Die eilfertige Übernahme des Diskurs-Jetons »Zivilgesellschaft« war deshalb von Anfang an höchst problematisch. Obendrein spielten reale Interessengegensätze und wirtschaftlich-kapitalistische Zwänge, auf die jede Demokratisierung aufläuft, in der hochgradig ideologisierten deutschen Debatte praktisch keine Rolle.

Erst recht zum Rohrkrepierer wurden die historischen Anleihen, mit denen die Diskussion aufgepeppt werden sollte. Schon die Übersetzung von »civil society« mit »Zivilgesellschaft« ließ mehr schlechten Geschmack als historische Bildung erkennen. Wer käme auf die Idee, analog dazu, das »bellum civile« / »Bürgerkrieg« mit »Zivilkrieg« wiederzugeben? Drall-Deutschen fiel auch noch das Wort »Zivilheit« ein, obwohl das unübersetzbare italienische »civiltá« von seinem realen Kern »civis« / »Bürger« natürlich nicht abzutrennen, sondern nur im jeweiligen historisch-gesellschaftlichen Kontext einzulösen ist.

Alle Versuche, der »Zivilgesellschaft« mit dem Hinweis auf den alten Begriff »societas civilis« / »bürgerliche Gesellschaft« höhere Weihen anzudienen, scheitern an dem schlichten Tatbestand, dass die alte »societas civilis« bzw. »politiké koinonía« von Aristoteles bis zur Französischen Revolution mit der modernen Gesellschaft gar nicht, mit den zwischen Antike und Ancien Regime entstandenen diversen Staatsformen jedoch sehr eng zusammenhängt. Vereinfacht gesagt: Bis dahin war die »bürgerliche Gesellschaft« die Vereinigung der rechts- und politikfähigen Männer, virtuell der »Staat«. Soweit »Zivilgesellschaft« also auf die vorrevolutionäre »societas civilis« / »bürgerliche Gesellschaft« zielt und dort staatsfreie Räume ausmachen möchte, ist das Konzept nichts weiter als eine Projektion. Da taugt auch der Hinweis auf Adam Fergusons »Essay on the History of Civil Society« (1767) nichts, weil »civil society« dort fast durchweg den Staat meint und nur ganz selten auch das, was heute bürgerliche Gesellschaft heißt.

Mit der historischen Situation, in der die Debatte hier begann, hängen ihre politischen Implikationen zusammen. Der Chip »Zivilgesellschaft« diente Protagonisten mit unterschiedlichen, ja gegensätzlichen theoretischen Vorstellungen als Krücke. Die einen brauchten diese, um sich von ihren ehedem sozialistischen Vorstellungen ins Post-Stübchen westlicher Gemütlichkeit verabschieden zu können, weil sie nach 1989 mit jenen Vorstellungen nichts mehr zu tun haben wollten. Andere benützten die Krücke, um ihre überkommenen Vorstellungen kundenfreundlich aufzupolieren und sprachen vom »zivilgesellschaftlichen Sozialismus«, der nun an die Stelle des abgehalfterten zu treten habe.

Die gesellschaftlichen Realitäten und die ihnen täglich entweichende Gewalt haben das Konzept »Zivilgesellschaft« nun in den Orkus befördert.

3 Kriegs- und Bürgerkriegspropaganda

Dass wir als Tote Gleiche sind, darf nicht verlängert werden zur Vorstellung, dass jeder Tod gleich sei. Ein Skandal ist, wie Elias Canetti meint, jeder Tod. Aber das setzt Hingeschlachtete noch lange nicht gleich mit den – wie es heißt – »im Krieg Gefallenen«, und sei es als »Verteidiger« Gefallene. Für die meisten Kriege und für alle Bürgerkriege ist die Unterscheidung von – militärisch verstandenen – Angreifern und Verteidigern so ideologisch borniert wie jene zwischen guten und schlechten Nationalisten, guten und schlechten Faschisten, guten und schlechten Stalinisten oder guten und schlechten Nationalsozialisten. Es mag der zum Kriegsdienst eingezogene Landser so schuldlos sein wie nur denkbar, sein Tod ist nicht identisch mit jenem von generalstabsmäßig oder durch marodierende Soldatenhaufen ermordeten Zivili sten.

Und dass ein Gewehr ein Gewehr bleibt, unabhängig davon, wozu es gebraucht wird, darf nicht zur Vorstellung werden, dass jede Gewaltanwendung gleich sei. Pazifismus bedeutet nicht Gewaltlosigkeit à tout prix. Konsequenter Pazifismus muss Gewalt in Kauf nehmen – allerdings in klar bestimmten Relationen von politischen Zielen und Mitteln, in kalkulierbarer militärisch-politischer und humaner Verhältnismäßigkeit.

In welcher Relation politische Ziele, verwendbare Mittelarsenale und humane Verhältnismäßigkeit in der Konstellation des Bürgerkriegs auf dem Balkan stehen, hat bislang niemand klar dargelegt – weder von politischer noch von militärischer Seite. Von alldem unberührt zeigen sich berufsmäßig Alarmierte. Politiker und Talker mit Flair fürs notorisch Falsche (»jetzt oder nie«) sowie fürs historisch Schiefe wie dem Vergleich der Belagerung bosnischer Städte durch die serbische Soldateska mit der nationalsozialistischen Vernichtung des Warschauer Ghettos. Selbst wenn der alternde Marek Edelmann solche Vergleiche anstellt, werden sie nicht stichhaltiger.

Die vom Krieg und Bürgerkrieg heimgesuchten Menschen benötigen vieles. Am entbehrlichsten sind Aufrufe. Den bedrängten und bedrohten Menschen hilft man nicht mit Aufrufen, sondern mit der Organisation von Hilfe, mit der Aufnahme von Flüchtlingen und mit der Mobilisierung der hiesigen Bevölkerung gegen die Regierungspolitik (zunächst des forschen Anerkennens, dann des allzu langen Abwartens). Rechtzeitige militärische Ultimaten, kombiniert mit einer intelligenten Einbindung der Medien, wie sie der französische General Morillon auf dem Balkan pflegte, haben den Menschen mehr und wirksamer geholfen als die Entrüstungsrituale hierzulande. Dagegen stumpfen die dramatisierenden, brutale Bilder des Fernsehens noch überbietenden Parolen in der Presse (»Völkermord«, »Genozid«, »Warschauer Ghetto«) nur ab und bieten keinerlei Aufklärung über Krieg und Bürgerkrieg.

Was für ein Bild der Zustände haben in den letzten Wochen die Medien vermittelt? Aus trüben, restlos unüberprüfbaren Quellen kam die Meldung von Tausenden von Ermordeten in Gorazde (»von Leichen bedeckte Straßen, wohin man sieht«; »Blutbad in den Straßen«); ein verständlicherweise dramatischer Hilferuf des Bürgermeisters von Gorazde und ein paar andere Funksprüche wurden medial verstärkt. Als die Blauhelme endlich in die Stadt gelangen konnten, korrigierten sie die Opferzahlen zuerst auf 715 (Frankfurter Rundschau vom 26.4.94), dann auf 250 (Süddeutsche Zeitung vom 27.4.94). Das macht das Verbrechen der serbischen Soldateska zwar geringer, aber nicht tolerierbarer. Von höherer Warte erschallen die rechtfertigenden Gesänge: »Der britische UNO-General Rose ärgert sich über die bosnischen Muslime in Gorazde: Sie hätten die Zahl ihrer Toten und Verwundeten übertrieben ... In einer umzingelten Stadt breitet sich eine Psychose aus, die nach einer Weile auch zu verkehrten Vorstellungen über die Opfer in den eigenen Reihen führt; anders kann es nicht sein« (FAZ vom 29.4.93).

Statt aufklärender und gegenüber allen Quellen kritischer Information boten die Medien Bürgerkriegs- beziehungsweise Kriegspropaganda. Sie lieferten damit der serbischen Seite das Rohmaterial für die Durchhalteparolen und die Behauptung frei Haus, die westlichen Medien hätten sich gegen Serbien zu einer mit allen Mitteln kämpfenden Front verschworen. Und beim hiesigen Leser und TV-Zuschauer erzeugt man mit solcher Nachrichtenzurüstung keine Solidarisierung und Mobilisierung, sondern allenfalls Ohnmacht und Resignation. Übertriebene Schreckensmeldungen sensibilisieren das Publikum nicht für das, was passiert ist, und das, was dagegen getan werden müsste – also forcierte Hilfe, Flüchtlingsaufnahme, Verhandlungen und kalkulierte Androhung militärischer Gewalt –, sondern entmutigen es. Erst recht seltsam berührt in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass die weit größeren Zahlen an Opfern in den Kriegen und Bürgerkriegen im Sudan, in Ruanda und anderswo nur kurzfristig in unsere Medien gelangen. Hängt dies damit zusammen, dass diese Schauplätze fernab Europas liegen, oder sollte für jene Opfer gar gelten, dass sie uns doch nur schwarze, ungleiche Tote sind?

4 »Volkstrauertag«: Normalisierung im Geist nationaler Verlogenheit

Geschichte ereignet sich zweimal – einmal als Tragödie, dann als Farce. Wird dieselbe Geschichte mehrfach erzählt, darf man sich wundern oder nach den Motiven fragen. Mit der Eröffnung der Neuen Wache als zentraler Gedenkstätte (»mies, medioker und provinziell«, Reinhart Koselleck) und einer Rede von B. Seebacher-B. zum Volkstrauertag werden die Bemühungen zur Begradigung der deutschen Geschichte erneut aufgenommen. So viel zum unausgesprochenen Teil der Motive. Der Rest spricht für sich selbst.

E. Nolte schrieb 1986 einen Artikel (FAZ 6.6.86), der zusammen mit Arbeiten von A. Hillgruber, K. Hildebrand und M. Stürmer den Historikerstreit auslöste. Dass es dazu kam, ist allein das Verdienst von Jürgen Habermas, der schnell und entschieden auf »die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung« reagierte (»Eine Art Schadensabwicklung«, Die Zeit 11.7.86). Nolte hatte mit dem Titel seines Beitrags die Marschrichtung angegeben: »Vergangenheit, die nicht vergehen will«. Im Klartext: Wer verhindert, dass die Geschichte deutscher Verbrechen endlich mit der Geschichte und den Verbrechen anderer Staaten verrechnet werden kann? Ein historisches Clearing-Verfahren zwischen den nationalsozialistischen Verbrechen und jenen Stalins, Pol Pots etc. war angesagt. So frontal freilich stieg Nolte nicht ein, sondern wählte den aparten Weg über die Notwehr: Vor Auschwitz war der GULag, und deshalb handelten Hitler und seine Wehrmacht aus berechtigter Angst vor der »asiatischen Tat« präventiv, als die Sowjetunion überfallen und an und hinter der Front Millionen von Menschen umgebracht wurden; Stalin als Lehrmeister Hitlers, dem Nolte in einer die neudeutsche Ideologie präzis charakterisierenden Bemerkung nur nachträgt, dem Repertoire des Terrors den »technischen Vorgang der Vergasung« (FAZ 6.6.86) hinzugefügt zu haben. Auschwitz – ein Problem von Technik und Chemie. Die Debatte schlief bald ein, weil Nolte wissenschaftlich fundierte Einwände ignoriert und seine Thesen zum Holocaust so feinsinnig weiterspinnt, dass sie von einer Rechtfertigung nur noch mit einer Lupe zu unterscheiden sind.

B. Seebacher-B. sprach jüngst zum staatlich gehegten Volkstrauertag in der Frankfurter Paulskirche und wiederholte fast wörtlich Noltes Kernthese: »Dass nicht aufhören kann, was nicht aufhören darf, kann und darf nicht das Maß unserer Erinnerung sein« (FAZ 15.11.93). Es geht erneut darum, Risse und Gräben in der jüngsten deutschen Geschichte zu planieren, Opfer nationalsozialistischer Herrschaft zu allen übrigen Toten zu legen. 1989 »stellt alles auf den Kopf, was zuvor gültig gewesen ist und was nicht«. Das betrifft auch die neue allgemeine deutsche Friedhofsordnung: Tod ist Tod und tot sowieso. Dieses Mal regiert nicht ein chronologisches Mätzchen die Revision: nach dem alten Muster post hoc, ergo propter hoc, d. h. dem historistischen Trick der Verzauberung einer zeitlichen Abfolge in ein Kausalverhältnis, hatte es Nolte versucht; und auch nicht die notorisch alles mit allem verwechselnden und damit alles verniedlichenden Vergleiche, die seit dem Golfkrieg so beliebt sind, treiben die Autorin an, sondern die Gier nach »Normalität«. »Normalität heißt, ein Deutschland wollen, das seine Kraft aus der Gegenwart bezieht.« Eine ebenso geschmackssichere wie steinerne Dummheit gegenüber Toten, die wer weiß wo sind, aber nicht in der Gegenwart.

Zum Tod und zu Toten hat B. Seebacher-B. ein exquisites Verhältnis, das sie in den Augen der Organisatoren zur richtigen Festrednerin macht. Als vor einigen Monaten im Westteil der Republik Häuser angesteckt und Menschen verbrannten, fielen ihr dazu Sätze ein, die ihresgleichen suchen: Demnach hat man sich zu merken, »dass das Recht der Lebenden durch die Erinnerung an die Toten nicht aufgehoben und nicht einmal eingeschränkt wird. Im Leben eines Volkes ist es wie im Leben des einzelnen: Man muss sich selber achten, um andere zu achten und von anderen geachtet zu werden« (FAZ 28.1.93). Die Asche der verbrannten Türken war gerade erst erkaltet.